Cover

Kurzbeschreibung:

Dramatische Stunden, geballte Emotionen und schicksalsträchtige Momente – das zeichnet sie aus, die Sternstunden der Geschichte. Ob Luthers Thesenanschlag, das entscheidende Tor beim Wunder von Bern oder der Tag, an dem die Mauer fiel: Guido Knopp versammelt 100 Ereignisse, die unserer Geschichte und unserem Gefühl als Deutsche eine neue Richtung gaben. Begleitet von eindrucksvollen Bildern, ist so ein ungewöhnlicher Gang durch die deutsche Geschichte entstanden.

Guido Knopp

Die Sternstunden der Deutschen


Edel Elements

Edel Elements

Inhalt

Die Sternstunden der Deutschen

800 Die Kaiserkrönung

955 Sieg auf dem Lechfeld

1356 Die Goldene Bulle

1450 Gutenbergs Erfindung

1516 Das Reinheitsgebot

1521 Luther in Worms

1648 Der Westfälische Frieden

1734 Die Uraufführung des Weihnachtsoratoriums

1740 Die Abschaffung der Folter

1791 Die Uraufführung von Mozarts »Zauberflöte«

1824 Beethovens »Neunte«

1829 Die Uraufführung von Goethes »Faust«

1832 Einheit und Freiheit – das Hambacher Fest

1835 Die erste Eisenbahn des Landes

1847 Das Kommunistische Manifest

1848 Die Paulskirche – das erste deutsche Parlament

1861 Die Erfindung des Telefons durch Philipp Reis

1871 Die Gründung des deutschen Kaiserreichs

1873 Schliemann findet den »Schatz des Priamos«

1876 Die ersten Festspiele auf dem »Grünen Hügel«

1880 Die Vollendung des Kölner Doms

1882 Koch entdeckt den Erreger der Tuberkulose

1883 Die Einführung der Krankenversicherung

1885 Die Erfindung des Automobils

1887 Die Erfindung der Schallplatte

1891 Der Traum vom Fliegen

1895 Die Entdeckung der Röntgenstrahlen

1897 Kopfweh ade – die Erfindung des Aspirins

1900 Der erste Zeppelin steigt in den Himmel

1900 Plancks Quantensprung in der Physik

1905 Alles ist relativ – Einsteins Theorie

1907 Putzmunter – die Erfindung der Zahnpasta

1918 Die Ausrufung der Republik

1919 Die Einführung des Frauenwahlrechts

1922 Das Gummibärchen erobert die Welt

1925 Ein Schuh revolutioniert die Welt des Sports

1926 Friedensnobelpreis für Gustav Stresemann

1929 Literaturnobelpreis für Thomas Mann

1930 Ardenne erfindet das TV

1933 Die SPD stimmt gegen das Ermächtigungsgesetz

1936 Max Schmelings Jahrhundertkampf

1938 Die Entdeckung der Kernspaltung

1938 Die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand

1941 Konrad Zuse baut den ersten Computer

1942 Die »Weiße Rose« – Studenten gegen Hitler

1944 Stauffenbergs Attentat in der »Wolfsschanze«

1944 Der gute Deutsche – Schindlers Liste

1945 Die Befreiung – Kriegsende in Deutschland

1945 Die Kraft der Trümmerfrauen

1948 Das D-Mark-Wunder – neues Geld im Westen

1948 Die Luftbrücke – Rosinenbomber für Berlin

1949 Die Gründung der Bundesrepublik

1949 Von der Zone zum Staat – die Gründung der DDR

1953 Steine gegen Panzer – Volksaufstand in der DDR

1954 Das Wunder von Bern – WM-Sieg für Deutschland

1955 Wirtschaftswunder – der einmillionste Käfer

1955 Die Heimkehr der Zehntausend

1955 Romy Schneider wird als »Sissi« berühmt

1955 Karl Lagerfeld – Beginn einer Weltkarriere

1956 »Wunderstute« Halla holt Olympiagold

1957 Die Rückkehr des Saarlands zu Deutschland

1957 Grundstein für Europa – die Römischen Verträge

1961 Über Grenzen – der Sprung in die Freiheit

1962 Land unter – Sturmflut in Hamburg

1962 Versöhnung in Reims – Adenauer und de Gaulle

1963 »Ich bin ein Berliner« – JFK in Deutschland

1963 Rettung aus der Tiefe – das Wunder von Lengede

1966 »Yeah, yeah, yeah«- die Beatles in Deutschland

1969 Die Erfindung der Chipkarte

1970 Der Kniefall von Warschau

1972 Mit einem »Flop« zu Olympiagold

1974 Deutschland ist wieder Fußball-Weltmeister

1976 Medaillenregen für Rosi Mittermaier

1976 Märchenhochzeit – Silvia wird Königin von Schweden

1977 Alice Schwarzer gründet die Zeitschrift »Emma«

1977 Das Wunder von Mogadischu

1978 Höhenflug – der erste Deutsche im All

1981 Karlheinz Böhm gründet »Menschen für Menschen«

1981 Friedensdemo in Bonn

1982 »Ein bisschen Frieden« – Nicole beim Grand Prix

1983 Sonderzug nach Pankow – Lindenberg in der DDR

1984 Hand in Hand – Kohl und Mitterrand in Verdun

1985 Boris Becker triumphiert in Wimbledon

1988 Klassenkampf in Calgary – Kati Witt holt Gold

1988 Steffi Graf holt den »Golden Slam«

1989 »Endlich raus« – das Picknick von Sopron

1989 Die Botschaft von Prag – Genschers Satz

1989 Tag der Entscheidung – der 9. Oktober in Leipzig

1989 Das Wunder von Berlin – der Fall der Mauer

1990 »Einig Vaterland« – die Deutsche Einheit

1994 »Schumi« wird Formel-Eins-Weltmeister

1997 Katastropheneinsatz – Hochwasser an der Oder

1999 »Auf nach Berlin« – der Umzug des Bundestags

2003 Die Fußballerinnen holen den WM-Titel

2005 »Wir sind Papst« – Ratzinger wird Benedikt XVI.

2005 Die Wiedereröffnung der Frauenkirche

2005 Angela Merkel – die erste Bundeskanzlerin

2006 Das Sommermärchen – WM in Deutschland

2007 Oscar für den Film »Das Leben der Anderen«

2010 Unser Star für Oslo
 

Nachwort

Die Sternstunden der Deutschen

Über sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben die Deutschen endlich wieder einen guten Ruf in aller Welt. Man glaubt uns, dass wir unsere Lektion aus Diktatur, aus Krieg und Holocaust gelernt haben. Wir wissen aber auch, dass die deutsche Geschichte nicht nur aus zwölf Jahren Naziherrschaft besteht. Es gab eine reiche Geschichte davor und eine gute Geschichte danach. Es gab traurige Momente – und wahre Sternstunden. Doch welches sind die »Sternstunden der Deutschen«? Was sind die bewegendsten Momente unserer mehr als tausendjährigen Geschichte? Die schönsten, spannendsten und identitätsstiftenden Augenblicke, die uns geprägt haben?

Die Antworten auf diese Fragen sind so vielfältig wie die Deutschen selbst. Nicht allein politische Ereignisse wie der Fall der Mauer, Stauffenbergs Attentat auf Hitler oder Brandts Kniefall in Warschau haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, sondern auch emotionale Momente wie die »Heimkehr der Zehntausend«, der letzten Kriegsgefangenen aus sowjetischem Gewahrsam, der Besuch von John F. Kennedy in Berlin oder der mutige Widerstand von Hans und Sophie Scholl.

1955

Auch bahnbrechende wissenschaftliche Leistungen – denken wir an Einstein, Planck oder Röntgen – sowie Erfindungen »Made in Germany« wie das Automobil, Gutenbergs bewegliche Lettern oder das Schmerzmittel Aspirin stehen vielen Deutschen vor Augen, wenn sie an die großen Momente ihrer Geschichte denken. Dazu kommen sportliche Höhepunkte wie das »Wunder von Bern«, Schmelings K.-o.-Triumph über Joe Louis oder der Wimbledonsieg von Boris Becker.

2006

Aber auch wenn in diesem Buch viele erlebte Momente versammelt sind, an die sich viele Menschen noch erinnern können – wie die deutsche Wiedervereinigung, die Wahl Kardinal Ratzingers zum Papst oder den fröhlichen Patriotismus im Umfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 -, so stellen doch gerade auch Ereignisse aus früheren Jahrhunderten wichtige Ankerpunkte unserer Identität dar.

800

Es beginnt mit Karl dem Großen – kein »Deutscher« im heutigen Sinne, der dennoch eine wichtige Vorstufe dessen schuf, was später zum Reich der Deutschen wurde. Im Jahr 800 ließ sich der Frankenkönig vom Papst zum »Römischen Kaiser« krönen. Er regierte ein Reich, das von der Nordsee bis nach Italien reichte, vom Atlantik bis an die Elbe. Unter seinen Nachfolgern zerfiel das Imperium in ein West- und in ein Ostreich – Kern der heutigen Nationalstaaten Frankreich und Deutschland.

Anderthalb Jahrhunderte später verstanden sich die vier Ur- Stämme auf deutschem Boden – Baiern, Franken, Schwaben und Sachsen – erstmals als eine Schicksalsgemeinschaft: Im Widerstand gegen eine aggressive Macht vereint, schlugen sie unter Führung von Otto I. die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg. Bedrohung von außen eint. Eine wichtige Wegmarke im Jahr 955, denn anders als zum Beispiel den Briten und Franzosen gelang es den Deutschen lange nicht, in einem geeinten Staat zu leben. Immer gab es Kräfte, die mal spalteten, mal einten. Nie aber war der Zentralismus stark. Diese föderale Eigenmacht besteht im Grunde bis heute und ist eine deutsche Besonderheit.

955

Von Anfang an war Deutschland ein Land der Stämme und Regionen, die eifersüchtig auf ihre Eigenständigkeit achteten. Aber die Vielfalt machte eben auch den kulturellen Reichtum Deutschlands aus. So waren es nicht zuletzt die kleineren, wenig mächtigen Fürsten, die durch Förderung der Künste entscheidend dazu beitrugen, dass Deutschland zum Land der »Dichter und Denker« wurde.

Im 16. Jahrhundert war es ein einfacher Mönch, der wie kein anderer die Deutschen geeint und geteilt hat: Martin Luther. Es begann mit einer Revolte im Zeichen des Glaubens. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, soll er ausgerufen haben, als er 1521 in Worms den Widerruf seiner Thesen verweigerte. Doch auch politisch katapultierte der Reformator die Deutschen in ein neues Zeitalter. Am Ende stand ein neues Selbstgefühl der Deutschen als Nation, aber auch ihre Spaltung im Glauben – katholisch oder evangelisch.

Dass sich Luthers neuartige Gedanken rasend schnell ausbreiten konnten, verdanken wir der wohl wirkungsmächtigsten von zahlreichen in Deutschland gemachten Erfindungen: Gutenbergs Buchdruck mit wiederverwendbaren Bleilettern und Druckformen. Die Reformation war die erste Auseinandersetzung der Weltgeschichte, die von der Publizistik entscheidend bestimmt wurde. Und Johannes Gutenberg selbst wurde von US-Journalisten zum »Mann des Jahrtausends« gekürt.

1848

Ausgerechnet ein fremder Kaiser trieb die Deutschen Anfang des 19. Jahrhunderts schließlich zur Einigung: Frankreichs Jahrhundertherrscher Napoleon – auch wenn dies vor allem geschah, um den Korsen loszuwerden. Doch erst in der Revolution von 1848 hatten die Hoffnungen auf Einheit und Freiheit Chancen auf Verwirklichung. Das Parlament in der Frankfurter Paulskirche war die Geburtsstunde der Demokratie in Deutschland – auch wenn es an seiner selbst gestellten Aufgabe scheiterte.

Nach diesem Versuch der »Einheit von unten« kam es nun zur »Einheit von oben«. Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck ebnete den Weg zum ersten deutschen Nationalstaat – ohne wirkliche Demokratie. Der Kanzler stabilisierte das neue Reich mit seiner Sozialgesetzgebung, der Keimzelle unseres heutigen Sozialstaats. Die »Gründerjahre« um die Jahrhundertwende waren auch eine Zeit der Entdeckungen und Erfindungen, in der deutsche Forscher Weltruf erlangten.

1944

In den folgenden Jahren wurden die »Sternstunden« weniger; der Zusammenbruch der Weimarer Republik, die schwere Wirtschaftskrise, all dies ebnete den Weg für den Beginn der dunkelsten Phase der deutschen Geschichte, der Zeit des »Dritten Reiches«. Doch selbst in dieser Zeit der Schande gab es Tage, die uns heute Halt geben. Der 20. Juli 1944 ist ein solcher Tag. Getragen wurde er von wenigen: Es waren tragisch verkannte Helden ohne Anhänger, angetrieben nur von ihrem eigenen Pflichtgefühl.

Nach dem Selbstmord des Tyrannen waren die meisten Deutschen subjektiv nicht in der Lage, sich als »Befreite« zu empfinden. Die Mehrheit sah den 8. Mai 1945 als Stichtag des Zusammenbruchs, der Niederlage. Doch die Geschichte ist imstande, manchmal erst nach Jahren, subjektive Meinungen, Gefühle und Empfindungen von Zeitgenossen souverän zu überwinden und das Gegenteil zu überliefern. Objektiv gesehen, sagt uns die Geschichte heute, war es eine wirkliche Befreiung.

1945

Im Kalten Krieg war Deutschland ein potentielles Pulverfass. Und dennoch: Die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war trotz der bitteren Teilung ganz gewiss die bislang beste, die glücklichste Phase der deutschen Geschichte. Das mag absurd erscheinen, doch es ist so. Denn ein 25-Jähriger, der 1945 mit heilen Knochen aus dem Krieg kam und im Westen Deutschlands lebte, hatte Chancen wie keine Generation vor ihm: vom Nullpunkt an, aus Trümmern eine neue Welt, ein neues Land zu schaffen, in dem über fünfzig Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand herrschten.

1953

»Freiheitliche Demokratie« und »Westbindung« – keiner seiner Nachfolger stellte die von Adenauer ausgebauten Fundamente der alten Bundesrepublik in Frage. Im Rückblick haben selbst die schärfsten Widersacher eingeräumt, dies sei der einzig mögliche Weg zur Einheit gewesen – auch wenn die Teilung so für mehr als eine deutsche Generation zur schmerzlichen Tatsache wurde. Wäre der Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 geglückt, wäre wohl schon damals die Wiedervereinigung möglich geworden. Doch der Aufstand scheiterte, weil die Sowjetpanzer rollten. Dennoch können wir stolz sein auf die Menschen, die ihr Leben einzusetzen wagten gegen eine Staatsmacht, die die Freiheit unterdrückte. So blieben beide deutschen Staaten an der Nahtstelle der Blöcke mehr als vier Jahrzehnte atomare Geiseln ihrer jeweiligen Vormacht. Ihr Territorium war das potentielle Schlachtfeld eines nuklearen Holocaust. Dass den Deutschen das erspart geblieben ist, dass der Kalte Krieg am Ende überwunden wurde und dass Deutschland 1989/90 neu vereint und frei geworden ist – das ist ein Glück und eine Gnade der Geschichte.

1989/90

Wir, die Bürger des geeinten Deutschland, haben allen Grund zur Dankbarkeit und Freude. An unseren Grenzen stehen heute keine Gegner, keine Feinde, sondern Nachbarn, Partner, Freunde. Wir sind, zum ersten Mal in der Geschichte, umgeben von Verbündeten. Europa funktioniert nicht ohne das geeinte Deutschland. Und genauso wenig ist auch Deutschland ohne das Bekenntnis zu Europa überlebensfähig. Wir, die Europäer, sind am Ende alle aufeinander angewiesen, ob wir wollen oder nicht. Das ist die Botschaft der deutschen Geschichte – und ihrer Sternstunden.

800

Die Kaiserkrönung

Er galt schon bei seinen Zeitgenossen als »König und Vater Europas« und schuf ein Fundament, das den Kontinent über Jahrhunderte maßgeblich prägte. Deutsche und Franzosen betrachten den legendären Karolinger gleichermaßen als Stammvater. Am 25. Dezember 800 wurde er in Rom zum Kaiser gekrönt – die höchste Würde der damaligen Welt.

Der mächtigste Mann Europas kniete in der Peterskirche in Rom, zu Füßen Papst Leos III. Den eisernen Helm hatte er neben sich auf den Boden gelegt, das Langschwert in seiner rechten Hand zeigte mit der Spitze nach unten – eine Geste der friedlichen Unterwerfung. Nachdem ihm Leo die prächtige Kaiserkrone auf den Kopf gesetzt hatte, brach in der Peterskirche Jubel aus. »Karl, dem von Gott gekrönten, großen, Frieden bringenden Imperator – Leben und Sieg!«, riefen seine fränkischen Krieger. Nicht nur die römische Kaiserwürde ging in diesem Augenblick auf das fränkische Herrscherhaus über, auch die Reichsidee übernahm Karl. Daran konnten später zunächst die ostfränkischen, dann die deutschen Könige anknüpfen. Das Imperium des Kaisers war gewaltig, es reichte von der Nordsee bis nach Mittelitalien, von Ungarn bis nach Spanien.

Doch der Frankenherrscher schuf nicht nur ein Reich, er gab ihm auch eine Ordnung und setzte Ankerpunkte für eine gemeinsame religiöse und kulturelle Identität. Er wollte nicht nur Herrscher der Franken sein, sondern der gesamten römischen Christenheit. Wo er regierte, sollte auch ein Glaube die Teile seines europäischen Reichs verbinden. Die Grundlage für ein späteres großes Reich der Deutschen schuf Karl auch durch seine Eroberungen in der Mitte des Kontinents. Allein dreißig Jahre lang hatte er Krieg gegen die Sachsen geführt, bis er sie schließlich blutig unterwarf und zwang, sich zum Christentum zu bekennen. Mit ihrer Eingliederung verschob sich der Schwerpunkt seines Reiches weiter nach Osten. Nachdem sich das Imperium Karls des Großen ein Jahrhundert später endgültig in ein West- und in ein Ostreich geteilt hatte, waren es ausgerechnet die Nachfahren der einst von ihm unterworfenen Sachsen, die genügend Macht, Willen und Einfluss besaßen, in die Tradition des berühmten Karolingers zu treten.

955

Sieg auf dem Lechfeld

Es war die »Stunde null« der deutschen Geschichte. Am 10 . August des Jahres 955 standen sich auf dem Lechfeld bei Augsburg 12 000 ungarische Steppenreiter und 12 000 Krieger aus Franken, Bayern, Böhmen und Schwaben gegenüber. Mehr als fünfzig Mal waren die Magyaren schon ins Ostfränkische Reich eingefallen, hatten Städte zerstört, geraubt und gemordet. Auf dem Lechfeld riskierte König Otto I. alles: sein Leben und seine Krone – und seinen Traum.

Karl der Große – das war das Maß, mit dem Otto sich messen wollte, die Tradition, in welcher er sich selbst sah. Den Anspruch auf die Kaiserkrone hatte er 19 Jahre zuvor in Aachen vor aller Welt verkündet. Er war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 23 Jahre alt gewesen. In diesem bis dahin feierlichsten und bedeutsamsten Moment seines jungen Lebens krönten ihn, einen Sachsen, die Fürsten aus Bayern, Schwaben, Franken und Sachsen zum »Rex Francorum«, zum König der Franken. Im Gegensatz etwa zum König von Frankreich, der die Königswürde ererbte, konnte Otto I. nur durch die Wahl der Fürsten seine Krone erlangen. Und so würde es auch bleiben – bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806.

Einen »deutschen« König oder gar »König der Deutschen« hatte es vor ihm noch nicht gegeben. Und dass die germanischen Stämme sich einmal zu den »Deutschen« zusammenfinden würden, daran dachte in diesen Tagen niemand. Doch bevor Otto ein Weltreich erschaffen konnte, musste er sich zunächst auf dem Thron der Ostfranken behaupten – mit dem Schwert und gegen Mitglieder seiner eigenen Familie. Da waren Ottos Brüder Thankmar und Heinrich, die ihre Ansprüche geltend machen wollten. Als sie besiegt waren, verbündete sich 954 ausgerechnet Ottos Sohn Liudolf hinter dem Rücken des Vaters mit den Ungarn, um den Regenten vom Thron zu stoßen. Im Roßtal bei Regensburg kämpften die zwei mit ihren Männern gegeneinander, Auge um Auge, um Leben und Tod. Der König gewann. Allein, barfuß und im Büßergewand, musste sich Liudolf dem Vater unterwerfen. Otto ließ Milde walten und schloss den abtrünnigen Sohn wieder in die Arme. Doch alle anderen Anführer ließ er hinrichten.

Während die Familienstreitigkeiten damit beigelegt worden waren, nutzten die Ungarn das vermeintliche Machtvakuum und verwüsteten erneut das Land. Otto wusste, dass es kaum möglich war, den Feind in einen offenen Kampf zu zwingen. Die Ungarn führten keine gewöhnlichen Kriegszüge mit großen, schwerfälligen Armeen, sondern kämpften nach Art der Hunnen vom Pferderücken aus und verließen sich auf die Kunst ihrer legendären Bogenschützen. Doch im Gefühl der eigenen militärischen Überlegenheit begingen die Angreifer dieses Mal einen entscheidenden Fehler: Sie ließen sich auf eine offene Feldschlacht ein. Anfang August erreichten die ersten Nachrichten den König, dass die Steppenreiter von ihrer Taktik der schnellen Raubzüge abgelassen hätten und nun Augsburg belagerten.

»Die Feinde Gottes und der Menschen haben das Volk gefangen oder getötet, noch triefen die Straßen vom Blut«, klagte Otto. Waren die heidnischen Magyaren nicht eine Naturgewalt wie Hagel und Sturm, gegen die man nichts ausrichten konnte? Oder konnte man sie sich vielleicht doch mit Tributen vom Leib halten, wie es viele Fürsten taten? Sollte Otto wirklich alles aufs Spiel setzen und gegen die gefürchteten ungarischen Bogenschützen auf ihren schnellen und wendigen Pferden auf offenem Felde in den Krieg ziehen?

»Die Ungarn zündeten Burgen und Städte an und richteten überall ein solches Blutbad an, dass eine totale Entvölkerung drohte.«

CHRONIK WIDUKIND VON CORVEYS

Otto entschloss sich zur Tat. Doch anstatt sich den Ungarn entgegenzustellen, umging er sie, um ihnen den Rückzug an die Donau abzuschneiden. Es war ein großes Risiko, denn durch die Konzentration seiner Truppen stand das ganze Land den magyarischen Reitern offen – bis hinauf nach Sachsen und bis zum Rhein. Otto wusste, er würde alle Kräfte mobilisieren müssen, um zu siegen. Auch die »himmlischen«. Er sei ein Großer im Beten, hieß es damals über ihn. Tief in der Kultur des Mittelalters verwurzelt, bat er um himmlischen Beistand für die Schlacht gegen den heidnischen Feind. Aus diesem Grund führte er auch eine »Wunderwaffe« des Mittelalters mit sich, die »Heilige Lanze«. Zusammen mit dem Reichsapfel, dem Zepter und der Reichskrone zählte sie zu den Reichsinsignien und war eine der bedeutendsten Reliquien der Christenheit. Der Legende nach hatte ein römischer Legionär mit der Lanze Christus am Kreuz die Seite geöffnet, um zu prüfen, ob er auch tot sei. Auch sollte in die Lanzenspitze ein Nagel vom Kreuz Christi eingearbeitet sein.

»Vor den Pfeilen der Ungarn beschütze uns, o Herr«, hieß das Gebet von Otto und seinen Kriegern. Sie waren gut gerüstet. Ihre Helme, Kettenhemden, Arm- und Beinschienen sowie schwere eisenbeschlagene Holzschilde schützten sie vor dem mörderischen Pfeilhagel der Steppenreiter. Zuletzt kamen Otto auch noch die Naturgewalten zu Hilfe: Ein schweres Sommergewitter ging über dem Lechfeld nieder und machte die hölzernen Bögen der Ungarn unbrauchbar. Erbarmungslos wurden sie nun von Ottos Truppen niedergemacht. Kein Magyare sollte lebend in seine Heimat zurückkehren. Denn zu oft waren sie ins Land eingefallen. Es sollte das letzte Mal gewesen sein – und es war das letzte Mal. Viele der Gefangenen wurden geköpft oder gehenkt.

Nicht nur für Otto war die blutige Schlacht auf dem Lechfeld ein entscheidender Wendepunkt. In der Pannonischen Tiefebene entlang der Donau wurden die ungarischen Steppenreiter, die über Jahrzehnte von ihren kriegerischen Raubzügen durch Europa gelebt hatten, sesshaft. Und sie traten unter ihrem ersten König Stephan sogar zum Christentum über.

Otto hatte viel gewagt und viel gewonnen. Hätte der König mit seinem Aufgebot nicht den Sieg erkämpft, die deutsche Geschichte hätte wohl einen ganz anderen Verlauf genommen. Angesichts der tödlichen Bedrohung durch eine Macht von außen gelang es Otto I. auf dem Lechfeld zum ersten Mal, den bis dahin lockeren Verband der Stämme zusammenzuschmieden. Unter den Stämmen der Bayern, Franken, Schwaben und Sachsen festigte sich erstmals in der Geschichte das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören.

Für den Sieg auf dem Lechfeld erhielt Otto schon zu Lebzeiten den Beinamen »der Große«. Und das christliche Europa sah in ihm den »Retter der Christenheit«. Nun schien die Zeit reif, die Nachfolge Karls des Großen als Kaiser anzutreten. Die Kaiserkrone erhielt man nur aus der Hand des Papstes in Rom. Mit einem Gefolge von über tausend Kriegern aus allen Stämmen überquerte Otto der Große im August 961 die Alpen. Im Januar 962 hielt er Einzug in Rom. Die Römer allerdings waren nicht gerade erfreut. Wer wollte schon einen Sachsen als Herrscher über das Land? Noch am Grabe des Apostels Petrus, unter den Augen des Papstes, musste Otto um sein Leben fürchten. Und er ahnte, ohne Gegenleistung war die Kaiserkrone nicht zu haben. Im geheimen Archiv des Vatikans in Rom liegt eine der wichtigsten Urkunden des Mittelalters, das »Ottonianum«, ein Vertrag zwischen dem Oberhaupt der Christenheit und dem ostfränkischen König. Darin garantierte Otto als Schutzherr der Kirche dem Papst die weltliche Herrschaft über den Kirchenstaat, den es im Kleinen als Vatikanstaat noch heute gibt.

Am 2. Februar 962 krönte Papst Johannes XII. Otto den Großen zum Kaiser – mit der Reichskrone, die heute noch in Wien zu besichtigen ist. Mit der überaus kostbaren Arbeit in Edelstein, Gold und Silber trug Otto sein Selbstverständnis offen zur Schau. So zeigen einige Bildplatten Könige aus dem Alten Testament, die sich Otto zum Vorbild nahm: König David steht für den »ehrenhaften König, der den Rechtsspruch liebt«; der weise König Salomo für »Gottesfurcht und Gerechtigkeit«; und die »Majestat-Domini-Platte« zeigt Christus mit dem Spruchband: »Per me reges regnant, durch mich regieren die Könige.«

Jetzt hatte Ottos Imperium europäische Dimensionen, es umfasste Germanien und Italien. Dem Herrscher und seiner Gefolgschaft aus dem kühlen Norden gefiel es in »Bella Italia« ausnehmend gut. Hier blühten die Zitronen, die Frauen waren rassig, der Wein war nicht so sauer wie da heim. Politisch indes herrschte kaum eitel Sonnenschein. Um die Herrschaft über Italien zu sichern, führte Otto jahrelang Krieg – gegen italienische Fürsten, gegen die Araber, die Normannen und schließlich gegen Byzanz. Am Ende blieb Kaiser Otto der Große mit Tausenden Gefolgsleuten fünfzehn lange Jahre im Land. Als Sachsen, Schwaben, Franken und Bayern waren sie einst gekommen. »Teutonen« oder »Tedeschi« ,die »Deutschen«, wurden sie in Italien genannt. Mit diesem Namen kehrten sie in ihre Heimat zurück.

»Durch den herrlichen Sieg mit Ruhm beladen, wurde der König von seinem Heer als Vater des Vaterlandes und als Imperator, als Herrscher über die Völker begrüßt. Denn solch eines Sieges hatte sich kein König vor ihm in zweihundert Jahren erfreut.«

CHRONIK WIDUKIND VON CORVEYS

Das Osterfest des Jahres 973 feierte Otto wieder in Sachsen. Zum Hoftag in Quedlinburg kamen Gesandte aus ganz Europa, um ihm zu huldigen. Nur wenige Wochen später, am 7. Mai des Jahres 973, starb Otto der Große. Was er erreichen wollte, hatte er erreicht. Die monarchische Macht der Ottonen war gefestigt, das werdende Reich hatte erste Konturen angenommen. Und aus Italien brachte Otto nicht nur die Kaiserkrone, sondern auch einen Sammelnamen für die Vielzahl der altgermanischen Stämme mit: »Die Deutschen.«

1356

Die Goldene Bulle

Sie war das erste dauerhafte »Grundgesetz« des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, regelte die Wahl und Krönung der deutschen Könige und schrieb die Rechte und Pflichten der Kurfürsten fest: die Goldene Bulle von Kaiser Karl IV. aus dem Jahr 1356 – so genannt wegen der Kapseln aus Goldblech (lateinisch »bulla«), die das Siegel schützten.

Nachdem es immer wieder Machtkämpfe um die Königswürde gegeben hatte, ging es Kaiser Karl IV. mit seinem »Kaiserlichen Rechtsbuch« vor allem darum, die Strukturen seines Reiches zu stabilisieren. Anders als in Frankreich oder England, wo sich Erbmonarchien etablieren konnten, wurden die deutschen Könige, die sich zumeist vom Papst in Rom zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches krönen ließen, von den Reichsfürsten gewählt, die selbst als Landesherren in einem der zahlreichen Mittel- und Kleinstaaten des Reiches herrschten. Ein neues Gesetz sollte nach Karls Willen endlich für alle Zeiten festlegen, wie der deutsche König zu wählen war – und zwar so, dass von nun an kein Streit mehr entstehen konnte. Daher hatte Karl Reichsfürsten, Erzbischöfe und die Abgesandten wichtiger Städte Ende November des Jahres 1355 nach Nürnberg geladen. Dort konnte er allerdings zunächst nur einen Teil seiner Ziele erreichen. Die Lösung der offenen Fragen vertagte man auf den »Hoftag« in Metz, auf dem am 25. Dezember anno 1356 schließlich die Goldene Bulle verkündet wurde.

Verbindlich festgelegt wurden darin zum Beispiel die sieben Kurfürsten: die Erzbischöfe von Trier, Köln und Mainz, der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen, der Markgraf von Brandenburg und der König von Böhmen. Der deutsche König konnte nun von diesem Kreis mit einfacher Mehrheit gewählt werden – eine ganz wichtige Neuerung. Der Papst dagegen verlor sein Mitspracherecht bei der Wahl. Penibel wurde auch der rituelle Ablauf der Königswahl geregelt: In Frankfurt wurde gewählt, in Aachen gekrönt. Für ihr Entgegenkommen erhielten die Kurfürsten zahlreiche Rechte, die sogenannten Regalien. Gemäß diesen wurden die Kurfürstentümer unteilbar, nur der erstgeborene eheliche Sohn – sofern er denn kein Geistlicher war –, erbte die Kurwürde.

Mit der Bulle wurde deshalb auch ein wichtiger Grundstein für den bis zum heutigen Tag fortwirkenden und stark ausgeprägten deutschen Föderalismus gelegt. Für Karl IV. war die Goldene Bulle ebenfalls ein voller Erfolg. Hatte es vorher oft Zwist und Hader bei der Königswahl gegeben, war das nun vorbei – für lange Zeit. Das Gesetz war 450 Jahre in Kraft, bis zum Ende des Alten Reiches 1806.

1450

Gutenbergs Erfindung

»Ohne Gutenberg hätte Kolumbus den Seeweg nach Amerika nicht gefunden, hätte Shakespeares Dichtergenius keine Verbreitung gefunden und wären Martin Luthers Thesen ohne jede Wirksamkeit geblieben.« Mit dieser Begründung setzten vier amerikanische Journalisten 1999 den Mainzer Johannes Gutenberg, der Mitte des 15. Jahrhunderts den mechanischen Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand, auf den ersten Platz ihres Rankings zum »Mann des Jahrtausends«.

Auf den ersten flüchtigen Blick sind es »lediglich« eine Reihe von technischen Verbesserungen und Entwicklungen, an denen Johannes Gutenberg gearbeitet – und sich damit beinahe an den Rand des Ruins gebracht hat. Doch der Buchdruck, wie der Mainzer ihn entwickelt hat, wurde zu einem ganz entscheidenden Motor für neue Ideen und veränderte schließlich die ganze Welt.

Bis zu jener Erfindung hatte man Texte vervielfältigt, indem man sie per Hand abschrieb: eine zeitaufwendige, teure und sehr exklusive Prozedur. Zwar gab es damals schon den Druck mit Holztafeln, doch war diese Technik langwierig und umständlich, und die schweren Tafeln hatten den Nachteil, dass man sie nur für eine begrenzte Zahl von Drucken einsetzen konnte.

Gutenbergs geniale Idee: Er zerlegte Texte in ihre kleinsten Einzelteile, die Buchstaben. Mit einem speziellen Handgießinstrument konnten die Drucklettern nun einzeln, schnell und in feiner Qualität gegossen werden. Außerdem verbesserte Johannes Gutenberg die Druckerpresse und optimierte die bisher genutzte Druckfarbe. Seine Bleilettern hatten mehrere Vorteile: Da man sie immer wieder verwenden konnte, ließen sich Druckerzeugnisse in großer Zahl und relativ preisgünstig produzieren. Außerdem sahen die Buchstaben auch nach Tausenden von Druckvorgängen noch gestochen scharf aus.

Um 1447 nutzte Gutenberg diese neue Technik wohl erstmals und erstellte einen Kalender, der als das älteste Druckwerk nach diesem Verfahren gilt. Zwischen den Jahren 1450 und 1456 produzierte er dann die berühmte 42-zeilige Bibel. Es war ein wahrhaft monumentales Unterfangen: 100000 Drucktypen, Häute von 3200 Tieren, 1000 Gulden Materialkosten und allein 230 760 Arbeitsgänge wurden benötigt, um die 180 Exemplare mit jeweils 1282 Seiten anzufertigen. Heute existieren von der Gutenberg-Bibel noch 49 bekannte Exemplare weltweit, teilweise nur noch in Fragmenten. Im Jahr 1987 erzielte eine jener Bibeln den höchsten Kaufpreis, der jemals für ein Druckwerk bezahlt wurde: insgesamt 9,75 Millionen DM (knapp 5 Millionen Euro).

Die gutenbergsche Erfindung kam just zum richtigen Zeitpunkt. Schon im 14. Jahrhundert war das Interesse am Lesen gestiegen, und auch die Vielfalt an Themen hatte beständig zugenommen. Neben der Religion wurden weltliche Themen immer interessanter für die Menschen – eine Tendenz, die der Renaissance-Humanismus weiter beförderte. Zudem gab es gestiegene Ansprüche an Schriftwerke: So hatte Nikolaus von Kues bereits seit dem Konstanzer Konzil (1414– 1418) eine größere Einheitlichkeit der Gebetbücher gefordert. Technische Vorboten der Umwälzung durch den Buchdruck waren die Einführung des Holzschnitts im Süden Deutschlands um 1380 und die Gründung der ersten deutschen Papiermühle in Nürnberg. In Ostasien wurden zudem bereits Ton- und Kupferstempel zum Druck von Banknoten und Texten genutzt, und manche Buchbinder verwendeten schon metallene Stempel für den Blinddruck von Buchstaben. Unklar ist, ob Johannes Gutenberg von diesen Techniken wusste. Fakt ist, dass er es war, der die Entwicklungen zusammenführte – und die Buchdruckerkunst begründete, die bis zur digitalen Medienrevolution die Grundlage aller Kommunikation darstellte. Sein technisches Verständnis und vor allem auch seine Risikofreude als Unternehmer waren das Fundament, auf dem der immense Erfolg seiner Erfindung aufbaute.

»Die hohen Wohltaten der Buchdruckerei sind mit Worten nicht auszusprechen. Durch sie wird die Heilige Schrift in allen Zungen und Sprachen eröffnet und ausgebreitet, durch sie werden alle Künste und Wissenschaften erhalten, gemehrt und auf unsere Nachkommen fortgepflanzt.«

MARTIN LUTHER

Geboren wurde Gutenberg um 1400 als Sohn des Kaufmanns Friele Gensfleisch, der im Mainzer Hof »zum Gutenberg« wohnte – daher der Name, unter dem der Patriziersohn bekannt wurde. Seine ersten Jahre verbrachte Johannes Gutenberg hier im Zentrum der Domstadt, er lernte vermutlich in dem nahe gelegenen St.-Victor-Stift Lesen, Schreiben und Latein. Im Jahr 1411 zog die Familie nach Eltville. Nach dem Tod seines Vaters kehrte Gutenberg 1419 nach Mainz zurück und erhielt Einblick in die Goldschmiedekunst, die er bei einem mindestens zehnjährigen Aufenthalt (gesichert ist die Zeit von 1434 bis 1444) in Straßburg vertiefte. Hier arbeitete er auch bald an der Entwicklung eines neuen Druckverfahrens, an der Herstellung von Lettern und an der Druckerpresse.

So einleuchtend uns heute die Genialität von Gutenbergs Erfindung gegenüber der umständlichen handschriftlichen Vervielfältigung von Schriftwerken erscheint – seinen Zeitgenossen musste der Mainzer erst »beweisen«, dass er große Mengen von Druckwerken mit einer gleichbleibenden und vor allem hohen Qualität herstellen konnte. Dazu brauchte er die Unterstützung von Geldgebern: Zurück in Mainz, schloss Gutenberg deshalb anno 1450 mit dem Verleger und Geldverleiher Johannes Fust einen Vertrag über die Errichtung einer Druckerei und den Druck ebenjener 42-zeiligen Bibel. Damit wollte Gutenberg zeigen, dass seine Erfindung marktreif war. Doch die Produktion der Bibel war viel teurer und langwieriger, als Gutenberg es sich vorgestellt hatte. Er schaffte es nicht, die Kredite termingerecht zurückzuzahlen. Kurz nach Fertigstellung der ersten Bibel-Exemplare in der Zeit 1454 / 1455 kam es deshalb zu einem Rechtsstreit mit Johannes Fust. Gutenberg musste seine Druckerei samt Material und Geräten an den Geldgeber abtreten, der mit einem Gesellen und Mitarbeiter des Erfinders die Werkstatt weiterführte. Gutenberg selbst kehrte in sein Elternhaus zurück und gründete dort offenbar mit neuen liquiden Geschäftspartnern eine eigene Druckerei. Dass er trotz seiner finanziellen Probleme ein geachteter Bürger war, lässt Gutenbergs Ernennung zum Hofedelmann des Erzbischofs von Mainz, Adolf II. von Nassau, anno 1465 vermuten. Als »Hofmann« erhielt er jährlich Kleidung, Korn und Wein und wurde auch von Diensten und Steuern befreit. Doch große Reichtümer brachte ihm seine Erfindung nicht ein. 1468 starb Gutenberg in Mainz: »Anno Domini 1468 uf Sankt-Blasius-Tag starb der ehrsam Meister Henne Gensfleisch, dem Gott gnade.« (Notiz von unbekannter Hand in einem frühen Mainzer Druck.)

»Mehr als das Blei in den Kugeln hat das Blei in den Setzkästen die Welt verändert.«

GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG

Gleichwohl entwickelte sich die »Schwarze Kunst«, die Johannes Gutenberg aus der Taufe gehoben hatte, in rasantem Tempo weiter: Gab es im späten 15. Jahrhundert in Europa erst einige Dutzend Druckereien, waren es im Jahr 1500 schon etwa tausend. Die Ausbreitung des Buchdrucks war maßgeblich und grundlegend für die Verbreitung neuer Ideen in der Gesellschaft – und sie ist an deren Auflagenhöhen messbar: So sollen anno 1521 bereits eine halbe Million Nachdrucke der lutherschen Schriften im Umlauf gewesen sein. Die spätere Bibelübersetzung hatte 1523 eine Auflage von 5000 Exemplaren erreicht, 15 Jahre später umfasste sie schon 200000. Damit war die Reformation die erste Auseinandersetzung der Weltgeschichte, die von der Publizistik entscheidend bestimmt wurde.

Der Buchdruck war zur rechten Zeit gekommen: Im 15. Jahrhundert förderten vor allem neue wissenschaftliche und religiöse Ansichten und Erkenntnisse seine Verbreitung. Nun wurden nicht mehr nur Schriften, die der Obrigkeit nach dem Mund redeten, veröffentlicht. Auch kritische Gedanken fanden ihren Weg in eine breitere Öffentlichkeit: Neben Protestantismus und Reformation ist auch die Aufklärung ohne diese Möglichkeit, Texte schnell und einfach zu vervielfältigen, undenkbar. Die Bürgerschaft, die sich schrittweise emanzipierte, und ein weit verbreiteter Wunsch nach geistiger »Neuorientierung« führten zu einem gesteigerten Informationsbedürfnis. Die allgemeine Bildung erfuhr ebenfalls einen Aufschwung: Waren Lesen und Schreiben lange Zeit kleinen, hauptsächlich geistlichen Eliten Vorbehalten gewesen, musste jetzt, wer informiert sein wollte, das Lesen lernen. Gutenbergs Erfindung eröffnete Chancen, die man nutzen wollte. Im Zuge dessen wurde auch die zeitgenössische Dichtung von ihren mittelalterlichen Fesseln befreit: Hans Sachs, Ulrich von Hutten und William Shakespeare konnten so ihre Werke einem breiteren Publikum zugänglich machen, das ihnen ohne die Erfindung Gutenbergs versagt geblieben wäre. Alles in allem ist die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern epochal: Wie kaum eine andere Entwicklung repräsentiert sie das Ende des Mittelalters, hat sie die Welt verändert. Gutenberg selbst profitierte davon zu Lebzeiten wenig. Die Verehrung seiner Person setzte erst im 18. / 19. Jahrhundert ein: In seiner Heimatstadt errichteten ihm die Bürger 1837 ein Denkmal. Und heute wissen wir: Als »Mann des Jahrtausends« wird Gutenberg auch in Zukunft als Wegbereiter von Aufklärung und moderner Kommunikation geehrt werden – und das nicht nur in Deutschland.

»Diese Erfindung ist das größte Ereignis der Geschichte, die Mutter allen Umsturzes, eine Erneuerung menschlicher Ausdrucksmittel von Grund auf.«

VICTOR HUGO

1516

Das Reinheitsgebot

Eine wahrhaft deutsche Sternstunde wurde am 23. April 1516 aktenkundig – sagt man den Deutschen doch nicht ganz zu Unrecht den steten Hang zur Regulierung in allen Lebensbereichen ebenso nach wie die Liebe zum schäumenden Gerstensaft: An diesem Tag erließ der bayerische Herzog Wilhelm IV. das erste Reinheitsgebot für Bier.

Bis ins späte Mittelalter war Brauen weitgehend Privatsache gewesen – jeder konnte in der heimischen Kemenate so ziemlich alles zusammenmixen, was Feld, Wald und Wiese hergaben. So war zwar schon in der Antike die Verwendung von Gerste als Mälzstoff weit verbreitet, beliebt waren aber auch Weizen oder Hafer. Da man den Gärprozess ohnehin kaum im Griff hatte, wurde dem nicht selten abscheulich schmeckenden Gebräu alles zugesetzt, was diesem eine besondere Note verleihen konnte: so etwa Eichenrinde, Lorbeer, Wacholder, Rosmarin, Kümmel oder Enzian. Gleichermaßen beliebt wie berüchtigt waren halluzinogene Ingredienzien wie Sumpfporst oder Bilsenkraut, deren Wirkung die des Alkohols mitunter übertraf. Das Bilsenkraut etwa verursachte derart gewaltige und gewalttätige Räusche, dass sich daneben manch heutige Bierzeltrauferei wie eine friedvolle Tai-Chi-Übung ausnimmt.

Irgendwann wurde es der Obrigkeit doch zu bunt. Zu Georgi 1516 bestimmte Herzog Wilhelm für Bayern, dass »füran allenthalben in Städten, Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser genommen und gebraucht sollen werden« – das Reinheitsgebot war geboren. Erst später, als man ihre heilsame Wirkung entdeckte, kam die Hefe als weitere erlaubte Zutat hinzu. Dem Herzog war es nicht allein um die Lebensmittelqualität gegangen. Dank seiner Verfügung blieben Weizen und Roggen nun für das Brotbacken reserviert und wurden nicht länger für das Bierbrauen verschwendet. Und auch brautechnisch machte die Sache Sinn: Die Inhaltsstoffe des Hopfens verliehen dem Bier den angenehm herben Geschmack, verbesserten seine Haltbarkeit und stabilisierten den Schaum. Eine durchaus willkommene Nebenwirkung des herzoglich präferierten Hopfenbiers war zudem dessen besänftigende Wirkung. Das Reinheitsgebot ist die älteste, heute noch gültige lebensmittelrechtliche Vorschrift der Welt – und gilt nahezu unverändert im deutschen Biersteuergesetz fort.

»Wer diese Anordnung wissentlich Übertritt und nicht einhält, dem soll von seiner Gerichtsobrigkeit dieses Fass Bier, sooft es vorkommt, unnachsichtig weggenommen werden.«

AUS DEM REINHEITSGEBOT WILHELMS

1521

Luther in Worms

Am 17. April 1521 kam es in Worms zu einem Schlüsselmoment deutscher Geschichte. Es war der klassische Kampf David gegen Goliath: Martin Luther, der Mönch aus Wittenberg, Aug in Aug mit einem der mächtigsten Männer der Welt, dem Habsburgerkönig Karl V. Luther trotzte den höchsten Autoritäten und widerrief nicht.

»Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang« – mit diesen Worten hatte der Landsknechtführer Ritter Georg Frundsberg Luther auf dem Reichstag zu Worms begrüßt. In der Stadt am Rhein hatten sich die damals mächtigsten Männer auf deutschem Boden versammelt, um den als Ketzer gebrandmarkten Prediger aus Sachsen zum Widerruf seiner umstrittenen Auffassungen zu zwingen. Vier Jahre zuvor hatte Martin Luther seine berühmten 95 Thesen verfasst. Sie prangerten zahlreiche Missstände in der römischen Kirche an, vor allem den florierenden Ablasshandel. An die Tür der Wittenberger Schlosskirche dürfte er sie, anders als es die Legende besagt, zwar nicht genagelt haben – dennoch geriet alsbald eine Lawine ins Rollen, die selbst den späteren Reformator erstaunte. Die lateinisch abgefassten Thesen waren auf Deutsch erschienen und bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden gefallen. Luthers »Reformation« wurde zu einer Massenbewegung, die weit über den kirchlichen Bereich hinausging.