Buchcover

Will Berthold

Die Frauen nannten ihn Charly

Roman

Originalausgabe

SAGA Egmont

I

Charly hatte an diesem naßkalten Dezembertag zu einer Party ohne Anlaß in die »Arche Noah« gebeten, und schon kurz vor 21 Uhr sah es aus, als würden die geladenen Gäste – wie schriftlich zugesagt – ausnahmslos erscheinen und dazu noch ein paar Ungebetene. Man gewährte ihnen Einlaß, schließlich war Charly für seine Großzügigkeit bekannt, die immer dann besonders verschwenderisch wurde, wenn ihm das Geld auszugehen drohte. Als man den Ankömmlingen »Veuve Cliquöt« in die Hand drückte und sich herumsprach, daß Champagner – so keine anderen Wünsche geäußert würden – das abendfüllende Getränk bleibe, schien es wieder einmal so weit zu sein. Die neue Mark war erst sechs Monate alt und hatte bereits im ersten Anlauf die Zigarettenwährung vernichtet – aber die Wohlstandsbrause war doch noch ein reichlich rares Getränk.

Der glatte, selbstsichere Dr. Werner Kündig, Charlys Vertrauter und offensichtlicher Stellvertreter, empfing die Ankömmlinge, entschuldigte sich für die Abwesenheit des Gastgebers und verschob weitere Erklärungen auf später. Der Vierzigjährige wandte sich sofort neuen Gästen zu, aber die kapriziöse Petra Meller ließ sich nicht so schnell abwimmeln. »Wo steckt denn Charly nun eigentlich?« bedrängte sie seinen Bevollmächtigten. Ihre rotblonden Haare fielen, unkonventionell geschnitten, tief in die Schultern. Ihr Gesicht war apart und wirkte ganz natürlich; wenn sie lächelte, hatte sie hübsche Grübchen.

»Geduld, Petra – Sie werden gleich erfahren, was mit Charly los ist«, erwiderte Dr. Kündig der gut figurierten und gut situierten Mittzwanzigerin, die vor kurzem, wie sie annahm, Charlys Einzige gewesen war. »Bitte suchen Sie sich den richtigen Platz. Wir haben bewußt keine Tischordnung aufgestellt, so finden Sie sicher einen passenden Gesellschafter. Es soll ganz zwanglos zugehen: Jeder neben jedem, und –«

»Oder jede gegen jede«, unterbrach ihn Petra lachend und entdeckte im Trubel Gesichter, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Die geschlossene Gesellschaft war auch eine gemischte Gesellschaft: Neben Charlys Eintagsfliegen und Favoritinnen ein Staatssekretär, zwei Großindustrielle, der Inhaber eines expansiven Bankhauses, Staatsanwalt Nimm, ein Börsenjobber, ein Schwergewichtsprofi, der frühere US-Major Grady, der jetzt angeblich als Privatmann in Deutschland lebte, der Kripobeamte Gerber und der Präsident der Faschingsgesellschaft, die sich todernst nahm. Auch blaublütige Damen fehlten nicht; in ihrer unmittelbaren Nähe hielt sich Watschel-Paula auf, deren Standplatz sonst in der Sendlingerstraße lag, schräg gegenüber der Asamkirche. Zu ihr gesellte sich die polnische Maria, von der Kenner behaupteten, sie verfüge über einen Zementbusen, wiewohl sie sicher keinerlei Erfahrungen in der Handhabung von Zement hatte. Es ging wirklich quer durch den Gemüsegarten, und die buntschillernde Schar der Versammelten verhieß einen kunterbunten Abend.

Die betuchte Gräfin Grieben hatte einen Platz gewählt, von dem aus sie alles übersehen konnte, ohne in den Trubel einbezogen zu sein. Die wenigsten kannten die Dame mit dem kunstvoll geminderten Alter; die meisten nahmen ohne weiteres an, daß Charly auch in diesen Vollreifen Apfel, fruchtig und saftig, gebissen hatte. Vermutungen, Gerüchte, Anzüglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten – doch keiner der Anwesenden kannte die Rolle, die die Gräfin tatsächlich im Leben des Vielgeliebten spielte.

Genauer Bescheid wußte man schon über Julia Semper, die früher vor berühmten Domfassaden und auf alten Marktplätzen in Freilichtaufführungen »Jedermanns« Buhlin gespielt hatte. Heute war sie ein bekanntes und beliebtes Filmstarlet und gleich mit drei Begleitern erschienen. Petra verfolgte, wie die Filmfritzen eine Art Wurstschnappen um die Leinwandschöne veranstalteten. Keiner schien dabei so recht voranzukommen.

Das Terzett hätte bei Charly in die Schule gehen sollen. Er war eben ein Mann für jede und dadurch für keine. Petra konnte auf ihre Rivalinnen zurücksehen ohne Zorn. Seitdem der Vulkan erloschen war, verbanden sie mit Charly nur noch ziemlich problemlose Beziehungen. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist bekanntlich so geschaffen, daß es die angenehmen Ereignisse behält und die unangenehmen verdrängt. Vielleicht waren deshalb so viele erloschene Flämmchen heute dem Ruf des Gastgebers gefolgt. Er hatte das Talent, abgekühlte Leidenschaft in bleibende Freundschaft auslaufen zu lassen. Die menschliche Qualität eines Mannes erkennt seine Partnerin nicht vorher und nicht auf dem Höhepunkt, sondern meistens erst danach. So betrachtet schnitt Charly gar nicht so schlecht ab.

Es war für Petra offensichtlich, daß viele weibliche Mitglieder aus Charlys Club und Clique nur aus alter Anhänglichkeit gekommen waren, sicher auch einige aus Neugier oder weil sie seine Großzügigkeit schätzten. Als sie jetzt sahen, daß ein großes kalt-warmes Büfett aufgebaut wurde, wußten sie, daß diese Rechnung aufgehen würde.

Auch die Neugierigen würden auf ihre Kosten kommen, denn der Gastgeber fehlte noch immer, genauso wie eine Erklärung seines Ausbleibens. Da die Versammelten ihn kannten, nahmen sie an, daß er an diesem Abend wieder einen besonderen Coup landen würde, und richteten sich auf die Überrumpelung ein. Jedenfalls mußte man bei Charly auf alles gefaßt sein; gelegentlich gefiel er sich auch als Exzentriker.

Sein Bevollmächtigter erblickte in der Tür Cynthia, die amerikanische Generalstochter, begleitet von einem französischen Journalisten. Er ging ihr entgegen. »I’m sure, you’re Miss Macomber«, begrüßte er die Amerikanerin. »Nice to meet you. My name is Kündig. I’m a friend of Charly’s and also his lawyer. I’m sorry, but Charly has been delayed.«

Sie schien enttäuscht, daß Charly aufgehalten worden war, aber von allen Seiten wurde versichert, daß er bald kommen würde. Cynthia stellte ihren Begleiter vor, und der schlanke Rechtsanwalt mit der randlosen Brille und den schütteren Haaren, die ihm eine hohe Stirne machten, geleitete als besondere Auszeichnung diese Gäste persönlich an einen reservierten Tisch, dicht an der Tanzfläche.

Hier tummelten sich bereits die ersten Paare. Die Combo war Charlys Lieblingsband; die drei Musiker beherrschten zusammen zwanzig Instrumente, und sie spielten die Gassenhauer der Saison: »Im Hafen von Adano«, »O mein Papa«, und »Sentimental Journey«; tatsächlich waren ja auch viele mit dem Frauengünstling auf die sentimentale Reise gegangen. Doch immer wieder setzte die Band zu seiner Erkennungsmelodie an: »Don’t fence me in.« Es war das Lieblingslied des abwesenden Gastgebers: »Sperr mich nicht ein.« Tatsächlich hatte der liebe Augustin der Nachkriegszeit schon ein paarmal im Knast gesessen, doch niemals lange. Niemand wußte so recht zu sagen, ob er ein Romantiker war oder ein Abenteurer, ein Michael Kohlhaas oder ein charmanter Freibeuter.

An die hundert Gäste, vorwiegend junge Frauen, begleitet von brandneuen Ehemännern, oder hübsche Mädchen mit ihren Freunden auf Zeit, hatten sich bereits eingefunden, Nachzügler drängten herein. Die »Arche Noah«, Schwabings berühmter Treffpunkt an der Leopoldstraße, würde überfüllt sein, aber das machte schließlich Stimmung. Nach der biblischen Überlieferung waren in Noahs Arche die Tiere, ein Paar jeder Gattung, über die große Sintflut gerettet worden – auch Charlys Gäste glichen Überlebenden einer Zeit, die endlich ihre schlimmsten Zeiten hinter sich gebracht hatte.

Von außen war die »Arche« eine schmucklose Holzbaracke, aber innen hatte sie Stil und Atmosphäre. Sie lag im Norden der Stadt, im Herzen des wieder erstehenden Schwabing, ziemlich genau in der Mitte der großen Durststrecke zwischen dem Siegestor und der Münchener Freiheit. Schwabylon war ein Programm, ein Zustand, mit großem Rummel und bescheidenen Preisen, ein permanentes Rendezvous von Tagedieben und Nachtschwärmern, von Schlaumeiern und Schlawinern, von Prominenten und Provinzlern, von Künstlern und Lebenskünstlern, die die Leinwand vorwiegend horizontal zu spannen pflegten.

Vis-à-vis, im Jazzkeller des »Studio 15«, war der Eintritt frei. In den Schwabinger Beizen, die so dicht beieinander lagen wie die Sommersprossen im Gesicht einer Rothaarigen, kostete einheitlich das Bier eine halbe, ein Schnaps eine ganze Mark, wobei er meistens den Nachnamen »Verschnitt« führte. Bei »Mutti Bräu« gab es für zwei Mark fünfzig zwei Schnitzel und im »Siegesgarten« zum gleichen Preis eine üppige Portion Langustensalat. Zigaretten wurden noch stückweise verkauft, und die Mädchen erhielt man, wenn man als Bewerber gefiel, gratis; andernfalls blieben sie unerreichbar. Sie waren – von Ausnahmen abgesehen – durchaus unkäuflich, sehr lustig, geschickt und mit wenig Aufwand hübsch zurechtgemacht, sie hatten noch keinen Pillenfrust im Gesicht, und sie trugen auch noch keine Strumpfhosen.

Die geschlossene Gesellschaft war jetzt fast vollzählig. Charlys Bevollmächtigter sah auf die Uhr. Sicherheitshalber wollte er doch noch Nachzügler abwarten.

Julia, das Filmsternchen, das dabei war, eine ernsthafte Schauspielerin zu werden, erblickte Petra, kam auf sie zu und umarmte sie. »Setz dich doch zu uns«, sagte sie. »Ich hab’ zwei Begleiter zu viel.«

»Zwei oder drei?« fragte Petra.

Sie lachten beide, sie verstanden sich immer; die rotblonde Attraktion folgte der Einladung. Es gab keine reservierten Tische mehr; Charlys Schönheitsgalerie mußte enger zusammenrükken. Es schien, als sollte an diesem Abend seine lebende Biographie, ein Querschnitt seiner wilden Jahre dargestellt werden.

Der Champagner erfüllte seine Pflicht, die Stimmung wuchs, wurde ausgelassen und versöhnlich. Die Rivalitäten versanken in perlenden Gläsern, ihr Inhalt wirkte wie Balsam auf offene Wunden, und die Witwe Cliquot machte Konkurrentinnen zu späten Schwestern, die einander verziehen und sich um die Wette erinnerten.

Fiorella, die rassige Italienerin, nannte den Abwesenden abwechselnd »Charly Pronto« oder »Charly Niente«, Suzanne, die Pariserin, »Charly oh là là«, die etwas plumpe Monika »Charly bum-bum«. Petra lobte ihn als »Schlawiner mit Herz«. Für Cynthia Macomber war er »Everybody’s Charly«. Die kühl-blonde Baronin Annette von Güßregen, die kaum ein Wort zu viel sagte, ging aus sich heraus und nannte Charly einen »krummen Hund, doch auch tollen Freund«.

»Sicher ist er ein schräger Vogel«, sagte die kesse Christa zu ihrem schmollenden Begleiter, »aber jedenfalls ein Filou mit Format.«

»Format hat eine Zigarette«, erwiderte der Ungehaltene grimmig.

Christa betrachtete ihn schweigend, verglich ihn wohl mit seinem Vorgänger; dabei schnitt der Amtierende offensichtlich schlecht ab.

Selbst ein abwesender Charly provozierte noch Eifersucht. Die scharfzüngige Annegret ging beim Anblick der vielen, die sie gekränkt hatten, beleidigt auf Dr. Kündig los. »Halten Sie diese Zusammenstellung für sehr geschmackvoll?« fuhr sie Charlys Stellvertreter an.

»Der Wunsch meines Mandanten«, erwiderte der Elegant. »Nicht ich habe eingeladen, sondern er.«

»Und die Wünsche Ihrer Mandanten erfüllen Sie, auch wenn sie undelikat und verletzend sind?« inszenierte Annegret den ersten Zwischenfall des Abends.

»Wenn ich Sie davon nicht abbringen kann«, ließ sie der Rechtsanwalt ablaufen.

»Sie alberner Winkeladvokat!« fuhr die Blondine den Erfolgsanwalt an und fummelte mit ihrer Handtasche vor seinem Gesicht herum, als wollte sie ihn damit schlagen. »Sie lächerlicher Paragraphenschuster! Ich – ich lasse mich nicht beleidigen, nicht von Ihnen und nicht von Ihrem Spießgesellen!«

Annegret rauschte hinaus. Als einzige verließ das hochgewachsene Mannequin die Veranstaltung vor dem großen Knall; sie war nur gekommen, um Charly die Meinung zu sagen.

»Gehört diese Dame auch zu den Blumen, die Charly gepflückt hat?« fragte Cynthia; sie hatte ein niedliches Deutsch erlernt. »Sie kann doch nicht seinem Geschmack entsprechen.«

»Er ist nun mal ein Vielfraß«, erwiderte Petra, »und ihr Blond ist so impertinent.«

»Meinen Sie, daß er mit all diesen Damen etwas gehabt hat?«

»Nicht mit allen«, sprang Julia ein, »aber mit den meisten.« Ihr Lächeln unterschlug nicht, daß sie nicht nur »Jedermanns« Buhlin gewesen war, sondern auch mit Charly liiert, soweit man es mit einem Mann wie ihm sein konnte. »Sind Sie denn so standhaft geblieben?« fragte die photogene Julia ein wenig spöttisch.

»Ich bin ein Mädchen aus dem Mittelwesten«, erwiderte die mittelgroße Amerikanerin mit den Türkisaugen und der Himmelschmeckernase. »Bei uns geht man zuerst in die Kirche und dann ins Bett.«

»Und wenn man weit vom Mittelwesten entfernt ist«, versetzte Petra, »und lange in Europa gelebt hat, kann man da nicht einmal die Reihenfolge durcheinanderbringen?«

»No comment«, entgegnete der frühere Leutnant der US Army. Cynthia eroberte mit ihrem Lachen die Tischrunde.

Der unsichtbare Gastgeber blieb der Hahn im Korb, selbst wenn er heute nicht krähte. Die Frauen nannten ihn Charly, und Julia hätte wetten können, daß die meisten nicht einmal seinen Nachnamen kannten, zumal er ihn ja auch – nicht ohne Grund – gelegentlich gewechselt hatte; doch nie seinen Vornamen. Vielleicht war der Frauenkenner auch ein Frauenopfer? Mochte er ein Herzensbrecher sein, so hatte er sich doch auch stets als ein herzensguter Herzensdieb erwiesen. Der Alkohol rückte seine guten Werke zunehmend ins Bild.

Als letzter Gast tauchte jetzt Jimmy auf, der, wenn man davon absah, daß er ein Ganove war, als ehrliche Haut galt. Natürlich war er als bayerischer Sepp zur Welt gekommen und hatte seinen Vornamen nur amerikanisiert. Sepp konnte jeder heißen; Jimmy hielt er für noch ziemlich einmalig.

Er hatte ein offenes Gesicht, glich einem Freistilringer, der gleich aus den Nähten platzen mußte. Bier wäre ihm lieber gewesen als Schampus, aber er wagte nicht, bei dem feinen Ober, der ihm das Glas in die Hand gedrückt hatte, den Wunsch nach Gerstensaft zu äußern; er hatte Charly in der Zelle kennengelernt.

Jimmy bemerkte den Kriminalbeamten Gerber und wollte vor ihm in Deckung gehen. Auf der Flucht erkannte er die Gräfin Grieben, sie saß noch immer allein in ihrer Ecke. Er näherte sich ihr unschlüssig, schlich um sie herum wie ein schwanzwedelnder Hund um den heißen Freßnapf.

Sie winkte Jimmy heran, forderte ihn mit einer Handbewegung auf, neben ihr Platz zu nehmen. »Sie müssen doch wissen, wo sich Charly zur Zeit aufhält?« fragte sie ihn.

»Leider nicht, Frau Gräfin«, erwiderte er. »Ich habe ihn schon seit sieben Monaten nicht mehr gesehen.«

»Warum das?«

Er zögerte. »Ich war in St. Adelheim«, erklärte er dann, leicht verlegen.

»Im Kurort – zur Erholung?« fragte sie belustigt.

»Im Untersuchungsgefängnis Stadelheim«, erläuterte Jimmy kleinlaut. »Natürlich unschuldig«, setzte er rasch hinzu.

»Wie damals, als Sie meinen Schmuck klauen wollten?« fragte die Dame mit der dreireihigen Perlenkette.

»Seien Sie doch nicht so nachtragend«, entgegnete Jimmy ziemlich beunruhigt, sich nach Gerber, dem Kripobeamten, umsehend; er stellte erleichtert fest, daß der Bulle außer Hörweite war.

Es war jetzt 21 Uhr 30, und noch immer beantwortete Rechtsanwalt Kündig Fragen nach Charlys Verbleib ausweichend und unverbindlich. Selbst die Arglosen nahmen jetzt an, daß der Veranstalter der Party etwas Besonderes im Schilde führte. Die Spannung wuchs; die Erwartung kletterte höher und höher, als wollte sie den in diesem Jahr von einem Düsenjet aufgestellten Höhenrekord von 19400 Metern brechen.

Begründungen wurden erfunden, Erklärungen herumgereicht. Am Tisch I kam das Gerücht auf, Charly habe ganz plötzlich geheiratet und nutze den Abend, seine vorläufige Endgültige zu präsentieren. Tisch II kolportierte, daß es sich um eine blutjunge rumänische Zigeunerprinzessin handle; bei Tisch III war sie zur amerikanischen Dollarmillionärin geworden, und zuletzt erfuhren Petra, Cynthia und Julia, Charly und seine Auserwählte seien sogar von einem echten Bischof getraut worden.

»Glaubst du das?« fragte Petra.

»Den Bischof würde ich ihm schon abnehmen«, erwiderte Julia. »Aber nicht die Ehe. Er hat immer einzelne Damen hintergangen, weil er allen treu sein wollte.«

Sie lachten; der Kummer von einst war zur Episode geworden, Charlys Unverfrorenheit zum Witz.

»Er sagt immer, er fürchte nur drei Dinge im Leben«, erklärte die reizvolle Julia, der die kurzgeschnittenen Haare ausgezeichnet standen. »Angeborene Verschwendungssucht –«

»– sture Gesetze«, ergänzte Petra.

»Und weibliche Eifersucht«, schloß die Amerikanerin.

Sie lachten alle drei – sie gefielen einander.

Der Stellvertreter des Gastgebers bat zum Büfett. Er hatte sich entschlossen, die Überraschung des Abends bis nach dem Dinner aufzuschieben, da sie sich den meisten auf den Magen schlagen mußte. Die Gäste standen Schlange; sie griffen beherzt zu. Der Kalorienterror war noch nicht in Mode, und die wenigsten brauchten nach den Hungerjahren um ihre Figur zu fürchten.

In vierzehn Tagen würde das ereignisreiche Jahr 1948 zu Ende gehen. In Bonn tagte der Parlamentarische Rat, um die Verfassung für die künftige Bundesrepublik auszuarbeiten. Die Währungsreform, an der sich die Sowjets – trotz Einladung ihrer früheren Verbündeten – nicht beteiligt hatten, beendete den Traum von der Einheit Deutschlands und füllte die leeren Regale in den Geschäften bis zum Bersten. Die Lebensmittelbewirtschaftung war nur noch ein Feigenblatt auf der Brieftasche.

Im Gegenzug strangulierten die Russen Berlin, schalteten der tapferen Stadt den Strom ab, blockierten den Güterverkehr. Die drei Westsektoren der früheren Reichshauptstadt mußten aus der Luft versorgt werden. Ununterbrochen starteten die »Rosinenbomber«; an einem Rekordtag schafften 896 Flugzeuge 7000 Tonnen Nahrungsmittel über die Luftbrücke nach Berlin. Trotzdem stellte sich die Bevölkerung die bange Frage, wie lange die Alliierten die Versorgung aus der Luft noch durchstehen würden.

Mehr als eineinhalb Millionen Kriegsgefangene befanden sich noch im Gewahrsam der Sieger. 750 deutsche Fabrikanlagen waren demontiert worden, aber auch anderswo hatte man Sorgen. Während die DM zum Siegeszug ansetzte, mußten der französische Franc und die italienische Lira abgewertet werden.

Der Marshallplan lief an. Für das erste Jahr waren 4875 Millionen Dollar für das amerikanische Hilfsprogramm vorgesehen. Die Zeit war hart, der Westen rückte zusammen. Mitunter wurden die Sorgen übermächtig, aber es gab auch Lichtblicke: Die Frauen waren eher feminin als feministisch, die rechtschaffenen Buchhalter wurden noch nicht durch seelenlose Computer ersetzt, es gab noch keine Gammler, Fixer, Rocker, keine Punks, Spontis und Chaoten, keine Massenarbeitslosigkeit und keine Geldwaschanlagen für nimmersatte Politiker. Die Roten waren eher rosarot, und Grün war eine Farbe und keine politische Richtung; saurer Regen, Flugzeugentführungen, radioaktive Verseuchung, Retorten-Babies, Herzverpflanzung und Gen-Manipulation gehörten noch in die Horrorkammer der Zukunft.

Am langen Büfett kam es zu kurzen Gesprächen.

»Wenn Charly eine Erbschaft gemacht hat, dann bringt er sie jedenfalls heute abend durch«, sagte Staatsanwalt Nimm zu dem Bankier. »Oder hat er einen Fischzug gelandet und ruiniert sich wieder einmal?«

»Er ist ein routinierter Selbstruinierer«, erwiderte der Mann von Geld. »Aber mir ist darüber nichts bekannt. Und ich führe ja schließlich seine Konten.«

»Alle?«

»Die überzogenen«, versetzte der Privatbankier lachend. »Aber ich will das Bankgeheimnis nicht verletzen.«

Der Andrang der Wartenden wurde noch größer, es gab einen Stau.

»Soll ich Ihnen etwas holen, Frau Gräfin?« fragte Jimmy höflich.

»Salat und etwas mageres Fleisch«, erwiderte sie. »Nicht viel und nichts anderes, bitte.«

Er erhob sich sofort. Erleichtert, weiterer Erörterung des seinerzeitigen Reinfalls zu entkommen, prallte er mit Gerber zusammen.

»Schon wieder raus?« fragte der Kripobeamte taktlos.

»Ja«, entgegnete Jimmy, »und zwar diesmal für immer und ewig.«

»Also mindestens für sieben Monate und drei Wochen – nutzen Sie die Ewigkeit«, spottete der Mann vom Dezernat zur Bekämpfung der Intelligenzdelikte. »Hat Ihr Freund Charly heute abend eigentlich etwas vor?« fragte er.

»Das weiß ich nicht«, versetzte Jimmy. »Und wenn ich’s wüßte, würde ich es Ihnen nicht auf die Nase binden.«

Der Bulle ging an das Büfett, häufte auf seinen Teller zielstrebig Delikatessen, die es in keinem Beamtenhaushalt gab, selbst an den höchsten Feiertagen nicht: Kaviar, Lachs, Salm, Hummer, getrüffelte Gänseleber, Bündnerfleisch, Carpaccio und vieles, was er nicht kannte, dazu raffinierte Saucen, delikate Marinaden, pikante Salate.

Die Kenner aus Finanz-, Regierungs- und industriekreisen erörterten, ob »Humpelmayer« das Büfett erstellt habe oder »Schwarzwälder«. Sie bedienten sich bescheiden: Einmal hatten sie es öfter, und dann achteten sie bereits auf ihre Gesundheit, gewillt, den Tag, an dem in schwarzumrandeter Anzeige versichert wurde, wie unvergeßlich der teure Verblichene bleiben werde, möglichst lange hinauszuschieben. Ausgerechnet die Einnehmer hoher Diäten hielten sich als erste an die Diät.

Um 22 Uhr 30 war es so weit: Dr. Kündig erhob sich und klopfte an sein Glas. Er hatte es schwer, sich gegen die ausgelassene Stimmung durchzusetzen. Die Gäste hatten dem Schampus so lebhaft zugesprochen, daß die Marke gewechselt werden mußte, nicht jedoch die Qualität. Endlich wurde es ruhiger. Selbst den Beschwipsten fiel jetzt die ernste Miene des Gastgeber-Stellvertreters auf – aber Juristen müssen ja immer ihr feierliches Brimborium abziehen.

»Verehrte Ehrengäste«, sagte der Rechtsanwalt mit einer knappen Verbeugung zum Tisch der Wirtschaftsgrößen, an dem auch der Staatsanwalt und der Kripobeamte Platz genommen hatten. »Liebe Freunde des Gastgebers«, ergänzte der Bevollmächtigte die Anrede. »Zunächst noch einmal meinen Dank für Ihr Kommen. Mein Mandant hat auf Ihr Erscheinen großen Wert gelegt und mich sogar gebeten, auf Ihrer Zusage mit Nachdruck zu bestehen, was glücklicherweise gar nicht nötig war.« Er wirkte sachlich. Nur sein linkes Auge zwinkerte nervös. »Sie alle stehen in einer freundschaftlichen, geschäftlichen oder amtlichen Beziehung zu dem Mann, der uns heute so verwöhnt. Er ist der Regisseur dieses Abends, und ich folge nur seinen Anweisungen, sowohl als sein Freund wie als sein Rechtsvertreter.«

Die Nebengeräusche verstummten allmählich. Die letzten Genießer legten das Eßbesteck beiseite, verschoben den Nachtisch auf später.

»Leider kann er nicht unter uns sein – und warum das der Fall ist, wird er Ihnen nun selbst erklären.« Dr. Kündig nickte den Musikern zu.

Sie zogen die Schutzhaube von einem unförmigen Gerät, verbanden es mit ein paar Handgriffen mit dem Verstärker, an den die Lautsprecher angeschlossen waren. Tonbandmaschinen waren im Nachkriegsdeutschland noch neu und mußten von den Amerikanern ausgeliehen werden.

»Okay, Herr Doktor«, rief der Schlagzeuger, und der Rechtsanwalt trat an das Gerät heran und ließ das Band von der Spule. Sie drehte sich; zuerst war nichts zu hören, dann kamen Geräusche und schließlich Charlys Stimme, klar, deutlich, ein wenig akzentuierter, als er sonst zu sprechen pflegte. Vermutlich hatte er für die Aufnahme lange geprobt.

»Also, ihr Lieben«, begann er. »Ich kann euch gar nicht schildern, wie gerne ich jetzt unter euch wäre – aber das ist leider unmöglich, und ihr werdet auch gleich erfahren, warum wir nie mehr beisammen sein werden.« Die Spule drehte sich ein paarmal tonlos, und bevor Charlys Stimme wieder da war, starrten alle seinen Sachwalter an. Er war der einzige, der den Inhalt des Tonbands kannte; er konnte Gelassenheit demonstrieren, aber der Wackelkontakt seines linken Auges war jetzt deutlicher zu sehen.

»Der guten Ordnung halber möchte ich euch sagen, daß heute der 7. März 1948 ist. Ich komme gerade vom Skilaufen. Ich bin von der Piste abgekommen und an einem Felsüberhang siebzig Meter tief abgestürzt. Ich bin in einer tiefen Schneemulde gelandet, bin nur leicht verletzt, also glimpflich davongekommen, doch der Schock ist noch da, und ich frage mich, was sein könnte, wäre ich nicht zufällig in einer Schneeverwehung aufgekommen. Das verschafft mir einen nachdenklichen Tag, und so bin ich entschlossen, Dinge zu ordnen, die man sonst vor sich herzuschieben pflegt.«

Einige von Charlys Freunden wußten von dem Skiunfall und hatten auch bemerkt, daß er noch eine Zeitlang an ihm laborierte, bis er ihn später wieder vergessen hatte – aber warum inszenierte er jetzt, ein dreiviertel Jahr danach, diese aufwendige Schau?

»Zunächst noch ein technischer Hinweis«, kam seine Stimme wieder vom Band. »Ich werde die Aufnahme meiner Worte, die ich jetzt in das Mikrophon spreche, bei Rechtsanwalt Dr. Kündig in einem versiegelten Umschlag deponieren, und ich hoffe, daß noch viel Zeit verstreichen wird, bevor er das Kuvert öffnen muß. Die Vorstellung, daß mir etwas zustoßen könnte, ohne daß ich mich von euch verabschiedet hätte, bedrängt mich seit einer Weile. Es ist nicht so, daß ich eine ausgesprochene Todesahnung hätte, aber ein Mensch, der denkt, muß damit rechnen und sorgt vor, auch wenn er noch verhältnismäßig jung ist. Bereits als Kinder erfassen wir ja, daß wir mit unserer Geburt eigentlich auch zum Tode verurteilt sind. Das ganze Leben ist nur mehr oder weniger der Versuch, die Vollstreckung möglichst lange hinauszuschieben –«

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf, der Kripomann Gerber zischte halblaut: »Das ist eine Blasphemie – ein Blödsinn –«

Die anderen Zuhörer wirkten verwirrt bis bestürzt; unbeeindruckt war keiner.

»Was danach kommt, wissen wir nicht – wir können allenfalls hoffen, daß es – wie auch immer – weitergeht. Entschuldigt, liebe Freunde, diesen melancholischen und philosophischen Ausrutscher, aber ich möchte euch heute einmal ernsthaft kommen. Unter anderem bin ich ja auch ein Rennfahrer, und ein solcher muß immer damit rechnen, einmal aus der Kurve geschleudert zu werden. Ich liebe das schnelle Leben, und wenn ich mich recht erinnere, haben einige von euch, vor allem du, liebe Petra, und auch du, verehrte Annette, schon ein paarmal behauptet, einer wie ich werde keinen natürlichen Tod erleiden.«

Die Stille wurde beklemmend. Einige schüttelten verständnislos den Kopf; aber die meisten erfaßten, daß es sich bei der Tonbandansprache um keinen albernen Coup handelte, sondern daß sich den lockeren Worten eine schlimme Eröffnung anschließen mußte. Das Erschrecken geisterte als unheimlicher Gast durch den Raum. Alle starrten Dr. Kündig an, als könnte er den Spuk vertreiben und das unbestimmte Entsetzen beenden.

»Aber was ein natürlicher Tod ist, darüber könnte man streiten. Wenn’s nach mir ginge, würde ich überhaupt nicht sterben. Wenn es aber schon sein muß, dann wenigstens nicht im Krankenhaus, Gefängnis oder Altersheim. Nicht daß ich erpicht darauf wäre oder daß ich etwa Selbstmordgedanken hätte. Ich liebe das Leben, wie ich an euch hänge, die Gefahr schätze und meine Freude daran habe, Geld zu verdienen und auszugeben. Es ist mir ein Bedürfnis, euch einzuladen, solange ich dazu in der Lage bin. Deshalb würde ich es hassen, einfach sang- und klanglos aus eurer Mitte zu verschwinden. Darum treffe ich nunmehr gewisse Vorbereitungen.

Ich werde bei meinem Freund und Anwalt auch einen ordentlichen Betrag hinterlegen – unter anderem zur Finanzierung dieses Abends. Ich möchte diese Runde nicht als Zechpreller verlassen.«

Flackerndes Kerzenlicht spiegelte sich auf den Gesichtern, zog Jahre ab, addierte welche hinzu, verschönerte oder vergröberte, wurde zum Zerrspiegel oder zur Schmeichelei, je nach Laune des Luftzugs. Keiner konnte sich mehr verstellen, seine wahren Empfindungen beherrschen, eine Stärke der Nerven vortäuschen, über die er nicht verfügte. Hände spielten nervös auf den Tischen, Angstschweiß wurde sichtbar.

»Wenn ich euch heute also zusammenrufe, habe ich – ohne das Datum dieses Tages zu kennen – den Löffel bereits abgegeben und bin, wie man so schön sagt, in einer anderen Welt.

Wann, warum und wie das geschehen ist, wird euch Dr. Werner Kündig erklären.

Er ist mein Testamentsvollstrecker und hat meinen ausdrücklichen Auftrag, euch über das erste Erschrecken hinwegzuhelfen, Ich bin kein Freund von Traurigkeit, und so will ich auch keine traurigen Gesichter hinterlassen. Wenn ihr vielleicht gelegentlich an mich denkt, was ich hoffe, sollt ihr die Erinnerung an einen lustigen Kerl behalten, der sich als Wellenreiter auf den Fluten unserer stürmischen Zeit versucht hat, ein paarmal abgeworfen wurde, aber immer wieder aufgestiegen ist …

So bitte ich euch jetzt, das Glas zur Hand zu nehmen und meinen albernen Trinkspruch zu verwirklichen: ›Wer trinkt, zerstört sein Leben, aber wer nicht trinkt, lebt nicht.‹

In diesem Sinne also: Servus, Petra, Annette, Christa, Annegret. Küss’ die Hand, Julia. Ciao, Fiorella. Adieu, Suzanne. Bye-Bye, Cynthia –«

Die Spule drehte leer.

Der selbstgehaltene Nekrolog war zu Ende.

Charlys Worte hatten die Anwesenden überrollt wie eine Dampfwalze, und wie nach einem Verkehrsunfall erfaßten viele nicht, was geschehen war, und wehrten sich andere gegen die Erkenntnis. Es war, wie wenn im Kino nach einem erschütternden Finale plötzlich wieder das Licht angeht und die Besucher einen Moment lang unfähig sind, zu sprechen oder sich zu erheben, weil sie erst noch ihre verstörten Gesichter ordnen müssen.

In diese Stille hinein sagte Dr. Kündig: »Ich erhebe das Glas auf Charly, der nicht mehr unter uns ist.« Die Anwesenden folgten ihm mechanisch. »Ex!« setzte der Anwalt hinzu.

Sie tranken aus.

Die Kellner füllten sofort nach.

Langsam, leise und getragen setzte die Melodie »Don’t fence me in« ein – als profanes Requiem für Charly.

»Ich muß jetzt amtlich werden«, stellte Rechtsanwalt Kündig fest und nahm ein Schriftstück zur Hand. »Ich habe hier eine Mitteilung der italienischen Polizei, daß Charly am 24. November in der Nähe von Palermo frontal gegen einen Baum gefahren und sein Wagen in Brand geraten ist. Er ist in den Flammen umgekommen.« Dr. Kündig hob die Hand. »Man nimmt an, daß er das Bewußtsein schon verloren hat, bevor er verbrannt ist. Die Polizei vermutet, daß bei forcierter Fahrt in einer Kurve der linke Vorderreifen geplatzt ist und der Wagen sich deshalb nicht mehr steuern ließ. Der Fall wurde amtlich abgeschlossen, der Totenschein bereits am 27. November ausgestellt. Ich habe hier eine beglaubigte Abschrift.« Er wies das Dokument vor. »Da sich in Charlys Gepäck im Hotel ein Hinweis auf mich befand, wurde ich von der italienischen Polizei benachrichtigt. Ich bin unverzüglich nach Sizilien geflogen und habe dort aus eigenem Augenschein festgestellt, daß sich die Dinge so ereignet haben, wie die Carabinieri behaupteten. Charly ist allein im Wagen gewesen, auf dem Weg zu einer Bekannten. Selbstmord ist nicht auszuschließen, aber äußerst unwahrscheinlich. Ich habe veranlaßt, daß die Urne mit Charlys Asche nach München überstellt und hier beigesetzt wird.« Er machte eine kurze Pause. »Ich sehe Ihre Betroffenheit und Ihre Trauer«, sagte er dann. »Und ich teile sie. Ich muß aber darauf hinweisen, daß Charly in seiner letzten Verfügung darauf bestanden hat, Ihnen die Hiobsnachricht zu vorgerückter Stunde bei vorgerückter Laune mitzuteilen. Das ist geschehen. Es bleibt mir nur noch zu sagen: Wir sind ärmer geworden. Trinken wir noch einmal auf Charly!«

Die Gäste erhoben sich zum zweiten Mal. Fiorella sagte nicht mehr: »Charly Niente.« Schluchzend wiederholte sie immer wieder: »Niente Charly – Niente Charly –«

»Charly, wie er lebt und stirbt«, stellte Petra fröstelnd fest.

»Kann man so etwas so schnell begreifen?« erwiderte Annette. »Ich hab’ ihn wirklich manchmal zum Teufel gewünscht, aber daß er jetzt, mit achtundzwanzig, so sinnlos und einsam stirbt –«

»Diese verdammte Schulweisheit, daß jung stirbt, wen die Götter lieben«, entgegnete Julia.

Sie redeten und tranken sich über den ersten Schmerz hinweg.

Aber nicht alle teilten ihn.

»Der Mann hätte zum Theater gehen müssen«, sagte Staatsanwalt Nimm. »Bei so einer Begabung für Bühneneffekte.«

»Mit einem solchen Einsatz hat jeder Erfolg«, versetzte Kripo-Gerber. Er wandte sich an Dr. Kündig: »Wenn ich Sie recht verstanden habe, liegt die Todesnachricht schon über vierzehn Tage zurück.«

»Fast drei Wochen«, erwiderte der Anwalt.

»Warum haben wir dann nichts davon erfahren?« fragte Gerber. »Auf dem Amtsweg.«

»Das wundert mich auch«, erwiderte der Testamentsvollstrecker. »Die deutsche Polizei wurde benachrichtigt«, sagte er. »Mit gleicher Post. Ich hab’ den Durchschlag des Schreibens in Palermo selbst gelesen.«

»Ich nicht«, konterte der Kriminalbeamte. »An wen war es gerichtet?«

»An das Unfallkommando der Münchener Polizei«, erwiderte der Anwalt. »In italienischer Sprache natürlich.«

»So ein Blödsinn«, schnaubte der Leiter des Betrugsdezernats. »Man hat das Schreiben nicht an mich weitergeleitet.«

»Warum denn auch?« fragte Dr. Kündig scheinheilig, als wüßte er es nicht. »Hätte es denn einen Grund gegeben?«

»Sie wissen doch ganz genau, daß wir schon lange gegen Ihren Mandanten gewisse Ermittlungen –«

»Lange und vergeblich«, entgegnete der Rechtsanwalt. »Die können Sie jetzt abschließen.« Er wollte es nicht ganz mit der Kriminalpolizei verderben, aber seine Genugtuung blieb offensichtlich.

»So geht’s im Leben«, sagte Staatsanwalt Nimm am Nebentisch zu dem Privatbankier Müncheberg. »So schnell verlieren wir einen Verdächtigen und Sie einen Kunden.« Der Angesprochene nickte zerstreut. »Kostet Sie diese Hiobsnachricht nun viel Geld?«

»Wer spricht denn schon in einer solchen Situation von Geld? Sie sind ganz schön herzlos, Herr Dr. Nimm.«

»Ich meine die überzogenen Konten.«

»Die sind abgesichert. Wir verlieren nichts. Keine Mark. Außerdem hab’ ich für Charly schon immer eine Schwäche gehabt. Ich habe den Mann nämlich gemocht.«

»Dann mein herzliches Beileid«, versetzte der Staatsanwalt pikiert. Von nun an aber hielt er sich zurück; er hatte erfaßt, daß Zynismus in dieser Runde nicht ankam. Na ja – de mortuis nil nisi bene. Jetzt würde wohl die verspätete Nikolausparty zum handelsüblichen Leichenschmaus ausarten.

Tatsächlich machten nun Charlys Eskapaden die Runde. Er wurde von Minute zu Minute interessanter, unwiderstehlicher, kühner, schlagfertiger und menschlicher. Die Gräfin Grieben gehörte zu den Gästen, die sich auch nicht vorübergehend mit Champagner über den Verlust hinwegtrösten konnten, und Jimmy, die ehrliche Haut, sagte mit trockener Kehle: »Es ist furchtbar, Frau Gräfin … Aber vielleicht hat sich Charly bloß wieder einen Schabernack ausgedacht«, setzte er tröstend hinzu.

Die Gräfin stauchte ihn zurecht: Jimmy konnte eben nur in seiner Ganovenmentalität denken. Sie griff nach ihrer Handtasche und verließ das Fest, ohne sich von irgendwem zu verabschieden.

»Von Ihnen habe ich nichts gewußt«, sagte Petra zu vorgerückter Stunde zu Cynthia. »Wo haben Sie eigentlich Charly kennengelernt?«

»Sie werden es nicht glauben«, erwiderte die Amerikanerin. »Charly war der erste Deutsche, den ich persönlich kennenlernte – der erste auch, dem es gelungen ist, mich zu verblüffen. Damals, etwa knapp zwei Monate nach Kriegsende, in der schlimmsten Zeit, als die Besiegten um die GIs herumstanden und warteten, bis sie ihre Kippen wegwarfen. Sie werden verstehen, daß wir Amerikaner damals noch nicht sehr gut – dafür gab’s einige Gründe – auf die Krauts zu sprechen waren. Ich hatte eine Autopanne – und da stand Charly auf einmal als Retter in der Not vor mir und bot mir eine Zigarette an.«

»Und?« fragte Petra.

»Ich hab’ sie genommen«, erwiderte die Amerikanerin lächelnd, »und hätte mich dafür hinterher ohrfeigen mögen. Es war eine seltsame Situation, Ende Juni 1945. Ich war wirklich in –«, sie fand das deutsche Wort nicht, »– in a terrible –«

»In der Klemme, Cynthia?«

»Und wie«, erklärte sie, und mit ihrer Schilderung beginnt Charlys Geschichte.