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Inhalt

Das Mädchen im Zug

Begegnung auf dem Bahnsteig

Was ist mit Jimi?

Auf dem Martinshof

Hannas Plan

Die alte Scheune

Brownie

Wo ist Jimi?

Der alte Brummer

Erster Schnee

Der Anruf

Holger kehrt heim

Der Unfall

Das Fohlen im Schnee

Ein echter Held

Kuchen in der Nacht

Der Hufschmied

Der Krankenbesuch

Das Winterfest

Kopf an Kopf

Alte Freunde

Ein frohes neues Jahr!

Das Mädchen im Zug

Ein durchdringender Pfiff ertönte.

„Tschüs, Mami! Tschüs, Papi!“, rief Bibi Blocksberg, die kleine Hexe aus Neustadt.

Ihre Eltern begannen zu winken. „Bis bald, Bibi! Und viel Spaß!“

Krachend schlossen sich die Türen des Zuges, der sich ruckelnd in Bewegung setzte. Bibi winkte stürmisch zurück. Sie suchte sich einen freien Sitzplatz und machte es sich bequem.

Gestern hatten ihre Eltern und sie zusammen den Weihnachtsabend gefeiert, und das war wunderschön gewesen. Eine lange Fahrt lag vor ihr – zum Glück hatte ihre Mutter genügend Proviant für sie eingepackt. Bibi spürte ein leichtes Grummeln im Magen und das, obwohl sie doch gerade erst gefrühstückt hatte. Wieso bekam sie eigentlich immer Hunger, sobald sie in einem Zug saß? Bibi hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn der Schaffner kam. Sie kramte ihr Ticket hervor und hielt es ihm hin.

„So, so, nach Falkenstein geht die Reise, junge Dame?“, erkundigte er sich freundlich.

„Ja, genau! Zu meiner Freundin Tina!“ Bibi nickte eifrig. „Und zu Sabrina natürlich.“

„Ist das auch eine Freundin von dir?“, wollte der Schaffner wissen, während er das Ticket entwertete.

„Nein, das ist mein Pferd“, kicherte Bibi. Plötzlich strahlte sie über das ganze Gesicht. Wenn sie nur an Sabrina dachte, strahlte sie schon! So sehr freute sie sich darauf, auf ihrer Schimmelstute über die Felder und Wiesen in der Umgebung von Falkenstein zu galoppieren. Und wenn Tina und ihr Freund Alex dabei waren, war es noch schöner.

Der Schaffner lächelte gutmütig. Als er weg war, blickte Bibi aus dem Fenster. Dauernd gab es etwas Neues zu sehen: Felder wechselten sich ab mit Wäldern und Wiesen. Mal schlängelte sich ein Fluss in der Nähe der Bahnlinie dahin, dann lag ein kleiner See in Sichtweite, umgeben von Schilf, das sich in den grauen Himmel bohrte. Auf einem fernen Hügel thronte eine Burgruine, die von vergangenen, aufregenden Zeiten kündete.

Doch nirgends lag Schnee, das machte Bibi ein wenig Sorgen. Tina hatte ihr erzählt, dass am letzten Tag des Jahres das berühmte Falkensteiner Winterfest stattfinden sollte. Allerdings nur, wenn es schneite. Der Höhepunkt des Winterfestes war ein Pferdeschlittenrennen – und dafür musste natürlich Schnee liegen. Im letzten Jahr war das Fest wegen Schneemangels ausgefallen. Dabei sollte dieses Pferdeschlittenrennen ein ganz tolles Spektakel sein, und Bibi wollte es unbedingt einmal miterleben. Aber vielleicht würde es ja noch rechtzeitig schneien, dachte sie.

Sie konnte es kaum erwarten, endlich anzukommen. Tina und ihr Freund Alex würden sie mit dem Ponywagen vom Bahnhof abholen. Bibi lächelte, als sie an Max und Moritz dachte, die beiden verfressensten Ponys der Welt. Bei diesem Gedanken beschloss sie, auch endlich selbst etwas zu essen. Sie holte ihren Rucksack von der Gepäckablage und kramte eine kleine Plastikdose hervor, die leckere, winzigkleine Schinken- und Käsebrote enthielt.

Der Zug war soeben in einen Bahnhof eingefahren, und nun riss ein Mädchen die Tür auf. Mit seinem großen Rucksack quetschte es sich in den Wagen. Es hatte kurze dunkle Haare und war vielleicht ein Jahr älter als Bibi.

„Hier ist noch frei!“, rief Bibi sofort und wies auf den Platz ihr gegenüber. Das Mädchen nickte. Es hob seinen Rucksack hoch in die Gepäckablage, zog die Jacke aus, knüllte sie zusammen und warf sie hinterher, bevor es sich Bibi gegenüber auf einen Sitz fallen ließ.

„Hunger?“, fragte Bibi und nahm eines der leckeren Brote aus der Dose. Es war nicht größer als ein Stückchen Schokolade.

„Was soll das sein?“, fragte das Mädchen etwas misstrauisch.

„Na, ein Schinkenbrot“, sagte Bibi. „Ich hab bloß mein ganzes Gepäck kleingehext, damit ich es leichter transportieren kann.“

„Bist du eine Hexe?“ Der Blick des Mädchens wurde noch misstrauischer.

„Erraten! Pass mal auf!“ Bibi hob ihre Arme. „Eene meene Hefeklos, Schinkenbrot ist wieder groß. Hex-hex!“

Hexsternchen sprühten, ein leises Plingpling ertönte und das Brot wuchs auf Normalgröße.

„Bitte sehr!“, bot Bibi es ihrer Mitfahrerin an. Einen Moment lang betrachtete diese das Brot zögernd. Schließlich nahm sie es und biss hinein.

„Hmmm, lecker!“, meinte sie kauend. „Ist das nicht interessant, dass man immer Hunger kriegt, sobald man in einem Zug sitzt?“

Bibi lächelte. „Ja, finde ich auch. Ich heiße übrigens Bibi. Ich fahre nach Falkenstein. Und du?“

„Ich bin Hanna“, entgegnete das Mädchen. „Ich fahre auch nach Falkenstein.“

„Echt? Kennst du vielleicht den Martinshof und Tina Martin? Das ist meine Freundin und ich verbringe dort die restlichen Ferien“, sagte Bibi begeistert.

„Tina Martin? Nie gehört.“ Hanna schüttelte den Kopf. „Aber ich besuche meinen Großvater, der wohnt ziemlich abgelegen.“

Als Hanna ihren Großvater erwähnte, veränderte sich plötzlich ihr Gesicht. Mit einem Mal wirkte sie ganz traurig, zumindest kam es Bibi so vor.

„Also, falls es dir bei deinem Großvater mal langweilig wird, kannst du dich jederzeit melden“, sagte sie freundlich. „Dann können wir uns mal treffen, und du lernst auch meine Freunde Tina und Alex kennen.“

Bibi riss ein Stück Butterbrotpapier ab, kramte einen Kugelschreiber aus ihrem Rucksack, schrieb Nummer und Adresse des Martinshofes darauf und reichte Hanna den Zettel.

„Alles klar, danke!“ Hanna stopfte den Zettel in ihre Hosentasche. Dann holte sie ein Buch aus ihrem Rucksack und begann zu lesen. Sie wirkte immer noch etwas bedrückt und schien keine Lust zu haben, sich weiter zu unterhalten.

Also aß Bibi langsam ihr Brot und blickte dabei wieder aus dem Fenster.

Jetzt ist es gar nicht mehr weit bis nach Falkenstein, dachte sie plötzlich! Ihr Herz hüpfte vor Freude!

Begegnung auf dem Bahnsteig

„Bibi!“

Die kleine Hexe war gerade aus dem Zug gestiegen. Suchend blickte sie sich um. Sie hatte Tinas Stimme sofort erkannt, aber sie konnte ihre Freundin nirgendwo entdecken.

„Bibi!“, hörte sie es wieder rufen. Da! Am Ende des Bahnsteigs stand es – das Mädchen mit den leuchtend roten Haaren. Tina winkte wie verrückt! Neben ihr stand ein Junge mit dunklen Haaren, der ebenfalls winkte: Das war Tinas Freund Alexander von Falkenstein, genannt Alex! Die beiden waren gekommen, um sie abzuholen.

„Tina!“, rief nun auch Bibi und rannte los. Der Rucksack hüpfte auf ihrem Rücken auf und ab, während sie den Bahnsteig entlangspurtete. Einige Male musste sie entgegenkommenden Leuten ausweichen, wie bei einem Slalomlauf. Plötzlich stand ein riesengroßer Mann vor ihr. Bibi hatte ihn zu spät bemerkt und – peng – knallte sie in vollem Lauf gegen ihn. Der Mann war nicht nur so groß, sondern auch so breit wie ein Kleiderschrank. Bibi brauchte einige Sekunden, um sich von dem Aufprall zu erholen. Dann blickte sie in ein unfreundliches, kantiges Gesicht. Der Mann hatte einen struppigen grauen Vollbart, dichte graue Haare und blaue Augen. Zwischen seinen Brauen gruben sich zwei Falten in die Stirn.

„Pass doch auf!“, fuhr er sie mit einer tiefen brummigen Stimme an und ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei.

Unwillkürlich wandte Bibi sich um und blickte dem Mann nach.

„Äh, tut mir leid!“, stotterte sie.

In diesem Moment sah sie, wie das Mädchen aus dem Zug auf den Mann zuging und ihn begrüßte: Die beiden gaben sich die Hand. Eine besonders herzliche Begrüßung war das nicht, dachte Bibi. War das etwa Hannas Großvater?

„Bibi!“, hörte sie es wieder rufen.

Sie drehte sich um und sah Tina, die ihr entgegen rannte. Im nächsten Augenblick fielen sich die beiden Freundinnen in die Arme.

„Bibi!“, freute sich Tina.

„Tina!“, rief Bibi.

Voller Freude führten die beiden auf dem Bahnsteig einen Begrüßungstanz auf, doch schließlich gingen sie Richtung Ausgang, wo Alex sie erwartete. Auch er begrüßte Bibi herzlich. Fröhlich durchquerten die drei das Bahnhofsgebäude. Einen schöneren Empfang hätte Bibi sich gar nicht vorstellen können.

Auf der anderen Straßenseite stand der Ponywagen, vor den die Zwillingsponys gespannt waren. Bibi lief über die Straße und streichelte sie, während Tina und Alex schon mal auf den Kutschbock kletterten. Bibi holte zwei Äpfel aus ihrem Rucksack, die ihre Mutter ihr für die Fahrt mitgegeben hatte. Doch Bibi hatte sie extra für Max und Moritz aufgehoben, denn die beiden liebten Äpfel über alles. Blitzschnell schnappten sie sich sie von Bibis Handflächen und zerbissen sie.

Lachend schwang Bibi sich neben Tina und Alex auf den Kutschbock. Ein Stückchen entfernt bemerkte sie einen weiteren Pferdewagen. Er stand unter einem Baum am Straßenrand; eine riesige braune Stute war davor gespannt. Es war ein prächtiges Tier mit einer langen Mähne, einem herrlichen Schweif und Behang an den Beinen. Bibi betrachtete das Pferd bewundernd, das reglos wie eine Statue dastand.

„Los geht’s!“, rief Tina. Sie schnalzte mit der Zunge, und Max und Moritz legten sich ins Zeug. Doch im nächsten Moment machte Tina laut „Brrrr“, und der Wagen stoppte abrupt. Ein Mann überquerte die Straße, dicht gefolgt von einem Mädchen. Es waren Hanna und ihr Großvater. Bibi winkte Hanna kurz zu, aber das Mädchen schien sie gar nicht zu bemerken.

Sie blickte den beiden hinterher und sah sie zu dem Wagen mit der großen braunen Stute gehen.

„Die haben wohl Tomaten auf den Augen!“, regte Tina sich auf.

„Das Mädchen habe ich im Zug kennengelernt“, erwiderte Bibi nachdenklich. „Ich glaube, sie ist ganz nett. Aber ihr Großvater scheint ziemlich komisch zu sein!“

Sie zuckte mit den Schultern: „Was soll’s, Tina! Fahren wir los! Ich kann’s kaum erwarten, endlich auf dem Martinshof zu sein.“

Was ist mit Jimi?

„Hallo, Mathilda!“, sagte Hanna leise.

Sie streichelte die große, braune Stute. Mathilda schnaubte leise. Warme Luft strömte aus ihren Nüstern und strich über Hannas Hände. Bei diesem großen Pferd fühlte Hanna sich geborgen. Nichts konnte Mathilda erschüttern, und sie schien alles zu verstehen.

Hanna stieg zu ihrem Großvater auf den Kutschbock. Sie sah den Ponywagen mit Bibi Blocksberg und ihren Freunden um die Ecke biegen und verschwinden. Das blonde Mädchen aus dem Zug war sehr nett gewesen. So sehr hatte Bibi sich darauf gefreut, die Ferien hier zu verbringen! Hanna seufzte leise. Früher hatte sie sich auch immer so gefreut!

Ihr Großvater ergriff die Zügel, und sie fuhren los. Schweigend durchquerten sie Falkenstein. Seit Hannas Großmutter vor zwei Jahren gestorben war, hatte Großvater sich sehr verändert. Er sprach kaum noch – auch mit ihr redete er nur das Nötigste. Er lebte allein auf seinem Hof, mit seinen Pferden, ein paar Hühnern und vielen halbwilden Katzen, die man nie zu Gesicht bekam. Früher einmal hatte er ihr das Reiten beigebracht. Er war mit ihr Angeln gegangen, hatte ihr ein Baumhaus gebaut und ihr gezeigt, wie man Flöten aus Weidenrohr schnitzt. Sie hatte es geliebt, die Ferien bei ihren Großeltern zu verbringen. Hanna wusste, dass ihr Großvater ein eigenwilliger Mensch war und mit vielen Leuten nicht besonders gut klarkam. Aber seit dem Tod ihrer Großmutter war es richtig schlimm geworden. Er schien wie in einer eigenen Welt zu leben.

Sie fuhren auf der Landstraße dahin. Ruhig schritt Mathilda aus, immer im selben Tempo, und ihre Hufe klapperten auf dem Asphalt. Es ging vorbei an kahlen Stoppelfeldern und gemähten Wiesen. Laublose Pappeln streckten ihre Äste in den Himmel. Das Land lag da, als hielte es den Atem an bis zum nächsten Frühling.

Es war kalt, bisher hatte es aber nicht geschneit. Wie schön wäre es, wenn Schnee läge, dachte Hanna. Dann könnte sie Schlitten fahren. Vielleicht könnte sie ihren Großvater sogar überreden, den alten Pferdeschlitten aus der Scheune zu holen. Damit waren sie früher oft gefahren, und es hatte riesigen Spaß gemacht.

Plötzlich dachte Hanna an Jimi – das Fohlen, das Mathilda letzten Sommer zur Welt gebracht hatte. Es war eine schwere Geburt gewesen. Ihr Großvater und sie hatten Jimi an den Beinen aus dem Leib seiner Mutter ziehen müssen. Aber schließlich hatten sie es geschafft. Als das Fohlen im Stroh lag und seine Mutter es zärtlich ableckte, hatten ihr Großvater und sie sich in den Armen gelegen und sich gemeinsam gefreut.

„Ein prächtiges Fohlen“, hatte ihr Großvater gesagt. „Wie sollen wir es nennen, Hanna?“

„Jimi!“, hatte Hanna sofort erwidert, und ihr Großvater war einverstanden gewesen.