Wasmeier / Kruecken

DAHOAM

ZWISCHEN SCHLIERSEE UND TOKIO

Warum es wichtig ist, in einer unruhigen Welt Werte zu leben

Die Zeit

Zeit ist Zeit.

Ist Einheit für Gemütlichkeit.

Wäre Gemütlichkeit

dreitausendsechshundert

Sekunden in Zeit,

für wie viel Gemütlichkeit

bliebe dann Zeit?

Zeit plus Zeit ist mehr Zeit.

Brot plus Zeit ist Brotzeit.

Zeit mal Zeit ist Mahlzeit.

Der Maikäfer dreht

um den Tisch eine Runde,

Du weißt nicht das Jahr,

Du kennst nicht die Stunde.

Die Kastanie im Biergarten blüht,

freue Dich,

Du bist auf erdbebensicherem Gebiet.

Das ist die Wurzel aus Zeit.

Das ist per Saldo – Gemütlichkeit.

Gerhard Polt

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Manche Momente verändern alles. Die drehen das, was bislang gewesen ist, in eine ganz andere Richtung. Die schütteln das Leben einmal komplett durch. Es geht darum, mit den Folgen solcher Momente fertigzuwerden. Im Guten, aber auch im Schlechten.

Als ich bei den Olympischen Spielen von Lillehammer über die Ziellinie kam und spürte, es könnte für die Goldmedaille reichen – das war so ein Moment.

Als ich in Calgary als großer Favorit gleich am ersten Tor einfädelte, was Millionen Zuschauer in Deutschland live im Fernsehen verfolgten und was mich vorübergehend zum Deppen der Nation machte – ja, auch das war so ein Moment.

Als ich in Japan auf der Rennpiste die Kontrolle verlor, meterhoch abhob und so hart mit dem Rücken auf den eisharten Schnee schlug, dass zwei Wirbel brachen und der Schmerz wie eine Lawine durch meinen Körper fuhr – das war so ein Moment.

Die Geburten unserer drei Kinder.

Der plötzliche Tod eines engen Freundes.

Der Augenblick, als wie in einem Hollywood-Film ein Adler neben mir auf einer Wiese landete und mir in diesem Moment klar war, dass ich den richtigen Flecken Erde für unser Museum gefunden hatte.

Nun sitze ich neben meiner Frau Gitti im Behandlungszimmer eines Arztes und warte auf die Diagnose. Seit 1991 sind wir verheiratet, haben drei Buben, die fast erwachsen sind. Wir sind eine Großfamilie und führen ein Museum, für das wir gekämpft haben. Wir leben so, wie wir es uns immer gewünscht haben. Bis zu diesem Moment kann ich sagen, dass ich ein glücklicher Mensch bin. Natürlich gibt es auch in meinem Leben Dinge, die mich ärgern, die mich ratlos machen oder auch wütend, aber das ist kein Gegengewicht zur tiefen Dankbarkeit, die ich empfinde. Im Zentrum meines Glücks steht meine Frau Gitti, die Liebe meines Lebens. Gitti ist das Herz unserer Familie, eine Frau aus Südtirol, die eine Güte und Wärme und Fröhlichkeit verbreitet, so einnehmend, dass sie sich auf andere überträgt. Sie ist Mitte 40, gesund, aktiv, sie lacht gerne und viel. Gitti war wegen einer Kleinigkeit zu ihrem Frauenarzt gegangen, eine Winzigkeit, nichts von Bedeutung, so dachten wir. Doch was er sah, beunruhigte ihn. Und jetzt ist der Moment, an dem aus einer bösen Ahnung eine bedrückende Gewissheit wird.

»Es ist Krebs.«

Der Satz des Arztes steht im Raum, dieser Satz, vor dem sich jeder fürchtet. Wir wissen nicht, was genau er bedeutet. Was auf uns zukommen soll in den nächsten Monaten. Die Ungewissheit, die Schmerzen, die langen Tage im Krankenhaus. Die Angst. Mir ist in diesem Moment bewusst, dass wir vor der größten Herausforderung stehen, die wir jemals zu bewältigen hatten. Als Paar, als Familie, als Freunde und Partner. Ich funktioniere von diesem Augenblick an wieder wie früher, wie der Hochleistungssportler Wasmeier. Es gibt einen Weg, auch wenn er schwierig sein mag. Es gibt ein Ziel, und da müssen wir hin. Dass es schwierig sein wird? Ja, mit Sicherheit.

Es fängt schon damit an, dass wir im Auto sitzen, wie betäubt die Straße am See entlangfahren und überlegen, wie wir es den Buben sagen. Ob wir es den Buben sagen, und wenn ja: wann? Markus, der Älteste, ein besonders nachdenklicher, sensibler Junge, lebt in einem Internat in Südtirol und steckt mitten in den Prüfungen zum Abitur. Wie reagieren seine Brüder darauf? Lukas, der gerade bei der Bundeswehr als Sportsoldat angefangen hat und seinen eigenen Weg findet. Kilian, der mitten in der Pubertät steckt, mit der er zu kämpfen hat.

Aber vor allem: Was steht Gitti nun bevor? Welche Behandlungsmethode wählen die Mediziner? Wie reagiert ihr Körper darauf?

Was in den nächsten Monaten geschieht, soll meine Sicht darauf, worauf es wirklich ankommt, verändern. Es wird meinen Blick noch einmal schärfen auf das, was mir etwas bedeutet. Als ich mich entschied, die Arbeit an diesem Buch aufzunehmen, ging es mir nicht nur darum, meine Geschichte zu erzählen. Ich möchte vermitteln, was für mich zählt. Um das klarzustellen: Ich möchte dabei nicht wie ein Prediger erscheinen oder wie jemand, der alles besser weiß, denn oft weiß ich einfach nichts, und von Predigern halte ich sowieso nur selten etwas. Jeder muss selbst wissen, wie er glücklich wird, und Zeigefinger weisen selten in die richtige Richtung. Ich möchte Denkanstöße geben, kleine Schubser vielleicht. Ich möchte an Dinge erinnern, die in unserer Zeit scheinbar nicht mehr viel bedeuten.

Mir geht es um Werte, die nicht auf einem Bankkonto landen. Um alte Werte, um die Bedeutung von Tradition, um Herkunft und Identität und damit automatisch auch um Heimat. Jetzt mag mancher genervt mit den Augen rollen und denken: Wasmeier, du sprechende Lederhose, geht das schon wieder los, aber vielleicht kommt es ganz anders, als sie denken. Ich bin ein konservativer Mensch, aber ich lebe auch mit jener Offenheit, die ich auf Abenteuern zwischen Hawaii und der Südsee, zwischen Kamtschatka und Südafrika erlebt habe. Ich glaube, dass es kein Widerspruch sein muss, seine eigene Region, seine Stadt oder auch sein Dorf zu lieben und die Vielfalt der Welt zu genießen. Ja, ich bin überzeugt, dass wir wissen müssen, wo wir herkommen, um zu verstehen, wo wir hinwollen. Durch meinen Beruf bin ich viel gereist, rund um die Welt. Ich habe die spannendsten Menschen kennenlernen dürfen. Ich habe festgestellt: Die meisten Menschen, die ich getroffen habe, treiben ähnliche Bedürfnisse um. Egal, ob man in einer Wellblechhütte auf den Fidschi-Inseln lebt, in einem Blockhaus in Kanada oder am Ufer eines Flusses in Myanmar. Für mich haben sich nach manchen Reisen die Parameter verschoben. Was bedeutet Reichtum? Woher kommt eine tiefe, innere Zufriedenheit? Was braucht man, um mit sich im Reinen zu sein?

Ich glaube an die Kraft einer intakten Familie. Ich spüre aber auch, dass dieses Familienbild in Gefahr ist, weil es für manchen nicht mehr in den Zeitgeist passt. Zeitgeist – was für ein bescheuertes Wort. Unsere Generationen leben in einem Tempo, das unglaublich rasant verläuft. So schnell, dass sich viele abgehängt fühlen. Informationen, Meldungen, Meinungen verbreiten sich in Echtzeit um den Globus. Oft ist mehr Schein als Sein. Ich verstehe vieles aus dieser neuen Welt nicht, und offen gesagt, interessiert sie mich nur dann, wenn sie für etwas nützlich ist. Dass Kinder und Jugendliche täglich viele Stunden mit Facebook und Co. verbringen, statt sich in der Realität umzusehen, finde ich nicht richtig. Ich verstehe es einfach nicht. Ich kann damit wenig anfangen. Unsere Haustür in Schliersee steht immer offen. Oft kommen Freunde vorbei, auf eine Tasse Kaffee, auf einen kurzen Plausch. Das ist doch viel mehr wert als jeder »Chat« in einem sozialen Netzwerk. Warum sitzen Kinder am Computer und fahren virtuell Rad oder spielen Fußball, statt mit ihrem Mountainbike durch den Wald zu strampeln oder im Stadtpark zu kicken? Wir sind da auf einem falschen Weg.

Ich bin immer anders gewesen. Bevor ich »Wasi« wurde, der Goldmedaillengewinner, der blonde Bayer mit dem Lächeln, war ich ein Außenseiter. Als Kind, als Jugendlicher, immer schon. Ich trug meine Lederhose, als sie noch nicht als schick galt oder als modisches Augenzwinkern verstanden wurde, sondern als sie vor allem als rückständig und furchtbar altmodisch angesehen wurde. Warum? Weil ich es wollte, weil ich sie mochte, weil sie praktisch war. Und weil sie für mich etwas symbolisiert: Heimatverbundenheit. Ich stand oft alleine da mit dem, was meine Eltern und ich für richtig hielten, und es wäre gelogen, wenn ich behauptete, es hätte mir nie etwas ausgemacht. Ich bin anders als der »Wasi«, den jeder zu kennen glaubt. Der ewig Gutgelaunte, der Olympia-Sieger, der Bayer aus der Alpenpostkarte. Wie es in mir ausschaut, hinter der Fröhlichkeit, darum soll es gehen.

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Meine Familie und ich, wir leben mit der Öffentlichkeit, denn wir leben auch von ihr. Von den Werbeeinnahmen, von den Vorträgen. Unser altbayrisches Freilichtmuseum, das wir ehrenamtlich führen und, um das zu unterstreichen: mit dem wir kein privates Geld verdienen, finanziert sich durch die Besucher, die durch die Schranke kommen. Auch meine Bekanntheit lockt sie an. Wir sind zu Dank verpflichtet, doch wir haben oft genug auch die Schattenseiten der Popularität erlebt. Wenn sonntagmorgens während des Frühstücks ein Bus voller Touristen im Garten hält, weil der Reiseveranstalter einen Besuch »beim privaten Wasi« versprochen hat, ohne dass der private Wasi in seine Pläne eingeweiht war. Wenn ich mit dem Mountainbike unterwegs bin und ein fremder Wanderer grölt: »Wasi, was machste da? Komm her!«, als sei ich ein Alpentier, zum Apportieren gedrillt. Wenn wir mit der Familie im Restaurant sitzen, der Hauptgang steht dampfend auf dem Tisch, aber zwei Besucher darauf bestehen, dass das Erinnerungsfoto genau in diesem Augenblick zu schießen sei.

Es gab immer einen öffentlichen »Wasi« und einen privaten Markus Wasmeier. Das haben wir versucht auseinanderzuhalten, zum Schutz der Familie. Wir sind nicht über die wenige Kilometer entfernte Grenze nach Österreich gezogen oder nach Kanada ausgewandert. Das war nie eine Option. Ich komme aus Schliersee. Hier sind meine Wurzeln, hier ist unser Zuhause, hier bleiben wir. Dieses Buch ist das erste Mal, dass ich bewusst mehr von mir preisgebe, als ich es bisher tat.

Die Krankheit meiner Frau Gitti hat unser Leben verändert. Wir haben schwierige Stunden erlebt, verzweifelte Stunden. Aber wir haben auch viel Positives erlebt – und darum soll es gehen. Die Krankheit hat uns, so paradox das klingen mag, Kraft gegeben. Meine Frau, meine Söhne – wir wollen mit diesem Buch Menschen, denen es momentan nicht so gut geht, auch ein wenig Mut machen. Wir möchten sie darin stärken, für ihre Überzeugung einzustehen. An die Familie zu glauben, an Freunde, an das, was ihnen wichtig ist. Um es mit einem Bild zu beschreiben, das ich gut kenne: Manchmal steht man oben im Starthaus und sieht nichts als einen Wald von Stangen. Manchmal ist die Piste vereist, das Wetter schlecht, und alles schmerzt. Den richtigen Weg und den passenden Schwung zu finden, ist nicht immer leicht. Die Gefahr, einzufädeln und hinzufallen, ist groß.

Doch der nächste Lauf steht bevor.

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KAPITEL 01
MIT DER ZITHER AUF DEN FIDSCHI-INSELN

FAMILIENMENSCH

Meine Familie bedeutet mir viel. Ich brauche meine Familie in meiner Nähe, meine Frau Gitti, unsere drei Burschen, meine Eltern. Neben der Auffahrt zu unserem Haus steht ein Schild: »Dahoam is’, wo dein Herz is’«. Wir wohnen am Rande von Schliersee, einem gemütlichen Ort, typisch Bayern, knapp siebentausend Einwohner. Wie viele Rindviecher es gibt, ist mir nicht genau bekannt. Hinter Schliersee fängt Österreich an, und es geht hoch in die Alpen. Der See hat den Ort berühmt gemacht, und vielleicht auch ich, weil ich auch nach den olympischen Goldmedaillen nicht fortzog und wir hier unser Museum eröffnet haben. Schliersee war für meine Familie und mich immer unser »Dahoam«, etwas anderes stand nie zur Debatte. Wir haben nicht mit dem Gedanken gespielt, nach Kanada zu gehen, nach Südtirol – die Heimat meiner Frau – oder zumindest in einen anderen Ort, in dem wir mehr Ruhe gehabt hätten oder dem Trubel entkommen wären. Die Entscheidung, in meinem Geburtsort zu bleiben, war eine der wichtigsten in meinem Leben. Sie fiel bewusst.

Für mich ist es von Bedeutung, mit der Heimat verwurzelt zu sein. Ich mag meine Heimat. Sie bedeutet mir viel, und ich mag es, ihre Bräuche und Traditionen zu pflegen. Ich mag es aber auch, auf Reisen zu gehen, andere Menschen und Kulturen kennenzulernen. Diese Neugierde habe ich nie abgelegt, und noch heute gibt es für mich nichts Schöneres, als in einem Boot durch Myanmar zu reisen, mit einem Hubschrauber durch Kamtschatka zu fliegen oder eine befreundete Musikergruppe in Kiew zu besuchen. Heimat, der Begriff hat für viele in unserem Land einen seltsamen Zungenschlag, und nach unserer Geschichte ist das auch mehr als verständlich. Ich denke, dass jeder Mensch eine Heimat braucht und einen Bezug zu ihr. Unsere Welt wird immer schnelllebiger, immer hektischer, immer unübersichtlicher. Zumindest ist das Gefühl der meisten Menschen so, angesichts eines Überangebots an Informationen und Möglichkeiten. Der technologische Fortschritt geht voran. Er ist ein Segen. Er kann aber auch ein Fluch sein, wenn Menschen sich verlieren, wenn sie sich abgehängt fühlen. Wenn sie denken, dass sie keine Heimat mehr haben.

Bei den Begriffen »Heimat« und »Bayern« denken viele sofort an Schweinshaxe, Lederhose, Gamsbart und bestimmt auch an das »Jodeldiplom«. Ich finde eben, dass einen bayrischen Mann nichts besser kleidet als seine Lederhose. Warum also sollte ich sie ausziehen, als ich Olympiasieger oder Weltmeister wurde? Um auszusehen wie alle anderen? Um herumzulaufen wie ein Berliner oder ein Hamburger? Und wieso sollte ich mir meinen Akzent abgewöhnen? Ich denke, dass es möglich ist, beide »Welten« zu leben. Mag sein, dass mancher etwas genauer hinhören musste, weshalb man in einer ZDF-Sendung dann den Hinweis »Originalton Süd« einblendete. Na und? Mein Akzent gehört eben zu mir, und so wenig, wie ich mich für irgendjemanden verkleiden werde, möchte ich mich für irgendetwas verstellen. Für mich bedeutet das Bekenntnis zu meiner Herkunft auch ein Stück Selbstbewusstsein. Freiheit ist in meinem Leben etwas ganz Wichtiges.

Der Begriff von »Heimat« ist bei uns auch deshalb oft negativ besetzt, weil er missbraucht wurde. »Heimat« ist für mich nichts Rückständiges. Heimat hat nach meinem Empfinden nur wenig mit Herkunft zu tun, Heimat ist für mich eher ein Gefühl. Ich mag Schliersee. Ich mag daran aber auch, dass der Flughafen Franz Josef Strauß nur eine gute Autostunde entfernt ist. Die eigene Heimat zu schätzen heißt nicht, dass der eigene Horizont an der nächsten Bergwand endet. Im Gegenteil. Ich liebe meine Heimat und versuche, ihre Eigenheiten zu pflegen. Für mich gehört zur Heimat aber auch dazu, sie für andere Menschen liebenswert zu machen. Kulturelle Unterschiede sind etwas Feines.

Hier möchte ich schon ein Beispiel erwähnen, das im späteren Verlauf des Buches ausführlich beschrieben wird. Der vielleicht schönste Sommer für meine Familie war es, als junge Menschen aus der ganzen Welt für ein Vierteljahr zu uns ins Museum kamen. Mein Freund Bobby Dekeyser unterhält eine Stiftung, mit der er junge Menschen fördert. Junge Leute aus den verschiedensten Kulturen kamen zu uns nach Schliersee, um mit uns gemeinsam einen Hof aus dem 17. Jahrhundert aufzubauen. Sie kamen aus Nepal, Indonesien, von den Philippinen, aus Nigeria, Indien, Ruanda, Uganda, aus den USA, Mexiko und der Schweiz. Einige waren noch nie aus ihrem Land herausgekommen, andere hatten noch nie Schnee gesehen. Schon am ersten Tag spürten wir eine Herzlichkeit und ein Miteinander, das uns allen viel bedeutete. Wir wurden die besten Freunde, sehen uns seither regelmäßig wieder. Ein weltweites Netzwerk entstand.

Ich werde manches Mal darauf angesprochen, was ich von der Flüchtlingszuwanderung halte. Ich denke, dass Menschen immer gewandert sind, getrieben vom Wunsch und dem Traum, ein besseres Leben zu haben. Auch wir Deutschen, auch wir Bayern; Migration gibt es, solange es Menschen gibt, und das ist auch gut so. Problematisch für Migranten empfinde ich es nur, wenn die Regeln, die in einem Land gelten und auf die sich eine Gesellschaft geeinigt hat, nicht mehr akzeptiert werden. Was ich nicht nur auf Flüchtlinge beziehe, sondern auch auf Menschen, die in eine neue Region ziehen und sich nicht anpassen wollen. Können Sie sich vorstellen, dass jemand per Gericht das Läuten von Kirchenglocken verbieten wollte? Oder dass jemand in die Nachbarschaft eines Bauernhofes zog, um sich dann über Kuhglocken und das Krähen des Hahns zu beschweren? Ich hielt es auch erst für einen Scherz.

Wer in der Welt unterwegs war, vor allem in Ländern, in denen es den Menschen nicht so gut geht, der lernt zu schätzen, was wir haben. Ich versuche, der Stiftung meines Freundes Bobby zu helfen, der auf der philippinischen Insel Cebu Menschen von einer Müllhalde in ein für sie gebautes Dorf im Urwald umsiedelte. Es sind die Ärmsten der Armen, Menschen, die ein Leben unter Bedingungen fristen, die wir nicht einen Tag aushalten würden. Inmitten des Unrats geht es ums Überleben: Krankheiten, Mangelernährung, Feuer, tollwütige Hunde und Bulldozer bedrohen vor allem die Kinder. Es ist ein Elend, das einen überwältigt und extrem deprimiert. Es lässt einen mit seiner Gewalt, dem Gestank und der Hitze beinahe verzweifeln. Und dennoch: Mich haben die Begegnungen und Gespräche mit diesen Menschen fasziniert (ihnen ist ein Zwischenkapitel gewidmet). Man bekommt von ihnen so viel zurück. Es soll nicht belehrend klingen, doch ein Besuch solcher Umgebungen würde manchem, der bei uns immer etwas zum Mosern und Schimpfen findet, guttun.

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Richtig Spaß: Seifenkistenrennen im Markus Wasmeier Freilichtmuseum. Der Gewinner (über 18 Jahre) bekommt ein Fass Bier, Hausmarke.

SPECKI

Unser Haus am Rande von Schliersee ist ein alter Bauernhof aus dem 15. Jahrhundert, den ich mithilfe meiner Eltern hierhin transferiert habe. Wir sind mit dem gesamten Gebäude umgezogen, einige Kilometer weit, in den Schatten der Schlierseer Hausberge, der Brecherspitze und des Jägerkamps. Ein Haus zu versetzen, ist im Prinzip nichts anderes als ein sehr großes Lego-Spiel. Nur sind die Klötzchen größer und werden genau nummeriert. Ich habe ihn erst abgebaut und dann wieder aufgebaut, mit der Unterstützung von Freunden, meinem damaligen Trainer und Servicemann. Es war kurz vor den Olympischen Spielen von Calgary und kurz, nachdem ich mir in Japan bei einem schweren Sturz in einem Weltcup-Rennen die Wirbelsäule gebrochen hatte. Eigentlich kein optimaler Zeitpunkt für einen solchen Umzug, der mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden ist. Doch ich hatte Hilfe von Familie, Freunden und Nachbarn: Wir haben den alten Hof wieder aufgebaut, jeden Balken, jeden einzelnen Stein. Zugeben muss ich, dass wir noch immer nicht ganz fertig sind, bis heute nicht. In einigen Räumen hängen die Glühbirnen in ihren Fassungen. Ich vermute, jeder Hausbauer kennt das Phänomen.

Ein Bach läuft hinter meinem Haus vorbei, dahinter liegt eine große Wiese mit alten Bäumen. In eine der Kronen haben wir ein Plateau hineingebaut, eine Art Baumhaus, von dem die Buben im Sommer auf ein Trampolin hüpfen. Sie haben damit schon manchen Besucher erschreckt, der dachte, sie springen kopfüber in die Wiese. Trotz meiner ziemlich sportlichen Vergangenheit käme ich nie auf die Idee, aus dieser Höhe einen Abgang zu machen.

Im Sommer, wenn die Blumen blühen, watscheln unsere Gänse Gustav und Gerda und die Laufenten Franzl und Sissi über die Blumenwiese. Auch unsere Hühner sind auf dem Grundstück unterwegs, und der Gockel Muck besteht darauf, auf dem Überrollbügel des Kettcars zu sitzen, wenn die Kinder damit durch die Nachbarschaft rasen. Einmal holte ein Fuchs mitten am Tage ein Huhn, zwei Meter von uns entfernt. Barfuß und in Badehose sprintete ich hinterher: »Du Saugrippe, gib unsere Henn’ wieder her!« Der Fuchs rannte durch zwei Meter hohe Brennnesseln, die ich leider erst als Brennnesseln spürte, als wir am Bachufer ankamen. Er sprang darüber und verschwand in den Sträuchern. Die arme Henne, dachten wir, doch einige Stunden später hörten wir ein Rascheln. Das Huhn hatte überlebt! Allerdings mit einem nackten Hintern, an dem noch eine Feder hing. Und es zog ein Bein nach, wie ein Veteran, der aus der Schlacht kam. Wir päppelten das Huhn auf, und es bekam einen Platz in der Küche. Als es wieder genesen war, mochte es nicht zurück in den Stall und kehrte immer wieder an den Herd zurück, was für Heiterkeit im Haus sorgte.

Eine Zeit lang wohnte Specki bei uns, ein unkastrierter Eber. Er war als Spanferkel ein Geburtstagsgeschenk für meine Frau Gitti, doch wir brachten es nicht übers Herz, Specki schlachten zu lassen. Das Problem war: Specki wuchs und wuchs und wuchs, bis er so gewaltig war, dass wir nicht mehr weiterwussten. Specki hatte ein Format erreicht, dass ich ihn hätte satteln und ins Dorf reiten können. Er war knapp anderthalb Meter hoch und knapp 2,30 Meter lang. Saß man im Auto, und Specki kam vorbei, sah man nur noch eine rosafarbene Wand. Wir suchten eine Lösung und fanden sie in Südtirol, im Ridnauntal. Doch wie bekamen wir ihn möglichst sanft in den Süden? Ein Pferdeanhänger hatte gerade die richtige Größe, und ein Bockbier machte die Reise für Specki lustiger. Ich bat meine Frau Gitti, den Wagen zu fahren. Sollte uns die Polizei anhalten, wollte ich nicht, dass die Bild-Zeitung titelte: »Skandal um Wasi: Ski-Idol beim Schweineschmuggeln erwischt!«

In Südtirol lebte Specki danach auf einem Bauernhof und erlangte regionale Berühmtheit, weil er einfach ein unglaublich großes Schwein war. Die Bäuerin war recht klein gewachsen und kaum zehn Zentimeter größer als er. Specki war handzahm (unsere Kinder sind tatsächlich regelmäßig mit ihm ausgeritten) und ging mit ihr gerne spazieren. Mehreren Zeitungen war das einen Bericht wert.

Auch eine Wollsau namens Lenerl zog in unsere Wohngemeinschaft ein. Sie ging gerne mit uns spazieren und irritierte sämtliche Hunde, die uns entgegenkamen. Es brauchte keine Leine, das Schwein gehorchte uns aufs Wort. Zu unseren vierbeinigen Begleitern gehörte auch ein schwarzes Schaf, das wir mit der Flasche aufzogen und die Kinder Smido Fridolin nannten. Ich weiß nicht genau, ob die Nachbarn irgendwann an der geistigen Verfassung im Hause Wasmeier zweifelten, nehme es aber an. Ich hoffe jedenfalls darauf, schon bald jede Menge Enkel zu bekommen, um den Schmarrn wiederholen zu können.

Es braucht immer wieder einen Specki im Leben.

Neben allem Spaß finde ich auch, dass wir unseren Kindern etwas Wertvolles mitgegeben haben in dieser Zeit: wie besonders, intelligent und sensibel Tiere sind. Besonders die Schweine: Es sind schreckhafte Wesen. Knallte im Haus eine Tür, machte Lenerl vor Schrecken einen Satz. In einer Silvesternacht erschrak sie so sehr wegen des Feuerwerks, dass sie aus dem Gehege ausbrach und sich auf eine Tour durch die Nachbarschaft machte. Die Nachbarn freuten sich auf das Glücksschwein an diesem Tag (zumindest, bis sie den Zustand ihres Gartens sahen). Ein anderes Mal rief die Polizei an: »Haben Sie eine Wildsau, Herr Wasmeier?« »Nein, aber eine Wollsau.« »Gut. Können Sie abholen.« Wir fuhren zur Adresse, wo sich Lenerl gerade in einer Garage über eine Pizza hermachte.

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Wenn ich auf der Autobahn einen Tiertransporter sehe, denke ich seither oft: Wie schrecklich ist das? Muss es sein, dass Tiere Tausende Kilometer weit durch die Gegend gefahren werden und einen solchen Tod erleiden? Wie wir mit anderen Kreaturen umgehen, empfinde ich oft als furchtbar. Ich bin ein strikter Gegner der Art von Massentierhaltung geworden, wie sie bei uns leider Praxis ist. Wenn Fleisch weniger kostet als Gemüse, dann ist etwas gründlich schiefgelaufen. Ich kann es ethisch für mich nicht vertreten. Wenn wir Fleisch kaufen, dann beim Metzger in Schliersee, denn ich möchte wissen, woher das Fleisch auf meinem Teller kommt. Ich muss außerdem wissen, dass es den Tieren gut ging, sonst schmeckt es mir nicht. Ich esse gerne Fleisch, doch seit Specki & Co immer weniger. Wir Konsumenten haben mit unserem Verhalten großen Einfluss und können Dinge, die unverrückbar zu sein scheinen, verändern. Jeder Einzelne von uns kann jeden Tag diese Verantwortung übernehmen. Die Summe vieler kleiner Entscheidungen macht am Ende den großen Unterschied aus.

Unser Leben läuft beschaulich, und man könnte in unserem Garten einen Werbespot für den Tourismusverband Bayern drehen, ohne etwas verändern zu müssen. Bei uns im Haus wird vieles selbst gemacht. Ich habe ja das größte Glück, dass ich von meiner Frau die Südtiroler Küche und von meiner Mutter die bayrische Küche serviert bekomme. In der Küche duftet es häufig nach frisch gebackenem Brot. Ich liebe den Bissen in das warme »Scherzl«, das war schon in meiner Kindheit so. (Für alle Nicht-Bayern: Der »Scherz« ist das Endstück eines Brotes.) Wir kochen täglich und nehmen so viele Mahlzeiten gemeinsam ein, wie es die Terminpläne der Buam zulassen. Das ist wichtig: miteinander ratschen. Verstehen, was im Leben des anderen momentan ein Thema ist. Oft kommen Nachbarn und Freunde vorbei und sitzen mit uns am Holztisch. Meine Frau hat ihr italienisches Lebensgefühl in Schliersee eingeführt, und so kommt es vor, dass das Haus immer voll ist. Ein Espresso oder a Glaserl Wein mit Speck und Schüttelbrot geht immer. Das Schöne ist: Es verlängert den Tag, weil man sich Zeit nimmt.

Im Sommer sitzen wir draußen auf der Bank im Garten und quatschen bei einer Tasse Espresso, im Winter in der Ecke in der warmen Stube. Unser Haus ist ein offenes Haus, Leute kommen und gehen. So muss das sein, so lieben wir das. Als Kind kannte ich die »Praxis der offenen Tür« nicht. Meine Frau Gitti führte sie ein, inspiriert von ihrer Heimat Südtirol. Die Menschen dort gehen viel geselliger miteinander um, tauschen sich aus, lachen miteinander. Was ein kurzer Besuch bewirken kann: Für ein paar Minuten – solange ein Espresso dauert – wird man in eine andere Welt entführt. Es ist wichtig, um Freundschaften und Bekanntschaften zu pflegen und Verständnis für den anderen zu entwickeln. Wie lange es dauert, hängt vom Thema ab, doch meistens sind es kurze Besuche, jeder hat auch noch etwas zu tun. Gitti hat übrigens noch ein italienisches Moment ins Leben von Schliersee gebracht: das Falschparken.

Im hinteren Teil des Hauses, der früher der Stall war, habe ich eine Werkstatt eingerichtet, mit der man einen mittleren Tischlerbetrieb betreiben könnte: Kreissäge, Bandsäge, Profilfräsen, Dickenhobel, Abrichtmaschinen, was man an Maschinen braucht, um ein Haus samt Inneneinrichtung zu bauen. Ich muss dazu sagen: Wir haben viele Maschinen, doch das Haus ist immer noch nicht ganz fertig. Es ist wie beim Jogger, der sich neue Turnschuhe kauft, mit dem festen Vorsatz, endlich regelmäßig laufen zu gehen. Meine Gitti ist wenig begeistert vom Provisorium. »Wenn du mir des Kastl nicht machst, gehe ich zu Ikea«, droht sie dann. Meistens werden die Dinge dann schnell erledigt, denn die Vorstellung, Press-Span aus Schweden in meiner Stub’n zu haben, widerstrebt meiner bayrischen Handwerkerehre.

Ist im Haus etwas zu tun, regeln wir das selbst. Nur dann, wenn es Probleme mit der Heizung und dem Stromkreislauf gibt, muss jemand kommen. Vor Kurzem etwa haben wir die Tenne ausgebaut und das Dach neu belegt. Die Nähe zum Wald hatte den Holzschindeln zugesetzt, es war an der Zeit. Im Haus gleich nebenan, keine hundert Meter entfernt, wohnen meine Eltern. Man muss gleich zwei Mal den Bachlauf überqueren, um zu ihnen ins Haus zu gelangen.

Mein Vater Günther kommt oft auf eine Tasse Espresso vorbei, meine Mutter Johanna bringt Schmalznudeln oder Kuchen. Zu Weihnachten gibt es, ich übertreibe nicht, knapp dreißig Sorten Plätzchen (als sie noch etwas jünger war, brachte sie es sogar auf vierzig, und eine Sorte war köstlicher als die andere). Vielleicht mache ich eines Tages, wenn mir alles andere auf den Keks geht, etwas mit den Rezepten von Mutters Plätzchen. Wobei: Wenn ich sie frage, wie sie das hinbekommt, sagt sie: »Nimm einfach von dem und dem, mehr ist es nicht. Das geht ganz einfach.« Wenn ich es dann probiere, rein nach Gefühl, einfach ein bisschen von dem und dem, dann wird es meistens nichts.

Wir leben mit drei Generationen eng zusammen, nicht unter einem Dach, doch als Großfamilie. Ich genieße es. Familie kann auch anstrengend sein, das ist keine Frage. Wer sagt, dass es irgendwo ein Familienleben gebe, in dem keine Konflikte existieren, lebt in einer Utopie. Eine Familie bedeutet Arbeit, das ist so. Eine Familie erfordert Geduld, Rücksichtnahme, Toleranz. Eine Familie geht einem manchmal gehörig auf die Nerven, doch für mich ist sie das Einzige, was zählt. Meine Familie ist das Wichtigste in meinem Leben. Sie hatte immer Priorität für mich. Mit 31 Jahren habe ich meine Karriere als aktiver Skirennläufer beendet. Manche meinten, dieser Schritt sei zu früh gewesen, nicht wenige rieten mir davon ab. Ich war doch gerade zweifacher Olympia-Sieger geworden, ich sollte lieber noch ein paar Jahre dranhängen, um dies auszukosten. Ich sei noch nicht fertig. Ich sollte auch an die Sponsoren denken. Körperlich war ich trotz diverser Blessuren und den Folgen von Stürzen noch dazu fähig gewesen. Hätte ich noch mehr Geld verdienen können? Vielleicht? Bestimmt. Egal!

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Seit 1991 glücklich verheiratet: Gitti und Markus Wasmeier.

Was jetzt so klar klingt, brachte mich seinerzeit aber doch ins Grübeln. Auch ich hatte an manchen Tagen starke Zweifel, ob meine Entscheidung richtig war. Ich trainierte zunächst mit großer Intensität und Härte heimlich weiter. Sollten die Selbstzweifel noch größer werden, wollte ich von meinem Rücktritt zurücktreten. Im Herzen bin ich immer ein Rennsportler geblieben, und die Aussicht, auf den Kitzel des Wettkampfs verzichten zu müssen, auf die Anspannung und das Adrenalin, behagte mir überhaupt nicht. Mir ging es wie vielen Spitzensportlern: Die Frage, wie mein Leben weiterging nach einer Karriere, der man alles untergeordnet hatte, beschäftigte mich lang. Ich kenne mehrere Kollegen aus anderen Sportarten, die im Stillen mit sich hadern, weil sie diese Frage für sich nicht beantworten können.

Mein Herz sagte mir aber, dass ich meine Kinder aufwachsen sehen wollte, und dies war für mich schließlich wichtiger als die Aussicht auf einen weiteren Weltmeistertitel und den nächsten großen Werbevertrag. Markus, mein ältester Sohn, war neun Monate alt, als ich den Zirkus namens Ski-Weltcup verließ. Lukas, der zweite Sohn, war gerade auf die Welt gekommen. Von diesen neun Monaten seines Lebens hatte ich nur wenige Wochen mitbekommen, denn zu diesem Zeitpunkt bestand mein Leben aus Sport, aus Sport und aus noch mehr Sport. Mehr als dreihundert Tage im Jahr war ich auf Reisen: Ich raste zwischen Europa, Nordamerika, Südamerika und Japan hin und her, ein Leben aus Koffern zwischen Skipisten und Flughäfen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich habe diese Zeit gemocht, ich habe sie geliebt – doch nun begann für mich ein neues Kapitel.

Eine Familie gibt Halt und bietet ein Auffangnetz. Ein Elternhaus vermittelt, worauf es wirklich ankommt im Leben. Das sah ich nun als meine Aufgabe an. »Dahoam« geht es um Toleranz, um Liebe, um die Vermittlung von Werten. Mir kommt die Rolle der Familie in vielen gesellschaftlichen Diskussionen unserer Tage zu kurz. Ich war froh, dass sich meine Frau um die Kinder kümmern konnte und sie nicht von fremden Menschen in einer Krippe über den Tag gebracht wurden. So konnten wir alle unseren Kindern näher sein. Wenn die Schule beginnt, beginnt sowieso eine neue Zeitrechnung. Jede Familie weiß sofort, was ich meine.