SÜNDENFALL

Es begann mit Schüssen in Sarajevo, jener Stadt, in der ein serbischer Nationalist den österreichisch-ungarischen Thronfolger und dessen Frau erschoss. Doch das Attentat war nur der Auslöser für den blutigsten Krieg, den die Menschheit bis dahin kannte. Verbrechen gegen Zivilisten, industrialisiertes Massensterben, die Hybris militärstrategischer Planungen: Die ersten Monate zeigten bereits das ganze Ausmaß des Schreckens, der eine ganze Generation prägte. Wie war dieser Bruch mit Moral und Ethos der Zivilisation möglich? Wer schürte den tödlichen Hass zwischen den Nationen, der sich so grausam entlud? Die »Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts« führte Europa und die Welt in die Barbarei.

Der 28. Juni des Jahres 1914 war ein herrlicher Sommertag. In der bosnischen Hauptstadt Sarajevo herrschte »Kaiserwetter«, passend für den Besuch des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand. Die Ankunft des hohen Gastes war bereits lange zuvor in der Zeitung angekündigt worden; die Bevölkerung war dazu aufgefordert, die Straßen zu säumen und dem künftigen Kaiser Österreich-Ungarns zuzujubeln. Vielen Bosniern war allerdings nicht nach Jubeln zumute. Ihr Land war 1908 von Österreich-Ungarn annektiert worden, seitdem herrschte ein rigides Besatzungsregime. Vor allem junge bosnische Serben lebten in Armut und litten unter der Perspektivlosigkeit. Sie wollten zu einem großserbischen Staat gehören, nicht zu einem von Deutschen und Ungarn dominierten Vielvölkerstaat. Für sie war Franz Ferdinand kein Gast – er war ein Feind. Sechs junge Bosnier waren fest entschlossen, den Besuch des Thronfolgers für einen gezielten Schlag gegen die verhasste Monarchie zu nutzen. Sie wollten Franz Ferdinand töten. Der serbische Geheimdienst hatte sie mit vier Revolvern und sechs Bomben versorgt. Nun positionierten sie sich an verschiedenen Stellen entlang der allseits bekannten Fahrstrecke durch die Innenstadt und warteten. Zwar rechneten die offiziellen Stellen mit der Möglichkeit eines Attentats. Dennoch waren die Sicherheitsvorkehrungen erstaunlich lax.

Franz Ferdinand bestieg am Bahnhof sein offenes Automobil und fuhr in Richtung Rathaus – den Attentätern entgegen. Bereits nach wenigen Augenblicken gelang es dem ersten von ihnen, eine Bombe auf das Fahrzeug zu schleudern. Der Thronfolger riss instinktiv den Arm nach oben, der Sprengkörper prallte von ihm ab, fiel erst auf das geöffnete Faltdach und danach auf die Straße, wo er explodierte. Oberstleutnant Erik von Merizzi, der den royalen Konvoi begleitete, wurde dabei verletzt. Franz Ferdinand selbst kam noch einmal mit dem Schrecken davon. Der Chauffeur, der den Ernst der Situation sofort begriffen hatte, gab Vollgas und raste zum Rathaus. Dort fand, wie geplant, der Empfang beim Gouverneur von Bosnien-Herzegowina, General Oskar Potiorek, statt. Das weitere Besuchsprogramm hatte sich durch die dramatischen Ereignisse jedoch verändert. Franz Ferdinand stand der Sinn nicht länger nach »Sightseeing«. Stattdessen wollte er Merizzi im örtlichen Krankenhaus besuchen. Die Wagenkolonne brauste also aufs Neue los. Der Chauffeur des Thronfolgers indes war über die Änderung des Programms nicht unterrichtet worden. Der ursprünglichen Route folgend, bog er an einer Straßenecke falsch ab. Der mitfahrende Potiorek klärte den Mann umgehend über seinen Irrtum auf, der stoppte den Wagen und legte den Rückwärtsgang ein.

Gavrilo Princip stand zu diesem Zeitpunkt seit Stunden in der Menge. Nervös hatte er immer wieder nach der Wagenkolonne des Thronfolgers Ausschau gehalten. Die Menschen um ihn herum standen dicht gedrängt, der junge Mann ahnte, dass er aus dieser Position heraus mit dem Revolver kaum auf ein fahrendes Auto würde schießen können, ohne andere zu gefährden. Als der Wagen nun unvermittelt anhielt, sah er seine Chance gekommen. Er drängte sich durch die Menge, sprang auf den Wagen zu und gab mehrere Schüsse ab. Die Ehefrau des Thronfolgers wurde tödlich in den Unterleib getroffen und sank seitlich in den Schoß ihres Mannes. Dieser rief noch: »Sopherl! Sopherl! Stirb nicht! Bleib am Leben für unsere Kinder!« Dann sackte auch er – getroffen von zwei Schüssen – zusammen. Eine Viertelstunde später war er tot.

Als die Welt am 28. Juni des Jahres 1914 von der Ermordung Franz Ferdinands und dessen Frau Sophie erfuhr, dachte kaum jemand an einen Krieg. Der Neffe Kaiser Franz Josephs war in der Öffentlichkeit nicht sonderlich beliebt, seine Pläne zum Umbau der Doppelmonarchie unter alleiniger Vorherrschaft Österreichs waren im Vielvölkerstaat auf breiten Widerstand gestoßen. Selbst der 84-jährige österreichische Kaiser weinte ihm kaum eine Träne nach. Damit habe er »eine Sorge weniger«, kommentierte er den Tod seines designierten Nachfolgers gegenüber seiner Tochter.

Allein der deutsche Kaiser Wilhelm II. war empört über die Tat. Er sah in »dem lieben Franzi« einen Freund und künftigen Partner bei der Führung des europäischen Kontinents. Der Kaiser segelte gerade mit seiner Yacht Meteor in der Kieler Förde, als ihn die Nachricht von der Ermordung des Thronfolgerpaares erreichte. Umgehend brach er die Regatta ab und begab sich nach Potsdam. Ein paar Tage später unterrichtete ihn sein Botschafter in Wien über die Stimmungslage nach dem Attentat: Es müsse einmal »gründlich« mit den Serben abgerechnet werden, so die einhellige Meinung der österreichischen Diplomaten und Militärs. »Jetzt oder nie. Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald«, notierte der Kaiser gewohnt zackig an den Rand eines Dokuments. Mit der Zusicherung der »gewohnten Bündnistreue« an Wien am 5. Juli überließ Wilhelm II. die Entscheidung über Krieg und Frieden den Österreichern. Anschließend brach er wie gewohnt zu seiner alljährlichen Nordlandfahrt auf.

Überall in Europa genossen die Menschen die ungewöhnlich heißen Sommermonate. Fast ein halbes Jahrhundert hatten die Großmächte nicht mehr gegeneinander gekämpft. Die frühen Zwanzigerjahre hatten dem ganzen Kontinent Fortschritt und Wohlstand beschert. Doch während in den Seebädern der Küsten Hochbetrieb herrschte, waren hinter verschlossenen Türen Militärs und Diplomaten damit beschäftigt, auszuloten, ob der Mord von Sarajevo den willkommenen Vorwand für einen Krieg gegen Serbien bieten könnte. Denn dass Serbien seine Finger mit im Spiel hatte, davon war Wien überzeugt, stammte doch die Waffe des Täters aus einem serbischen Militärdepot. Am 23. Juli stellte das Habsburgerreich Serbien ein Ultimatum, das auf 48 Stunden befristet war. Der Ton des Schriftstücks war scharf. »Das unverfrorenste Dokument dieser Art, das jemals geschrieben wurde«, so nannte es etwa Winston Churchill, 1914 Marineminister in der britischen Regierung. Europa stehe an der »Schwelle eines großen Krieges«, schrieb er kurze Zeit später in einem Brief an seine Frau.

Plötzlich war es da, das Schreckgespenst einer großen militärischen Auseinandersetzung. Die serbische Regierung versuchte in ihrer Antwort an Wien die Quadratur des Kreises. Sie akzeptierte das demütigende Ultimatum, jedoch nicht in allen Punkten. Den deutschen Kaiser konnte sie so besänftigen. Damit sei »ein Kriegsgrund nicht mehr vorhanden«, kommentierte Wilhelm II. die Note aus Belgrad und wies seinen Botschafter in Wien an, den Österreichern zu einem Einlenken zu raten. Zurück von seiner Kreuzfahrt, bot er sich sogar als Mittler zwischen den Mächten an, um den Frieden zu retten. Doch die fatale Entwicklung lief längst an Seiner Majestät vorbei. Auf den Tag genau einen Monat nach dem Attentat erklärte Wien Belgrad den Krieg. Es werde nur ein begrenzter Konflikt werden, so glaubte Kaiser Franz Joseph, der zur Sommerfrische in Bad Ischl weilte. »Da brauche ich nicht nach Wien fahren«, erklärte er seiner Vertrauten Katharina Schratt. Schließlich hatten zwei Balkankriege um das Erbe des Osmanischen Reiches in den Jahren 1912 und 1913 die europäische Diplomatie intensiv beschäftigt, ohne dass der Konflikt eskaliert war.

Diesmal jedoch war alles anders. Mit der österreichischen Kriegserklärung kam eine Kettenreaktion in Gang, die erst Europa, dann die Welt in Flammen setzte: Russland stand Serbien zur Seite und machte am 30. Juli mobil. In Erfüllung seiner Bündnistreue erklärte Deutschland am 1. August Russland den Krieg, zwei Tage später Frankreich, das sich geweigert hatte, neutral zu bleiben. Am 4. August, mit dem Einmarsch der Deutschen in Belgien, trat auch das britische Empire dem Konflikt bei. Damit aber weitete sich der zunächst regionale Konflikt zu einem Weltkrieg aus – dem »Sündenfall« des zwanzigsten Jahrhunderts.

»In Europa gehen die Lichter aus«, sagte der britische Außenminister Edward Grey am 3. August 1914 zu einem Freund und fügte in dunkler Vorahnung hinzu: »Wir werden es nicht mehr erleben, dass sie wieder angezündet werden.« Erst später wurde für alle Welt sichtbar, dass im Sommer 1914 eine Schreckenszeit anbrach, die 1918 keineswegs zu Ende war – sondern eigentlich erst 1945. Historiker, Publizisten und Politiker haben immer wieder versucht, den Ursachen des Kriegsausbruchs 1914 auf den Grund zu gehen. In der Zwischenkriegszeit und in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die meisten Historiker davon aus, dass die Großmächte in diesen ersten Krieg »hineingeschlittert« seien. In einer Zeit der rivalisierenden Machtblöcke und des übersteigerten Nationalismus hätten die herrschenden Mächte das Attentat von Sarajevo zu einer Risikopolitik benutzt, die ihnen einen außenpolitischen Prestigeerfolg erbringen sollte. Irgendwie sei dabei jedoch die »Direktion verloren gegangen«, wie der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg bereits Ende Juli 1914 formulierte.

1959 trat der Hamburger Historiker Fritz Fischer mit einer aufsehenerregenden These an die Öffentlichkeit: Deutschland treffe die Hauptschuld an dieser Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. Berlin habe spätestens seit Dezember 1912 gezielt auf die Provokation eines Krieges im Sommer 1914 hingearbeitet, um die Hegemonie über Europa zu erkämpfen. Von dieser überspitzten These ist heute wenig übrig geblieben. Als unstrittig gilt in diesem Zusammenhang allenfalls, dass das Deutsche Reich das Risiko eines Krieges in Kauf genommen hat. Und dass das Kaiserreich gemeinsam mit seinem Bündnispartner die »rote Linie« zuerst überschritten hat. Wenn dem Zweibund auch die Hauptschuld an diesem Krieg zukommen mag, so muss doch die gesamteuropäische Mächtekonstellation vor 1914 gesehen werden, in der auch die Staaten der Entente – England, Frankreich und Russland – ihren Anteil an der Eskalation des Konflikts tragen. So passierte im Juni 1914 eine Heeresvorlage die Duma, das russische Parlament, die eine Aufstockung der Armee auf 1,8 Millionen Mann vorsah.

Im selben Monat erfuhr man in Berlin auch von geheimen Verhandlungen über ein Militärbündnis zwischen London und St. Petersburg. Die deutsche Politik zog daraus ihre ganz eigenen Schlüsse. London hatte offenbar eindeutig Stellung bezogen. In Zukunft würden die Briten wohl nicht mehr willens sein, französische und russische Heißsporne von einem möglichen offensiven Vorgehen gegen Deutschland abzuhalten. Die deutschen Militärs erwarteten einen Abschluss der russischen Aufrüstungsbemühungen für die Jahre 1916 /17. Danach, so prophezeiten sie, könne man von einem Zangenangriff aus Ost und West ausgehen. Also hieß die vermeintlich folgerichtige Devise: Krieg – und zwar lieber jetzt als später, wenn das Übergewicht der Gegner noch größer sein würde. Für Bethmann-Hollweg ein Zeichen, den »Sprung ins Dunkle«, wie er meinte, zu wagen. Diese pessimistische Lageanalyse hatte mit der Realität nicht viel gemein. Zu nüchternem Denken war man in Berlin in diesen Tagen aber nicht mehr in der Lage. So konstatierte denn auch der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn am 4. August 1914: »Und wenn wir auch darüber zugrunde gehen, schön war’s doch!«

Das »Augusterlebnis«

Der Kriegsausbruch wurde vielerorts stürmisch begrüßt. Der Taumel der nationalen Begeisterung wirkte, als hätten die Menschen den Krieg regelrecht herbeigesehnt. »Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens«, schrieb etwa der Dichter Thomas Mann, »wimmelte sie nicht von den Ungeziefern des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? [...] Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler, nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satthatte!« In der Massenhysterie der ersten Kriegstage erlebe jeder Einzelne gleichsam »eine Steigerung seines Ichs«, notierte der Schriftsteller Stefan Zweig. Der Krieg werde als »Erlösung«, als »reinigendes Gewitter«, als »Spaziergang« angesehen, von dem man – wollte man den Versprechungen des deutschen Kaisers glauben – bis Weihnachten zurück sei. Überall strömten junge Männer in die Rekrutierungsbüros. Untauglichkeit galt als »Schande«. »Es war selbstverständlich, es gab keine Frage, keinen Zweifel mehr: Wir würden mitgehen, alle«, schilderte Carl Zuckmayer die Stimmung unter seinen Klassenkameraden.

»Die Soldaten sangen, Frauen und Mädchen hatten sich in ihre Reihen gedrängt und sie mit Blumen geschmückt. Ich habe seitdem noch manche begeisterte Volksmenge gesehen, keine Begeisterung war so tief und mächtig wie an jenem Tag.«

Ernst Jünger

Auch Adolf Hitler, der sich 1913 dem Militärdienst für die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie noch durch eine Übersiedlung nach München entzogen hatte, wurde von patriotischen Gefühlen hingerissen. »Ich schäme mich auch heute nicht zu sagen«, hieß es später in Mein Kampf »dass ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, dass er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.« Der Krieg bot Hitler, der bis dahin ein eher zielloses Leben geführt hatte, endlich die lang ersehnte Perspektive.

Im »Geist von 1914« wurde fortan das Bild einer Volksgemeinschaft beschworen, die keine Parteien mehr kannte. Doch die Bilder vom Auszug blumengeschmückter Soldaten täuschten. Die Kriegseuphorie hatte längst nicht alle Gesellschaftsschichten in. gleichem Maße erfasst. Während im bürgerlich-akademischen Milieu dem Aufbruch in eine neue Zeit entgegengefiebert wurde, machte sich unter der Arbeiterschaft und der Landbevölkerung Verzagen breit. Wer sollte die Ernte einbringen, wer die Familie ernähren, wenn die Männer an die Front mussten? »Ganz Landshut ist voll schluchzender und weinender Menschen«, notierte der Schüler Heinrich Himmler in sein Tagebuch.

Die jungen Soldaten, die im Sommer des Jahres 1914 an die Front verlegt wurden, hatten keine Ahnung von den Gesetzen eines Krieges, der erstmals auch mit modernsten Massenvernichtungswaffen geführt werden würde. Französische Wehrpflichtige zogen mit roten Hosen und blauen Jacken in den Kampf. Das britische Empire war ohnehin vollkommen unvorbereitet auf einen längeren. militärischen Konflikt. England hatte keine Wehrpflicht und, anders als Frankreich und Deutschland, kein Massenheer.

Erst nach dem Kriegseintritt erfolgte die Bildung einer Freiwilligenarmee durch den neu ernannten britischen Kriegsminister Lord Kitchener. Große Plakate mit seinem Konterfei riefen junge Männer mit dem Slogan zu den Waffen: »Your country needs you!« (Dein Land braucht Dich). Alle beteiligten Nationen hatten einen schnellen Sieg vor Augen – ein fataler Irrtum.

Hinter jedem Zivilisten ein »Franktireur«?

Für die deutschen Truppen, die am 2. August des Jahres 1914 ohne offizielle Kriegserklärung zunächst Luxemburg besetzt hatten, war die Festungsstadt Lüttich das erste Hindernis auf dem Weg durch Belgien. Auf diese Linie hatten sich die belgischen Truppen zurückgezogen. Wenig mehr als 100000 Soldaten hatten die Belgier unter Waffen, gegenüber einer deutschen Heeresstärke von insgesamt 2,4 Millionen Mann. Ein Kampf David gegen Goliath.

Schon in den ersten Tagen des Krieges eskalierte die Gewalt. Überrascht von der starken Verteidigung der vorgeblich »wenig leistungsfähigen belgischen Truppen«, wie der deutsche Generalstab hatte verlauten lassen, kam es zu häufigen Übergriffen gegen Zivilisten. Deutsche Soldaten, von ihrer Führung zur Eile getrieben und in der Furcht vor Übergriffen durch »Franktireurs« (Freischärler), deuteten Schusswechsel allzu oft als Angriffe aus dem Hinterhalt. Sie nahmen Geiseln, erschossen Zivilisten und brannten ganze Straßenzüge nieder. Das deutsche Militär blickte mit Schrecken auf die Erfahrungen aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zurück, in dem der Kampf durch »irreguläre« französische Aufständische verlängert worden und es zu Gewaltexzessen gekommen war. Deshalb beschloss die kaiserliche Militärführung vor Ort, schon beim Anschein eines zivilen Übergriffs zur Abschreckung hart durchzugreifen. In Orten wie Aerschot, Andenne und Tamines starben so im August 1914 bereits Hunderte Belgier. In Dinant, einem malerischen Ort an der Maas, wurden 674 Zivilisten erschossen, darunter auch Kinder. Insgesamt fielen den deutschen Strafaktionen in Belgien 4421 Zivilisten zum Opfer. Über 60000 Personen wurden verschleppt – zum Arbeitseinsatz im »Reich«.

In der Universitätsstadt Löwen, dem »belgischen Oxford«, war deshalb die Anspannung groß, als die Stadt am 19. August 1914 von deutschem Militär besetzt wurde. Am Vortag erst hatte die belgische Armee die Stadt geräumt. Die deutschen Besatzer führten ein strenges Regiment. Ab 20 Uhr galt eine strikte Ausgangssperre, die Häuser mussten nachts beleuchtet sein, Jagdgewehre waren abzuliefern. Auf Zuwiderhandlung stand die Todesstrafe. Ein paar Tage lang ging alles gut. Dann, am 25. August, fielen plötzlich Schüsse, die im Nu in eine wilde Schießerei ausuferten. Für die Armeeführung ein weiterer Fall von Franktireurs. Die deutsche Reaktion folgte auf den Fuß. Über 200 Einwohner der Stadt wurden ohne Verfahren zusammengetrieben und erschossen, die mittelalterliche Altstadt von Löwen ging in Flammen auf. Auch die historische Bibliothek der Universität brannte mitsamt ihren 230 000 Büchern bis auf die Grundmauern nieder.

Drei Tage wütete das »Strafgericht«, wie die Aktion offiziell hieß. Dem amerikanischen Gesandtschaftssekretär Hugh Gibson, der sich drei Tage später ein Bild von der Lage vor Ort machte, erklärte ein deutscher Offizier: »Es wird die Belgier lehren, Deutschland zu respektieren und es sich zweimal zu überlegen, gegen Deutschland die Waffen zu erheben.«

Bilder des Schreckens

Die Fotos des Monsieur Lajot

Der Krieg war gerade zwei Tage alt, als es bei Lüttich nahe des kleinen Ortes Vottem zu einem Scharmützel zwischen deutschen und belgischen Truppen kam. Als die Soldaten weiterzogen, blieben 22 tote Belgier und elf Deutsche zurück. Die Dorfbewohner waren ratlos. Es gab keine Anweisung, wie mit den Opfern des Krieges zu verfahren sei. Der Priester des Ortes, Abbé Crèvecœur, ließ die Leichen ins Pfarrhaus bringen. Dorthin bestellte er auch den Dorffotografen Monsieur Lajot. Mithilfe einiger Bewohner wurden die Toten aufgerichtet und vom Fotografen auf Glasnegativen abgelichtet. Dies, so dachte sich der Pfarrer, würde die spätere Identifikation erleichtern. Danach beerdigten die Dörfler die Toten nach Nationalität getrennt in zwei Massengräbern. Die Porträts von Vottem gehören zu den frühsten Bildern von gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs. Ein halbes Jahrhundert waren sie verschollen, verloren gegangen im Wandel der Zeitläufe. Erst 2003 tauchten sie wieder auf– auf einem Flohmarkt in den Niederlanden. Die Bilder fesseln und verstören: Gesichter, die vom Kampf gezeichnet sind, mit aufgerissenen Augen im Angesicht des Schreckens. Ungeschönte Aufnahmen, die keine Zensur passieren mussten. Nur wenige Tage später würde kein Pfarrhaus mehr ausreichen, um die Opfer einer Schlacht zu dokumentieren.

Mit der Zerstörung der Bibliothek aber hatte sich Deutschland in der Welt den Ruf von Barbaren eingehandelt. Als »Hunnen«, denen man das Schlimmste zutraute, wurden sie fortan in der alliierten Propaganda persifliert. Noch heute erinnern in Löwen steinerne Bildtafeln an zahlreichen Häusern an die Brandschatzung durch die Deutschen.

Nachkriegsuntersuchungen über die Ursache des Schusswechsels ergaben übrigens, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um »friendly fire« gehandelt hatte. In Löwen einquartierte deutsche Soldaten hatten offenbar unter dem Einfluss von Alkohol und der allgegenwärtigen Franktireurs-Psychose auf die eigenen Truppen geschossen, die von Kämpfen mit der belgischen Armee in die Stadt zurückkehrten.

Mythos Tannenberg

Nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit fand zur gleichen Zeit im Osten eine Schlacht statt, die den Ruhm eines Mannes begründete, der alsbald einen wahren Personenkult im Deutschen Reich auslöste. General Paul von Hindenburg war längst im Ruhestand, als er mit der Aufgabe betraut wurde, die Verteidigung Ostpreußens zu organisieren. Ihm zur Seite gestellt wurde Erich Ludendorff, der sich erst wenige Wochen zuvor als Eroberer von Lüttich Meriten erworben hatte. Die deutsche Oberste Heeresleitung war davon ausgegangen, dass sich die russische Mobilisierung über Wochen hinziehen würde. Unerwartet schnell jedoch waren russische Armeen in Ostpreußen einmarschiert. Die dortige Zivilbevölkerung war in Panik geflohen. Die deutsche Propaganda schürte die Angst vor den wütenden »Kosaken«. Doch die Truppen des Zaren waren schlecht ausgebildet und mangelhaft bewaffnet. Nicht jeder russische Soldat hatte ein eigenes Gewehr.

Hindenburg und Ludendorff gelang es Ende August 1914, obwohl die Deutschen zahlenmäßig unterlegen waren, in einer nur vier Tage andauernden Umfassungsschlacht die russische Armee vernichtend zu schlagen. 50 000 russische Soldaten fielen, 92 000 gerieten in Gefangenschaft. Zum ersten Mal in der Geschichte hörte man von solch hohen Opfer- und Gefangenenzahlen als Folge einer einzigen Schlacht. Für die Menschen im »Reich« aber wurde Tannenberg zum ersehnten Siegesmythos, wenngleich das Hauptgebiet der Kampfhandlungen bei Hohenstein lag, etwa 15 Kilometer von Tannenberg entfernt. Mit der Umbenennung in »Schlacht bei Tannenberg« wollte man die schmachvolle Niederlage der »Ritter des Deutschen Ordens« gegen die litauisch-polnische Union aus dem Jahr 1410 vergessen machen. Hindenburg wurde postwendend zum »Retter des Vaterlands« erklärt. Überlebensgroß stand sein Abbild nun als riesige Holzfigur in vielen deutschen Städten – als Werbeträger für Kriegsanleihen.

In Berlin herrsche nach der Schlacht von Tannenberg Anfang September 1914 »Jubelstimmung«, schrieb die Künstlerin Käthe Kollwitz in ihr Tagebuch, »als ob der Krieg schon beendet sei«. Die russische »Dampfwalze« war ausgebremst, und auch im Westen schien ein Sieg zum Greifen nahe.

Strategie ohne Alternative

Der Schlieffenplan

»Macht mir den rechten Flügel stark«, sollen die letzten Worte des Sterbenden gewesen sein. Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen, von 1891 bis 1906 Chef der Obersten Heeresleitung, glaubte den Weg zum Sieg in einem künftigen Krieg gefunden zu haben. Der »Schlieffenplan« war sein Lebenswerk. Nach der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags mit Russland unter Bismarcks Nachfolger Caprivi hatte sich das Zarenreich mit der französischen Republik verbündet. Das deutsche Kaiserreich sah sich der Gefahr eines Zweifrontenkrieges ausgesetzt. Schlieffens Denkschrift, 1905 unter dem Titel »Krieg gegen Frankreich« zu Papier gebracht, postulierte einen schnellen Feldzug gegen den Westen. »Der erste Schlag muss mit voller Kraft geführt werden, und es muss eine wirkliche Entscheidungsschlacht stattfinden«, so Schlieffens Überlegung. Dann, so glaubte er, könne sich die kaiserliche Armee in Ruhe Russland zuwenden.

Unter Schlieffens Nachfolger Moltke »dem Jüngeren« wurde sein Plan zum Dogma, zum »einzigen Weg zum Sieg«. Bei Kriegsausbruch 1914 folgte dieser Schlieffens Strategie mit nur geringfügigen Änderungen. Den Praxistest bestand der Schlieffenplan indes nicht, Russland machte schneller mobil als erwartet. Bereits Ende August 1914 kam es zum Kampf um Ostpreußen. Großbritannien erklärte wider Erwarten dem Kaiserreich den Krieg, nachdem deutsche Soldaten im neutralen Belgien einmarschiert waren. Die Logik des Schlieffenplans erzeugte einen immensen Zeitdruck, der in der sogenannten Julikrise kaum Raum für Verhandlungen ließ. Deutschland vergab damit ohne Not die Möglichkeit auf eine politische Lösung des Konflikts.

Sechs Wochen nach Kriegsausbruch, so hatte es der Schlieffenplan gefordert, sollte es vor Paris zur entscheidenden Schlacht gegen Frankreich kommen. Und tatsächlich, die deutsche Armee lag im Zeitplan. Am 2. September war die französische Regierung aus Paris nach Bordeaux geflohen. In der französischen Hauptstadt bereitete Stadtkommandant Gallieni bereits die Sprengung der Seine-Brücken vor. Die kaiserliche Armee stand nur noch 18 Kilometer vor der Stadt. In der Ferne konnten deutsche Patrouillen bereits den Eiffelturm sehen. Doch bei aller Siegeszuversicht, es gab ein Problem: Die deutschen Truppen waren so weit vorgedrungen, dass sie von ihrer eigenen Versorgung abgeschnitten waren. Dazu kam, dass die Kommunikationswege nahezu zerstört waren. Die Übermittlung drahtloser Meldungen dauerte oft 24 Stunden und konnte von den Franzosen abgefangen werden. Ohne Verbindung zum eigenen Hauptquartier im Hunderte von Kilometern entfernten Luxemburg und durch anstrengende Gewaltmärsche geschwächt, war die Ausgangssituation für die geplante letzte militärische Auseinandersetzung schwierig.

Der Wendepunkt

Am 5. September begannen die Kämpfe an der Marne. Gleich zu Beginn gelang den Franzosen ein Propagandaerfolg. Über Nacht hatte Joseph Joffre, der französische Oberbefehlshaber, gut 600 Taxis von Paris aus zweimal an die Front fahren lassen – besetzt mit jeweils fünf Soldaten. Am nächsten Morgen standen den Deutschen 6000 »Poilus«, »Bärtige«, wie die Franzosen ihre Frontsoldaten nannten, mehr gegenüber. In Luxemburg hatte Generalstabschef Helmuth von Moltke Mühe, Überblick über den Frontverlauf zu erhalten. Er war ein Nervenbündel, sichtlich überfordert mit der Leitung der Operationen. In einem Brief an seine Frau beklagte der Oberbefehlshaber am 8. September 1914 seine Lage: »Die schreckliche Spannung dieser Tage, das Ausbleiben von Nachrichten von den weit entfernten Armeen und das Bewusstsein dessen, was auf dem Spiel steht, geht fast über die menschliche Kraft.« In seiner Not schickte der General Oberstleutnant Richard Hentsch, den Chef der Nachrichtenabteilung des Generalstabs, an die Front; er sollte sich vor Ort ein Bild von der Lage machen. Ohne einen schriftlichen Befehl von Moltke in der Tasche zu haben, besuchte Hentsch mehrere Armeen entlang der Front.

Die deutschen Truppen standen einer starken Allianz britischer und französischer Armeen gegenüber. Während Richard Hentsch in den deutschen Hauptquartieren auf Siegeszuversicht stieß, war bei den gemeinen Soldaten die Euphorie der ersten Kriegstage längst der Verzweiflung gewichen. »Die Leute, die in der Heimat im Siegestaumel leben, ahnen nicht das Schreckliche des Krieges«, schrieb etwa August Macke am 11. September 1914 an seine Frau, »seit drei Tagen liegen wir hier in einem Gefecht, das sich von Paris bis Verdun hinzieht. Von frühmorgens bis in die Nacht tobt der Kanonendonner [...] Der Krieg ist von einer namenlosen Traurigkeit. Man ist weg, noch ehe man’s merkt.« Der Maler August Macke fiel drei Wochen später in Nordfrankreich.

Die problematische Kommunikation mit der Obersten Heeresleitung, so Hentsch in seinem Bericht, habe zu »eigenmächtigen Entscheidungen« der einzelnen Befehlshaber geführt. Hinzu kam, dass von Moltke auf dem Höhepunkt der Kampfhandlungen überstürzt zwei Armeekorps nach Ostpreußen abgezogen hatte, um Hindenburgs Armeen bei Tannenberg zu unterstützen. Die Soldaten, die erst nach dem Ende der Kampfhandlungen an der Ostfront eintrafen, fehlten nun wiederum im Westen. Der Oberstleutnant sah die Situation kritisch. Infolge des schnellen Vormarsches war zwischen der 1. und der 2. Armee eine rund 40 Kilometer breite Bresche entstanden, der sich das Britische Expeditionskorps langsam näherte. Der Offizier des Generalstabs sah die Gefahr einer Einkesselung und empfahl den Rückzug gerade in dem Moment, in dem die Militärs zum Endkampf ausholen wollten. Ungläubig und nur äußerst widerstrebend folgten die Armeechefs Hentschs Weisung. Am 9. September 1914 wurde der deutsche Rückzug eingeleitet. Zwei Tage später war die Marne-Schlacht beendet.

250 000 Tote, Verwundete und Gefangene auf deutscher Seite hatte die Schlacht gekostet, etwa 300 000 Opfer auf alliierter Seite. Generalstabschef von Moltke erlitt einen Nervenzusammenbruch. »Majestät, wir haben den Krieg verloren!«, meldete er dem Kaiser, da war der Krieg gerade einmal sechs Wochen alt.

Mit dieser Meinung stand er nicht alleine da. Auch der im Alter von 74 Jahren reaktivierte Feldmarschall Gottlieb Graf von Haeseler äußerte gegenüber seinem obersten Kriegsherrn Unbehagen: »Es scheint mir, dass nun der Augenblick gekommen ist, in dem versucht werden muss, den Krieg zu beenden«, erklärte er dem Kaiser. Er befürchte, dass das Reich langsam ausbluten würde, sollte der Krieg weitergeführt werden. Doch der wollte von einem »Kompromissfrieden« nichts wissen. Wilhelm II. entließ Generalstabschef Moltke und 33 seiner Generäle. Nachfolger wurde Generalleutnant Erich von Falkenhayn, ein kühler Karrierist und skrupelloser Stratege, der später verantwortlich für das schreckliche Blutbad von Verdun sein würde.

Im Schlamm von Flandern

Die Schlacht an der Marne beendete nicht den Krieg, aber sie war eine Niederlage »napoleonischen Ausmaßes«, wie der Historiker Hew Strachan formuliert, die Wende im Krieg. Ob durch Moltkes Rückzugsentscheidung eine drohende Einkesselung verhindert oder aber der Sieg verspielt worden war – diese Fragen gaben nach dem Krieg Anlass für Legendenbildungen. Fakt ist, dass mit dem Rückzug zur Aisnestellung der Schlieffenplan gescheitert war. Sechs Wochen nach Kriegsausbruch war klar, dass die Vorstellung von einem Blitzkrieg eine Illusion gewesen war.

Die Mittelmächte hatten die Offensive verloren. »Das Wunder an der Marne«, wie es die Franzosen nannten, bildete den Übergang vom Bewegungs- zum Stellungskampf. Jetzt begann jener fatale Abnutzungskrieg, der Millionen Opfer fordern und doch keine Entscheidung bringen sollte. Die Truppen gruben sich ein. Entlang der Front von der belgischen Küste bis zur schweizerischen Grenze entstand ein ausgeklügeltes System mit Kampfgräben, Rückzugslinien, Stollen und Bunkern. Dabei achtete die Generalität darauf, dass sich die Soldaten nicht zu häuslich einrichteten. Bunker müssten auf 1,20 Meter Höhe beschränkt sein, hieß es etwa in einem deutschen Regimentstagebuch, »größere Bauten würden die Offensivbereitschaft der Truppen negativ beeinflussen. Das Endziel heißt immer die Eroberung der britischen Stellungen.« Regen und Grundwassereinbrüche erforderten ständige Nachbesserungen, die Schaufel wurde neben dem Gewehr zum wichtigsten Werkzeug der Soldaten. In den Schützengräben wimmelte es von Ratten. Häufig kamen die Essensrationen nicht durch bis an die Front. Der Maler Otto Dix, im August 1914 als Freiwilliger eingerückt, fasste in seinem Tagebuch das Soldatenleben in wenigen bitteren Worten zusammen: »Läuse, Ratten, Drahtverhau, Flöhe, Granaten, Bomben, Höhlen, Leichen, Blut, Mäuse, Katzen, Gase, Kanonen, Dreck, Kugeln, Mörser, Feuer, Stahl, das ist der Krieg. Alles Teufelswerk!« Otto Dix sollte den Krieg überleben und in seinem künstlerischen Werk das erlebte Inferno verarbeiten.

Während die Soldaten an der Front längst alle Illusionen verloren hatten, fieberten in der Heimat noch Hunderttausende ihrem Einsatz entgegen. Einer von ihnen war der 25-jährige Postkartenmaler Adolf Hitler. »Eine einzige Sorge quälte mich in dieser Zeit, mich wie so viele andere auch«, diktierte er später seinem Sekretär Rudolf Hess, »ob wir nicht zu spät zur Front kommen würden.« Gleich nach Kriegsausbruch hatte er sich als Freiwilliger bei der bayerischen Armee gemeldet. Erst im Februar 1914 hatten ihn die österreichischen Behörden an seinem neuen Aufenthaltsort München aufgespürt und vorgeladen. Doch der Wehrdienst in der ihm verhassten Habsburger-Monarchie war Hitler erspart geblieben: Er wurde als körperlich »untauglich« ausgemustert. Nun wollte er in den Krieg ziehen, auf deutscher Seite! Im allgemeinen Durcheinander der ersten Kriegstage gelang es ihm, als Österreicher, in das königlich-bayerische Reserve-Infanterieregiment 16, nach dem ersten Kompaniechef auch »Regiment List« genannt, aufgenommen zu werden.

Entgegen dem Bild, das später in der Öffentlichkeit gezeichnet wurde, bestand Hitlers Kompanie nur zu einem geringen Teil aus Studenten und Schülern, die sich freiwillig gemeldet hatten und wenig mehr als ihre Begeisterung und Opferbereitschaft mitbrachten. Die Mehrzahl seiner Kameraden waren mobilisierte Reservisten, doch auch sie hatten nur wenig militärische Vorbildung. In gerade einmal zwei Monaten sollten diese Männer nun zu Soldaten ausgebildet werden, um Ende Oktober an der Front zur Verfügung zu stehen. Sie waren Teil von sechs neuen Korps, die Mitte August 1914 auf Wunsch des damaligen preußischen Kriegsministers Erich von Falkenhayn ausgehoben wurden und alsbald die bereits eingezogenen Soldaten entlasten sollten. Die knappe Zeit ließ indes nur eine rudimentäre militärische Schulung zu. Die Waffen, die dabei zum Einsatz kamen, hatten wenig mit jenen gemein, die man ihnen später an der Front in die Hand drückte. Überall fehlte es an Uniformen und Übungsgerät. Anfang Oktober erhielten die Reservisten im Rahmen eines Großmanövers eine zehntägige Gefechtsausbildung. Für den eher schwächlichen Hitler »die anstrengendsten Tage meines Lebens«. Dann ging es mit dem Zug an die Westfront.

Der neue Generalstabschef brauchte nach dem Debakel an der Marne dringend einen militärischen Sieg. Falkenhayns Plan war, die neuen Truppen in Flandern einzusetzen, dort die alliierte Front zu durchbrechen und in einem »Wettlauf zum Meer« die französischen Kanalhäfen zu besetzen, um dann die Flanke der Alliierten anzugreifen. Der Durchbruch sollte in der Nähe der belgischen Kleinstadt Ypern erfolgen. Am 20. Oktober des Jahres 1914 entbrannte die Schlacht in Flandern. Die schlecht ausgebildeten deutschen Truppen stießen auf erfahrene britische Berufssoldaten und reguläre französische Einheiten. Die Verluste auf beiden Seiten waren von Anfang an hoch.

Auch das Reserveinfanterieregiment 16 mit dem Infanteristen Hitler kam am 29. Oktober hier zum Einsatz. Vier Tage standen die Männer im Kampf. Dichter Nebel erschwerte den Überblick. Hitlers Einheit hatte den Auftrag, die Engländer vor Ypern zurückzudrängen. Kaiser Wilhelm II. wartete hinter der Front bereits auf die erhoffte Einnahme der Stadt. Doch die Kämpfe wurden zum Fiasko. Ohne Rücksicht auf Verluste stürmten die Deutschen über das Kampffeld. Aus der Deckung heraus konnten die britischen. Soldaten die Angreifer leicht abwehren und vernichten. »Die Ströme von Blut, welche die flandrische Erde tränkten, vermochten die Entscheidung nicht zu erzwingen«, urteilten nach dem Krieg die Autoren der offiziellen Weltkriegsgeschichte des Reichsarchivs. Im bayerischen »Regiment List« starben Hunderte allein durch Maschinengewehrfeuer aus den eigenen Linien – sie wurden Opfer einer tödlichen Verwechslung. Aus Mangel an Uniformen waren an die Männer des Reserveinfanterieregiments Landsturmmützen mit graugrünem Überzug ausgegeben worden, die den englischen Uniformmützen glichen.

Nach viertägigem Kampfeinsatz wurde das Regiment zurückgezogen. Von den ursprünglich 3000 Soldaten waren etwa 70 Prozent gefallen, verwundet oder vermisst. Adolf Hitler verklärte seine einzige Nahkampferfahrung später als »Feuertaufe«. Voller Pathos beschwor er seinen Einsatz auf dem Schlachtfeld: »Nach vier Tagen kehrten wir zurück. Selbst der Tritt war jetzt anders geworden. Siebzehnjährige Soldaten sahen nun Männern ähnlich. Die Freiwilligen des ›Regiments List‹ hatten vielleicht nicht recht kämpfen gelernt, allein zu sterben wussten sie wie alte Soldaten. Das war der Beginn.« Das erklärte Ziel des Einsatzes, die Einnahme Yperns, war nicht erreicht worden. Die Deutschen sollten das mittelalterliche Provinzstädtchen auch in den folgenden Jahren nicht besetzen. Doch infolge der Kämpfe wurde die einst reiche flandrische Tuchstadt bis auf die Grundmauern verwüstet.

Der »Kindermord von Ypern«

Zur Legende wurde in jenen Tagen eine andere Schlacht, nur wenige Kilometer von Hitlers Einsatzgebiet entfernt. Am 11. November 1914 gab die Oberste Heeresleitung bekannt, bei Langemarck unweit von Ypern seien junge Regimenter unter dem Gesang »Deutschland, Deutschland über alles« gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen gestürmt und hätten sie genommen. Etwa 2000 französische Infanteristen seien gefangen genommen worden. Eine Erfolgsmeldung? Die Verlautbarung der Obersten Heeresleitung entfaltete im Land eine große Breitenwirkung. Die Presse bejubelte den »todesmutigen« Einsatz der jungen Reservisten, patriotische Erhabenheit machte sich breit. Die unerfahrenen Kriegsfreiwilligen, notdürftig ausgebildet und frisch an der Front, hatten. einen Graben genommen und Gefangene gemacht. Der heroische Einsatz der deutschen Jugend mit dem Deutschlandlied auf den Lippen – für die deutsche Propaganda ein willkommenes Motiv und Anlass für neue Siegeszuversicht.

Doch die Wahrheit war weitaus brutaler, der Preis für kleinste Geländegewinne hoch. Etwa 2000 Kriegsfreiwillige, vor allem Gymnasiasten, wurden an jenem Tag bei Langemarck von den gut gedeckten britischen Truppen ohne effektive Gegenwehr reihenweise niedergemäht. Die jugendlichen Soldaten wateten durch die matschigen Felder dem Feind entgegen – in den sicheren Tod. 9500 Tote und Verwundete und tausend Vermisste hatte allein die 6. Armee, die Armee der Studenten und Schüler, in jenen blutigen Novembertagen zu beklagen.

Das »Opfer der Jugend« bot Historikern nach dem Krieg reichlich Stoff für schwülstige Beschreibungen des Geschehens. 1928 wurde in der deutschen Studentenschaft eigens der »Langemarck-Tag« eingeführt. Im »Dritten Reich« schließlich wurden Schulen, Straßen und Plätze nach dem kleinen Dorf in Flandern benannt. Bei »Langemarck-Feiern« wurde das Vorbild jener jungen Soldaten beschworen, die ihr Leben für die Nation geopfert hatten.

Auch Adolf Hitler wollte an diesem Mythos partizipieren. In seinen Erinnerungen verklärte er seinen Einsatz unweit des Ortes und verknüpfte ihn mit der Langemarck-Geschichtsschreibung: Er sei ebenfalls »über Rübenfelder und Hecken« in den Kampf gezogen, »Mann gegen Mann«. Auch er wollte die Klänge eines Liedes gehört haben, die »kamen immer näher und näher, sprangen über von Kompanie zu Kompanie, und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, erreichte das Lied auch uns und wir gaben es nun wieder weiter: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!« Der Schriftsteller Ludwig Renn, selbst ein ehemaliger Kriegsteilnehmer, hielt dies für eine Mär: »Wenn man mal so einen Sturm mitgemacht hat, und da soll man sich vorstellen, dass die gesungen haben? Wie denn gesungen? Während sie vorrannten gegen ratternde Maschinengewehre? Außer Atem singen [...] Nein, das ist Lüge, ist eine bloße Phrase.«

Näher an der Realität war wohl das Zeugnis des Soldaten Alfred Buschalski, Flandernkämpfer wie Hitler, der seinen Eltern voller Entsetzen schrieb: »Es war furchtbar! Nicht das vergossene Blut, nicht auch der Umstand, dass es vergeblich vergossen war, auch nicht, dass in der Nacht die eigenen Kameraden auf uns schossen – nein, die ganze Kampfesweise ist es, die so abstößt. Kämpfen wollen und sich nicht wehren können! Der Angriff, der mich so schön dünkte, was ist er anders als der Drang: Hin zur Deckung da vorne gegen diesen Hagel tückischer Geschosse. Der Feind, der sie entsendet, nicht zu sehen!« Es war ein sinnloses Opfer, dem erfahrene »Landser« den Namen »Kindermord von Ypern« gaben. »Was hat man diesen Männern versprochen, dass sie sich so töten lassen?«, fragte ein alliierter Kompaniechef verwundert, »sie erreichen die Laufgräben nur, um hier den Tod zu finden.« Und der Schriftsteller Carl Zuckmayer, selbst damals Kriegsfreiwilliger, analysierte später: »Wir zogen in den Krieg wie junge Liebende – die Todesangst hatten wir erst zu lernen. In unseren Schulfächern war sie nicht vorgekommen.«

Adolf Hitler hat seinen Einsatz in der ersten Flandernschlacht unverletzt überstanden. Sein erster Kampfeinsatz war gleichzeitig sein letzter. Seit dem 9. November wurde der Gefreite als Meldegänger eingesetzt. Damit war er dem Regimentsstab zugeordnet und musste nicht mehr im Graben ausharren. »In Bezug auf Schmutz ist es etwas besser, dafür aber auch gefährlicher«, schrieb er einem Münchner Bekannten. In Mein Kampf würde er später seine Verwendung als Meldegänger hartnäckig verschweigen. Er präsentierte sich als einfacher Soldat, als Teil der »großen Gemeinschaft« der Frontkämpfer. Auf sein Eisernes Kreuz, das er Anfang Dezember des Jahres 1914 erhielt, war er zeitlebens stolz. Daran klebe »der Schmutz von Frankreich und der Schlamm von Flandern«, erklärte er 1922. auf einer NSDAP-Versammlung. Jahre später, während des von ihm entzündeten zweiten Flächenbrands des zwanzigsten Jahrhunderts, betonte er, die Erfahrungen der Jahre 1914 bis 1918 hätten ihn gelehrt, das Leben als einen »ständigen Kampf« zu sehen. Ohne diese Erfahrungen Hitlers im Ersten Weltkrieg, davon gehen auch Historiker wie Ian Kershaw aus, wären weder der ganze Umfang des Völkermords noch die absolute Vernichtungsbereitschaft im Zweiten Weltkrieg vorstellbar.

Weihnachtsfrieden

Ende 1914 war die Front erstarrt. Bis Weihnachten sollten alle Soldaten wieder zu Hause sein, hatte es geheißen, doch die Hoffnung auf einen kurzen Krieg war längst geschwunden. Mit dem Wintereinbruch verlangsamten sich die Kämpfe. Auf allen Seiten fehlte es an entsprechender Ausrüstung für die Soldaten. Kälte, Läuse und Hunger machten allen zu schaffen. Der Kaiser hatte de facto die Herrschaft längst an den Chef des Generalstabs übergeben. Er blieb hinter der Front in der Nähe seiner Soldaten, verlieh Orden, unterzeichnete Gesetze, doch mischte er sich wenig in operative Vorgänge ein. »Der Generalstab sagt mir nichts und fragt mich auch nicht. Wenn man sich in Deutschland einbildet, dass ich das Heer führe, so irrt man sich sehr«, klagte er Ende 1914. In der Heimat konnte man sich nur schlecht ein Bild vom Frontgeschehen machen. Zwar gab es noch kaum Zensur, aber 1914 waren gerade einmal 19 Pressefotografen beim Generalstab zugelassen, und die hielt man weit hinter der Front zurück. Fotos von deutschen Leichen waren tabu. Nachrichten aus erster Hand erhielten viele Eltern durch die Feldpost – wie auch die Todesmeldungen. »Zurück. Gefallen« stand auf dem Brief von Käthe Kollwitz an ihren Sohn, der wie alle seine Freunde freiwillig in den Krieg gezogen war. Peter Kollwitz war im Alter von 18 Jahren in der Flandernschlacht durch Kopfschuss als Erster seines Regiments gefallen. Für seine Mutter »eine große Wunde, die nie heilen wird und nie heilen soll«.

Auch die Verluste auf alliierter Seite waren mörderisch. Von Dezember des Jahres 1914 an veröffentlichten britische Zeitungen keine Gefallenenlisten mehr. Der Berufssoldat Bernard Montgomery, im Zweiten Weltkrieg Sieger von El Alamein, empörte sich über die Art der britischen Kriegführung. Für viele Offiziere war der Krieg ein großes Abenteuer. Sie pendelten zwischen der Front und London, Züge und Fähren verkehrten regelmäßig. Während die Militärstäbe in »relativer Ruhe und Behaglichkeit« lebten, wie Montgomery fand, vegetierten die einfachen Soldaten in feuchten Gräben und starben wie die Fliegen.

Nun, da ein Weihnachten im Felde immer näher rückte, versuchten sich die Soldaten mit ihrem Schicksal zu arrangieren. Die Kampfmoral war schlecht. Die einfachen Soldaten fühlten sich als Kanonenfutter. Tausende desertierten. Allein Frankreich exekutierte 600 Mann wegen Fahnenflucht, die meisten davon bereits im ersten Kriegsjahr. Die oftmals geringe Entfernung zum feindlichen Graben verführte zu Absprachen zwischen den Fronten. Während der Essenszeiten gab es im gegenseitigen Interesse Feuerpausen, ebenso zur Beerdigung der Toten. Kündigte sich der Besuch eines Generals an, so wurde ein bisschen stärker geschossen. Fern der Euphorie des Kriegsausbruchs sahen die Soldaten in ihren Gegenübern auch ihresgleichen im Leid. »Wir hatten an sich nichts gegen ›Bruder Boche‹«, gab nach dem Krieg der Schütze Leslie Walkinton von den Queen’s Westminster Riffes zu Protokoll, »er schoss auf uns, wir schossen auf ihn, aber letztlich waren wir ja genau dafür auch da.«

Am Morgen des 24. Dezember 1914 hatte der Regen aufgehört. Die Temperaturen waren in den Minusbereich gefallen und hatten das Niemandsland wieder begehbar gemacht. Während das Regiment List Heiligabend hinter der Front in der flandrischen Stadt Messines verbrachte, versuchten die Soldaten an der Front, ein Stück des weihnachtlichen Zaubers in den Schützengraben zu retten. Kleine Weihnachtsbäume wurden aufgestellt, »Liebesgaben« verteilt, Geschenke aus der Heimat: Zigaretten, Schokolade oder warme Socken. Der Bruder des Kaisers, Prinz Heinrich, hatte Tabakpfeifen mit seinem Bild schicken lassen.

Im Frontabschnitt bei Ypern lagen den Truppen des British Expeditionary Force bayerische und sächsische Einheiten oft nur wenige hundert Meter entfernt gegenüber. Einer der diensthabenden Offiziere an Weihnachten war Kurt Zehmisch, Leutnant der Reserve im sächsischen Infanterieregiment 134. Der 24-jährige Kriegsfreiwillige war bereits seit Ende Oktober an der Front. Er kannte die katastrophalen Zustände in den Schützengräben aus leidvoller Erfahrung. In seinem Kriegstagebuch hatte er akribisch festgehalten, wie seine Männer bis zu den Knien im Wasser versanken, während die Lehmwände an ihrer Seite nachgaben und einbrachen. Für die Weihnachtstage hatte er seinen Leuten befohlen, von ihren Waffen nur im Notfall Gebrauch zu machen. Auch bei den Briten spürte man einen Stimmungsumschwung: »Da war so ein Gefühl in der Luft, wir können uns doch nicht in alle Ewigkeit umbringen«, beschrieb der britische Artillerist Reginald Thomas jene eigenartige Atmosphäre, »ich persönlich hatte gar nichts gegen die Deutschen. Ich hasste sie nicht.«

»Die Deutschen brachten aus ihrem Graben Bier mit, das unsere Männer gierig tranken, und die Sache geriet ein bisschen außer Kontrolle.«

Peter Jackson, britischer Soldat

Kurt Zehmisch war einer von denen, die die Initiative ergriffen. Im zivilen Leben Lehrer, konnte Zehmisch ganz gut Englisch und nahm mit den Briten im gegenüberliegenden Graben durch lautes Rufen Kontakt auf. Irgendwie verabredeten beide Seiten ein Treffen auf halbem Weg zwischen den Stellungen. Zögernd verließen die Soldaten die Schutzgräben. Mitten im Krieg trafen sie im Niemandsland in friedlicher Absicht aufeinander: Sie schüttelten einander die Hände und wünschten sich fröhliche Weihnachten. Sie tauschten Zigaretten und zeigten sich Fotografien von ihren Angehörigen. Bier wurde herangebracht. Jemand hatte einen Ball, und so kam es tatsächlich zu einem Fußballspiel zwischen Engländern und Deutschen.

Am 25. Dezember wurde auch das 16. bayerische Infanterieregiment an die Front geschickt, und das Schauspiel wiederholte sich. Die offizielle Regimentsgeschichte zitiert den Brief des Kameraden Josef Wenzl an seine Eltern: »Alles bewegte sich frei aus den Gräben, und es wäre nicht einem in den Sinn gekommen zu schießen. Was ich vor Stunden noch für Wahnsinn hielt, konnte ich jetzt mit eigenen Augen sehen. Bayern und Engländer, bisher größte Feinde, drückten sich die Hände, unterhielten sich und tauschten Sachen aus. Zwischen den Schützengräben stehen die erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Den Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Man sieht, dass der Mensch doch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden. Weihnachten 1914 wird mir unvergesslich sein.«

Viele Tausend Soldaten waren in jenen Tagen beteiligt an den Fraternisierungen entlang der Front, vor allem nicht-preußische Regimenter und britische Einheiten. Sie genossen die »heilige Zeit«, ohne Tote und Verwundete. Bis zum 29. Dezember dauerte die friedliche Phase, ein Stück Menschlichkeit mitten in der Hölle. Der Weihnachtsfrieden des Jahres 1914 hätte das Ende vom Krieg bedeuten können.