Forside

Will Berthold

Die gelbe Mafia

SAGA Egmont

1

Er saß rechts in der neunten Reihe in der DC-10 aus Bangkok, ein unauffälliger, unaufdringlicher Mann mit etwas zu langen Beinen, der seinem Gesicht eine nichtssagende Miene wie eine Brille aufsetzen konnte. Er gab sich bei der bevorstehenden Untergrund-Operation in Hongkong – wohin alle Spuren führten – als Ralf Parker aus, doch sein Name war so falsch wie ein Hurenkuß. Nach jedem Auftrag landeten seine Reisepapiere, seine Garderobe und seine Legende im Reißwolf und wurde eine Episode aus seinem Gedächtnis gelöscht.

Echt an dem Geheimagenten war nur die aufgeweckte Blondine an seiner Seite, mit der er nach übereinstimmender und mitunter neidvoller Meinung der geschlossenen Reisegesellschaft mindestens seit Singapur – wenn nicht schon seit Bali – schlief. Die Mittdreißigerin aus Düsseldorf, eine gutverdienende Direktionsassistentin namens Babs, wirkte ohne Make-up nicht gerade wie das Gedicht von einer Frau, aber ihre Prosa konnte sich durchaus sehen lassen. Vom Zwang des Alltags befreit, war ihre Vitalität regelrecht explodiert.

Ralf Parker – oder wie immer er heißen mochte – war nicht der Typ, der eine Gelegenheit ausließ, noch dazu, wenn sie sich als zusätzliche Tarnung eignete. Der Kurschatten, der ihm über den Weg gelaufen war, paßte vortrefflich zu seiner derzeitigen Rolle in der Eselshaut eines Pauschaltouristen, in der er seinen neuesten Auftrag anging.

Im Dschungel der unsichtbaren Front führte der Mann aus Pullach den Spitznamen ›der Kamikaze‹, seitdem er ein Himmelfahrtskommando im Urwald von Malaysia und andere halsbrecherische Unternehmungen überstanden hatte. Gemessen an seinem jetzigen Auftrag in Hongkong waren allerdings die damaligen Todesraids Kinderspiele gewesen.

Der erste Anlauf der ›Operation Taifun‹, des Versuchs, in das Triadennetz eines übermächtigen chinesischen Gangstersyndikats einzudringen, war gründlich danebengegangen: Parkers Vorgänger, zwei an der Zahl, hatten vor kurzem dabei ihr Leben verloren. Was einem dritten Mann, dem Agenten Latzke, der sich – seelisch gebrochen und körperlich ruiniert – telefonisch im Hauptquartier zurückgemeldet hatte, widerfahren war, erwies sich als so schlimm, daß man den Mann wie nach einem schweren Betriebsunfall isolierte, ihn sofort in einem Krankenhaus und anschließend unter strenger Geheimhaltung in einem Sanatorium unterbrachte, Besuche unterband und seine Frühpensionierung beantragte.

Diese Tatsache hatten die Auftraggeber dem Kamikaze verschwiegen, weil seine Vorgesetzten befürchteten, er könnte kalte Füße bekommen und aussteigen. Auch wenn Parker der Fall Latzke unterschlagen worden war, kannte er sein Risiko gut genug; er wußte, daß holländische, amerikanische und englische Agenten im Kampf gegen den kriminellen Polypen vor die Hunde gegangen waren, mindestens sechs oder sieben erstklassige Männer.

Der Geheimbund des organisierten Verbrechens, die Triaden, in China eine traditionelle Institution, hatte seine Tatorte seit einiger Zeit in die westliche Welt verlegt. Nicht nur in Deutschland wurden Polizei, Staatsanwälte und Richter mit Verbrechen konfrontiert, gegen die sie fast machtlos waren. Nach Ermittlungen der ›Royal Hongkong Police‹ soll es, über die ganze Welt verteilt, 27 Triaden mit mehr als 300000 Mitgliedern geben. Diese Gangs führen so harmlose Bezeichnungen wie ›Alte Armee‹, ›Rote Tür‹, »Stiller Pfad‹, ›Morgenlicht‹ oder ›KK‹. Der Begriff Triade stammt aus dem Altchinesischen und bedeutet ›Dreieinigkeit von Himmel, Erde und Mensch‹. Aus dieser romantischen Vorstellung hat sich ein krimineller Milliarden-Konzern von beispielloser Grausamkeit entwickelt.

In Fernost hat man meistens ein anderes Empfinden gegenüber Tieren wie in Europa oder Amerika: An Verkaufeständen werden flatternde Hühner gewogen und dann vor aller Augen geköpft. Nach der Preisabsprache entnimmt man den zuckenden Körpern lebender Schlangen die Galle, die bei Gourmets als besondere Delikatesse gilt.

Auch gefährdeten oder gestrauchelten Komplizen der Geheimbande oder ihren Verfolgern droht ein furchtbarer Schlangentod. Das gelbe Kartell geht so erbarmungslos gegen seine Opfer vor, daß die sizilianische Mafia – nach Meinung von Experten – vergleichsweise wie ein harmloser Sparverein wirkt.

Der Kamikaze hatte sich auf den Kampf gegen den gelben Mob gründlich vorbereitet und, soweit es möglich war, auch sein Aussehen verändert: neuer Haarschnitt, veränderte Augenfarbe durch Color-Haftschalen, neu einstudierter Gang, veränderte Körpergröße durch spezielle Schuhe, meisterlich beherrschte Mimik, geänderte Haltung und Sprechweise. Das Untergrund-As ist keineswegs ohne weiteres zu erkennen. Aber auch für einen Meister der Tarnung gilt die chinesische Redensart: »Du magst einen Affen aufs Pferd setzen, doch seine Hände und Füße bleiben immer behaart.«

Der Kamikaze war keine besonders hohe Charge in der beamteten Hierarchie des westdeutschen Bundesnachrichtendienstes, aber seinen Rang bestimmte der Erfolg. In der Zentrale galt er als verwegen, umsichtig, intelligent und aufsässig. Er aaste mit Vertrauensspesen, die der Verwaltungschef – ohne Kenntnis der Arbeit in der Drecklinie – voller Mißtrauen und nur zögernd abzeichnete. Der Erbsenzähler gehörte zu den zwei, drei Spitzenleuten der Firma, die den Mann fürs Grobe lieber heute als morgen gefeuert hätten, aber der Kamikaze war bisher immer wieder, wie ein Bumerang von den gefährlichen Raids zurückgekehrt. Die meisten im Hauptquartier wußten genau, was sie an Parker hatten. Von dem gerissenen Spitzenagenten waren in vielen Jahren immer wieder Fälle gelöst worden, bei denen sich andere ›Undercovers‹ die Zähne ausgebrochen und dann mitunter zahnlos ins Grab gebissen hatten.

Die Düsenmaschine überflog Vietnam, ein Land, das vor kurzem noch umflogen werden mußte.

»Sieh dir das an«, sagte die Direktionsassistentin aus Düsseldorf und deutete auf trostlos verödete Landstriche. Von oben sah es aus, als hätten sich große Kahlflächen in einen riesigen Schädel hineingefressen, so daß er fast wie ein Totenkopf wirkte.

»Die Fingerabdrücke des Krieges«, stellte der Angesprochene wie beiläufig fest: »Die Entlaubung der Wälder und Felder.«

»Ein Schandmal menschlicher Dummheit und Verbrechen«, grollte Dr. Zweibein, ein Arzt aus Hamburg, der in Bangkok zugestiegen war: »Mindestens hundert Jahre wird hier kein Baum, kein Strauch wachsen und kein Vogel mehr zwitschern – und bald auch kein Hahn mehr danach krähen.«

Die Umsitzenden stimmten ihm zu. Die Chartermaschine verließ die Zone des Grauens noch schneller als das menschliche Gewissen, das sich nach kurzer Empörung doch wieder angenehmeren Erwartungen zuwendete, den nächsten Zielen der Reiseroute: Hongkong, Macao, Seoul, Manila, Taipeh und wahlweise – gegen Aufpreis – auch noch Tokio.

»Du warst also schon öfter in Hongkong«, setzte Babs das unterbrochene Gespräch fort.

»Ja, schon zweimal«, erwiderte der Gelegenheitsfreund »Immer nur kurz zu geschäftlichen Besprechungen. Aber diesmal – und endlich – ganz privat.«

»Was machst du eigentlich für Geschäfte?«

»Möglichst gute«, versetzte er grinsend. »Ich kaufe in Fernost Textilien billig ein und versuche sie dann in Europa so teuer wie möglich an den Mann zu bringen.«

»So einfach ist das«, entgegnete Babs.

»Mitunter«, räumte der Pseudoimporteur ein. »Aber die Konkurrenz schläft nicht.«

»Sag mal, Ralf«, wechselte die Blondine das Thema,»ist der Landeanflug in Hongkong wirklich so gefährlich?«

»Na ja, er kann dich schon das Fürchten lehren«, versetzte der Wolf im Schafspelz. »Wenn der Pilot die Landeklappen auch nur eine Sekunde zu spät ausfährt, rasiert er mit seinem Fahrgestell die Dächer der Hochhäuser an der Einflugschneise.« Lächelnd fügte er hinzu: »Du kannst ja die Augen schließen, wenn du schwache Nerven hast.« Er griff nach ihrer Hand. »Aber du brauchst keine Angst zu haben, ich bin ja bei dir, und bis zur Landung bleiben uns noch über zwei Stunden Zeit.«

»Und du? Hast du keine Angst?« fragte Babs und kuschelte sich an ihren Begleiter. Er wußte, daß sie weder dumm noch problematisch war. Sicher hätte sie ohne große Anstrengung einen besseren Gefährten als ihn aufreißen können, aber vielleicht hatte sie längst den Mann fürs Leben und brauchte nur einen Sparringspartner für die Urlaubstage.

»Ich hab’ keine Zeit für Angst«, erwiderte er. »Glaub mir, man kann sich die Furcht abgewöhnen wie das Rauchen«, stellte er lakonisch fest und gab seiner Eroberung Feuer.

»Hast du für heute abend schon ein Programm?« fragte die Düsseldorferin.

»Ein prächtiges«, versprach er. »Zuerst ein Stadtbummel mit Schaufensterbesichtigung, zwischendurch Snacks und Cocktails, dann ein erstklassiges Lokal mit original-chinesischer Küche.«

»Pekingente?« fragte Babs.

»Das wäre zu gewöhnlich und zu fett«, erwiderte der geliehene Liebhaber. »Schlangen wären eine Spezialität, zum Beispiel Kobras, Pythons oder Boas.«

»Besten Dank!« sagte die junge Frau schaudernd.

»Dann wären da noch Affenhirn, Kamelhöcker, Elefantenfüße, junge Mäuse und Eidechsen als besondere Delikatessen. Auf den Leckerbissen Hundefleisch müssen wir leider verzichten; darauf steht in Hongkong Gefängnisstrafe. In der Volksrepublik China hängen sie mit abgezogenen Fellen an den Verkaufsbuden wie bei uns die Kaninchen.«

»Ich denke, ich werde nur ein Schinken-Sandwich zu mir nehmen«, sagte die Blondine. »Sag bloß, du machst dir was aus solchen Schweinereien.«

»Keineswegs«, erwiderte Parker. »Diese Kostbarkeiten essen die Chinesen lieber selbst. Sie wären für die ›Gweilos‹ auch viel zu schade.«

»Gweilos?« fragte sie.

»Ein Schimpfwort für die fremden weißen Teufel«, erläuterte der Experte. »Ein Gweilo ist in China so etwas wie ein Gringo in Südamerika.«

»Du machst mir ja richtig Appetit auf Hongkong …«

»Die Stadt wird dich überwältigen, und wir werden dort so gut essen wie noch nie«, behauptete der angebliche Geschäftsmann auf Vergnügungsreise. »Der große Konfuzius hat gesagt: ›Die Freude am Essen ist das erste Glück. ‹«

»Dann setze ich mehr auf das zweite«, antwortete die Mittdreißigerin.

»Ich auch«, entgegnete ihr Begleiter lachend. »Aber alles der Reihe nach. Und am Ende des Abends eine Flasche Schampus«, setzte er hinzu und hob mit dem Zeigefinger ihr Kinn. »Und dann – husch, husch ins Körbchen!«

»Du bist ein ganz abgebrühter Bursche«, erwiderte Babs. »Ich weiß nicht warum, aber irgendwie gefällst du mir.«

»Ganz meinerseits.«

»Wirklich?« spöttelte sie.

»So ist es«, versicherte er. »Dabei bin ich wirklich kein Junge für eine Nacht.«

»Sondern für drei bis vier …«, konterte Babs.

»Open end«, erwiderte er. »Du bist die Regisseurin. Du bestimmst, wann abgeblendet wird.«

»Wer sich so bescheiden gibt wie du, muß überheblich sein«, quittierte sie seine Worte. »Oder lügen.«

Daß sie einmal unbedenklich über die Stränge schlagen konnte, war für die Mittdreißigerin ein ziemlich einmaliges Vergnügen. In ihrer Düsseldorfer Firma galt sie als Eisberg, den keiner zum Schmelzen brachte, und das nicht nur, weil es in ihrem Anstellungsvertrag als Bedingung stand, als eine Art Industrie-Vestalin zu leben. Freilich würde sie nach einem Sündenfall nicht lebend eingemauert, sicher aber mit einigen Monatsgehältern Abfindung gefeuert werden. Jetzt genoß es Babs, nicht als Repräsentantin im strengen Kostüm auftreten zu müssen, stets in Schale und etepetete, sondern kaum geschminkt, in Slacks und Pullover herumzulaufen, Schuhe mit flachen Absätzen zu tragen, nicht dreimal in der Woche zum Friseur zu gehen, zu tun und zu sagen, was sie wollte, und das noch zu einem ziemlich passablen Mann: »Ich bin sonst gar nicht so«, gab sich Babs dann wieder ernsthaft. »Ich weiß nicht, was du Besonderes an dir hast, aber irgendwie machst du mich an wie Cayennepfeffer«

»Soll das ein Kompliment sein?«

»Meinetwegen«, erwiderte Babs, »wenn du es nötig hast. Du bist kein Adonis, kein Krösus, keine Sportskanone und bestimmt auch keine Intelligenzbestie. Vielleicht liegt es auch nur an der Urlaubsstimmung, aber irgendwie funkt es bei mir mit dir mehr als bei jedem anderen Mann.«

»Vielleicht hast du bisher nur die falschen Männer gehabt.«

»Werd nicht unverschämt!« wies sie ihn zurecht. »Und soll das heißen, du wärst der richtige?«

»Ich will dir mal was sagen, Kind«, versetzte der Begleiter des 20-Tage-Trips: »Hinterher betrachtet, sind die Liebhaber einer Frau fast immer die falschen gewesen.«

»Du Philosoph«, erwiderte der Kurschatten. »Vielleicht jag’ ich dich in Hongkong zum Teufel«, drohte sie ihrem Begleiter, der weniger ein Vorzeige-Mann war als ein prächtiger Schlafbursche.

Ralf Parker stellte die Lehne seines Sessels bequemer, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er redete nicht gerne über Dinge, die er lieber trieb. Außerdem hatte er zur Zeit andere Probleme. Zwischen dem Innendienst und den Spähern, die von ihm ausgeschickt werden, gibt es immer Reibereien. (Originalton Salewsky: »Die einen sitzen, die anderen schwitzen.«)

Der ›schöne Maximilian‹, Pullachs ältester Azubi, war vor Jahresfrist auf dringliche Empfehlung des übermächtigen bayerischen Landesfürsten Blaurock, dem Leiter des Fernost-Referats I, als Aufpasser vor die Nase gesetzt worden. Nach dem plötzlichen Tod seines Politpaten hatte Salewsky versucht, seinen geschrumpften Einfluß durch mitunter voreilige Aktivitäten wiederherzustellen.

Roland Blaurock, ein Mann in mittleren Jahren mit einem Gesicht von der Stange, der Entdecker, Förderer und Chef des Kamikaze, konnte Salewsky nicht ausstehen, aber nicht nur deshalb ließ der Intimus des Dezernenten keine Gelegenheit aus, den Azubi zu provozieren, zumal einige Pullacher zu ihm übergelaufen waren, um im Windschatten des Karrieristen voranzukommen.

Mitunter benahm sich der schöne Maximilian, offensichtlich von seiner Clique gut beraten, weit weniger ungeschickt, als man in der Firma erwartete: er saß am Drücker, auch wenn er mitunter danebenschoß.

Vor wenigen Tagen hatte Salewsky dem Kamikaze beim Abschied durchschlagenden Erfolg gewünscht und mit einem Glas auf seine glückliche Wiederkehr angestoßen. Vielleicht war es zynisch gemeint gewesen, oder auch nur taktlos oder gar tröstend, wie wenn man einem Mann auf dem Totenbett gute Besserung wünscht. Für den schönen Maximilian gab es handfeste Gründe, keine Tränen zu vergießen, falls der Geheimagent scheitern würde wie seine Vorgänger.

»Ich weiß, Sie sind Patriot«, war der Aufpasser mit seiner feuchten Aussprache in seine Politrolle verfallen.

»Ich bin Profi«, hatte Parker geantwortet.

»Also Profi und Patriot …«

»Profi genügt mir – das ist mir patriotisch genug«, hatte er dem Scharfmacher das rote Tuch vorgehalten.

Auch Parker war natürlich bei seiner Untergrundoperation auf Unterstützung angewiesen, doch in der Frontlinie arbeitete er am liebsten allein. Nur mißtrauische Agenten haben eine Chance, alt zu werden und sich dann wirklich zur Ruhe zu setzen; er wußte nur zu gut, daß seine Vorläufer an ihren Kontaktleuten gescheitert waren. Er gestattete sich nur Helfer, die er kannte und die sich längst bewährt hatten. Sie brauchten durchaus nicht immer aus dem eigenen Lager zu. stammen. In der Untergrundszene konnte es gelegentlich bei Topspezialisten zwischen den Fronten zu einer Art Kameraderie kommen – auch rivalisierende Journalisten tauschen gelegentlich zu gegenseitigem Nutzen ihre Informationen aus, wenn auch nicht alle.

Einen rückhaltlosen Nachrichtenfluß zwischen Rivalen sollte es nach dem Willen der Bundesregierung nun erstmals in Deutschland geben. Seit die Gelbe Mafia nicht nur zu einer Gefährdung der Gesellschaft, sondern auch zu einem politischen Problem geworden war, hatte sich Bonn entschlossen, eine Sonderkommission Hongkong (HOKO) mit Spezialisten des Bundeskriminalamtes, des Verfassungsschutzes, des Bundesnachrichtendienstes und in enger Zusammenarbeit mit Interpol zu bilden, um das Feuer auszutreten, bevor es zum Flächenbrand wurde. Den HOKO-Vorsitzenden stellte das Bundeskriminalamt. Vom Staatsschutz und dem Bundesnachrichtendienst wurde je ein Stellvertreter delegiert. Ob die Zusammenarbeit zwischen natürlichen Konkurrenten, die am liebsten ihre eigene Giftsuppe kochten, klappen würde, bezweifelte der Kamikaze aufgrund seiner Erfahrungen.

Kurz vor Seiner Abreise hatte er noch erfahren, daß der exzellente Kriminalist Kudemann HOKO leiten würde, aber der Spezialist bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens konnte auch nur mit den Zutaten kochen, die ihm gereicht wurden. Und viele Köche sind – wie sich Parker flapsig auszudrükken pflegte – auch viele Ärsche.

Er verließ sich lieber auf seine glänzenden Querverbindungen. Er würde sie ein letztes Mal nutzen. Er hatte sich unumstößlich vorgenommen, nach Erledigung des Hongkong-Auftrags aus der Branche auszusteigen, so oder so. Er arbeitete wie immer auf eigene Faust, auch wenn er Blaurock versprochen hatte, sich zunächst zurückzuhalten und den albernen Touristen zu spielen, bis die Firma sicher sein konnte, daß er nicht beschattet wurde. Dann sollte er von einem bislang unbekannten Kontaktmann angesprochen werden. Ob er mit diesem Einweiser Weiterarbeiten würde oder nicht, läge dann in seinem Ermessen, und wie weit er HOKO-Weisungen folgen würde, wußte er noch nicht.

In Hongkong leben ständig über 70000 ›Langnasen‹, Amerikaner und Europäer, dazu landen im Zwei-Minuten-Abstand in Kai Tak Großraumflugzeuge und pumpen Heerscharen von Touristen und Geschäftsleuten in die Stadt, in der Englisch und Chinesisch Amtssprachen sind. Es ist schwierig, gegen Menschen aus dem Reich der Mitte zu ermitteln, aber gegebenenfalls konnte der Untergrundmann auf ein Reservoir von ABC-Chinesen (American born Chineses) zurückgreifen, auf ethnologische Amphibien, die gleichermaßen mit amerikanischen wie chinesischen Verhältnissen vertraut sind. Adressen und die Verdachtsmomente hatte das Spionage-As im Kopf. Und Parker wußte aus Erfahrung nur zu gut, daß man Gegenspieler nicht nur durch Terror zum Schweigen, sondern durch entsprechende Geldangebote auch zum Reden bringt – zumindest die Helfershelfer. Außerdem konnte das HOKO-Team, wenn erst einmal die Anlaufschwierigkeiten überwunden waren, ihm sehr nützlich werden. Im übrigen beschäftigte er – hinter dem Rücken des Camps – seine eigenen Leute.

Solange die Triaden-Bande ein ausschließlich chinesischer Geheimbund gewesen war, hatte es keine Überläufer oder Geständige gegeben. Zur Zeit aber stand die britische Kronkolonie durch Zeitdruck unter Zugzwang: Am 30. Juni 1997 würde Hongkong in das chinesische Riesenreich heimkehren, und in der geborgten Zeit bereiteten sich Millionäre wie Gangster – ironischerweise jeweils ziemlich genau Hunderttausend an der Zahl – sorgfältig darauf vor. Die Nabobs hatten fast alle schon eine zweite Staatsbürgerschaft erworben – Millionäre sind keine Asylanten – und den größten Teil ihrer Riesenvermögen ins Ausland verschoben, Auch der gelbe Mob war in den Export gegangen und hatte dazu Gweilos als Rechtsanwälte, Manager, Strohmänner und Lotsen benötigt – und diese weißen Komplizen würden mit Sicherheit gegen Folter, Verstümmelung und Bestechung nicht so abgehärtet sein wie echte Triaden.

»Fasten your seat belts«, rief der Flugkapitän in das Bordmikrofon und forderte die Passagiere auf, das Rauchen einzustellen und die Sessellehnen in senkrechte Lage zu bringen. Die Gespräche verstummten. Vorübergehend kam die Angst als blinder Passagier an Bord.

Parker griff lächelnd nach der Hand seiner Begleiterin. »Sei unbesorgt, Babs«, sagte er. »Jeder Hongkong-Pilot benötigt für den Airport Kai Tak eine Sonderlizenz, und die erhält er erst, nachdem er ein Dutzend Landungen ohne Passagiere überstanden hat. Wir haben heute keine Turbulenzen, keinen Monsun, der Smog über kowloon hält sich auch noch in Grenzen. Und Ostasien-Piloten sind die erfahrensten der Welt.«

Babs nickte ergeben, zwang sich hinauszusehen. Nur noch der Düsenlärm war zu hören. Spätestens über der Ma Tau Chung Road wirkten die Passagiere taubstumm. Die Wolkenkratzer, zwischen denen die DC-10 zur Landung ansetzte, lagen so dicht beieinander wie die Sommersprossen im Gesicht einer Rothaarigen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würden die Schwingen des Jets die langen Bambusruten durchschneiden, auf denen die Chinesen ihre Wäsche zum Trocknen aus den Fenstern hängen.

Plötzlich war die Skyline durchbrochen, die Dächer der Wolkenkratzer lagen über der Maschine. Die DC-10 donnerte durch eine schmale Gasse und drohte mit den Flügeln bald links, bald rechts hängenzubleiben. Eine Zehntelsekunde zu früh oder zu spät konnte bei dem Höllentempo eine Katastrophe auslösen. Selbst erfahrene Globetrotter, abonniert auf Nervenkitzel, hatten jetzt starre Gesichter. Sie wußten, daß plötzliche Böen des Südostwinds den Riesenvogel gegen das Häusermeer von Kowloon schmettern könnten.

Sekunden später endete der Spuk.

Der Pilot setzte den Jet behutsam auf die einstmals berüchtigte, nunmehr aber in das Meer hinaus verlängerte Landebahn 13 auf und ließ ihn ausrollen-Die Reisegesellschaft fand ihre Sprache wieder und überlegte beim Aussteigen, ob der Abflug ebenso riskant sein würde. Die Reisenden gähnten sich den Druck aus den Ohren und bildeten eine Schlange vor den Schaltern der Royal Hongkong-Police, die auf Kokainschmuggler und auf Touristen mit mandelförmigen Augen dressiert waren, Chinesen in britischen Uniformen. Nach Weisung des Gouverneurs sollten sie gleichzeitig behutsam wie wirksam auftreten. Das Wort Kronkolonie, das für die nächsten Jahre noch immer zutraf, war bereits verpönt, politisch obszön.

Der Kamikaze hängte sich bei Babs ein, spielte ein wenig zu betont den Mann an ihrer Seite, wiewohl ihr Honeymoon nur Tage dauern würde. Liebespaare bringen ein wenig Abwechslung in das Leben der Uniformierten. Ein kleinwüchsiger Polizist verglich mit geübtem Blick Parkers Paßfoto mit seinem Gesicht, nickte, schob das Dokument zurück, wünschte einen angenehmen Aufenthalt. Seine blonde Begleiterin betrachtete er etwas länger, jedoch nicht aus fahndungstechnischen Gründen.

Die geschlossene Gesellschaft wurde von einem deutschsprachigen Chinesen empfangen, willkommen geheißen und nach Wunsch und Brieftasche auf die einzelnen Hotels verteilt. Gäste des vornehmen, wenn auch antiquierten ›Peninsula‹ hatten ein Anrecht darauf, von einem livrierten Chauffeur im hoteleigenen Rolls-Royce abgeholt zu werden. Die Nacht in einer Suite kostete an die tausend Dollar. Greenbacks natürlich, keine Hongkong-Dollar; die umgerechnet nicht einmal eine Viertel Deutsche Mark wert sind.

Die Reisegruppe wohnte fast geschlossen im ›Ambassador‹, gleich hinter dem berühmten Hotel. Bereits in Singapur hatte Parker die ihm vom Zufall geschenkte Reisegefährtin überredet, sich in Hongkong wenigstens vorübergehend von den anderen abzuseilen und das fashionable Quartier ›Mandarin‹ zu beziehen. So mußten sie von Kowloon nach Hongkong Island fahren, auf die Insel, die der ganzen Region den Namen gegeben hatte und Regierungssitz geblieben war.

Ein Taxi brachte die beiden auf einer untertunnelten Autobahn zur anderen Seite. Der Wagen schoß am Ende der Grofs Road wieder an die Oberfläche und strandete prompt im Verkehrsgewühl, wie ein Schiff auf dem Trockenen. Der Linksverkehr wurde zum Stehverkehr. Geschickt zwängte sich der Taxifahrer an den emporschießenden Betonklötzen vorbei, passierte die teuersten Bauplätze der Welt und Skyscrapers, auf deren Aluminiumhaut sich eitel die Sonne spiegelte und die Passanten blendete.

Vom ersten Moment an spürten die Ankömmlinge Tempo, Rhythmus, Dynamik und Größenwahn der supervitalen Kronkolonie auf Sterbeetat.

Fast sechs Millionen Einwohner – die meisten von ihnen ehemalige Flüchtlinge aus Rotchina – leben auf 1045 Quadratkilometer mit ihren 230 meist unwirtschaftlichen Inseln. Hier offenbarte sich die Wehrlosigkeit der Habenichtse im Würgegriff der Geldhaie, und keiner störte sich daran. Die Vergewaltigung des chinesischen Drachens durch den britischen Löwen hat einen monströsen Wechselbalg gezeugt, der aus allen Nähten platzt und Hongkong zum aufregendsten Schauplatz der Welt macht. Ein Lotterpflaster in einem Supermarkt der Süperreichen, Anbeter, Bettler und Verächter in ihrem Gefolge. Bankiers und Gangster machten Hongkong zum Land, in dem Blut und Money fließen.

Auf dem ganzen Weg zur Nobelherberge stellte der Kamikaze fachmännisch und unauffällig fest, daß er keine sichtbaren Verfolger hatte. Er konnte auch keinen Schatten aus der eigenen Firma ausmachen – andernfalls hätte er sofort die nächste Maschine zum Rückflug nach Deutschland genommen.

Zwei Pullacher Gefährten als Tote waren genug. Er war eisern entschlossen, zu überleben, aber mit dem Tod hatten auch seine Vorgänger nichts im Sinn gehabt.

Taifun II war angelaufen.

2

Während der Mann aus Pullach, zeitraubend eingeschleust, sich dem Schauplatz der Operation näherte, behielt ihn die Zentrale im Isartal – Camp genannt – nicht zuletzt zu seinem eigenen Schutz ständig unter Kontrolle. Auch bei den drei gescheiterten Vorgängern des Kamikaze war diese alte Untergrundregel beachtet worden, aber offensichtlich nicht gründlich genug oder von untauglichen Bewachern. Jedenfalls war das die einzige Erklärung, die es vorerst für die verheerende Panne gab, von dem Betriebsunfall mit Latzke gar nicht zu reden.

Während der Schönwetterlage glich das Hauptquartier im Isartal in diesen Dezembertagen mehr einem idyllischen Erholungsheim als einer hektischen Spionagefabrik. Vieles hatte sich seit den Zeiten des legendären Generals Gehlen geändert. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes fuhr nicht mehr mit Schlapphut, einer getönten Brille und falschem Bart als angeblicher Dr. Schneider nach Bonn, um durch sein Verschwörungsgehabe dem Bundeskanzler zu imponieren.

Auch seine Mitarbeiter brauchten im Dienst keine falschen Namen mehr tragen wie Narrenkappen bei einer Karnevalsveranstaltung. Sie wurden auch nicht mehr mit Zigarettenstangen, Bohnenkaffee und Carepaketen bezahlt, so daß man – wie in den ersten Zeiten der Organisation – bereits aus der Zigarettensorte, die ein Geheimagent rauchte, auf seine Auftraggeber schließen konnte. Die militärischen Ränge, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, waren durch Beamtentitel ersetzt worden: die Skala reichte vom Regierungsrat bis zum Präsidenten im Rang eines Staatssekretärs. Besoldung, Beförderungschance, Streikverbot und Krankheitszuschüsse waren beamtenrechtlich geregelt. Erstmals gab es Spione mit Pensionsberechtigung.

Die Technik mit ihren elektronischen Möglichkeiten hatte Spionage, Gegenspionage und Desinformation von Grund auf verändert. Geblieben freilich waren die Versuche fast aller politischen Parteien, ihre Aufpasser in die Pullacher Zentrale zu setzen, wie Läuse in den Pelz. Natürlich geschah das hintenherum. Das Ansehen der Politiker rangierte nach Spendenaffären, Schmiergeldzuweisungen, Spielbankskandalen, Wahlkampfmanipulationen, Meineidsgeschichten, Selbstversorgung durch Diätenerhöhung tief im Keller. Aber der Proporz setzte sich schließlich durch, und je mächtiger eine Partei war, desto höher wurde auch ihr Horchposten im Rang angesiedelt, denn seine Information war nicht selten auch Munition.

Salewsky galt nicht als der einzige Politaufpasser in Pullach, wohl aber als der Mann, den man in die höchstrangige Stellung gehievt hatte. Der schlaue Berufspolitiker, der seine Karriere im Staatsministerium für Entwicklungshilfe begonnen hatte, galt als ein spezieller Günstling des Bayatollahs in München. Der ›schöne Maximilian‹, der Name mußte noch aus früheren Zeiten stammen, denn inzwischen hatte Salewsky Hängebacken, ein Doppelkinn, schütteren Haarwuchs und eine von einem erstklassigen Maßschneider nur noch mit großem Geschick verbergbare Körperfülle. Er war der geborene Gruftspion.

Man munkelte im Camp, daß der Haussegen mit seiner attraktiven, erheblich jüngeren Frau Lydia schief hing, aber das konnte auch nur ein hämisches Gerücht sein. Salewsky war häufiger Gast seiner Politfreunde in München, und man konnte annehmen, daß bei diesen Begegnungen nicht nur über die Qualität von Weißwürsten, Bier oder über das Wundertier Wolpertinger gesprochen wurde. Ein Mann seines Einflusses hatte seine Freunde und seine Feinde im Camp, letztere in der Überzahl, doch meistens aus durchaus unpolitischen Gründen. Man versuchte, den Azubi zu übergehen, wann immer es nur möglich war, aber wenn er dahinterkam, gab es jeweils beträchtlichen Wirbel.

Überraschend hatte der BND-Präsident ausgerechnet Salewsky als Stellvertreter des HOKO-Chefs Kudemann – neben Blaurock als ständigem Mitglied – delegiert. Man rätselte auf dem riesigen Areal hinter der langen Mauer, ob der schöne Maximilian nur von der Zentrale ferngehalten oder in eine Falle gelockt werden sollte, denn der dynamische HOKO-Leiter würde keine Dilettanten in seiner Nähe dulden. Außerdem war Kudemann bekannt dafür, daß ihn politische Querelen kalt ließen. Wenn einer der mächtigsten Politpaten hinter den Kulissen zugunsten seines Darlings intervenierte, konterte Kudemann notfalls mit beträchtlicher Zivilcourage in aller Öffentlichkeit mit Presse- und Fernsehinterviews. Protektion war für ihn gleichbedeutend mit Korruption.

Die Maschine des Bundesgrenzschutzes, die Blaurock und Salewsky zur Besprechung nach Wiesbaden brachte, startete schon am frühen Morgen bei prächtigem Flugwetter. Trotzdem war der Leiter des Fernost-Dezernats schlechter Laune, denn er konnte jetzt eine gute Stunde lang Salewsky nicht ausweichen. Er und andere Experten hatten sich angewöhnt, Meldungen an ihm vorbeizureichen und ihm wie einem Frühstücksdirektor die repräsentativen Aufgaben zuzuschieben, was häufig mißlang.

»Was Neues bei der ›Operation Taifun‹?« fragte Salewsky prompt.

»Der Einsatz läuft nach Plan«, erwiderte Blaurock abweisend. »Wir haben Parker ständig im Auge.«

»Das wird auch vonnöten sein«, antwortete der Azubi geschwätzig. Er merkte, daß sein Begleiter weiteren Erörterungen aus dem Weg ging, und suchte nach einem neuen Gesprächsansatz. Der Dezernent griff nach seiner Aktentasche mit der gewünschten Zusammenstellung aller Pullach bekannten Triaden-Aktivitäten: Mord, Folter, Erpressung von Schutzgeldern, internationaler Mädchenhandel, Geldwäscherei, Markenfälschungen, Schiffsversenkungen und Waffenhandel. Die Unterlagen erhoben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.

Allein in Hongkong zählte die Bande mindestens hunderttausend Mitglieder. Noch nie war es der Polizei oder dem Staatsanwalt gelungen, einen Triaden-Komplizen zum Sprechen zu bringen, obwohl der gelbe Mob – im Gegensatz zur sizilianischen Mafia – seine Handschrift nicht unbedingt verwischte, sondern sie sogar überdeutlich machte. Wer aufmuckte, nicht jeden Auftrag erledigte oder gefährlich zu werden drohte, wurde verstümmelt, verlor seine Nase oder mußte sich selbst einen Finger abschneiden – als sichtbare Warnung für alle anderen Triaden: Sadismus als Treuegarantie.

»Und Sie glauben, daß der Kamikaze tatsächlich der richtige Mann ist?«

»Wenn es bei einem so schwierigen Auftrag überhaupt einen solchen gibt, dann ist Parker am ehesten dafür geeignet.« Der Fachmann wurde angriffig: »Außerdem stellen Sie Ihre Frage ziemlich spät, Herr Salewsky.«

»Wenn man Verantwortungsgefühl hat, denkt man auch noch über eine Entscheidung nach, wenn sie bereits getroffen worden ist«, schlug der schöne Maximilian zurück.

Sein Begleiter schwieg. Er malte sich genüßlich aus, wie auf Dr. Felix Kudemann, den Chef der Sonderkommission, solcherlei Phrasen wirken würden. Er kannte, duzte und bewunderte den hochkarätigen Spezialisten, dem ein glänzender Ruf vorausging, so daß man in ihm bereits den künftigen Chef des Bundeskriminalamts sah.

Als junger Kriminalrat war Kudemann vorübergehend an Pullach ausgeliehen worden. Er hatte mit Blaurock so effizient zusammengearbeitet, daß sie seitdem miteinander befreundet waren und der HOKO-Chef – inzwischen leitender Kriminaldirektor – ihn ausdrücklich als Kommissionsmitglied angefordert hatte. Salewsky war nur eine Art Zuwaage, der Knochen, den man beim Metzger zum Fleisch erhält.

In seiner Pullacher Zeit hatte sich Kudemann besonders dafür interessiert, wie der Mensch in dieser Branche durch die Technik unterstützt, wenn nicht sogar ersetzt werden könnte. Die Knochenarbeit war schon weitgehend durch Kopfarbeit ersetzt worden.

Die wichtigsten Mitarbeiter bei den Geheimdiensten sind heute Aufklärungssatelliten und Abhörspezialisten, die sie überwachen und auswerten. Zwar kann keine Untergrundorganisation auf erfahrene Draufgänger wie den Kamikaze verzichten, aber bei der elektronischen Überwachung gibt es keine Doppelagenten, keine Leichtfertigkeiten, keine Zufälle, keine Überläufer, auch keine Verführten, die einer Mata Hari aufsitzen. Sie arbeiten Tag und Nacht, sonntags wie werktags, und man konnte ziemlich sicher sein vor Maulwürfen, vor gegnerischen Agenten im eigenen Lager, wie sie einst den Sturz des alten Generals verursacht hatten, weil sein besonderer Günstling Moskaus Mann in Pullach gewesen war.

»Ihr habt hoffentlich auch die Reisegesellschaft unter die Lupe genommen?« fragte Salewsky.

»Natürlich. Vor allem eine Mitreisende: Babs Deller, eine hübsche Dame aus Düsseldorf.«

»Verdächtig?« fragte der schöne Maximilian.

»Überführt«, erwiderte Blaurock grinsend, »mit unserem Mann ein Liebesverhältnis begonnen zu haben, beziehungsweise er mit ihr.«

»Ein Verhältnis?« fuhr Salewsky hoch. Hämischer Triumph lief wie Säure über die Fetthalde von Gesicht. »Und das erfahre ich erst jetzt?« beschwerte er sich.

»Es entspricht der Gepflogenheit der Firma, Informationen erst dann weiterzugeben, wenn sie hiebund stichfest sind«, ließ ihn der Berichterstatter ins leere laufen. »In Bali hat der Kamikaze mit dieser Reisegefährtin einen Flirt begonnen. In Singapur sah es aus, als käme ihm diese Deller entgegen. Sie ließ ihn nicht länger abblitzen, aber er verlor nicht den Kopf. Über unsere Residentur in Singapur ließ er die neue Bekannte überprüfen. Nichts Negatives. Dann schaltete Parker zum zweitenmal: Eine bessere Tarnung konnte sich unser Agent nicht wünschen und dann«, setzte Blaurock mit einem Lächeln hinzu, »Männer sind wir ja schließlich alle …« Er betrachtete Salewsky anzüglich und holte zu einem Tiefschlag aus: »Oder waren wir wenigstens einmal. Jedenfalls wissen wir seit Bangkok, daß die beiden die Nacht im selben Apartment miteinander verbracht hatten. Deshalb haben wir sicherheitshalber Zweibein als angeblichen Arzt aus Hamburg unter die geschlossene Gesellschaft gemischt.«

»Sehr umsichtig«, lobte der Halbamateur. »Aber so ein Schweinehund bumst auf unsere Kosten herum«, sabberte der Azubi in der Spitzenstellung. »Da sehen Sie mal, wie wichtig er seinen Auftrag nimmt. Stellen Sie sich vor, dieses geile Luder wäre von der Gegenseite auf ihn angesetzt worden.«

»Höchst unwahrscheinlich«, antwortete Blaurock fast verächtlich »Sie ist vierunddreißig Jahre alt, seit sechs Jahren geschieden, arbeitet in der Direktion einer Stahlfirma, ist dabei vorwiegend mit repräsentativen Aufgaben befaßt – Betreuung auswärtiger Gäste, Arrangements für Essen, Theaterkarten und so weiter. Sie verdient sehr gut, über siebentausend Mark monatlich, tritt als unnahbare Lady auf. Männern macht sie es schwer. Gelegentlich soll sie mit ihrem Chef schlafen, aber das ist wahrscheinlich nur ein Gerücht, das neidische Kolleginnen ausstreuen, weil sie auf ihren Job aus sind.«

»Und dieses Dekorationsstück läßt sich mit einem solchen Proleten ein?« höhnte Salewsky. »Die Prinzessin und der arme Schweinehirt.« Er holte Luft. »Glauben Sie eigentlich an Märchen, Blaurock?«

»Vielleicht hat Parker etwas, das anderen Männern fehlt«, konterte der Dezernent. »Noch hatten wir nicht viel Zeit für unsere Ermittlungen. Wir überprüfen Barbara Deller auch weiterhin. Dabei müssen wir äußerst behutsam vorgehen, speziell für den Fall, daß die Dame doch nicht ganz hasenrein wäre.« Es kotzte ihn an, einem Außenseiter Selbstverständlichkeiten erklären zu müssen.

»Und der geschiedene Mann?« fragte der Azubi.

»Sie hat kaum mehr Kontakt mit ihm.«

»Trotzdem«, ereiferte sich Salewsky, »was und wer ist der Mann?«

»Ein Rechtsanwalt«, antwortete Blaurock. »Tüchtig, erfolgreich. Befaßt sich mehr mit Strafverteidigungen als mit wirtschaftlichen Fällen. Übrigens ist er wieder verheiratet und hat zwei Kinder.«

»Und wen verteidigt dieser Rechtsanwalt?«

»Quer durchs Gemüsebeet«, berichtete der Referent.

»Auch Demonstranten, Atomkraftgegner und …«

»… und Umweltschützer«, ergänzte der Erfahrene mit einer Andeutung von Spott. »Ebenso Autodiebe, Verkehrsrowdies, Abzahlungsschwindler, Einbrecher und Strolche aller Art.«

»Schön«, schloß Salewsky das Gespräch. »Vielleicht halten Sie es für übertrieben, aber ich möchte trotzdem, daß über den Verfassungsschutz weitere Auskünfte über diesen Rechtsanwalt eingeholt werden.«

»Auch das ist bereits veranlaßt«, erwiderte Blaurock mit deutlicher Genugtuung. »Kein Befund. Kein Vermerk in den Akten. Sie können beruhigt sein, wir schlafen nicht.«

Die Maschine erreichte Wiesbaden acht Minuten vor der errechneten Landezeit. Ein Wagen stand bereit, um Salewsky und Blaurock zum Bundeskriminalamt zu bringen.

Der Chef der HOKO erwartete die beiden in seinem Büro. Kudemann war von durchschnittlicher Größe, in mittlerem Alter, wendig, intelligent, alles andere als ein Beamtentyp. Er trug ein Sportsakko, wirkte leger und alert; er haßte Papierkrieg und Umständlichkeit, er war eine Autorität, jedoch nicht autoritär.

Kudemann waren – zumindest inoffiziell – Vollmachten erteilt worden, wie sie ihm eigentlich gar nicht gegeben werden durften. »… Sie nehmen sich ja ohnedies heraus, was Sie wollen, Kudemann«, hatte der Chef des Bundeskanzleramts resignierend nachgegeben. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Wir geben Ihnen Rückendeckung, doch wenn etwas schiefläuft, haben wir damit nichts zu tun. Ich komme auch Ihren finanziellen Wünschen entgegen«, hatte er ihn verabschiedet, »aber ich muß auf strengste Abschirmung nach außen bestehen.«

»Nehmen Sie Platz, meine Herren«, sagte Kudemann nach einer knappen Begrüßung. »Kaffee, Tee, Zigarette? Wie geht’s dir, Roland?«

»Danke, Doktor«, erwiderte Blaurock.

»Also Taifun II ist inzwischen angelaufen«, preschte Salewsky vor.

Kudemann nickte. »Hoffentlich nicht zu früh«, bemerkte er dann. »Ich hätte den Start gerne noch etwas hinausgeschoben, aber er war wohl nicht mehr aufzuhalten.«

»Warum wollten Sie den zweiten Anlauf verschieben?« fragte Salewsky. »Ich dachte, die Zeit drängt.«

»Weil für mich die Fehlerquelle von Taifun I noch nicht gefunden worden ist.«

»Aber ich habe Ihnen doch den Bericht über die Vorgänge zukommen lassen«, entgegnete der schöne Maximilian.

»Wer hat ihn eigentlich zusammengestellt?«

»Unsere hauseigene Sicherungsgruppe«, erklärte Salewsky. »In Zusammenarbeit mit mir.«

»Schön«, antwortete der HOKO-Chef. »Gehen wir also gleich in medias res: Sie und ich, wir arbeiten das erste Mal zusammen. Wer mich kennt, weiß, daß ich für rückhaltlose und notfalls auch verletzende Offenheit bin. Gerade bei Pannen. Unter uns wird nichts vertuscht, abgeschwächt oder gar beschönigt.« Er sah, daß der ihm aufgedrängte Stellvertreter ärgerlich wurde. Es war dem Starkriminalisten gleichgültig. »Ich habe Pullachs Zusammenstellung gelesen und analysiert, aber ich kann Ihnen das nicht abnehmen. Wesentliche Einzelheiten fehlen offensichtlich.«

»Schließlich sind auch wir nicht allwissend«, erwiderte Salewsky patzig.

»Du kennst den Bericht, Roland?« fragte der Mann im Sportsakko.

»Ich hab’ ihn überflogen«, erwiderte Blaurock: »Man überließ ihn mir nur zehn Minuten.«

»Haben dich die Schlußfolgerungen zufriedengestellt?«

»Keineswegs«, erklärte der Dezernent. »Entscheidende Zusammenhänge liegen noch im Dunkeln.« Er fuhrt fort: »Ich kann mir einfach nicht erklären, Warum drei so gerissene Burschen wie Babinsky, Latzke und Liebkind – unabhängig voneinander – wie blutige Anfänger blindlings in eine Falle laufen.«

»Richtig«, bestätigte Kudemann. »Ich kann nur hoffen, daß es dem Kamikaze nicht genauso ergeht.«

»Wir haben einschneidende Maßnahmen und umfangreiche Absicherungen getroffen«, erklärte der unerwünschte Stellvertreter. »Nach einem minutiösen Plan, der bei Verschiebung völlig durcheinandergeraten würde. Wir können Parker jetzt nicht mehr zurückpfeifen.«

»Aber wir könnten ihn durch gründlichere Ermittlungen vor Fehlern warnen, die dem Camp offensichtlich unterlaufen sind«, rührte Kudemann in der Wunde. »Übernimm das bitte, Roland«, ordnete er, Salewsky übergehend, an. »Neben vielen Lücken vermisse ich unter anderem eine detaillierte Aussage des einzigen Überlebenden von Taifun I.«

»Latzke?« fragte Salewsky. »Er ist ein psychisches Wrack, und deshalb kaum ansprechbar. Der behandelnde Arzt hat uns nur ein paar Minuten genehmigt und uns dann aus dem Krankenzimmer fast hinausgeworfen.«

»Vielleicht hat sich sein psychischer Status inzwischen gebessert«, entgegnete Dr. Kudemann trocken und wandte sich wieder direkt an Blaurock: »Reden wir nicht lange um den Brei herum: Ich möchte einfach wissen, ob die Sicherungsgruppe Pullach nachlässig gearbeitet oder wichtige Informationen absichtlich zurückgehalten hat.«

»Das verbitte ich mir aber ganz energisch«, erwiderte Salewsky. »Auf dieser Basis können wir nicht Zusammenarbeiten, Herr Kudemann.« Sein Kopf schwoll an. Blaurock wartete nur darauf, daß der Karrierist jetzt mit seinen Politpaten in München drohen würde. »Ich bin auch für Offenheit«, hielt sich der schöne Maximilian jedoch noch zurück. »Ich denke, daß wir im Camp ohnedies den größten Teil der Arbeit verrichten müssen – und schließlich haben wir nicht nur Flops vorzuweisen.«

Ein Telefonanruf stoppte den ersten massiven Zusammenstoß zwischen Chef und Stellvertreter. Kudemann hörte konzentriert zu. »Verstanden, Müllner«, kappte er das Gespräch. »Ich komme so rasch wie möglich.« Er legte auf. »Sorry«, wandte er sich an seine Besucher und erhob sich. »Wir haben den nächsten Fall in der Handschrift der Triaden.«

»Wo?« fragte Salewsky.

»Hier, in Frankfurt. Am besten kommt ihr gleich mit und seht euch diese Sauerei vor Ort an.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte Kudemann voraus, die beiden Besucher folgten ihm. Blaurock hatte begriffen, daß Kudemann seinen unebenbürtigen Stellvertreter mit der Wirklichkeit konfrontieren wollte.