Das Raunen der Flammen

Das Raunen der Flammen

Helena Gäßler

Für Sarah

Weil du es immer wieder schaffst,

mich an das Unmögliche glauben zu lassen.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Danksagung

Über den Autor

Prolog

Ich wollte nie die Heldin sein. Retterin hat man mich genannt, Auserwählte. Was für ein absoluter Schwachsinn!

Ich glaube nicht an die Ammenmärchen von der einen Auserkorenen, die von Geburt an dazu bestimmt ist, die Welt zu retten. Ich denke, es kommt vielmehr darauf an, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Oder in meinem Fall eher zur falschen Zeit am falschen Ort

Nennt es Schicksal, wenn ihr wollt, ich werde definitiv bei Zufall bleiben – höchstens Pech könnte besser beschreiben, was mich in diese Lage gebracht hat. Zoraya, die Heldin. Dass ich nicht lache.

Alle sind so besessen von ihren Helden.


Es zieht sich durch die ganze Geschichte. Von dem Moment an, in dem meine Vorfahren vor unendlich langer Zeit auf einer kleinen einsamen Insel landeten. Damals, als sie Wesen irgendwo zwischen Mensch und Affe waren und ihre zukünftige Zivilisation nur ein Konstrukt aus Hoffnungen und Träumen. Jeder ihrer Tage war ein Kampf ums Überleben, denn die Insel spuckte unablässig Feuer, Asche und Gestein

Sie begannen, den Berg anzubeten, machten ihn zu ihrer Gottheit und brachten ihm Opfer dar, um seinen Zorn zu mildern. Und unter der Hitze ihrer Heimat verloren sie ihr Fell. Im Schein der Lava lernten sie, das Feuer zu bändigen und Tiere zu erlegen; sie erlernten Sprache, Kunst und Gesellschaft. Dies ist lange, lange her. So alt sind die ersten Sagen. So alt sind die ersten Helden der Menschheit.

Später, als sie neues Land erreichten, hielten sie sich selbst für die Helden aus ihren Geschichten. Sie brachen in kühlere Gebiete ein, erlernten Ackerbau, Viehzucht und Schmiedekunst. Und Stolz. Stolz auf ihre Herkunft, Stolz auf ihren uralten Feuergott, ihre Anführer und ihre Legenden

Warum will jeder den Helden spielen? Habt ihr euch schon mal gewünscht, ihr könntet euer langweiliges Leben gegen Ruhm und Abenteuer eintauschen? Gegen Reisen, Gefahr und Anerkennung? Vielleicht sogar gegen die große Liebe? Absoluter Humbug.

Held sein, das ist zunächst einmal nicht so golden glänzend, wie man sich das vorstellt. Held sein ist grau vom Staub der Straße, braun vom Schlamm des Schlachtfelds und rot von Blut. Dem eurer Feinde, eurer Freunde – oder eurem eigenen. Ihr dürft euch aussuchen, was euch lieber ist. Haha, reingelegt! Dürft ihr nicht. Am Ende habt ihr von jedem davon an euren Händen kleben.

Viel schlimmer ist es jedoch, nichts als ein Spielball zu sein. Ein Spielball der Reichen und Mächtigen, hin und her geworfen wie ein kleines Holzschiffchen auf einem Gebirgsbach. Ihr müsst kämpfen, töten, euer Leben riskieren – für Ziele, die niemals eure eigenen waren

Klar, am Ende bekommt ihr den Ruhm. Beziehungsweise: Das Bild, das die Leute von euch haben, erhält den Ruhm. Der Schatten euer selbst, den die Massen vergöttern. Ihre Chance, Verantwortung abzuwälzen. Der Trottel, der freiwillig für sie in die Bresche springt. Selbstverständlich jubeln sie euch zu, beschmeißen euch mit Blumen und Geld. Was sind schon ein paar Rosen als Bezahlung für einen menschlichen Schutzschild? Ein paar Groschen für einen willenlosen Sklaven, der sich bereit erklärt, sämtliche Probleme der Welt auf sich zu nehmen?

»Das stimmt so nicht!«, denkt ihr jetzt, und ich weiß schon, was ihr sagen wollt. Wie wäre es mit: »Am Ende besiegt der Held das Böse!« Glaubt ihr? Glaubt ihr das wirklich? Ich verstehe schon, man will daran glauben. Allerdings gibt es da ein paar Schwachstellen. Zum Beispiel, was ist »das Böse« eigentlich? Glaubt mir, damit fange ich besser gar nicht erst an.

Es reicht schon alleine die Frage: Wie? Das Böse ist in den meisten Geschichten übermächtig, der Held ein Nichts dagegen. Wie ein Funken Hoffnung in der Dunkelheit … Seien wir mal ehrlich. In der Realität erlöschen Funken ganz, ganz schnell.

Was das mit mir zu tun hat? Ich sollte das Land retten. Besser gesagt seinen König. Es hatte eine Prophezeiung gegeben, die seinen Sturz ankündigte. Wovor er beschützt werden musste, wurde dabei mit keinem Wort erwähnt. Sicher nicht vor den Monstern, die unser Land heimsuchten. Die Einzigen, die darunter leiden mussten, waren die gewöhnlichen Leute. Den König in seinem prunkvollen Palast, hinter den hohen Mauern, was scherten ihn die paar Bestien, die in Scharen über seine Besitztümer herfielen? Im letzten Jahr hatte er keinen Finger gerührt, als die große Hungersnot herrschte.

Warum sollte ich den König retten? Ich hatte ihn nie sonderlich gemocht und mein Bild von ihm hatte sich im Laufe der Zeit nicht gerade gebessert. Im Gegenteil. Ein Machtwechsel hätte dem Land vielleicht ganz gutgetan. Ich konnte ja nicht einmal seinen Sohn leiden, diesen Idioten von einem Thronfolger. Nur weil jemand den König zu Fall bringt, um dessen Platz einzunehmen, muss derjenige nicht automatisch ein fürchterlicher Tyrann werden.

Aber so sind die Geschichten. Der alte König ist ein guter, weiser Mann. Der Held ist tugendhaft und furchtlos. Die Dinge nehmen ihren vorgeschriebenen Lauf und die Monster sterben wie die Fliegen. Habt ihr euch nie gefragt, ob die Geschichten wahr sind? Habt ihr euch nie gefragt, ob sie es sein können?

Ich will euch die meine erzählen. Die ehrlichste Heldensaga, die ihr je gehört habt. Ich kann euch nicht einmal ein glückliches Ende versprechen – im Moment sieht es eher schlecht für mich aus. Bald wird es vorbei sein, denke ich. Fast macht mich das froh. Ich wollte nie die Heldin sein.


Die ganze Geschichte begann geradezu lächerlich beschaulich, mit einem verlockenden Beerenstrauch auf der anderen Seite eines Flusses, inmitten einer malerischen Berglandschaft. Dann wurde alles sehr schnell sehr viel komplizierter.

Und egal wie das hier letztlich enden wird, eines kann ich euch versprechen: Meine große Liebe werde ich dabei gewiss nicht finden.

Kapitel Eins

Es war einige Tage vor Samaras, dem Frühlingsfest. Samaras ist der größte Feiertag bei mir in den Bergen. Man feiert den Sieg des Lichts über die Dunkelheit, man feiert den Anfang des Sommers. Und man feiert, einen weiteren Winter überlebt zu haben.

Das Leben vor und nach Samaras könnte unterschiedlicher nicht sein. Die Winter sind lang und hart, es ist furchtbar kalt und in der Speisekammer herrscht eine gähnende Leere. Ich hatte schon ein Brüderchen, das seinen ersten Schnee nicht überstanden hat. Genau aus diesem Grund bekommen die Kinder in den Bergen erst zu Samaras ihre Namen

Zudem ist der Herbst die Zeit des Schlachtens. Niemand kann es sich leisten, die ganze Herde durch den Winter zu bringen. Vor dem ersten Frost sind die Tage mit Blut und Tod gefüllt. Die dunkle Jahreszeit ist grausam.

Im Sommer hingegen … Im Sommer ist es ein Leben wie im Paradies. Der Schnee schmilzt und klare Bächlein bahnen sich ihren Weg ins Tal. Wenn die Weiden grün und saftig sind und überall kleine Blumen sprießen, treibt man die Herden die Hänge hinauf. Man setzt sich auf einen großen Felsbrocken, lässt die Beine baumeln und spürt den Wind im Haar. Unter einem grasen friedlich die Schafe, während man den Blick davongleiten lässt, hinab ins Tal. Auf die dunklen, dichten Wälder hinunter. Auf die sanften Hügel. Bis ganz hinten, am Horizont, die Ebene beginnt und die Landschaft zu einem diesigen Blau verschwimmt.

Doch man ist hier, hier oben, auf dem Gipfel der Welt. Und wenn der Schrei des Bussards von den Felsen widerhallt, fühlt es sich an, als würde all das nur einem selbst gehören.

Abends, wenn die Sonne in der Ferne untergegangen ist, versammelt sich die Familie um das Lagerfeuer. Es wird gegessen, geredet, gelacht. Und es werden Geschichten erzählt. Zunächst nur Alltägliches, später, wenn die Kälte langsam mit ihren dünnen Fingern nach einem greift, folgen die Gruselgeschichten. Bis das Feuer ganz heruntergebrannt ist und man sich spät in der Nacht um das sanfte Licht der Glut drängt, denn erst dann lauscht man den alten Sagen

Danach hüllt man sich in warme Felle und schläft unter dem sternenklaren Nachthimmel ein. Am nächsten Tag treibt man die Herden weiter. Das Leben ist schön im Sommer.

Was das mit meiner Geschichte zu tun hat? Nur mit der Ruhe

Im Sommer gibt es Nahrung im Überfluss. Die Lämmer kommen zur Welt, die Blüten der Obstbäume fallen zu Boden und weit unten im Tal färbt sich das Getreide langsam golden. Es gibt Milch und Fleisch, Brot, Kuchen, saftiges Obst und Gemüse, frische Kräuter und Wein. Deshalb ist es üblich, zu Samaras die Vorratskammern zu leeren. Es gibt keinen Grund mehr, zu horten – was übriggeblieben ist, kann an einem einzigen Tag verspeist werden. Traditionell gibt es dazu eine süße Milchspeise mit den ersten Beeren des Frühlings.

Und wie versprochen beginnt meine Geschichte mit einem unwiderstehlichen Beerenstrauch auf der anderen Seite des Flusses.


Obwohl ich bereits den ganzen Vormittag unterwegs gewesen war, hatte ich nicht viel gefunden. Mein Körbchen war fast leer und wir würden dieses Samaras eine Menge Gäste erwarten. Ich starrte also für eine Weile sehnsüchtig hinüber zu dem vollen Strauch am anderen Ufer. Nur ein paar Meter und die zu den Zeiten der Schneeschmelze peitschenden Wellen des Flusses Raico trennten mich von einem gelungenen Nachtisch. Ich verfluchte den Prinzen dafür, dass er sich gegen den Bau einer Brücke eingesetzt hatte, und beschloss, dass ich diese Beeren brauchte. Was war schon dabei? Ich musste nur ein paar Hundert Meter weiter flussabwärts. In dem kleinen Städtchen Dufferingen gab es eine Brücke. Die Ernte dort drüben würde ausreichen, meinen Korb zu füllen, ich war bester Laune – wo lag das Problem?

Oh niedliches, naives Ich

Ein schmaler Trampelpfad führte nach Dufferingen, ein heimeliges Städtchen, das überall in der Gegend für seine guten Gasthäuser bekannt war. Reichliche Mahlzeiten, große Ställe, freundliche Bedienung und weiche Betten, in denen kaum Wanzen vorzufinden waren. Es gab gleich drei solcher begehrten Unterkünfte in dem kleinen Ort: den Goldenen Löwen, die größte und teuerste, die Adlerschwinge, ganz oben am Hang und mit einer tollen Aussicht, und Zum Lachenden Mönchen, wo neben viel gutem Wein reichlich gutes Bier ausgeschenkt wurde. An ebendiesem Lokal, das so kurz vor Frühlingsbeginn erst recht an eine Kneipe erinnerte, musste ich vorbei. Und als ich so beschwingt und an nichts Böses denkend zwischen den hellen Steinhäusern hindurch an der weißen, mit Weinranken überwucherten Fassade vorbeischlenderte, passierte es

Ein großer, kräftiger Mann torkelte offensichtlich angetrunken aus der Tür. Er machte ein paar unbeholfene Schritte, knallte fast mit einem Steuertransporter zusammen und zückte plötzlich ein Messer. Während ich damit beschäftigt war, verwirrt langsamer zu werden, ging er laut, dafür umso undeutlicher schreiend auf den Fahrer los

Der Transporter bestand aus einer schmucklosen offenen Kutsche. Sie war beladen mit einigen Säcken Getreide, mehreren wesentlich kleineren Säckchen Gold und ein paar Krügen Wein und wurde von einem außergewöhnlich schreckhaften Pferd gezogen. Denn in der Sekunde, als der Räuber zu schreien begann, scheute das Tier, bäumte sich auf, schmiss den Karren um, riss sich los und stob davon. Der Kutscher wurde von seinem Sitz geschleudert, landete unter seinem eigenen Wagen und schrie schmerzverzerrt auf. Eine Passantin fiel kreischend mit ein. Der ohne Zweifel nur leicht angeheiterte Bandit versuchte sich in der allgemeinen Unruhe Gehör zu verschaffen, indem er das Geschrei lautstark übergrölte. Als das ohrenbetäubende Gebimmel der Alarmglocken dazukam, hatte er genug.

Die Alarmglocken waren der Hauptgrund für die – großzügig ausgedrückt – eher lasche Sicherung des Steuertransports. Innerhalb eines Ortes konnte man zwecks leichterer Verladung hart erarbeiteter Ernten gerne mal die Ladefläche offenlassen, denn jedes Haus besaß eine Glocke. Die Bürger waren verpflichtet, diese zu betätigen, solange sie sich in Sichtweite eines Gesetzesverstoßes oder einer Gefahrenquelle befanden. Was unter uns gesagt besonders bei Letzterem in den meisten Fällen keine gute Idee ist. Wenigstens wussten auf diese Weise die überall stationierten Wachmänner stets, wann und wo ihre Präsenz gefragt war

Gerade rechtzeitig zum Eintreffen von einem dieser blau-weiß uniformierten Wächter kam der Räuber auf eine für seinen Zustand erstaunlich geistreiche Idee. Er nahm eine Geisel.

Tja, und so wurde ich damals zur Heldin. Was? Nein, ich habe die Geisel nicht mit viel Brimborium vor ihrem schrecklichen Schicksal gerettet. Das wäre in der Tat eine nette Art gewesen, zur Heldin zu werden, und eine Lüge obendrein. Ich konnte gar nicht ausziehen, um den Retter zu mimen. Ich war die Geisel.

Es war keine gute Idee gewesen, stehen zu bleiben, um die Ereignisse besser verfolgen zu können. Ich wurde grob am Oberarm gepackt, mit Gewalt zurückgezogen und bekam eine scharfe Klinge gegen meinen Hals gepresst. Ich verstand zunächst gar nicht, was vor sich ging. Erst als der stechende Schmerz an meiner Kehle langsam die ersten Blutstropfen hervorbrachte, wurde mir der Ernst meiner Lage klar.

»Wenn einer von euch verscheuerten Vollidioten auf die Idee kommt, mir su folgen, dann werd’ ich … dann werd’ ich der Dings … dem Gör hier die Kehle aufmachen, darauf könnt ihr euch wetten!«, erklärte der Bandit lallend. Ich starrte in die schockierten Gesichter der Schaulustigen, die dem Ruf der Alarmglocke gefolgt waren. Panik stieg in mir auf. Was, wenn einer von ihnen uns folgen würde? Ich betete inständig, dass all die Leute so feige waren, wie sie dreinblickten, denn das Messer an meinem Hals war ganz und gar kein Witz

Der Räuber beugte sich nach unten, um nach den Goldsäckchen zwischen den zerbrochenen Krügen zu tasten. Ich wurde dabei unsanft durch die Gegend geschoben – ich erinnere mich gut, wie ich mich an seinen Arm klammerte, um nicht unabsichtlich in die Klinge gestoßen zu werden. Er wurde fündig, richtete sich auf und zog mir den Knauf des Messers so heftig über den Kopf, dass ich ohnmächtig zusammensank.

Augenzeugen zufolge warf er mich über seine Schulter und entfernte sich dann, undeutliche Drohungen von sich gebend, in den Wald.


In meinem Gedächtnis finden sich nur Bilder des Waldbodens, der über mir schwankte, der Gedanke an ein unaufhörliches Pochen in meiner Schläfe und der Geruch. Altes Leder, Schweiß und der beißende Gestank von Alkohol. Irgendwann muss ich die Augen zusammengepresst haben, um mich nicht vor lauter Schwindel zu übergeben.

Bis ich richtig zu mir kam, könnten Stunden vergangen sein. Ich erwachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen, verschwommener Sicht und absolut keiner Ahnung, wo ich mich befand und wie ich dort hingekommen war. Eine einzige erschreckende Erkenntnis breitete sich mit unbestreitbarer Klarheit in meinem Kopf aus: Ich konnte mich nicht bewegen. Ich wollte schreien, aber es kam kein Laut heraus. Für einen winzigen Moment war ich fest davon überzeugt, gelähmt zu sein. Dann begann ich langsam zu begreifen, was los war.

Mit meinem schleichend klarer werdenden Blick betrachtete ich misstrauisch meine verschwommene Umgebung. Ich befand mich auf einer Lichtung, ringsum hohe Fichten und Buchen, dazwischen jede Menge Gestrüpp. Ein paar Meter entfernt lag das Diebesgut auf einem fein säuberlichen Häufchen, von meinem Entführer war keine Spur zu sehen. Vielleicht sah er sich gerade um, ob die Luft rein war, oder er musste ein paar Dinge besorgen, die er für seine Flucht benötigte.

Mein Mund war ganz trocken, weil jemand ein paar alte, stinkende Lumpen hineingestopft hatte. Gut! Wenn er Angst hatte, dass ich Leute mit meinen Schreien alarmieren könnte, mussten wir uns in der Nähe der Stadt befinden. Oder er wollte nicht, dass mich eventuelle Verfolger oder nichtsahnende Passanten hören konnten. Zu viel Optimismus steht mir nicht.

In beiden Fällen hatte ich nur ein knappes Zeitfenster, um mich zu befreien und abzuhauen. Es sah nicht so aus, als wäre uns jemand gefolgt, der mir helfen könnte. Vielleicht hatten sie zu viel Angst um mich, wahrscheinlicher jedoch eher um sich selbst.

Ich besah meine Lage genauer. Ich saß auf dem Boden, geknebelt, den Rücken an einen Baum gelehnt. Meine Arme waren hinter dem Stamm fixiert, durch dasselbe dicke Seil, das sich um meinen Bauch schlang. Meine Beine waren mit einem zweiten Strick an den Knöcheln zusammengebunden. Bis auf eine bald stattliche Beule und einen Schnitt am Hals hatte ich keine Schäden davongetragen.

Ich versuchte vergeblich, meine Hände durch Winden und Ziehen freizubekommen, die Knoten saßen zu fest. Stattdessen stieß ich mit den Fingerspitzen gegen einen Stein, der halb im Boden steckte. Mit einer Fingerkuppe fuhr ich über eine scharfe, gezackte Kante. Ha! Was für ein Anfängerfehler! Jedes Kind weiß, dass man mit spitzen Steinen Fesseln durchschneiden kann

Davon abgesehen, dass das nicht funktioniert. Glaubt mir, ich habe es versucht. Es ist schier unmöglich, mit gefesselten Händen Sägebewegungen zu machen, ganz zu schweigen davon, dass das ein gutes Seil in irgendeiner Form interessieren würde

Ich stellte jedoch fest, dass es möglich war, die Rinde abzukratzen. Der Baum musste kränklich sein, außen schon weich und modrig. Ich brauchte nicht lange, um eine flache Mulde freizukratzen, nur ein Stückchen unterhalb meiner gefesselten Hände. Ich wurde mit jeder Bewegung aufgeregter. Wenn mein Entführer jetzt zurückkam, würde ich meinen Fluchtversuch nicht mehr verbergen können. Mir blieb nur zu hoffen, dass er sich entweder Zeit ließ oder in seinem Suff nicht zu Wutausbrüchen und Gewaltanwendungen gegenüber hilflosen Gefangenen neigte.

So war es mir egal, wie schmerzhaft es war, meine Hände nach unten in die Mulde zu quetschen. Es war mir egal, ob ich meine Handgelenke an der rauen Rinde aufscheuerte, ich wollte nichts als weg von hier. Sobald meine Hände die Vertiefung erreicht hatten, lockerten sich die Fesseln kaum merklich. Mit einigen Anstrengungen gelang es mir, die erste Hand zu befreien, die zweite konnte ich ohne Schwierigkeiten herausziehen

Ich streifte den Strick über meinen Kopf, um auch meinen Oberkörper freizubekommen. Dann riss ich mir den widerlichen Lappen aus dem Mund und hustete ein paar Mal trocken, während ich mit steifen Fingern meine Fußfesseln löste. Ich achtete gar nicht auf das Blut an meinen Händen, denn ich hatte Geräusche gehört. Geräusche, die verdächtig nach einem großen Menschen klangen, der sich behäbig seinen Weg durch das Unterholz bahnte. Da ich keine Lust hatte, einem gewissen – von mir wahnsinnig geschätzten – Herrn zu begegnen, galt es nun, keine Zeit zu verlieren. Ich sprang auf, was bei meinem angeschlagenen Kreislauf keine glänzende Idee war, mein Sichtfeld füllte sich sofort mit Sternchen. Normalerweise wäre ich in so einer Situation stehen geblieben, hätte tief durchgeatmet und geduldig abgewartet, bis sie sich auflösten. Jetzt schnappte ich mir die Säckchen und rannte los.

»Verdammt!«, erklang hinter mir ein wütender Schrei. Ich war entdeckt worden.

Ein idyllischer kleiner Waldweg führte von der Lichtung ab und garantiert ins nächste Dorf. Zielsicher steuerte ich daran vorbei. Um meine Verfolgung schwieriger zu gestalten, stürzte ich mich geradewegs ins Unterholz. Leider bestand das nicht nur aus Maiglöckchen, Farn und Efeu, sondern zudem aus Brennnesseln, Steinen und Brombeerhecken

Da ich damit beschäftigt war, um mein Leben zu rennen, beeindruckte mich das nicht weiter. Egal, wie oft ich über Felsbrocken und Wurzeln stolperte, in der nächsten Sekunde war ich stets zurück auf den Beinen und hastete weiter. Ich zerriss mein Kleid, schürfte meine Knie auf und überzog dank dem Kontakt mit meterhohen Brennnesseln große Teile meiner Haut mit schmerzhaften Pusteln. Allein die aufgebrachten Schritte hinter mir ließen mich nicht langsamer werden. Selbst dann nicht, als mir eine Dornenranke quer durchs Gesicht schlug. Das näherkommende Fluchen und die brechenden Äste trieben mich weiter und weiter, schwer atmend kämpfte ich mich durch das Gestrüpp.

Erst als ich plötzlich aus dem Wald brach und mich auf einer Weide oberhalb Dufferingens wiederfand, kam endlich Erleichterung in mir auf. Die Schritte hinter mir verstummten schlagartig. Ich rannte trotzdem weiter, mit den Händen fest das Gold umklammernd, und sah mich dabei hektisch um. Erleichtert stellte ich fest, dass er mir nicht aufs freie Feld hinaus folgte.

Auf meiner Flucht habe ich einige Goldmünzen verloren und ich stelle mir gerne vor, dass es heute deshalb ein paar überaus glückliche Kinder gibt, die an Feen glauben.


Es wurde bereits Abend, als ich schwer geschunden in Dufferingen ankam. Ich muss furchtbar ausgesehen haben, verdreckt, zerkratzt, todmüde. Trotzdem waren die Bewohner begeistert von meinem Anblick, und sichtlich froh darüber, dass ich ganz ohne ihre Hilfe lebendig davongekommen war. Eine Flut aus aufgeregten Fragen prasselte auf mich nieder.

»Was ist passiert?«, wollte ein älterer Mann mit Hut wissen. »Geht es dir gut, Kind?«, erkundigte sich seine Frau und strich mir besorgt über die Wange. Bevor ich ihnen antworten konnte, wurde ich von einem überschwänglichen Mann in die Höhe gerissen

»Wie hast du das denn geschafft? Alle Achtung, dieses Mädchen hat was auf dem Kasten, sag ich euch! Unsere Heldin!«, grölte er begeistert. Sein Kumpel schnappte sich meine Beine und gemeinsam hoben sie mich über ihre Köpfe. »Das Mädchen ist zurück! Und sie hat das Gold mitgebracht. Sie hat dem Entführer das Gold abgeluchst!« 

Jubelnd trugen sie mich zum Wirtshaus und viele der Passanten folgten uns. Am Ort meiner Entführung hatte sich neben den üblichen Stammgästen eine ganze Menge Leute angesammelt, die die Ereignisse heftig diskutierten. Als ich durch die kleine Tür ins Innere der Schänke gedrängt wurde, verstummten sie überrascht.

»Zoraya!«, schrie meine Mutter und es klang zornig, nicht erleichtert. Als hätte sie mir schon tausend Mal verboten, mich mit Räubern und Entführern herumzutreiben. Dennoch brach sie in Tränen aus und fiel mir um den Hals. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Ich dachte schon, ich hätte dich verloren«, flüsterte sie in mein Haar und begann unkontrolliert zu schluchzen. Ich klammerte mich an sie und atmete ihren vertrauten Geruch ein. Erst jetzt spürte ich, wie mein Herzschlag langsam zur Ruhe kam.

Nach einer Weile lösten wir uns voneinander. Meine Mutter straffte ihre Schultern, pflückte ein Blatt aus meinen Haaren und schüttelte verächtlich den Kopf. »Man könnte meinen, dass die Wache energischer vorgeht, wenn die Sicherheit der Bürger auf dem Spiel steht.« 

Ich entdeckte das Gesicht des Wachmanns in der Menge. Den Ausdruck darauf als erleichtert zu beschreiben, wäre eine maßlose Untertreibung gewesen. Ich musste lachen, so lebhaft konnte ich mir vorstellen, wie sie den armen Kerl zur Schnecke gemacht haben musste, weil er meine Entführung nicht verhindert hatte

Erleichtert wirkte auch der Steuereintreiber, der seinen Arm jetzt in einer Schlinge trug; er hatte sich beim Überfall ernsthaft verletzt. Ich überreichte ihm stolz die Goldmünzen und er dankte mir feierlich im Namen des Königreichs und seiner Majestät

Dann spendierte mir der Wirt ein üppiges Abendessen und einen Krug Wein, den mich meine Mutter, vor Freude von Sinnen, alleine austrinken ließ. Ich wurde den ganzen Abend über von einer wahren Horde Neugieriger umringt, und während ich mir meine wohlverdiente Mahlzeit schmecken ließ, erzählte ich meine Geschichte. Wieder und wieder und wieder. Die Zuhörer wollten mir nicht ausgehen. Jeder verlangte meine Verletzungen sehen, meine Beule, meine blutigen Handgelenke und besonders den Schnitt an der Kehle.

Nach und nach erzählten andere Augenzeugen ihre Versionen des Ereignisses, in denen es hauptsächlich um ihren eigenen Schock und ihre große Sorge um mein Wohl ging. Ein paar stellten sich als nützlich heraus, da sie die Lücken in meiner Erzählung füllten: Sie berichteten über einen Streit im Wirtshaus, da der Entführer seine Rechnung nicht bezahlt hatte, und davon, wie er meinen bewusstlosen Körper in den Wald geschleppt hatte. Die meisten Leute beteuerten dagegen nur, wie es ihre Seelen zerrissen hätte, mir nicht helfen zu können. Sie wären selbstverständlich sofort zu meiner Rettung geeilt, wenn sie sich nicht befürchtet hätten, mich dadurch weitaus schlimmeren Gefahren auszusetzen. Selbst solche scheinheiligen und selbstverliebten Geschichten konnten mir an dem Abend nicht die Laune verderben. Die Stimmung war heiter, der Alkohol floss in Strömen und ich wurde gefeiert wie eine Heldin. »Auf Zoraya!«, schallte es jedes Mal durch den Raum, wenn die Bierkrüge aneinanderstießen

Damals genoss ich das Ganze. Mein Lieblingsmoment war, als ich mich scherzhaft bei meiner Mutter für die fehlenden Beeren entschuldigte. Fröhliches Gelächter umbrandete mich und der Wirt schickte sogleich einen seiner Jungen in den Wald, um meinen Korb bis zum Rand mit den süßesten und prallsten Beeren zu füllen, die er finden konnte

An diesem Abend fiel ich völlig erschöpft und berauscht von Wein, Übermut und Jubel in mein Bett. Ich war zufrieden mit mir und der Welt. Nachts träumte ich von weiteren Heldentaten. Ich rettete ganze Legionen von hilflosen Gefangenen und von überall im Land kamen Menschen, um mich zu sehen und mich mit Blumen, Gold und Lobpreisungen zu überhäufen

Ich konnte ja nicht ahnen, dass in der Tat einige »Heldentaten« folgen sollten. Und dass sie für mich einem Albtraum gleichen würden


Es vergingen einige Tage und der Morgen von Samaras brach herein. Ich stand mit der Sonne auf. Es war kühl draußen, das Gras war nass vom Tau, dennoch bildete ich mir damals ein, schon den Frühling in der Luft schmecken zu können.

Ich liebte den Morgen in den Bergen. Wenn die ersten Strahlen der Sonne die schneebedeckten Gipfel erstrahlen ließen, die Vögel zaghaft zu singen begannen und der Nebel sich ins Tal zurückzog, fühlte ich mich am wohlsten. Ganz langsam schälte das sanfte, rosige Licht die Berggipfel aus der Dunkelheit. Die Welt war still und friedlich und die Luft war so frisch wie sonst nur nach langen Regenfällen

Nur Luna war schon wach.

»Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?«, erkundigte ich mich, als sie sich zu mir gesellte.

Luna war eine bezaubernde, schwarz-weiße, flauschige alte Dame und der beste Schäferhund, den wir je hatten. Ich kannte sie schon aus der Zeit, in der sie auf eine einzige Hand meines Vaters gepasst hatte. Sie begleitete mich jeden Morgen, wenn ich Wasser holen ging. Ruhig trottete sie hinter mir her, still, sanft und verlässlich. Sie war einfach immer da.

Das Wassertragen war eine anstrengende Arbeit, besonders heute, da wir so viel mehr Eimer als sonst brauchten. Ungeachtet dessen war es seit Jahren meine Lieblingsaufgabe. Der Morgen gab mir Raum zum Denken.

Als ich endlich mit dem letzten Eimer zurückkam, Luna auf den Fersen, war bereits Bewegung ins Haus gekommen. Es dauerte sonst länger, bis die anderen auf den Beinen waren – ich war die Einzige in meiner Familie, die die Magie des Morgens schätzte. Heute jedoch scheuchte meine Mutter die anderen schon seit Tagesanbruch durch die Gänge: waschen, anziehen, Vorbereitungen treffen. Ich huschte durchs Treppenhaus nach oben in mein Zimmer und als ich hinunterkam, trug ich mein Festtagskleid. Es war aus herrlich leichtem Stoff, nicht so kratzig wie meine Arbeitskleidung und in einem warmen Rot gehalten. Leider war es ansonsten hauptsächlich alt und kitschig. Überall waren Schleifchen und Spitze angebracht und an den Rändern franste es bereits aus. Ich liebte es trotzdem. Jemand drückte mir eine Schüssel in die Hand und jagte mich nach draußen.

Ich erinnere mich an jedes Detail dieses Tages. Es war wie jedes Jahr, in dem wir Gastgeber spielten. Meine Mutter stand in der Küche, kochte mehrere Gerichte gleichzeitig und wurde dabei von Minute zu Minute unausstehlicher. Man beeilte sich, unbemerkt an der Küchentür vorbeizukommen, und dennoch blieben jedes Mal zwei, drei Aufgaben an einem hängen. Während meine kleine Schwester und ich unablässig Gemüse schnippelten, in Töpfen rührten und Speisen auf die lange Tafel im Garten auftrugen, war mein Vater mit meinen jüngeren Brüdern hinterm Haus. Von dort schleiften sie Holzscheit um Holzscheit herbei und richteten sie zu einem stattlichen Scheiterhaufen auf. Was nicht funktionierte, ohne dass sie sich dabei schrecklich in die Haare gerieten. Jungs in dem Alter schienen von Natur aus zum Streiten gemacht worden zu sein. Jeder wollte der Lautere sein. Ich frage mich, ob sie in dem Jahr, das ich jetzt fort bin, reifer geworden sind.

Entschuldige die Sentimentalitäten. Darum geht es nicht.

Ich kann förmlich sehen, wie du die Augenbraue hochziehst. Gut, ich gebe es ja zu, hier geht es um nichts anderes als um Sentimentalitäten. Warum sonst sollte ich in derartiger Ausführlichkeit von einem heimeligen Familienfest erzählen

Es gab jemanden, der sich von all dem Trubel nicht beeindrucken ließ. Meine Großmutter. Sie saß auf der Bank vor dem Haus und strickte. Luna lag zu ihren Füßen und gemeinsam gaben sie das perfekte Bild von Gelassenheit ab

Meine Großmutter tat kaum etwas anderes, als auf ihrer Bank zu sitzen und nachdenklich in die Ferne zu blicken, begleitet vom leisen Klappern ihrer Stricknadeln. Wenn ich mich traurig fühlte, ging ich zu ihr, setze mich neben sie und schüttete ihr mein Herz aus. Sie antwortete nicht auf meine Tränen, sondern strich mir schweigend übers Haar, bis ich mich beruhigte. Und manchmal, wenn ich Glück hatte, sprach sie doch einige Worte. Dann äußerte sie einen Gedanken voll derartiger Klarheit und Bedeutsamkeit, dass er all meine Probleme auf einen Schlag löste. Ich weiß nicht, was wir ohne sie getan hätten. Sie war der ruhende Pol der Familie.


Nach und nach gesellten sich die ersten Gäste zu uns. Entferntere Familienmitglieder, die man nur selten zu Gesicht bekam. Beispielsweise mein Onkel mitsamt Frau und drei Kindern. Wie an Samaras üblich, brachte jeder großzügig Essen mit, einen Nachtisch oder einen Salat. Manchmal sogar einen Braten. Und auch die Kränze und bunten Bänder durften nicht fehlen, mit denen die Gäste das ganze Haus und den Tisch feierlich schmückten. Bis der Letzte eingetrudelt war, war unser beschaulicher Hof kaum wiederzuerkennen. Die Tischplatte beugte sich förmlich unter all den Krügen, Schalen, Platten und Töpfen voll heißem und kaltem, dampfendem und duftendem Essen. Es war endlich Sommer.

Das Festessen zog sich jedes Mal schier endlos hin. Darauf freute ich mich am meisten. Nach so vielen Monaten des Zitterns und Bangens, nach so vielen Tagen der Entsagung, an denen meine Mutter die Vorräte strikt rationierte, nur für den Fall eines späten Frosteinbruchs, kam Samaras. Und mit ihm ein Festschmaus, der sich vom frühen Mittag bis in den späten Nachmittag hineinzog. Es war so viel, dass man Pausen zwischen den Gängen machen musste, in denen sich die Erwachsenen unterhielten und die Kinder über die Wiese tollten.

Ich war erstaunst, dass meine älteren Cousins sich unserem Spiel anschlossen. Ich war damals sechzehn und damit fast im heiratsfähigen Alter und trotzdem war ich nicht die Jüngste, die wie ein übermütiges Lamm durch die Gegend sprang. Selbst Luna machte mit, jagte uns nach wie ein schwarz-weißer Blitz und schmiss jeden um, den sie kriegen konnte. Also jeden Einzelnen von uns. Border Collies werden verdammt schnell.

Nach dem Essen gab es eine recht schläfrige Pause. Nur die Jüngsten tollten herum, einige machten einen gemütlichen Spaziergang, die meisten jedoch entschieden sich für ein Nickerchen. Ich lag im hohen Gras, den Kopf auf Lunas weiches Fell gebettet, und beobachtete die träge vorbeiziehenden Wolken.


Gegen Abend wurde das Feuer entfacht. Obwohl es ewig dauerte, bis die Hände meines Onkels dem riesigen Stapel endlich das erste Züngeln entlockten, loderten pünktlich zum Sonnenuntergang meterhohe Flammen in den Himmel. Viele meiner Verwandten hatten ihre Instrumente mitgebracht, Panflöten, Trommeln und Rasseln, und so tanzten wir zur Musik ums Feuer. Ab und an spielte ich ein fröhliches Liedchen auf meiner Flöte, ansonsten hüpfte ich ausgelassen im Kreis oder unterhielt mich laut schreiend mit einer entfernten Cousine

Ausnahmsweise gab es für die älteren Kinder so viel Wein, wie sie wollten. Wie es auf Festen so ist, trank einer der Jugendlichen zu viel und landete hinter dem Haus, wo er eine furchtbare Sauerei veranstaltete. An Samaras wurde das mit einem Schulterzucken hingenommen. Während dieser Feier kannte man keine Sorgen. Selbst die Last des schwersten Schicksals wurde leichter und für einen Tag und eine Nacht gab es kein Gestern und kein Morgen mehr.

Es wurde schon fast hell, als ich todmüde und gleichzeitig überglücklich ins Bett fiel. Sofort empfing mich ein tiefer, traumloser Schlaf.


Ich hoffe, ich habe euch nicht allzu sehr gelangweilt. Ich weiß, ich habe euch eine Geschichte über Helden versprochen und dieses Erlebnis ist weit entfernt davon, als spannend durchzugehen. Was mich angeht, würde ich am liebsten ewig in diesem Moment verweilen. Von einem Tag auf den anderen sollte sich mein Leben ändern. Und nicht zum Guten, wie ich finde.

Dies ist meine Geschichte und ich werde sie so erzählen, wie ich es für richtig halte. Ich werde nichts auslassen, das für mich von Bedeutung ist. Und was mich angeht, gab es nichts Wichtigeres als diesen letzten Tag.

Der letzte Tag, den ich zu Hause verbrachte

Der letzte Tag, an dem ich wusste, wo mein Platz im Leben war.