Dunkler Hauch des Bösen: Zwei Unheimliche Thriller

Alfred Bekker and W. A. Hary

Published by Uksak Sonder-Edition, 2017.

Inhaltsverzeichnis

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Dunkler Hauch des Bösen – Zwei Unheimliche Thriller

Geisterhauch | Alfred Bekker und W. A. Hary schrieben als Ashley Parker

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Im Schatten der Erdmagie | Alfred Bekker und W. A. Hary schrieben als Ashley Parker

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Dunkler Hauch des Bösen – Zwei Unheimliche Thriller

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Von Alfred Beker & W.A.Hary

Dieses Buch enthält die Romane:

Geisterhauch

Im Schatten der Erdmagie

Cover: Steve Mayer mit Adelind/Pixabay

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Geisterhauch

Alfred Bekker und W. A. Hary schrieben als Ashley Parker

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Der Umfang dieses Buchs entspricht 101 Taschenbuchseiten.

Als die arbeitslose Judith Carmichael von ihrem Arbeitsvermittler unverhofft eine gut bezahlte Stelle als Bibliothekarin auf Herford Castle angeboten bekommt, die sie unverzüglich antreten soll, zögert sie zuerst. Doch dann nimmt sie das Angebot an. Schließlich braucht sie das Geld, aber auch ihre Neugierde ist groß, denn erst in der Nacht zuvor hatte sie im Traum diese Vision von einem geheimnisvollen Schloss im Nebel gehabt, von einem unbekannten Mann, der ihr doch so vertraut war – und von einem Fluch, der auf den Nachfahren des Hauses Herford lag, die allesamt eines grauenvollen Todes starben ...

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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1

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Judith Carmichael wälzte sich unruhig in ihrem Bett. Ein Alptraum quälte sie. Dabei wusste sie gar nicht, dass sie dies alles nur träumte. Es war alles so schrecklich realistisch.

Oder war das gar kein Traum, sondern eine Art Vision?

Sie sah ein Gebäude, vom Nebel verhangen. Deshalb waren zunächst keine Einzelheiten erkennbar. Sie spürte, dass mit diesem Gebäude etwas nicht stimmte. Es war, als hätte es eine Art Eigenleben! Unsichtbare Augen schienen sie misstrauisch zu belauern.

Aber sie spürte noch etwas: Die Anwesenheit eines Mannes, der ihr sehr vertraut war.

In Wirklichkeit war sie zurzeit Single und wollte es nach einer sehr schmerzlichen Enttäuschung auch eigentlich noch länger bleiben. Doch dies war jetzt völlig vergessen. Zumindest im Traum. Sie spürte die Nähe des vertrauten Mannes und das beruhigte sie halbwegs. Bis ihr bewusst wurde, dass auch er Angst hatte!

"Der Fluch!", flüsterte er ihr zu. Einerseits war sie sicher, diese Stimme noch niemals zuvor gehört zu haben. Andererseits war sie ihr so vertraut wie die Nähe des Mannes, als hätte sie ihn schon immer gekannt und als hätte es niemals zuvor auch nur einen einzigen anderen Mann gegeben.

Dieses Gefühl genoss sie so sehr, dass sie darüber beinahe die pochende Angst in ihrem Inneren vergaß.

"Welcher Fluch?", fragte sie tonlos.

"Ein schrecklicher Fluch aus der Vergangenheit, der uns alle trifft. Deshalb wird er auch mich treffen, sobald der Letzte in der Reihe vor mir ihm zum Opfer gefallen ist."

"Opfer?"

Er brauchte ihr nicht zu antworten, denn die Nebel um das Gebäude lichteten sich ein wenig, als würde eine unsichtbare Hand einen Vorhang teilen. Aus der Lücke schoss ein altmodischer, aber sehr herrschaftlicher Wagen. Judith kannte sich mit Autos nicht sonderlich aus, aber sie vermutete, dass es sich um einen echten Rolls Royce handelte. Hinter dem Steuer saß ein Mann. Sie konnte es deutlich erkennen, obwohl das Gesicht seltsam verschwommen blieb. Er kauerte sich regelrecht über das Steuer und fuhr viel zu schnell, als würde er verfolgt werden.

Das Einzige, was ihn allerdings verfolgte, waren die unsichtbaren Augen, denen anscheinend nichts und niemand entgingen.

"Siehst du, Judith? Er will seinem Schicksal entfliehen, aber es ist letztlich sinnlos, glaube mir. Keiner kann das. Auch ich nicht, sobald die Reihe an mir ist. Und ich bin der Letzte in der Reihe. Der Allerletzte."

"Nein, das kann nicht sein!", widersprach Judith erschrocken.

"So lange er lebt, bin ich sicher, aber nur noch so lange."

"Woher willst du wissen, dass er in den Tod fährt?"

"Ich weiß es, weil ich der Erbe des Fluches bin. Er wird sterben, damit ich dieses Erbe antreten kann."

"Nein!" Sie schrie es regelrecht und dieser Schrei wurde zu einem wahren Orkan, der gegen die Nebelwand anbrandete und sie zu vertreiben begann. Nur unvollständig, denn der Nebel war zäh wie Brei. Er gab nur widerwillig den Blick auf einen Teil des Gebäudes frei.

Es war kein gewöhnliches Gebäude, sondern ein Castle! Alles war sehr gepflegt, wie es sich für einen Herrschaftssitz auch gehörte.

Judith war sicher, dass sie dieses Gebäude noch niemals zuvor gesehen hatte, und dennoch kam es ihr auf seltsame Weise vertraut vor. Aber jetzt wurde ihr auf einmal auch bewusst, dass sie den Mann an ihrer Seite genauso wenig kannte, obwohl dieser ihr so sehr vertraut vorkam, als wären sie schon immer zusammen und niemals getrennt gewesen.

Gern hätte sie den Kopf gewendet, um nach ihm zu sehen, doch das war ihr nicht möglich. Sie konnte nur diesen Nebel sehen, der sich wieder fester um das herrschaftliche Gebäude schloss, um es ihren Blicken zu entziehen.

"Doch!", antwortete er endlich auf ihren Schrei. "Es ist unser Schicksal."

"Ich ... ich will dich nicht verlieren, Liebster!", murmelte sie.

"Genauso wenig, wie ich dich verlassen möchte, Liebste!", sagte er an ihrer Seite.

Wieso war es ihr nicht möglich, ihn anzusehen?

"Und dennoch soll dies unser Schicksal sein?"

"Es gibt Mächte, die auf unser Schicksal größeren Einfluss haben als uns lieb sein mag, doch wir können uns ihnen niemals entziehen."

"Wie können wir da sicher sein, wenn wir es nicht einmal versuchen?"

"Schau dich um, Liebste. Wir sind hier zusammen. Alles ist wie Wirklichkeit und doch ist es nur ein Traum."

"Ein Traum?"

"Ja, Liebste, wir träumen beide an völlig unterschiedlichen Orten und trotzdem gleichzeitig denselben Traum. Wir sind uns noch niemals zuvor begegnet, aber unser Schicksal hat uns füreinander bestimmt. Nur für kurze Zeit. Viel zu kurz für Liebende wie uns, doch das Schicksal ist ohne Gnade. Wir werden uns begegnen und dies wird zu einem Zeitpunkt sein, da der Fluch längst seine Wirkung begonnen hat."

"Das alles lasse ich nicht zu!", begehrte Judith trotzig auf.

"Es gibt keine Chance, sich seinem Schicksal zu entziehen. Weißt du das nicht, Liebste?"

"Ich ... ich würde dich so gern ansehen. Wieso ist das nicht möglich?"

"Siehst du, Liebste, wenn du noch nicht einmal dies schaffst, wie sollte es dir dann jemals möglich sein, viel Schlimmeres zu überwinden, wie es für mich vorgesehen ist?"

"Aber was habe ich denn damit überhaupt zu tun – mit deinem Fluch?"

"Nur insofern, weil wir füreinander bestimmt sind. Weißt du nicht, dass es für jeden Menschen eine Art Ergänzung gibt? Wir ergänzen uns beiderseitig. Die meisten Menschen haben niemals die Chance, ihre Ergänzung im Leben zu finden. Das Schicksal kann ja so grausam sein. Uns ist es in dieser Beziehung eher gnädig. Wir sind viele Meilen voneinander getrennt, doch das Schicksal hat bestimmt, dass wir uns dennoch begegnen werden. Wir werden uns ineinander verlieben und du wirst alles tun, das Unausweichliche zu verhindern."

"Das Unausweichliche?"

"Dass unsere Liebe keine Zukunft hat."

"Wegen dem Fluch?"

"Ja, wegen dem Fluch, Liebste! Er wird viel zu schnell beenden, was gerade erst begonnen hat: Unsere Liebe!"

"Ich werde alles tun, um dies zu verhindern: Wirklich alles!"

"Ich glaube dir gern, Liebste, dass du es versuchen wirst, aber ich fürchte ..."

"Du wirst es sehen – und erleben!"

Sie hielt Ausschau nach dem fliehenden Wagen, aber dieser war nicht mehr zu sehen und sie war nicht in der Lage, den Kopf zu drehen. Weder konnte sie den Geliebten anschauen noch dem Wagen hinterdreinblicken, um sich zu vergewissern, dass der unglückliche Fahrer wirklich in sein Verderben fahren würde.

Der Mann an ihrer Seite schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er sagte tonlos: "Nein, ich weiß es jetzt: Er wird nicht im Wagen umkommen!"

"Nicht? Aber wie sonst?"

"Der Fluch wird ihn ereilen. Er hätte möglicherweise doch noch länger leben können, hätte er nicht zu fliehen versucht, doch der Fluch kennt keine Gnade."

"Auch nicht mit unserer Liebe?"

"Auch damit nicht!", bestätigte er bitter.

"Aber sagt man nicht, Liebe ist stärker als alles andere?", widersprach Judith ein wenig lahm.

"Ja, man sagt es, aber stimmt es auch tatsächlich?"

"Ohne die Liebe würde es keine Menschen mehr geben, nicht wahr?", versuchte sie aufzutrumpfen. "Also hat die Liebe bisher uns Menschen gegen alles Böse erfolgreich verteidigt."

"Ich wollte, ich könnte dir Recht geben, Liebste."

"Aber?"

"Der Fluch ist mit nichts zu vergleichen, was ansonsten den Menschen widerfahren mag. Wenn du mir nicht glaubst: Du wirst es selbst erleben!"

Nach diesen Worten begann das Bild vor ihrem geistigen Auge zu verblassen.

Sie wollte aufschreien, aber die Stimme versagte ihr den Dienst. Alles um sie herum versank und die vertraute Nähe dieses Mannes, von dem sie nicht einmal den Namen wusste, geschweige denn dass sie sein Gesicht gesehen hätte, verblasste genauso.

Judith fand sich schweißgebadet in ihrem Bett wieder und fuhr hoch.

Es dauerte mindestens eine Minute, bis ihr bewusst wurde, dass es in der Tat nur ein Traum gewesen war.

Nur ein Traum?

Sie lauschte in sich hinein und war ganz sicher: Dies war mehr gewesen – viel mehr!

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An diesem Tag kam sie gar nicht richtig zu sich. Sie brauchte mehrfach so lange wie sonst mit der täglichen Routine nach dem Aufstehen. Gottlob hatte sie ja genügend Zeit, da sie gegenwärtig arbeitslos war.

Normalerweise haderte sie gern damit und fragte sich bitter: "Habe ich dafür jahrelang studiert, um am Ende arbeitslos zu sein?" Heute verzichtete sie darauf, denn wenn sie einen Job gehabt hätte, wäre sie bei ihrem Arbeitgeber kaum auf Verständnis gestoßen ob des Zustandes, in dem sie sich befand.

Der Traum beschäftigte sie einfach viel zu sehr. Er ging ihr nicht aus dem Sinn. Vor allem die Vertrautheit, die sie bei der Nähe jenes Mannes gespürt hatte. Das war ein Gefühl, das ihr bisher fremd geblieben war.

Es war ja nicht so, dass sie keine innige Beziehung gepflegt hätte bisher, aber jener Mann war ganz was anderes. Deshalb konnte und wollte sie nicht daran glauben, dass es lediglich ein blöder Traum gewesen war.

Sie schaute in den Spiegel und erschrak vor ihrem eigenen Spiegelbild. Sie sah aus, als hätte sie mehrere Nächte durchgemacht. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen und unter ihnen hatten sich dunkle Ringe gebildet.

Sie schüttelte ihr langes Blondhaar, das ihr normalerweise überhaupt keine Probleme bereitete. Sie brauchte für gewöhnlich nur mit den Finger durchzufahren nach dem Aufstehen und schon sah sie frisiert aus. Heute war das anders. Die Haare waren widerspenstig wie nie. Dabei fühlten sie sich total trocken an, wie ausgelaugt.

Judith schaute auf die Uhr. Am frühen Nachmittag hatte sie einen Termin. Die Arbeitsvermittlung hatte sich gestern bei ihr gemeldet und von einem möglichen Job gesprochen. Nun, es war nicht der erste Termin in dieser Art – und es wäre auch nicht das erste Mal, dass sich das Ganze leider als eine Art Seifenblase entpuppte – platzend just in dem Moment, in dem man danach greifen wollte.

Da sollte man mal keinen Frust bekommen, dachte sie verbittert und fuhr sich noch einmal durch die Haare, wenngleich völlig vergebens.

Sie schielte zur Badewanne hinüber. Ob die Zeit reichte für ein Bad? Sie musste! In diesem Zustand konnte sie unmöglich zur Besprechung erscheinen. Der Arbeitsvermittler würde vielleicht vermuten, sie sei auf irgendwelchen verbotenen Drogen, wie sie daherkam. Das konnte und wollte sie nicht riskieren.

Sie entkleidete sich, während das Wasser einlief, und prüfte mit den Zehenspitzen die Wassertemperatur, ehe sie in die Wanne stieg. Sie war noch längst nicht voll genug, aber Judith musste sich sowieso beeilen, jetzt, da ihr wieder der Termin beim Arbeitsvermittler bewusst war.

Hoffentlich brachte das Bad wenigstens ein wenig Entspannung.

Sie gab Badezusatz ins Wasser und lehnte sich zurück, während ein dicker Wasserstrahl unaufhörlich in die Wanne plätscherte.

Kurz schloss sie die Augen. Sofort war der Traum wieder da – so intensiv, als würde sie ihn erneut träumen. Dabei war es nur die Erinnerung daran.

Erschrocken riss sie die Augen wieder auf.

Nein, das war in der Tat alles andere als ein gewöhnlicher Traum! Normalerweise konnte sich Judith an ihre Träume niemals erinnern. Ja, vielleicht ein paar Sekunden lang nach dem Erwachen, aber dann verflüchtigte er sich für immer.

Diesmal war das ganz anders. Sie machte die Probe, indem sie erneut die Augen schloss. Sie ließ die Erinnerung auf sich einwirken und riss nicht gleich wieder erschrocken die Augen auf. Sie erlebte jede einzelne Phase des Traumes erneut. Es wiederholte sich ohne die geringsten Abstriche, als hätte sich das Erlebnis des Traumes wie mit Säure in ihr Gedächtnis eingefressen.

Die Vertrautheit. Sie liebte diesen Mann, ohne ihn jemals gesehen zu haben. Ein Unbekannter mithin – und doch jemand, der zu ihr gehörte. Als eine Art Ergänzung?

Eine solche Vorstellung war ja nicht neu, aber Judith hätte niemals gedacht, dass sie für sie selber so wirklich werden könnte.

Sie riss wieder die Augen auf.

"Doch ein blöder Traum!", sagte sie laut, wie um sich selber zu überzeugen.

Und dann erschrak sie schier zu Tode: Die Badewanne war voll und drohte sogar überzulaufen. Sie schwebte mehr, als dass sie darin lag.

Ihre Rechte zuckte vor, um das Wasser abzudrehen. Dabei schwappte ein Teil des Wassers über den Rand und ergoss sich über den Boden.

So schnell es ging, drehte Judith ab und schaute sich verwirrt um.

Über der Tür hing eine Uhr. Entweder sie ging falsch, oder aber es war inzwischen über eine halbe Stunde vergangen, obwohl sie den Eindruck hatte, es sei nur eine Minute.

"Was ist nur los mit mir?", murmelte sie brüchig.

Sie hielt es im Wasser nicht länger aus und zog den Stöpsel.

Flüchtig dachte sie wieder an den Traum: Bloß jetzt nicht mehr die Augen schließen. Sie hatte doch nur über den Traum nachgedacht. Dabei war die Zeit so schnell vergangen, als hätte es eine Art Zeitsprung gegeben – und sie war ganz sicher, dass so etwas völlig unmöglich war. Schließlich war Judith eine aufgeklärte, junge Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand und der so schnell nichts und niemand etwas vormachen konnte.

Sie stand auf und wäre beinahe in der Wanne ausgerutscht. Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Sie hätte das Bad endgültig unter Wasser gesetzt. Einmal abgesehen davon, dass sie sich bei einem Sturz vielleicht sogar hätte verletzen können.

Sie fischte nach dem Badetuch und begann, sich oben herum abzutrocknen. Dabei warf sie noch einmal einen Blick auf die Uhr.

Die Zeiger waren unerbittlich weitergerückt, als würde die Zeit beschleunigt ablaufen.

Sie dachte an den Termin und zuckte schon wieder erschrocken zusammen: Falls sie sich jetzt nicht mächtig beeilte, kam sie tatsächlich zu spät!

Aber sie musste sich doch wenigstens noch ein bisschen schminken und die passende Kleidung aussuchen.

"Vergiss es!", sagte sie zu sich selbst und stieg aus der Wanne, die noch immer nicht ganz leer gelaufen war.

Das Bad konnte sie jetzt nicht putzen. Es musste so bleiben, wie es war, auch wenn es Judith noch so sehr gegen den Strich ging.

Sie trocknete sich fertig ab und schaute in den Spiegel.

"Gott, ich sehe ja noch schrecklicher aus als vorher!", rief sie unwillkürlich.

Aber auch darauf durfte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie rannte regelrecht aus dem Bad, schnappte sich die Klamotten vom Vortag, zog nur die Unterwäsche frisch an und war in Rekordzeit fertig.

Fertig?

Ein letzter prüfender Blick in den mannshohen Spiegel in der Garderobe: Wenn jemand sie wirklich einstellen würde, so, wie sie jetzt aussah, war er sicher nicht sehr anspruchsvoll in der Auswahl seines Personals!

Das dachte sie ziemlich resigniert und verließ die Wohnung.

In dem Moment, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wurde ihr bewusst, dass sie ihre Handtasche nicht dabei hatte und somit auch nicht ihre Wohnungsschlüssel. Einmal ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie keinen Penny besaß. Außerdem hing am Schlüsselbund auch ihr Wagenschlüssel und ohne ihren Wagen würde sie nicht ihren Termin einhalten können.

Sie schlug in einer hilflos anmutenden Geste mit der zur Faust geballten Hand gegen das Türblatt, aber es war sinnlos. Die Tür ließ sich so schon gar nicht öffnen.

Judith rief sich gewaltsam zur Ruhe und schaute sich um. Zwei Türen weiter wohnte ihre Freundin Carla. Ob die wohl daheim war? Sie hatte jedenfalls einen Nachschlüssel – für alle Fälle. Und heute: Das war ja schließlich ein solcher Fall!

Mit erwartungsvoll pochendem Herzen lief Judith hinüber und klingelte an der Wohnungstür.

Nichts rührte sich.

Judith versuchte, sich zu erinnern: Wo war Carla heute?

Und dann fiel ihr ein: Logisch, die arbeitet doch noch um diese Zeit. Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen?

Judith lehnte sich gegen die Tür und schloss die Augen. "Ein Unglück kommt selten allein!", murmelte sie vor sich hin.

Sie riss die Augen wieder auf. Carla würde erst in einer halben Stunde auftauchen – frühestens. Und wenn sie jetzt die Hausverwaltung anrief und von ihrem Unglück erzählte? Die hatten schließlich auch einen Nachschlüssel.

Aber womit anrufen? Auch ihr Handy war in der Handtasche.

Judith ließ sich resignierend mit dem Rücken an dem Türblatt herunterrutschen bis in Kauerstellung und beschloss, auf ihre Freundin zu warten.

Abermals dachte sie an ihren Traum. Alles war durcheinander geraten durch diesen Traum, wirklich alles.

"Als hätte ich ohne diesen Traum nicht schon Sorgen genug!", beschwerte sie sich halblaut.

Sie lehnte ihren Kopf gegen das Türblatt und machte die Augen zu.

Der Traum: Da war er wieder! Nicht, dass sie ihn erneut träumte, denn sie blieb dabei hellwach. Aber es war die Erinnerung an den Traum und diese Erinnerung war so lebendig, dass sie alles noch einmal genauestens durchlebte.

Ein Traum, der ihrem Empfinden nach höchstens eine Minute lang dauerte, aber aus dem sie aufschreckte, weil eine Stimme vor ihr sagte: "He, hast du kein eigenes Bett mehr? Hat man dich hinaus geworfen, weil du nicht mehr die Miete bezahlt hast oder wieso schläfst du an meiner Tür?"

Carla! Sie stand vor ihr und Judith schaute sie verständnislos an. Hatte ihre Freundin früher Feierabend gemacht oder was?

Aber sie wusste es anders, ohne lange darüber nachdenken zu müssen: Der Traum hatte bestimmt wieder über eine halbe Stunde vergehen lassen, ohne dass es ihr bewusst wurde. Nein, das konnte unmöglich ein normaler Traum sein!

Ein wenig unbeholfen stand Judith auf. Sie fühlte sich ganz steif, als hätte sie sich stundenlang in dieser unbequemen Kauerstellung befunden.

"Sorry, Carla, aber ich habe mich selber ausgeschlossen."

"Wann denn?"

"Äh, vor einer halben Stunde"

"Und so lange wartest du schon vor meiner Tür?"

"Richtig!"

Carla schüttelte bedauernd den Kopf. Aber dann lachte sie wieder und nahm Judith spontan in die Arme.

"Bin ja jetzt da, Liebes. Ich hole nur rasch den Nachschlüssel und sperre dir auf."

Sie schob Judith beiseite und steckte ihren eigenen Schlüssel ins Schloss.

"Den Termin werde ich allerdings vergessen können", murmelte Judith.

"Termin?", fragte Carla, ohne sich umzudrehen.

"Ach, ich hätte beim Arbeitsvermittler vorsprechen müssen. Er hat mir gestern am Telefon gesagt, dass er vielleicht einen Job für mich hätte."

"He, du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen, Judith: Jetzt gehst du in deine Wohnung und rufst ihn zurück. Sagst ihm, du hättest einen anderen Vorsprechungstermin gehabt, der leider länger gedauert hätte. Das wird er verstehen. Die sehen es immer gern, wenn man sich persönlich auch noch zusätzlich bemüht."

"Ich soll lügen?"

"Nun stell dich nicht so an, Judith: Du mit deiner krankhaften Ehrlichkeit. Das bringt dir nur unnötige Scherereien."

"Oh, Carla, ich bin halt anders als du."

"Deshalb hast du ja auch mehr Probleme als ich!" Ihr sympathisches Lachen nahm diesen Worten die Schärfe.

Judith konnte ihrer Freundin sowieso nicht böse sein. Carla war halt so. Inzwischen hatte sie sich längst an ihre Art gewöhnt.

Kurz überlegte sie, ob sie Carla von ihrem Traum erzählen sollte, aber gleichzeitig wusste sie, dass ihr das gar nicht möglich war: Sobald sie es versuchen sollte, wären ihre Lippen verschlossen, wie versiegelt. Das wusste sie, ohne es überhaupt auch nur probiert zu haben.

Sie ließ den Gedanken schleunigst wieder fallen.

Carla kramte in der Schublade des Dielenschränkchens herum, fand endlich den Nachschlüssel zu Judiths Wohnung und hielt ihn triumphierend hoch.

Als sie Carlas Wohnung verließen, meinte Judith: "Und vergiss deinen eigenen Schlüssel nicht, sonst haben wir nachher den gleichen Fall, wenn auch umgekehrt."

"Scherzkeks, hast du schon jemals erlebt, dass ich mich ausgesperrt habe?"

"Nein, bisher noch nicht, aber es gibt für alles ein erstes Mal."

Carla lachte wieder ihr helles, offenes Lachen und zeigte Judith ihren Wohnungsschlüssel. Aber dann erstarb ihr Lächeln. Sie musterte Judith genauer.

"Gottchen, wie siehst du denn überhaupt aus?"

"Nicht gut?"

"Gar kein Ausdruck, Liebes: Als wärst du voll auf Droge."

"So fühle ich mich auch gerade."

"Ehrlich?"

"Nicht, was du wieder meinst, Carla: Ich bin nicht wirklich auf Droge."

"Aber?"

"Ich habe ziemlich schlecht geschlafen und noch schlechter geträumt."

"Gibt es das?"

"Wie du siehst, Carla: ja!"

"Ach, Liebes, nimm es nicht tragisch. Jetzt rufst du diesen Typen von der Arbeitsvermittlung an, erzählst ihm was immer du willst: Zum Beispiel, dass du aussiehst und dich benimmst, als wärst du auf Droge und ..." Carla brach wieder ab, weil sie sich ihr Lachen nicht verkneifen konnte.

Jetzt lachte auch Judith, obwohl sie sich dazu zwingen musste.

"Guter Scherz. Ich bin sicher, der wird vollstes Verständnis haben."

"Aber es wäre die Wahrheit – und wie ich dich kenne, legst du gesteigerten Wert darauf."

"Na, diesmal wäre eine Lüge in der Tat möglicherweise besser."

"Einmal ist keinmal?"

"So ähnlich, Carla, ja."

"Na, dann bin ich ja beruhigt: Wenigstens einmal handelst du wie ein normaler Mensch."

Judith musste über die Formulierung den Kopf schütteln, während Carla ihre Wohnung aufschloss. Sie stieß die Tür auf und machte eine einladende Geste.

"Fühle dich wie daheim, Judith, Liebes!"

"Du dich auch!", entgegnete Judith und zeigte unmissverständlich auf die offene Wohnung ihrer Freundin.

"Du bist ganz schön gemein zu deiner besten Freundin, weißt du das überhaupt? Ich wollte doch nur kontrollieren, ob du wirklich das Richtige zu dem Arbeitsvermittler sagst – am Telefon."

"Verlass dich einfach darauf."

"Na, na?" Carla wiegte bedenklich den Kopf. Aber dann wandte sie sich ab und winkte Judith nur noch einmal fröhlich zu. "Viel Erfolg, Liebes. Ich drücke dir die Daumen, dass es doch noch mit dem Job klappt."

"Wer weiß?", meinte Judith orakelhaft und betrat ihre Wohnung, um hinter sich die Tür zu schließen.

Kurz hielt sie inne, um sich zu sammeln. Dann ging sie zum Telefon und nahm es aus der Ladestation. Die Telefonnummer des Arbeitsvermittlers war einprogrammiert. Sie brauchte nur die Taste zu drücken.

Die Verbindung kam rasch zustande.

"Ach, Sie sind es, Miss Carmichael."

"Ich wollte sagen, dass ich leider nicht pünktlich sein kann, weil ..."

"Macht ja nichts", unterbrach der Arbeitsvermittler sie. "Hören Sie, Miss Carmichael, Sie müssen sich rasch entscheiden. Es ist äußerst dringend."

"Entscheiden - wofür?"

"Herford Castle sucht eine Bibliothekarin – ganz dringend. Um nicht zu sagen: Es brennt!"

"Aber wieso ...?"

"Ganz kurz nur, aber dann müssen Sie sich sofort entscheiden!"

"Wie denn: Hier am Telefon?"

"Ach, ich kenne Sie doch und versuche schon lange genug, Sie zu vermitteln. Ich ..."

"Bibliothekarin? Ich denke, das ist ja nun wirklich nicht so ganz das, was meinem Studium entspricht, nicht wahr?"

"Hören Sie auf, Miss Carmichael, sich selbst und anderen etwas vorzumachen. Kaum jemand kann es sich heutzutage aussuchen. Sie werden sehen: Sie werden toll verdienen, kriegen Kost und Logis frei und haben endlich einen Job. Mehr noch: Das ist eine herrliche Gegend, so mit Meer, beschaulichem Ort namens Herford Town, mit kleinem Hafen und so weiter ... Wenn ich so Ihre Unterlagen durchsehe, erscheinen Sie mir als Bibliothekarin auf einem Herrschaftssitz geradezu als prädestiniert. Sie sollen da alles in Ordnung bringen, ohne Zeitlimit, eben die ganze Bibliothek, sämtliche sonstigen schriftliche Hinterlassenschaften und so weiter und sofort."

"Herford Castle?"

"Na, sehen Sie: Endlich werden sie vernünftig! Äh, Sie haben immer noch Ihren Wagen?"

"Ja, immer noch, wenn auch nicht mehr lange, wenn es so weitergeht."

"Noch ein Grund, den Job anzunehmen."

"Und wann soll ich dort anfangen?"

"Sofort!"

"Wie denn – sofort?"

"So schnell es geht halt! Am besten, Sie sagen einfach ja. Dann packen Sie Ihre Siebensachen - halt das, was sie für eine längeren Aufenthalt brauchen, kommen kurz bei mir vorbei, um zu unterschreiben – und dann machen Sie sich auf den Weg zu Ihrem neuen Arbeitgeber."

"Nicht ihr Ernst!"

"Mein voller, worauf Sie sich verlassen können! – Was ist nun?"

"Also gut: Ja!"

"Bis später!" Der Arbeitsvermittler legte einfach auf.

Judith starrte reichlich verdattert auf das schnurlose Telefon in ihrer Hand und schüttelte am Ende den Kopf.

War das nicht verrückt?

Sie dachte nicht zufällig an den Traum, an das vom Nebel verhangene Gebäude ...

Herford Castle?

"Nie gehört!", murmelte sie vor sich hin.

Dann lief sie hinaus und hinüber zu Carlas Wohnung. Sie hatte kaum den Klingelknopf berührt, da riss Carla die Tür auch schon auf: Sie hatte neugierig gewartet, wie es schien.

"Ich habe den Job!", verkündete Judith.

"Allzu begeistert klingt das ja nicht", bemängelte Carla.

Judith erzählte ihr mit knappen Worten von dem Telefonat.

"Dann wirst du wohl eine Weile weg sein, nicht wahr?"

"Vielleicht kommst du mich ja auch mal besuchen? Kannst dann ja den Rest meiner Klamotten nachbringen."

"Auf einem echten Castle?" Carla überlegte kurz und dann rief sie aus: "Aber ja, Liebes! Das lass ich mir natürlich nicht zweimal sagen!"

"Na dann: Bis bald!"

Sie umarmten sich zum Abschied. Dann ging Judith schleunigst packen. Dabei war sie sicher, dass sie mindestens die Hälfte von allem vergaß, was wichtig gewesen wäre, aber dann beruhigte sie sich: Sicher gab es dort irgendwo einen Laden, wo sie sich nötigenfalls eindecken konnte.

Endlich fasste ein wenig mehr Zuversicht in ihr Fuß, aber diese wurde überschattet von einer unbestimmbaren Angst. Wovor fürchtete sie sich? Vor der Zukunft? Vor dem Castle? Wegen des Traums?

Sie verdrängte gewaltsam sämtliche Gedanken daran und packte weiter. Schließlich kam es auf jede Minute an.

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Erst als sie unterwegs war durch den brodelnden Verkehr der Londoner Innenstadt zum Büro des Arbeitsvermittlers, fand sie zumindest einen Teil ihrer inneren Ruhe wieder. Gelegenheit für sie, einmal über den neuen Job nachzudenken. Zum Beispiel über die Frage: Wieso hatte es jemand dermaßen eilig? Aber noch viel wichtiger erschien ihr die Antwort auf eine andere Frage. Nämlich: Wieso wollte jemand ausgerechnet sie?

Oder bildete sie sich das nur ein? Schließlich wurde eine Archivarin gesucht. Zwar hatte der Arbeitsvermittler sie eine Bibliothekarin genannt, aber eigentlich ging es hier um etwas ganz anderes, im Lichte betrachtet. Doch was konnte daran so dringend sein, dass man nicht warten konnte, bis man jemanden fand, der darin so etwas wie Berufserfahrung gesammelt hatte? Wieso sollte sie als zurzeit arbeitslose Studierte herhalten? Sie hatte schließlich Wirtschaftswissenschaft studiert.

Allerdings, so fiel ihr ein, stand in ihren Bewerbungsunterlagen, dass sie während der Studienzeit in einer Bibliothek gejobbt hatte. Darum anscheinend auch die Bezeichnung des Vermittlers: Bibliothekarin! Aha, er hatte anscheinend gerade mit diesem Job damals Werbung für sie gemacht. Dann ging es keineswegs um sie persönlich, wenn man sie unbedingt haben wollte.

Trotzdem wollte sie den Vermittler darauf ansprechen. Die Antwort interessierte sie ehrlich.

Und es dauerte auch nicht mehr lange, bis sie ihm die Frage persönlich stellen konnte, denn sie hatte bald ihr Ziel erreicht und sogar Glück mit einem Parkplatz, was um diese Tageszeit nicht gerade als Normalfall bezeichnet werden konnte.

Der Arbeitsvermittler begrüßte sie überschwänglich, was sofort wieder das Misstrauen von Judith Carmichael weckte. Sie war ja nicht auf den Kopf gefallen. Umso mehr fühlte sie sich in ihrer Absicht bestärkt, dem Vermittler erst einmal auf den Zahn zu fühlen, ehe sie irgendetwas unterschrieb.

"Wieso wollen die ausgerechnet mich?", fragte sie gerade heraus.

"Wegen Ihrer Berufserfahrung in der Bibliothek, und Ihr Abschluss in Wirtschaftswissenschaften ist ein Bonus, den Sie nicht unterschätzen sollten."

Er lächelte entwaffnend, doch Judiths Misstrauen hatte einen Grat überstiegen, an dem sie eigentlich überhaupt keine Lust mehr verspürte, den Job anzunehmen.

"Einmal ganz ehrlich", begann sie völlig undiplomatisch, "Sie machen normalerweise nur Ihren Job – nicht mehr, aber auch nicht weniger."

"Worauf wollen Sie hinaus?", reagierte er verstimmt. Sein Lächeln erstarb.

"Ich meine, Sie legen sich extrem ins Zeug, wenn Sie mir diese Formulierung erlauben. Das ist zumindest ungewöhnlich."

"Nun, Ihr neuer Arbeitgeber hat es sehr eilig. Er hat sozusagen Druck gemacht."

"Aha? Und das mit dem neuen Arbeitgeber, das vergessen wir erst mal."

"Wie bitte?"

"Ich bin nicht dumm und daher misstrauisch. Bedenken Sie: Ich habe meinen Termin bei Ihnen versäumt. Haben Sie vergessen, wie Sie darauf normalerweise reagieren? Ja, es hat Sie noch nicht einmal der Grund für meine Unzuverlässigkeit interessiert."

"Nun ..." Er brach ab und erschien jetzt reichlich nervös.

"Nun – was?", hakte sie unerbittlich nach.

"Sehen Sie, Miss Carmichael ...", druckste er herum.

"Ich bin ganz Auge!", drängte sie ihn ohne Gnade.

"Sie werden sehr gut verdienen! Selbst wenn Sie es nur ein halbes Jahr durchhalten, haben Sie für die nächsten zwei Jahre ausgesorgt und können sich in Ruhe auf einen Job freuen, der Ihrem Studienabschluss entspricht."

"Ein halbes Jahr lang ein verstaubtes Archiv auf Vordermann bringen, eine private Bibliothek? Hören Sie, wie kommt es, dass da so plötzlich und so dringend jemand gesucht wird, dass man gewissermaßen jeden nehmen würde, der auch nur halbwegs in das Bild passt, das diese Arbeit verlangt."

Auf einmal wurde der Arbeitsvermittler ganz ruhig. Er lehnte sich vor und betrachtete Judith jetzt, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben sehen.

"Es gibt zurzeit leider niemand anderes, der für den Job infrage käme, Miss Carmichael. Das ist Fakt. Deshalb sind Sie auch so wichtig. Der Auftraggeber ist aus Amerika und hat das Anwesen geerbt. Er hat keine Ahnung von seinem Erbe und erwartet jemand, der Licht in das Dunkel bringt, sozusagen."

"Er braucht jemanden, von dem er erfährt, was er da überhaupt geerbt hat? Und wieso schaut er nicht einfach im Archiv nach?"

"Na, wieso wohl? Wenn das Archiv in einem Zustand wäre, der dies ermöglichen würde, müsste er ja auch niemanden einstellen, der das für ihn erledigt, oder? Auch noch jemanden, der nicht nur davon was versteht, sondern auch von Wirtschaft!"

"Ich beginne zu begreifen!" Judith schüttelte überrascht den Kopf. "Und da hat er so viel Druck gemacht, dass er Ihnen eine Art Bonus versprochen hat? Kein Wunder, dass Sie sich so bemühen!"

"Hören Sie auf, mir etwas zu unterstellen, denn das geht Sie nun wirklich nichts an. Es ist ja nicht so, als müssten sie sich zu meinen Gunsten opfern."

"Etwa nicht?"

"Hier!" Er warf einen kleinen Packen Papier auf den Schreibtisch. "Das ist Ihr Vertrag. Sie werden ihn jetzt durchlesen und endlich begreifen, dass nicht nur ich der Nutznießer bin, wie Sie mir unterstellen wollen, sondern vor allem Sie selber!"

"Und mein neuer Arbeitgeber?"

"Ja, natürlich, der auch, denn er bekommt eine nicht nur sachkundige, sondern vor allem blitzgescheite neue Kraft, die sicherlich all seine Erwartungen sogar übertrifft!"

"Danke für die Blumen!" Judith hätte es gern spöttisch gesagt, aber sie hatte einen Blick auf den Vertrag geworfen und die Gehaltsvorstellungen ihres neuen Arbeitgebers gelesen. Dabei blieb ihr wahrlich die Sprache weg.

Sie dachte an ihre finanzielle Situation und daran, dass sie noch vor einem Tag erwogen hatte, ihren Wagen endlich zu verkaufen, weil satt zu essen und warm zu wohnen wichtiger waren als Autofahren – und unterschrieb halbwegs blind, ohne so richtig den Rest des Vertrages gelesen zu haben.

Zufrieden gab der Arbeitsvermittler ihr die Kopien für ihre Unterlagen und räumte so eilig den Vertrag weg, als hätte er Angst, sie könnte es sich doch noch anders überlegen.

"Sie werden frei wohnen und frei essen – zunächst zum fürstlichen Gehalt. Aber es wird natürlich auch ordentliche Arbeit von Ihnen verlangt."

"Keine Bange, ich werde niemanden enttäuschen, am allerwenigsten mich selber!", versprach sie verkniffen und stand auf.

"Also auf nach Herford Castle?"

"Ja, auf in die neue Heimat. Darf ich das so sagen?"

"Ach, jetzt hätte ich es beinahe vergessen: Hier ist noch eine Wegebeschreibung. Oder haben Sie ein Navigationsgerät in Ihrem Auto?"

"Machen Sie Witze?"

"Nun, in Zukunft werden Sie sicherlich Geld genug für solchen Schnickschnack haben, nicht wahr?"

"Dank Ihnen?"

"Ich habe selber zu danken, Miss Carmichael, ehrlich!"

Wie viel hast du für die Vermittlung zusätzlich eingestrichen, du Verbrecher?, dachte Judith respektlos, während sie dem Arbeitsvermittler mit einem falschen Lächeln zum Abschied die Hand reichte. Ach, egal, es ist ja wirklich nicht so, als würde ich mich opfern müssen. Das hätte ich auch gar nicht getan.

Als sie das Büro verließ, hatte sie trotzdem ein mulmiges Gefühl und dieses Gefühl brachte ihr die Erinnerung an den Traum zurück.

Irgendwie glaubte sie zu wissen, wie Herford Castle aussah. Vor allem dann, wenn es im Nebel lag.

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Judith setzte sich in ihr Auto und fuhr los. Erst einmal musste sie London verlassen. Eigentlich war es leichtsinnig, die weite Fahrt jetzt noch anzutreten und nicht bis zum nächsten Morgen zu warten, aber wenn man sie so schnell wie möglich haben wollte und gern dafür bezahlte?

Was soll’s!, redete sie sich ein und gab Gas.

Sobald London hinter ihr lag, nahm der Verkehr fast schlagartig ab. Es gab nicht sehr viele Autofahrer, die denselben Weg hatten wie sie, und noch weniger kamen ihr entgegen.

Die Gegend wurde gewissermaßen mit jeder Meile, die sie fuhr, einsamer. Trotzdem war Judith Stunden unterwegs, bevor sie in einem kleinen Ort Zwischenstation machte, um sich noch einmal die Wegebeschreibung vorzunehmen und auch, um sich eine Pause zu gönnen. Ihrer Schätzung nach hatte sie jetzt noch mindestens zwei Stunden Fahrt vor sich, bis sie den Ort erreichte, zu dem Herford Castle gehörte: Herford Town.

Sie schaute durch die Windschutzscheibe nach vorn. Es war schon dunkel und der Ort im Vergleich zu Großlondon nur schwach beleuchtet. Dennoch entging ihr nicht das Transparent des anscheinend größten Pubs im Ort. Dort parkte sie ihr Auto und stieg aus. Im Schein der Laterne studierte sie die Wegbeschreibung, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren.

Kopfschüttelnd warf sie die Wegbeschreibung des Arbeitsvermittlers in das Wageninnere, schloss ab und ging in Richtung Eingang. Fast hatte sie diesen erreicht, als er von innen aufgestoßen wurde und drei grölende Betrunkene, die sich gegenseitig beim Gehen stützten, ihr entgegentraten. Als die drei ihrer ansichtig wurden, vergaßen sie zu grölen und schauten sie mit großen Augen an. Anscheinend kam es nicht oft vor, dass sich jemand Fremdes in ihren Ort verirrte.

Judith ignorierte sie und öffnete die Eingangstür, um einzutreten.

Im Eingang stehend hatte sie das unangenehme Gefühl, als würden sich aller Blicke auf sie richten. Gar so viele waren es um diese Zeit zwar nicht, aber es blieb dennoch äußerst unangenehm, zumal keine einzige Frau in dem Lokal weilte, Judith also der einzige weibliche Gast blieb.

Entweder sie bildete sich das nur ein oder die meisten Gespräche verstummten mit ihrem Eintreten.

Äußerlich gab sie sich Mühe, ruhig zu wirken, als sie zur Theke schritt, wo ein bärbeißiger Mann Gläser putzte und ihr missmutig entgegenblickte. Er begrüßte sie mit keinem Wort und als Judith fragte: "Sagen Sie, kann man bei Ihnen noch eine Kleinigkeit zu essen kriegen?", schaute er sie erst mal ungeniert von Kopf bis Fuß an, ehe er antwortete:

"Kommt drauf an, was du haben willst, Kleine!"

"Erst einmal bin ich nicht Ihre Kleine und zum Zweiten bin ich nicht so anspruchsvoll, was das Essen betrifft. Ein kleiner Happen und vor allem meine Ruhe und Sie sind mich ziemlich schnell wieder los." Das war anscheinend die Sprache, die er am besten verstand, denn er blinzelte erst verwirrt und dann verzog er die feisten Wangen zu so etwas wie einem Lächeln.

"War nicht so gemeint, Verehrteste. Äh, klingt das jetzt besser?"

"Bin zufrieden. Weiter!"

Er blinzelte schon wieder verwirrt und meinte: "Hoppla, da ist aber jemand wirklich nicht auf den Mund gefallen!"

"Was ist nun mit dem Essen?"

"Nach Art des Hauses?"

"So lange es appetitlich serviert wird!"

"Oh, da machen Sie sich mal keine Sorgen, denn das erledigt meine Frau. Ist doch so, Magda, oder?"

"Mach deinen Mist selber. Ich habe Feierabend!", kam es durch den offenen Schalter, der anscheinend zur Küche führte.

"Na, was soll denn unser später Gast von uns denken – bei so einem Ton?", tadelte er und bemühte sich weiterhin um so etwas wie ein Lächeln.

Seine Frau tauchte auf.