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Susan Mennings

Rückkehr der Schmetterlinge

2. Teil der Schmetterlings-Trilogie





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Rückkehr der Schmetterlinge

Susan Mennings

 

RÜCKKEHR DER SCHMETTERLINGE

Fantasy-Roman

Zweiter Teil der Schmetterlings-Trilogie

 

eBook

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2015 Susan Mennings, Hamburg

 

Lektorat: Gerhard Heimsath

Covergestaltung: www.fischgraetdesign.de

Cover-Foto: iStock, Lisa Thornberg

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder

teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten.

Es handelt sich um eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und sonstigen Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Impressum: Susan Mennings, Herlingsburg 14, 22529 Hamburg

 

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Danke

 

DANKE

meinen Freundinnen Nadine & Gaby, die immer an mich geglaubt haben

und

Gerhard

Zitat

 

Von Sehnsucht getrieben,

flattert der Schmetterling der Freiheit entgegen

Inhalt

 

Prolog

Kapitel 1: Leben

Kapitel 2: Großmutter

Kapitel 3: Stein des Otium

Kapitel 4: Schatz

Kapitel 5: Fragen

Kapitel 6: Motiv

Kapitel 7: Strafe

Kapitel 8: Verbannung

Kapitel 9: Hochzeit

Kapitel 10: Wiedergeburt

Kapitel 11: Entscheidung

Kapitel 12: Flucht

Kapitel 13: Danielle

Kapitel 14: Pflicht

Kapitel 15: Rache

Kapitel 16: Sonnenwelt

Kapitel 17: Labyrinth

Kapitel 18: Gerichtsverhandlung

Kapitel 19: Begegnung

Kapitel 20: Pakt

Kapitel 21: Mittwoch; Ankunft

Kapitel 22: Donnerstag; Gefängnis

Kapitel 23: Donnerstag; Reise

Kapitel 24: Donnerstag; Freiheit

Kapitel 25: Donnerstag; zu Hause

Kapitel 26: Freitag; Unruhe

Kapitel 27: Freitag; Neuigkeiten

Kapitel 28: Chauffeur

Kapitel 29: Freitag; Ankunft

Kapitel 30: Freitag; Wut

Kapitel 31: Freitag; Dunkelheit

Kapitel 32: Freitag; Befreit

Kapitel 33: Freitag; Geburt

Kapitel 34: Freitag; Wendung

Kapitel 35: Kampf

Kapitel 36: Farletti

Kapitel 37: Suche

Kapitel 38: Erkenntnis

Kapitel 39: Rache

Kapitel 40: Wandlung

Kapitel 41: Liebe

Kapitel 42: Mist-Kerl

Kapitel 43: Ausgetrickst

Kapitel 44: Überraschungsmoment

Kapitel 45: Licht

Kapitel 46: Klagen

Kapitel 47: Geburtshilfe

Kapitel 48: Freiheit

Kapitel 49: Ersticken

Kapitel 50: Entscheidung

Prolog

 Sein gehetzter Atem erfüllte die Stille. Tief sog er Luft in seine Lungen. Obwohl er keine Ahnung hatte, warum er unterwegs war, rannte er den steilen Abhang hinunter. Sein Puls schien sich überschlagen zu wollen. Kalte Luft drang ungehindert durch den offenen Mund in die Bronchien. Doch er spürte keinen Schmerz. In schnellen Abständen presste er die verbrauchte Luft aus seinem Körper, die sich in feinen Nebel vor seinem Gesicht verwandelte.

Trotz des unwegsamen Geländes rannte er immer weiter, stolperte über eine Baumwurzel, überschlug sich, stürzte einige Meter den Abhang hinunter, wodurch sich sein Körper beschleunigte und er sich schneller dem Tal näherte. Unsanft wurde er von einem Strauch gebremst. Mit einem lauten Ächzen knallte er gegen das Geäst, das seinen Aufprall etwas milderte, aber ihn dennoch verletzte. Ohne weiter nachzudenken, rappelte er sich auf und rannte weiter.

Er wusste nicht wer er war und warum er so eilig hinunter ins Tal wollte. Er hatte sich dafür entschieden querfeldein zu laufen, anstatt den längeren, aber deutlich angenehmeren Weg einzuschlagen. Der Hang war derart steil, dass er streckenweise auf seinen Füßen hinunterrutschte, darauf bedacht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und erneut zu stürzen.

Er spürte die starke Beanspruchung seiner Muskeln. Jeder andere hätte sich für einen Moment ausgeruht, er aber rannte immer weiter. Aus einigen Wunden trat Blut hervor. Hätte er sich gestattet, sie zu untersuchen, ihm wäre aufgefallen, dass diese Wunden keinesfalls von den Stürzen des Abstiegs herrühren konnten. Da er jedoch keine Zeit verschwenden wollte, bemerkte er nicht, wie schwer mitgenommen sein Körper im Grunde war.

Sein einziger Antrieb war der tiefe Hass, der ihn zu zerfressen drohte.

Sein Herz zog sich krampfhaft zusammen und pochte doch dabei so wild, als ob es seinen Brustkorb sprengen wollte. In seinem Inneren zerrte etwas an ihm. Es bestimmte sein gesamtes Handeln und trieb ihn zur Eile. Er musste etwas unternehmen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Nur wie er das anstellen sollte, davon hatte er keine Ahnung.

Während er immer weiter und dabei immer schneller rannte, kreisten seine Gedanken um die letzten Stunden. Wie war er hierher geraten und warum war er zu Fuß auf dem Weg ins Tal?

Er war nicht in der Lage, die letzten Stunden zu rekonstruieren. Was gestern und am Tag davor passierte, war aus seinem Gedächtnis gelöscht worden. Wie bei der Festplatte eines Computers. Er hoffte, dass die Erinnerungen in den tiefen Windungen seines Gehirns schlummerten und er nur herausfinden musste, wie man diese Informationen wieder herstellen konnte.

Alles, was ihn in diesem Augenblick antrieb, war jedoch Hass, der ihn vollkommen auszufüllen schien. Das war etwas, was er begreifen konnte. Dabei hatte er keine Idee, wem dieser Hass gelten könnte.

 

Endlich, nach Stunden des Abstiegs, erreichte er eine ausgebaute Straße, die sich durch ein enges Tal schlängelte. Steil ragten die Berge links und rechts der Straße hoch in den Himmel. Der Tag war fortgeschritten und die Sonne beinah hinter dem Horizont verschwunden.

Er blieb stehen und sah sich um. Niemand war auf der Straße. Angestrengt dachte er darüber nach, ob ihm etwas bekannt vorkam. Er wusste, dass er hier schon einmal gewesen sein musste. Aber sein Kopf blieb leer. Langsam bekam er Kopfschmerzen.

Ihm wurde kalt. Der Abstieg war beschwerlich gewesen und die Kleidung nun feucht von Schweiß. Er sah auf seine Hände. Das Rot des Blutes seiner Wunden strahlte auf der makellos weißen Haut. Unter den Fingernägeln hatte sich Dreck gesammelt, ebenso auf den Handinnenseiten. Unwillkürlich strich er sie an der Hose ab und spürte, dass sie zu großen Teilen zerrissen war.

Erst jetzt bemerkte er, was er trug. Was hatte er sich dabei gedacht? Das konnte unmöglich ein Teil seiner Persönlichkeit sein. Obwohl er nicht einmal sagen konnte, was diese ausmachte. Vielleicht war er ja der Typ, der in grobgestrickten Rollkragenpullovern mit einer Jeans und derben Wanderstiefeln herumlief?

Er fühlte den Stoff der durch die Stürze arg mitgenommen Hose. Er gab angenehm weich nach. Nichts daran war ihm vertraut, das konnte unmöglich zu ihm gehören. Instinktiv griff er in die Gesäßtasche seiner Hose und fand dort eine Brieftasche mit einem Ausweis und mehreren Plastikkarten. Auf allen Dokumenten stand der gleiche Name: Enzo Rossi. Er sah sich das Bild des Ausweises an. Ein extrem bleicher Mann sah ihn an, mit akkurat geschnittenen blonden Haaren, der ebenso weiße Haut hatte wie er.

Keine Erkenntnis drang zu ihm. Obwohl ihm gefiel, dass der Mann auf dem Ausweis einen Anzug, ein weißes Hemd und eine feine Krawatte trug. Das schien ihm eine bessere Wahl zu sein, als das Ensemble, was er trug. Dennoch erkannte er sich nicht wieder. Da er keinen Spiegel zur Hand hatte, konnte er nicht überprüfen, ob er tatsächlich Enzo Rossi war.

Er steckte alles wieder in die Brieftasche und diese zurück in die Hose. Es wurde Zeit, dass er von hier verschwand. Auch wenn er nicht wusste, wer er war, so war doch tief in ihm der Drang vorhanden, jemandem Leid anzutun. Irgendetwas musste er unternehmen, um endlich etwas Ruhe zu finden und vielleicht fiel ihm ein, wer er war, wenn das Blut eines anderen Menschen an den Fingern klebte.

Leben

 

Inzwischen wusste Marisa, dass sie nicht träumte. Obwohl ihr diese Vorstellung angenehmer gewesen wäre. An die Realität, in der sie nun schon seit drei Monaten lebte, konnte und wollte sie sich nicht gewöhnen. Sie vermisste ihr altes Leben. Sollte sie je zurückkehren, nie wieder würde sie sich darüber beschweren, wie einsam die Nächte seien, oder dass ihr Chef sie in den Wahnsinn trieb. Ständig hatte sie mit ihrem Dasein gehadert, nun aber wusste sie es besser. Aus der Perspektive ihres jetzigen Lebens wirkte alles lächerlich, worüber sie sich früher beschwerte.

Sie war für dieses Leben einfach nicht geschaffen, das sie nun bis ans Ende ihrer Tage führen musste. Auch wenn es für die Pleberosso das Paradies war, für Marisa war es die Hölle. Ein fortwährender Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab. Sie hatte Angst, nachts einzuschlafen, da sie wusste, am nächsten Tag würde eine Realität auf sie warten, die sie nicht ertragen konnte.

Je mehr Zeit verging, desto mehr verblassten die Erinnerungen. Nichts, was an ihr altes Leben erinnern konnte, durfte sie mitnehmen. Bis auf ein paar Fotografien, die sie heimlich geschmuggelt hatte und auf denen sie als Kind mit ihrem Vater zu sehen war. Wenn sie diese hervorholte, darauf bedacht, dass sie keiner beobachten konnte, sah sie ein kleines Mädchen, das in diesem Moment glücklich wirkte.

Das alles war so verdammt lange her und ihr Vater, der viel zu früh gestorben war, sah auf den Bildern noch so jung aus. Sie schaffte es nicht, um ihn zu trauern, denn diese neue Umgebung war derart absurd, dass sie im Grunde gar nicht real sein konnte. Daher fiel es ihr schwer, zu glauben, dass ihr Vater tatsächlich tot war. Zumal sie sich nicht von ihm verabschieden konnte.

Sie stellte sich vor, dass er weiterhin in der Sonnenwelt lebte, so wie alle anderen auch, die sie zurücklassen musste. Nichts war ihr geblieben. Es kam ihr vor, als wäre sie selbst gestorben und in einer anderen Dimension auferstanden. Das Leben konnte verdammt hinterlistig sein. Was hatte sie nur angestellt, dass sie sich in so einer unwirklichen Umgebung wiederfand?

Sie spürte, wie langsam ihr Hirn aufweichte und sie anfing zu verblöden. Dazu verurteilt, nichts zu tun, war eine größere Strafe, als sie sich hätte vorstellen können. Dabei war ihr Status alles andere als eine Bestrafung, sondern vielmehr ein Privileg, um dass sie in dieser Welt anerkannt wurde. Nur wenigen Pleberosso war es vorbehalten über andere zu verfügen und sich bedienen zu lassen.

Aber für Marisa war es der Abgrund eines tiefen Tales ihrer Seele, die nur dann geheilt werden konnte, wenn sie beschäftigt war. Sie fragte sich, warum sie überhaupt das Nachtlager verlassen sollte, denn es gab für sie keine Abwechslung, nichts, was ihre Tage füllte.

An einer Felswand in ihrem Abteil hatte sie mit einer Art Kreide einen Kalender angelegt. Es gab hier nicht einmal Papier oder gar etwas, womit man dieses hätte beschreiben können. Daher kannte man auch keine Bücher. Alles, was es zu lernen gab, wurde von Pleberosso erzählt und musste als Unterricht ausreichen.

Viel gab es ohnehin nicht, was es wert gewesen wäre, langfristig zu wissen und an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Jeder hatte seine Aufgabe und führte diese nach bestem Gewissen aus. Die Pflichten wurden an die Nachkommen weitergegeben, quasi vererbt. Niemand hatte einen freien Willen bei dem, was er sich für sein Leben vorstellte. Das Schlimmste aber war, dass es den Pleberosso nichts auszumachen schien. Ganz im Gegenteil erfreuten sie sich an ihren Schicksal. Sie strahlten vor Glück und Zufriedenheit.

Grundsätzlich lag ein Lächeln in den Gesichtern, ihre gute Laune unterstrichen sie mit Gesängen und teilweise sogar mit Tanz. So etwas wie Stress war unvorstellbar. Es gab keinen Druck, einen Termin einzuhalten oder Angst davor, etwas falsch zu machen. Fehler kannte hier niemand. Selbst das Wort war den Bewohnern fremd.

Die Tage vergingen im endlosen Müßiggang. Selbst denen, die eine Aufgabe zu erledigen hatten, blieb genügend Zeit sich zu amüsieren. Wobei das Amüsement ein vollkommen anderes war, als es Marisa aus der Sonnenwelt kannte.

Es gab keinen Strom, dadurch natürlich keine Fernseher oder Radios. Keine Bücher, um in andere Welten einzutauchen oder sich abzulenken. Man saß am Ufer eines Sees, der herrlich warm war, badete darin, unterhielt sich, sang gemeinsam oder ließ sich von Älteren Geschichten erzählen.

Gern hätte Marisa ihre Geschichten aus der Sonnenwelt weitergegeben. Aber ihr war es nicht erlaubt, über ihr altes Leben zu erzählen. Nichts sollte den Pleberosso Anlass geben, ihre Welt in Frage zu stellen. Denn eines war mehr als alles andere nicht gestattet: Antworten auf eine Frage zu erwarten.

Wenn sie am Morgen einen weiteren Strich ihrem Kalender an der Wand hinzufügte, um irgendwie den Kontakt zur Sonnenwelt aufrecht zu halten, dachte sie darüber nach, wie das Wetter wohl oberhalb der Höhle inzwischen war. Jetzt müsste Sommer sein. Anfang Juni, die Sonne sollte am höchsten Punkt stehen und die Nächte sollten lang und hell sein. Jedenfalls in ihrer Heimat Hamburg wäre es bald soweit, dass der längste Tag die Sonnenwende ankündigte. Eine Zeit, die Marisa immer schon sehr genossen hatte.

Bereits als Kind liebte sie die langen Nächte, in denen es nie richtig dunkel wurde. Und nun lebte sie in einer Welt ohne Wetter, es gab nicht einmal Jahreszeiten. Jeder Tag war wie der andere, nichts Unvorhergesehenes passierte. Niemand sprach darüber, was sie am nächsten Tag erwarten würde. Und niemand regte sich über etwas auf, das man ohnehin nicht ändern konnte, wie beispielsweise das Wetter. Es regte sich überhaupt niemand über irgendetwas auf. Harmonie lag wie ein klebriger Film über Allem und Jedem und ließ alles zuckersüß erscheinen. Dabei kannte man weder das Wort Zucker noch dessen Bedeutung. Auch das war etwas, was in diesem Leben keinen Platz hatte. Ebenso wie Alkohol und jede Form von Rauschmittel.

Dabei kam es Marisa oft so vor, als hätten die Bewohner von etwas genascht, das ihre Sinne und den Verstand komplett vernebelten. Anders konnte sie es sich nicht erklären, weshalb alle tatsächlich taten, was ihre Pflichte war und niemand auf die Idee kam, etwas in Frage zu stellen, oder zu sehen, was es außerhalb der Höhlen zu entdecken gab.

Tagein tag aus wurden zur gleichen Zeit die Steine zum Leuchten gebracht und am Abend quasi wieder ausgeschaltet. Lediglich ein kleines Nachtlicht erhellte die Höhlen. Nichts passierte, an dem man eine Uhrzeit, beispielsweise wie durch den Stand der Sonne, feststellen konnte.

Aber an allem, was dieses Leben an Entbehrungen aufwies, was natürlich außer Marisa niemand so empfand, war nichts so schlimm wie das Fehlen der Sonne. Inzwischen hatte Marisa gelernt, dass man diese zum Überleben nicht benötigte. Die Steine des Otium gaben den Bewohnern alles, was sie brauchten, um gesund zu bleiben. Daher kannte auch niemand Krankheiten, abgesehen von der Phase, in der Marisa noch nicht ihre Pflicht erfüllen konnte, da sie keine Ahnung von all dem hatte und ein unbeschwertes Leben in der Sonnenwelt führte.

Dennoch, das Gefühl auf der Haut, wenn Sonnenstrahlen einen wärmen und die Pigmente zum Bräunen animieren, vermisste sie sehr und sie würde eingehen, sollte sie sich nicht bald einem Sonnenbad hingeben, ganz egal, ob man ihr erzählte, dass sie es zum Überleben nicht brauchte.

Obwohl ihre Haut von Natur aus eher dunkel war, da ihr verstorbener Vater griechischer Abstammung war, konnte sie sehen, wie sie langsam immer heller wurde. So wie all die anderen Bewohner würde sie nie aussehen, das wusste sie, und es machte sie zu einem noch außergewöhnlicheren Menschen als ohnehin schon. Jeden Tag kamen aus anderen abgelegenen Höhlen Bewohner, um die neue Farletti, die Retterin der Pleberosso, zu bestaunen. Es hätte zwar durchaus eine Abwechslung sein können, aber Marisa verabscheute es, begutachtet zu werden wie ein Tier in einem Zoo. Nicht nur das, man verlangte sie anfassen zu dürfen. Einige waren sogar so dreist und baten Marisa, ihnen die Hand aufzulegen, was sie selbstverständlich nie tat.

 

Langsam erhellte sich die Höhle. Geradezu vorsichtig drang Licht in das Abteil in dem Marisa mit ihrem Mann Tomasio lebte.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte Tomasio und schmiegte sich eng an Marisa.

Seine Arme umschlossen ihren Körper, eine Hand ruhte auf ihrem inzwischen leicht angewachsenen Bauch. Sie war nun im dritten Monat schwanger und langsam konnte jeder erkennen, dass sie in guter Hoffnung war, was die Bevölkerung über alle Maßen erfreute.

„Nein“, wollte sie sagen, behielt ihre Worte jedoch für sich. Was würde es nützen, wenn sie Tomasio die Wahrheit sagte? Er schien unendlich glücklich zu sein und sich auf den Nachwuchs zu freuen wie nichts anderes auf der Welt. In dieser Welt, der Welt der Pleberosso, die Marisa noch immer so fremd war.

Stattdessen fing sie an zu weinen, wie so oft in letzter Zeit. Anfänglich war sie in der Lage, ihre Fassung und die damit verbundenen Tränen zu kontrollieren, aber wenn sie geschlafen und von ihrem alten Leben geträumt hatte, war sie dazu nicht mehr fähig.

„Wein doch bitte nicht schon wieder“, sagte Tomasio. „Du wirst dich schon noch daran gewöhnen, glaube mir, so schlimm ist es doch gar nicht.“

„Doch“, sagte Marisa und hatte sich aus seiner Umklammerung gelöst, um ihn ansehen zu können, „es ist schlimm. Ich kann das nicht, ich bin nicht dafür geschaffen.“

„Red’ keinen Unsinn, wenn jemand dazu geboren wurde, eine Farletti zu sein, dann doch wohl du. Das weißt du.“

Marisa war es leid, schon wieder darüber zu diskutieren, dass sie tief in ihrem Inneren spürte, nicht hierher zu gehören und eben keine geborene Auserwählte zu sein, auch wenn dies ihre Bestimmung zu sein hatte.

Vor noch nicht einmal drei Monaten hatte sie keine Ahnung, wer sie war. Hatte ein Leben geführt, was ihr bis dahin langweilig und vor allem traurig erschienen war, weil sie in endlosem Liebeskummer um einem Mann trauerte, der es nicht wert gewesen war.

Nun hätte sie alles dafür gegeben, um wieder in ihr altes Leben zurückzukehren. Zumal sie wusste, dass dieser Mann, den sie so sehr liebte, ihr ebenso Gefühle entgegenbrachte. Sie konnte ihn nicht vergessen und wollte es auch gar nicht. Sie war darum bemüht, sich das Gesicht von Steve in ihr Gedächtnis zu holen, ihn nicht aus der Erinnerung zu verlieren. Manches Mal dachte sie daran, Tomasio zu bitten, ihre Empfindungen und Bilder an ihr altes Leben zurückzuholen, aber sie wusste, dass er es nicht tun würde und sie ihn damit in Bedrängnis brachte.

Das war schließlich etwas, was nicht sein durfte und damit nicht existent war. Aber tief in ihrem Inneren spürte sie, wie etwas an ihr zerrte. Eine Sehnsucht, die sie in dieser Form noch nie wahrgenommen hatte und die drohte, sie zu ersticken. Die imaginäre Schlinge legte sich eng um ihren Hals, wenn sie an Steve dachte und an das, was er ihr zum Abschied gesagt hatte.

 

--

 

Ruhig war es in dem Zimmer. Die Hektik, die zuvor die Personen ergriffen hatte, war verschwunden. Steves Schwester, Alex, lag noch immer wie schlafend auf ihrem Bett. Tiefschwarze Nacht lag über Hamburg. Obwohl der Himmel klar war, spendete der abnehmende Mond kaum Licht.

„Marisa“, sagte Steve, kniete sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schulter, „dafür ist jetzt keine Zeit. Ihr müsst verschwinden, bevor Enzo wieder zu sich kommt.“

„Ich weiß.“

Tränen rannen über ihr Gesicht, aber sie verzog dabei keine Mine. Starr saß sie neben Benny, dem treuen Gefährten von Enzo, der seinem Schicksal nicht entkommen konnte, und sah, wie sich unter ihm ein See aus Blut gebildet hatte.

„Marisa, ich bitte dich“, sagte Steve, „du darfst hier keine Spuren hinterlassen. Ich weiß ohnehin noch nicht, wie ich das alles der Polizei erklären soll. Aber darüber musst du dir keine Gedanken machen. Viel wichtiger ist, dass ihr nun geht.“

Ihr war bewusst, dass die Zeit drängte und dass dieser Vorfall mit dem Zwillingsbruder von Tomasio einige Fragen aufwerfen würde. Sie selbst schien noch nicht begriffen zu haben, was sich ereignet hatte und dass Benny leblos am Boden lag. Neben ihm Enzo, der von Steve mit einem Briefbeschwerer zur Strecke gebracht worden war.

„Ja, ich weiß“, sagte sie erneut und war doch unfähig sich zu bewegen.

Sie hörte, wie sich Tomasio in Schmerzen auf dem Boden wand.

„Was war da eben los, als er den Stein nahm, der dann so unglaublich hell leuchtete?“, wollte Steve wissen.

„Das kann ich dir nicht sagen und du würdest es auch nicht verstehen.“

„Dann ist es auch besser, wenn ich es nicht weiß. Kannst du Tomasio nicht helfen?“

„Doch, sicher.“

Jetzt endlich schien in ihr Bewusstsein zu gelangen, was passiert war. Mit einem Ruck riss sie sich vom Boden hoch, darauf bedacht, so wie Steve gesagt hatte, keine Spuren im frischen Blut zu hinterlassen, dass noch immer aus Benny herauslief und den Boden überschwemmte.

Kaum dass sie stand, kniete sie sich erneut nieder, einen halben Meter von Benny entfernt. Vorsichtig legte sie eine Hand auf Tomasios Stirn und schloss die Augen.

Steve hatte sich zu seiner Schwester Alex auf das Bett gesetzt, die von all dem nichts mitbekam.

Es dauerte nur wenige Sekunden und Tomasio ging es besser. Sein Körper entspannte sich, der zuvor vollkommen verkrampft war. Seine Muskeln wurden schlaff und es wirkte, als wäre er gestorben. Doch im nächsten Augenblick öffnete er seine Augen.

„Du hast mich gerettet“, sagte er, „ich danke dir. Das war unvorstellbar. Ich hatte keine Ahnung, wozu Enzo inzwischen fähig ist. Wo ist er überhaupt?“

Marisa deutete mit dem Kopf neben ihn. Wenn man es nicht besser gewusst hätte, man würde annehmen, dass Enzo sich zum Schlafen auf den Boden gelegt hatte. Seine Gesichtszüge waren geradezu friedlich.

Dennoch schreckte Tomasio hoch, als er ihn neben sich sah. Dann sah er zur anderen Seite und bemerkte, dass Benny nicht mehr am Leben war. Schnell zog er seine Hand vom Boden, denn die Blutlache bahnte sich unaufhörlich ihren Weg und hätte ihn jeden Moment erreicht.

„Was ist denn hier in der Zwischenzeit passiert?“, wollte er wissen.

„Du hast nicht viel verpasst“, sagte Steve und hielt die Hand seiner Schwester, „aber vielleicht könnte sich einer von euch noch mit Alex beschäftigen, bevor ihr abreist.“

„Ja, natürlich“, sagte Tomasio und trat ans Bett

Steve war aufgestanden, um ihm Platz zu machen. Tomasio setzte sich und legte Alex eine Hand auf den Arm, während er die andere in seiner Hosentasche verschwinden ließ.

„Warum kannst du das, ohne diesen komischen Stein?“, fragte Steve leise, der neben Marisa getreten war.

„Ich weiß es nicht. Ich kann es eben.“

Sie sah Steve an. Er wirkte geradezu unbeteiligt, als machte ihm das alles nichts aus. Dabei erinnerte sie sich, dass er ihr seine Liebe gestanden hatte. Davon war in diesem Moment jedoch nichts zu spüren. Er war wieder der Mensch, den sie immer kannte, eher ein Bruder als ein Liebhaber. Sie war sich nicht sicher, wie sie damit umgehen und wie sie sich von ihm verabschieden sollte. Es war klar, dass sie ihn für immer verließ.

Bei diesem Gedanken zog sich ihr Inneres schmerzhaft zusammen. Als würde sich ihr Darm um ihren Magen wickeln und ihn qualvoll zerquetschen wollen. Ihr Herz schlug nicht mehr im regelmäßigen Rhythmus, dafür aber viel zu schnell. Ihr wurde schwindelig und sie spürte, dass sie das alles nicht wollte. Trotzdem wusste sie, tief in ihrem Inneren, dass sie keine Wahl hatte.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte Steve, der sie seitlich angesehen hatte.

„Nein, mir geht es nicht gut“, sagte sie und die Worte fielen ihr schwer, „sag mal, macht dir das alles nichts aus?“

„Doch, sehr, ich sterbe, weil ich weiß, dass du gehst und ich nichts tun kann, um dich zu halten. Ich habe dich für immer verloren.“

Während er sprach, sah er stumpf dabei zu, wie Tomasio seine Hand von Alex löste und ihr sanft über das Gesicht strich, ohne dass sie davon aufwachte.

„Wie kannst du dann so ruhig sein?“

„Das ist nichts weiter als Fassade. Ich versuche, mich zu beherrschen und den Schein zu wahren, um es dir nicht noch schwerer zu machen. Ich weiß doch, wie sehr du mich liebst.“

Ein leichtes Zucken war in seinem Augenwinkel zu erkennen.

„Steve, sieh mich bitte an.“

„Nein, das schaffe ich nicht, bitte, geht einfach. Ich kümmere mich hier um alles. Ihr seid nun in Sicherheit und könnt in aller Ruhe nach Italien fahren.“

Das Zucken in seinem Auge wurde stärker.

„Steve, ich möchte mich gern von dir verabschieden.“

„Marisa, ich bitte dich zum letzten Mal, tu mir das nicht an.“

Marisa stellte sich direkt vor ihn, sodass er keine Chance hatte, ihrem Anblick auszuweichen. In dem Moment verlor er seine Fassung.

„Siehst du, genau das wollte ich nicht, es tut mir leid“, sagte er.

Marisa legte ihre Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Es fühlte sich gut und richtig an. Sie spürte seine Wärme, die Nähe, die sie so sehr vermisst hatte. Er könnte ihr für immer gehören und all ihre Träume würden damit in Erfüllung gehen. Stattdessen musste sie ihn verlassen, um mit einem anderen in eine ungewisse Zukunft zu gehen.

Steve legte ebenfalls seine Arme um sie und drückte sie derart fest an sich, dass ihr die Luft wegblieb. Er klammerte sich an sie, als ob er damit vom Gehen abbringen konnte.

„Ich liebe dich so sehr“, sagte er, „es tut mir wahnsinnig leid, dass ich erst jetzt den Mut fand, es dir zu sagen und nicht schon viel früher zu dir stand. Ich war ein Idiot und werde das nun für den Rest meines Lebens bezahlen müssen.“

Er küsste sie auf den Mund. Es war keine Leidenschaft zu spüren. Eher tiefe Zuneigung und Liebe, gepaart mit unendlicher Verzweiflung.

Kurz darauf verschwand sie mit Tomasio nicht nur aus ihrer Heimat, sondern aus ihrem gesamten bisherigen Leben.

 

--

 

Noch immer spürte Marisa die Gefühle, die ihr Steve entgegengebracht hatte, auch wenn alles andere langsam aus ihrem Gedächtnis zu verschwinden drohte. Es war , als ob er nach ihr rufen würde und sie, selbst hier in den Tiefen der Höhle, sein Flehen hören konnte. Er brauchte sie, aber vor allem hatte sie den Eindruck, er sei in Gefahr.

„Marisa.“ Tomasios Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Ich mache mir langsam Sorgen um dich.“

„Das tut mir leid, ehrlich“, sagte Marisa, „aber ich kann es nicht ändern. Ich gehöre nicht hierher.“

„Lass uns doch bitte nicht schon wieder darüber streiten.“

„Ach, wir streiten? Dürfen wir das denn?“

„Marisa, ich bitte dich, lass das sein, wenn uns jemand hört, dann bekommen wir ernsthafte Schwierigkeiten.“

„Und dann?“

„Wir könnten in die Verbannung geschickt werden.“

„So ein Blödsinn. Du weißt selbst, dass das nie passieren wird so lange ich schwanger bin und nicht sichergestellt ist, dass ich ein Mädchen zur Welt bringe und es in ein Alter kommt, in der es nützlich wäre. Wer sollte denn wohl sonst die Steine des Otium bergen?“

Großmutter

 

Nachdem die Frau, die Marisa aus ihren Träumen kannte und die als ihre Großmutter vorgestellt worden war, eine Hand nach ihr ausgestreckt und Marisa am Bauch berührt hatte, sagte sie mit einem gütigen Lächeln: „Du bist in guter Hoffnung“.

Fragend hatte sich Marisa zu Tomasio umgesehen, der sie ebenfalls mit einem Lächeln ansah. Es war vielmehr ein Grinsen, dass sein Gesicht einer Fratze gleichen ließ. Er hatte sich neben sie gekniet, einen Arm um ihre Taille gelegt und sie eng an sich gezogen. Mit einer Hand hatte er ebenfalls ihren Bauch berührt. Sie erinnerte sich, dass sie hoffte zu träumen. Doch seine Worte katapultierten sie in eine Realität, in der sie seither gefangen war.

 

„Jetzt gehörst du für immer zu mir“, hatte Tomasio gesagt und sie auf die Stirn geküsst.

Diese Worte hatten sie in Angst versetzt, denn zu dieser Zeit, als sie gerade in den Höhlen angekommen waren, war sich Marisa noch immer nicht sicher, wer von den Brüdern sie begleitet hatte. Beide waren nach dem Kampf, den eigentlich keiner überlebt haben konnte den Abhang hinunter gestürzt. Und doch hatte einer vor ihr gestanden und behauptet, er sei Tomasio. Sie konnte sich nicht erinnern, welche Farbe sein Pullover hatte. Aber was wäre, wenn er die Kleidung mit seinem Bruder getauscht hatte?

Sie war sich eigentlich sicher, Tomasio anhand seines Wesens identifizieren zu können. Aber vielleicht war Enzo ein verdammt guter Schauspieler. Immerhin waren sie Brüder, da wäre es doch sicher kein Problem den anderen zu imitieren. Zumal sie hier keine Chance hatte, die Brüder anhand ihrer Kleidung zu unterscheiden. Enzo trug maßgeschneiderte Anzüge und sie hatte ihn nie anders gesehen. Während Tomasio eher bequemere Kleidung bevorzugte. Aber hier trugen alle Farletti das Gleiche.

Die weißen Hosen und Oberteile waren wie eine Uniform. So sollten sie sich vom Rest der Pleberosso unterscheiden und ihnen Respekt einflößen.

Ein letzter Funke Zweifel blieb immer zurück, was Marisa verunsicherte und das Leben zusätzlich erschwerte. Doch was blieb ihr anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen. Ganz egal, wer auch immer ihr Ehemann war, sie wusste, sie würde ihm nicht entkommen. Ebenso wenig wie dem schrecklichen Gefängnis, das ihr Leben darstellte.

 

Anfänglich war sie Allem gegenüber aufgeschlossen. Nichts deutete daraufhin, wie furchtbar sich alles entwickeln würde. Schließlich war alles neu und anders. Die Pleberosso waren freundlich im Umgang mit ihr. Damit Marisa sich schnell an die Umstände gewöhnte, wurde sie gleich am zweiten Tag nach ihrer Ankunft zu ihrer Großmutter gebracht.

 

--

 

Die Älteste des Rats war noch immer so schwach, dass sie das Nachtlager nicht verlassen konnte. Tomasio begleitete Marisa bis zu ihrem Abteil. Er war ehrfürchtig vor dem Eingang stehengeblieben, senkte den Kopf und schob Marisa ins Innere.

Es war dunkel. Marisa war kaum in der Lage, ihre Großmutter auf den Decken am Boden zu erkennen. Die Flammen des Feuers in einer Ecke waren kurz davor zu erlöschen. Feuchte Kühle breitete sich aus. Alles war irgendwie klamm. Die Zeit drängte. Ihr war durchaus bewusst, dass sie die Retterin der Pleberosso war. Nur wie sie das bewerkstelligen sollte, davon hatte sie keine Ahnung.

„Setz dich zu mir“, sagte Carmella mit schwacher Stimme.

Bevor Marisa zu ihr kam, legte sie ein frisches Stück Holz auf das Feuer, in der Hoffnung, dass es nicht nur heller, sondern auch ein bisschen wärmer werden würde. Marisa fror furchtbar in der dünnen Kleidung, die man ihr gleich nach ihrer Ankunft gegeben hatte. Nichts sollte an die Sonnenwelt erinnern und so verbrannte man alles, was sie mitgebracht hatte.

In Panik hatte Marisa darum gebeten, sich allein ausziehen zu dürfen, da sie die geschmuggelten Fotos nicht hergeben wollte. Die Vorstellung, dass man ihr den letzten Rest ihrer Erinnerung nehmen konnte, hätte sie niemals ertragen.

„Komm, mein Kind“, sagte Carmella, „gib mir deine Hand.“

Carmella legte Marisa eine Hand auf ihren Unterarm und hielt mit der anderen ihre Hand. Beide schlossen ihre Augen. Marisa wiegte ihren Körper wie in Trance vor und zurück. Manchmal stöhnte sie leise. Nach kaum zwei Minuten löste sich ihre Großmutter von ihr.

Marisa öffnete ihre Augen und wusste nun alles über die Pleberosso. Doch was sie gesehen hatte, beruhigte sie viel weniger, als dass es sie erschreckte. Die Angst vor dem Leben, dass sie hier erwartete, wurde unerträglich. Das konnte unmöglich erstrebenswert sein. Marisa verstand nicht, dass sich bisher niemand gegen dieses Leben aufgelehnt hatte, sondern es ganz im Gegenteil zu genießen schien.

Alles, was Marisa wissen musste, hatte ihre Großmutter ihr gezeigt. Nur eines hatte sie vergessen.

„Ich habe nicht gesehen, wie ich die Steine bergen kann. Warum hast du mir ausgerechnet das nicht gezeigt?“

„Du musst noch lernen, anders zu formulieren. Ich werde dir keine Antworten geben.“

„Das ist etwas, was ich nicht verstehe. Was ist so schlimm daran Fragen zu stellen?“

„Es ist besser so, für uns alle. So machen wir es seit Jahrhunderten. Wir haben nicht gelernt, etwas zu hinterfragen, weil es keine Fragen gibt.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Du bist ein Mensch. Es ist nicht leicht für dich, das verstehe ich, dennoch: du wirst dich fügen und tun, was ich sage.“

„Wie dem auch sei, ich muss ja nicht alles verstehen. Aber du hast vergessen mir zu zeigen, wie ich die Steine berge.“

„Nein, das habe ich nicht vergessen.“

„Aber wie soll ich sie finden?“

„Mein Kind, ich vergebe dir, weil du noch neu bist und dich erst an alles gewöhnen musst, aber ich kann es nicht erlauben, dass du Fragen stellst. Bitte formuliere es anders, wenn du mit mir sprechen möchtest.“

Ratlos sah Marisa ihre Großmutter an. In ihren Träumen war sie ihr gütig und besonders fürsorglich vorgekommen, nun aber hatte Marisa den Eindruck, einer gefühlskalten Frau die Hand zu halten. Angewidert ließ sie Carmella los und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du musst mir sagen, was ich machen muss, um die Steine zu finden.“

„Das kann ich nicht.“

Marisa war sich nicht sicher, was genau ihre Großmutter damit meinte. Es war doch viel eher zu vermuten, dass ihre Großmutter ihr nicht helfe wollte, als dass sie es tatsächlich nicht konnte.

„Dann kann ich auch keine Steine finden. Ganz wie du willst. Ich dachte, dass Leben der Pleberosso sei dir wichtig.“

„Ich habe dir alles gezeigt, was du wissen musst.“

„Aber ich habe keine Ahnung, wo ich nach den Steinen suchen soll, wenn ihr mir nicht sagt, wo ich sie finden werde.“

„Das kann und wird dir niemand sagen können.“

„Es tut mir leid, aber so geht das nicht“, sagte Marisa.

„Doch mein Kind, genauso geht das. Du wirst dich noch heute auf den Weg machen und deine Pflicht erfüllen, so, wie alle anderen weiblichen Farletti vor dir.“

„Aber ich bin nicht wie die anderen. Ich bin ein Mensch, ihr könnt mich nicht so hängen lassen. Ohne dass mir jemand sagt, was ich tun muss, kann ich nichts machen. Du hast doch auch schon Steine gefunden, du wirst doch wissen, wie das geht.“

„Ja, das weiß ich. Aber auch mir hat niemand gesagt, was ich tun muss.“

„Wie könnt ihr sicher sein, dass ich erfolgreich zurückkehren werde? Ich bin doch nur zu fünfzig Prozent eine von euch.“

„Das macht mir auch ein wenig Sorge, aber du wirst es schon schaffen.“

„Und wenn nicht?“

„Diese Option gibt es nicht. Du wirst es schaffen. Du musst es schaffen.“

„Und wenn ich den Weg ebenso wenig zurück finde, wie all die männlichen Farletti, die ihr in den sicheren Tod geschickt habt?“

„Mein Kind, du weißt, ich kann dir darauf nichts sagen. Auch wenn es mich schockiert, dass du davon weißt und ich mir nicht vorstellen kann, wie dieses Wissen zu dir kam.“

Carmella schien auf einmal zu Kräften gekommen zu sein, denn sie setzte sich etwas aufrechter und betrachtete eindringlich ihre Enkelin.

„Dieses Wissen kam von Bernardo.“

„Das ist unmöglich. Er ist nicht mehr am Leben.“

„Oh doch, er lebt. Er hat sich offensichtlich geweigert zu sterben.“

„Dann seid ihr ihm auf eurer Reise also begegnet.“

„Ja, wir trafen ihn im Versorgungsraum.“

„Ich hoffe, ihr habt ihn dort zurückgelassen.“

„Natürlich nicht. Das wäre sein sicherer Tod gewesen.“

„Damit habt ihr dem Rat widersprochen. Du hast ja keine Ahnung, was du angerichtet hast.“

Während Marisa, Tomasio und sein Bruder Bernardo auf den Weg in die Höhlen waren, hatte Bernardo immer wieder davon gesprochen, wie gefährlich es sei, ihn mitzunehmen. Er sei für den Tod bestimmt oder würde in die Verbannung geschickt, was ebenso sein Ableben zur Folge hätte. So oder so, er musste sterben. Er würde alle in Gefahr bringen, wenn er sie weiterhin begleitete.

Marisa aber fand seine Worte geradezu lächerlich. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Großmutter derart kaltherzig war. In ihren Träumen hatte Marisa sie anders kennengelernt und war davon überzeugt, mit ihr über alles reden zu können.

„Darüber müssen wir ohnehin reden …“

„Schweig still.“

Im Gesicht ihrer Großmutter hatte sich etwas verändert. Sah sie zuvor gütig und liebevoll aus, lag nun ein harter Schatten auf ihm, der ihre Falten unterstrich und sie unnachgiebig wirken ließ. Alles andere als gnädig.

„Ich denke, ich habe das Recht, zu sprechen“, sagte Marisa.

„Nein, du hast absolut keine Rechte. Du bist nichts weiter als ein Mensch.“

„Jetzt unterschätzt du die Lage. Ja, ich bin ein Mensch, aber ich bin auch eine Farletti. Ich bin die Farletti, die euch allen das Leben retten wird.“

„Du musst noch sehr viel lernen.“

„Ich weiß, dass ihr mich braucht. Ohne meine Hilfe werdet ihr alle über kurz oder lang sterben. Und wenn ich ehrlich bin, dann sieht es eher so aus, als wäre der Zeitpunkt nicht mehr weit.“

„Du bist nichts. Auch wenn du mein Fleisch und Blut bist, du musst erst lernen, deinen Platz zu finden. Und so lange wirst du tun, was ich dir sage und nicht widersprechen.“

„Das sehe ich aber ganz anders. Vergiss nicht, wenn es mir gefällt, dann kehre ich einfach zurück in die Sonnenwelt. Was geht es mich an, was mit euch passiert?“

„Was hat Sofia da nur für einen Bastard geboren? Niemand wusste, wie schlimm es in der Sonnenwelt tatsächlich ist, aber du bist ein Produkt aus ihr und es zeigt, dass wir recht hatten, uns gegen euch zu schützen.“

„Carmella …“

„Für dich bin ich noch immer die Älteste des Rats und so hast du mich anzureden. Zeige den Respekt, den ich verdiene.“

„Nein, jetzt hörst du mir zu“, Marisa griff nach der Hand ihrer Großmutter und drückte sie fest, dass ihre Knöchel weiß wurden, „ich werde euch helfen und ich werde euch schützen, euch Kinder gebären und damit den Fortbestand sichern. So lange du am leben bist, werde ich mich nach außen hin fügen, aber das wird dich einiges kosten. Wir werden jetzt einige Veränderungen vornehmen, haben wir uns verstanden?“

Die Älteste des Rates nickte. Ihr Gesicht hatte sich nun zu einer vollkommenen Fratze entwickelt, in ihm lag nichts Liebevolles mehr, vielmehr glaubte Marisa, darin so etwas wie Hass zu sehen.

 

Einige Stunden später fand Marisa sich in einem Gewirr aus Gängen und Verzweigungen der Höhle wieder. Ihre Großmutter hatte ihr nicht sagen wollen, was zu tun war, um die Steine des Otium zu finden, aber sie musste Marisa versprechen, dass sich Bernardo in Sicherheit befand, so lange Marisa unterwegs war und auch danach würde er nicht in die Verbannung geschickt werden. Sollte Marisa zurückkehren und feststellen, dass Bernardo fort war, würde sie keine Sekunde warten, um die Pleberosso ihrem Schicksal zu überlassen und für immer zu verschwinden.

Obwohl man von Marisa verlangte, das Gewand einer weiblichen Farletti zu tragen, dass vielmehr nach einer Abendrobe aussah, als nach einem praktischen Kleidungsstück, mit dem man sich auf einen schwierigen Weg hinab in die Höhlen machte, nahm sich Marisa eine Hose von Tomasio ebenso wie ein Hemd. Sie wusste, was es für einen Aufruhr geben würde, sobald man sie sah, denn noch nie hatte es jemand gewagt, sich gegen den Rat aufzulehnen und die Traditionen zu brechen.

Das alles war Marisa jedoch gleichgültig. Sie sah nicht ein, sich mit einem schweren Gewand, in dem sie kaum in der Lage war, die leichten Wege in der Höhle zu überwinden, ohne über den langen Saum zu stolpern, auf eine Expedition zu machen, von der sie nicht wusste, wohin es sie führte.

 

Dabei war ihr eigenes Gewand nur halb so schwer wie das der Farletti des Rates, deren Kleidung sicher einige Kilo wogen. Es war Tradition, bei der Geburt einer weiblichen Farletti mit dem Besticken des Gewandes zu beginnen. Mit jedem Jahr wurde die Stickerei erweitert. Das Gewand wurde ihr erst dann überreicht, wenn die erste Periode einsetzte. Gleichzeitig diente es als Hochzeitskleid. Sobald eine Farletti geschlechtsreif wurde, wartete bereits ein ausgewählter männlicher Farletti darauf, endlich in den Genuss zu kommen, mit einer Frau intim zu werden und diese seine Frau zu nennen.

Kaum dass Marisa mit Tomasio angekommen war, überreichte man ihr das Gewand ihrer Mutter, das inzwischen reich bestickt war. Man hatte es vorsorglich weiterhin bearbeitet, auch wenn nicht sicher war, ob das Kind tatsächlich ein Mädchen war.

Dennoch war noch sehr viel weißer Stoff unter den Perlen sichtbar. Wenn kein einziger Flecken mehr frei war, um bestickt zu werden, erst dann wurde die Farletti in den Rat aufgenommen. Meist waren die Farletti dann schon sehr alt.

Marisa hatte sich ihre Hochzeit ganz anders vorgestellt. Vor allem mit einem Bräutigam, den sie sich ausgesucht hatte und den sie liebte. Auf gewisse Weise fühlte sie sich durchaus zu Tomasio, oder wer auch immer er war, hingezogen. Dennoch war es nicht ihr freier Wille. Aber sie sah ein, dass es notwendig war. Schließlich erwartete sie sein Kind.

Die Trauzeremonie verlief schlicht und sehr einfach. Man erzählte ihr, dass diese Anlässe durchaus Grund zum Feiern gäben und ein ausgelassenes Fest abgehalten würde. Da die Bewohner jedoch von Krankheit und Hunger geprägt waren, sah man davon ab. Das alles würde nachgeholt werden, wenn Marisa erfolgreich zurückkehrte.