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Joan Smith, Christina Noack

Joan ist ein netter Mensch - über die Schizophrenie des Seins

Eine 08/15 Autobiografie.


Meiner Familie, meinen Ahnen, meinen Freunden, Mit-Patienten, Hund und Katze, dem Tierschutzverein und meinen Ärzten gewidmet.


BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Zum Geleit

Joan Smith: Joan ist ein netter Mensch - über die Schizophrenie des Seins

 

 

 

Zum Geleit:

Nach dem schmerzlichen Abdanken von meiner geliebten Psychiaterin im Jahr 2010 habe ich begonnen, mein Leben aufzuschreiben. Die Autobiografie des Dichters Vittorio Alfieri hatte mir dazu Mut gemacht, denn ich lernte, dass ich den Stil meines Buches frei wählen kann. Hier ist es:

 

 

2010

Nachdem ich mich mehrmals erfolglos als Dichter beworben habe, möchte ich es meinem Leser ein bisschen leichter machen und ein zusammenhängendes Buch über mein Leben unter der Schizophrenie schreiben, anstatt einen jeden wie einen Bibelforscher in meinen Fragmenten, den Dichtungen und Texten, wühlen zu lassen.

 

In diesem Monat habe ich mir selbst eine Autobiographie geleistet, es ist das Leben des Vittorio Alfieri. Wer war aber Vittorio Alfieri? Also ich habe ihn dank meiner Schottlandmacke durch die Biografie von Bonnie Prince Charlie, die von Fitzroy MacLean, auf dem Schlachtfeld von Culloden gekauft, kennen gelernt. Er war der Typ, der dem gealterten Prinzen seine Braut, Luise von Stolberg, ausgespannt hat. Aber Vittorio Alfieri war kein schwofliges, ehebrecherisches Schwein, das mit seiner Jugend prahlerisch den alten Versager in den Schatten gestellt hat, nicht einfach der Feind von Bonnie Prince Charlie: Vittorio war eine beachtliche Persönlichkeit in ihrem eigenen Recht, mit einem großen Herz und einem bemerkenswerten Charakter. Da ich ja schizophren bin und seitdem Erscheinungen gewöhnt, konnte ich spirituell vorigen Monat selbst Bekanntschaft mit dem „schönen Viktor“ schließen. Ich muss wohl runter mit den Nerven gewesen sein, da meine heiß und innig geliebte Psychiaterin gekündigt hat, eine meiner vergeblichen Hoffnungen, - da erfuhr ich Trost durch Vittorio Alfieris Geist, der erste Spukgeist, bei dem ich tatsächlich Liebe spürte, während mir Dichter Nummer 1, Robert Burns, stets eine Putzhilfe zur Seite zu stellen pflegte, sozusagen die bessere Hälfte Joan Smith alias ich, die mir bei meinen hilflosen Versuchen, Hausarbeit zu leisten, zur Seite stand…

Genau zu der Zeit hatte ich einen Termin mit der neuen Psychologin, und ich bangte schon ein wenig, was wäre, wenn mich mein ehrlicher Rededrang überkäme und ich mich als eine Verrückte mit einem Putzgeist und einem unbestimmten Gefühl, geliebt zu werden, outen müsste, was natürlich bei den gequälten Seelen von Psychologinnen immer gleich Erziehung nach sich zieht. Die Psychologin allerdings, die schon im Vorfeld auf mich verärgert war, beschäftigte sich noch mit meiner letzten Untat, einem der seit meiner Weihnachtsmanie verbotenen Briefe an Tante Doktor, ferner meiner unbedingt notwendigen Verhütung – wo kämen wir auch hin, wenn sich solches Erbgut vermehren würde!- , und schließlich wollte sie gar nichts hören und brachte mich mit den Worten zum Schweigen: „Sagen Sie mal, ist es nicht unglaublich belastend für Ihre Mitmenschen, wenn Sie so viel reden?"

Hinterher war ich zwar nicht sehr angetan von dem Termin, freute mich aber herzlich, entkommen zu sein, denn die brauchen ja nicht alles wissen.

 

Wenn ich mir nun den schönen Viktor durchlese, finde ich mich in dem ersten guten telepathischen Eindruck bestätigt, und das inspiriert mich andererseits, über mich zu schreiben. Ich bin vielleicht nicht solch eine großartige Dichterin wie Viktor, aber mein Leben ist gleichermaßen interessant. Ich habe nicht schlecht über seine gezählten Jugendsünden gestaunt, eines Knaben, der behütet und ohne Stachel seiner Seele groß geworden ist, der nicht mehr als ein wenig über die Stränge schlug und der schon damals dem Guten und Edlen zugeneigt war. Vergleiche ich das mit meiner Existenz, so reizte mich nichts zum Edelmut, stattdessen hatte ich genügend Stachel meiner Seele, die meine Jugendsünden bereits zu Verbrechen der Menschlichkeit machten.

Ich war ein trauriger Zombie, war ein "Nazi", war vom Teufel besessen und endete damit, auf eine scheußliche Weise pervers zu sein, zudem wie gewohnt mehr oder weniger menschenverachtend, ob einst aus Hass auf meinen Vater oder aufgrund der Reibungen mit dem Mob auf der Straße, getreu meiner Schröder-Familie, die wohl verwandt mit der einstigen Stuart-Familie ist, immer schön unsozial, kalt und menschlich verkeimt.

 

Es ist keine großartige lebensverändernde Inspiration, die mich ein Buch schreiben lässt, vielmehr stehe ich mit Wut und Hilflosigkeit alleine da, fühle mich mit meinen 32 Jahren am letzten Drücker angekommen, beruflich etwas anzufangen, denke aber positivermaßen, dass ich heute mit mehr Objektivität die Ereignisse meiner Jahre bewerten kann und vieles aus dieser nun 14-jährigen Schizophreniegeschichte ansprechen kann.

 

 

 

Bettina Schröder, Hennigsdorf, den 27.05.2010, sehr früh morgens nach Sonnenaufgang

 
 

Kindheit in der DDR

 Der Stern

 

Gehe raus, verlass das Haus, Steh in der finstren Winternacht.

Sterne fallen, Hagelballen, Eis und Schnee aus finstrer Nacht.

Falln von oben, denn dort droben ist heut Nacht ein Stern erwacht.

 

Schlund der Leere, Himmelsheere, und auf Erden Engelschöre.

Sieh! Was hat er mitgebracht?

Wollne Fetzen wärmen spärlich, und von oben dräut ´s gefährlich,

Eiskalt in Deiner Mitternacht.

 

Strahlt das All, S ist Dein Fall, s ist Dein ganzes Leben.

Sternenweltallbeben, und Dein Gruß versiegt.

Wo kannst Du noch strahlen unter Gammastrahlen,

Die Dich stechen von oben, die Dich brechen und wogen,

Alle die Dich erzogen, kamen von diesem Stern.

Und Du wähnst Dich fern, wähnst Dich hinter Wolken,

Den sie nicht haben wollten, und Du bist der Stern.

 

Sterne fallen viele, Sterne sind die Diebe,

Sterne sind sie alle, sind sie Deine Falle.

 

Augenlicht gen Himmel strahlt, eisge Haut mit Schmerzen prahlt.

Dort ist kein warmes Licht, Warmes gibt’s in Winternächten nicht.

 

Und kreist der Stern eintausend mal.

Sein Licht gibt Dir nur immer wieder Qual.

Sein Licht, das ist Dein Leben.

Auch Du wirst einst als Stern verglühen.

 

 

Kapitel 01

 

Kindheit

 

Ich wurde an einem Januartag 1978 auf einem Waldweg zwischen Hennigsdorf und Schönwalde als Neugeborenes gefunden, es war Sonnenuntergang und Tauwetter, an Stellen lag noch Schnee. Die Finsternis der einbrechenden Nacht fraß sich durch den Wald, als man mich fand und in das nahe gelegene Krankenhaus brachte. Ich wurde in die Arme meiner Mutter gelegt, deren Baby amselben Tag von einer geistesgestörten Hebamme getötet worden ist.

Hennigsdorf ist eine ostdeutsche Kleinstadt nordwestlich von Berlin mit den Koordinaten 52n38, 13e12. Obwohl ich mich schon seit 20 Jahren mit Astrologie beschäftige, konnte ich meinem Horoskop bislang nichts Sinnvolles entnehmen. Es ist mir ein Greuel, sodass ich zuletzt dazu übergegangen bin, meine mir unbekannte Geburtszeit auf 5.37Uhr früh zu datieren.

 

Meine Mutter, ich nenne sie Jeanie, hieß damals Kopischke und war geschieden, sie hatte meinen Vater bei einer Tanzveranstaltung im Januar 1977 kennen gelernt, wo er ihr laufend auf die Füße trat, und wurde anschließend von diesem aufdringlichen Schürzenjäger dermaßen bestalkt und über die anderen Frauen vollgejammert, dass sie Mitleid bekam und ihren Ekel zwanghaft überwand, um ihr Kind zeugen zu lassen, denn seine Kinder zu zeugen war das einzige Gute, was mein Pabba in seinem Leben gekonnt hat.

Ich war ein absolutes Wunschkind für meine Mutter, die bis zu ihrem 34. Lebensjahr auf die Erfüllung ihres Baby-Wunsches warten musste. Für meinen Vater war ich das perfekte Mittel, um meine Mutter von sich abhängig zu machen, der später erfolglos versuchte, ihr noch ein zweites Kind anzuhängen.

In der Schwangerschaft und bei der Geburt (des Kindes, das ich sein sollte) ging alles drunter und drüber. Schon Mitte Mai 77 will meine Mutter im 5.Monat und in der 20. Woche schwanger gewesen sein. Als ihr Kind dann am 18. Januar zur Welt kam, hat eine beleidigte Hebamme Mutter und Kind verrecken lassen, indem sie um 13.00Uhr das Wehenmittel so doll aufdrehte, dass erst Hilferufe zu Gott Stunden später eine Ärztin kommen ließen und das Baby blau und kurz vor dem Ersticken um 16:30Uhr geboren wurde, dann weder bei Beatmungsversuchen noch unter dem kalten Wasserhahn atmen wollte und ans Sauerstoffgerät angeschlossen werden musste, aber nichts half. Wahrscheinlich liegen darin bei mir die Ursachen für Schizophrenie und Persönlichkeitsspaltung, dass ich ein Wechselbalg vom Waldweg bin, jedoch war ich wenigstens nicht geistig oder körperlich behindert geworden. Meine ganze Kindheit hindurch haben mich Alpträume begleitet, die ich nur mit meiner Geburt in Zusammenhang bringen kann und die bestätigen, dass es ein schneeheller Winterabend nach der Geburt bzw. der exakte Sonnenuntergang, als ich aufwachte, war. Vielleicht war ja diese ganze Inkarnation ein einziger Alptraum, sodass ich auch meine besten Ergebnisse als Joan Smith, Schottin, geboren am 8. Juni 1978 um 3.16Uhr früh in Glasgow, erzielte, Gemeinschaftsproduktion eines Horoskope stellenden Psychotikers im Abiturzeitraum und eines halluzinierten Geistes von Robert Burns, der mir das bestätigte. Das aber war ein Produkt meiner Schottlandmacke, die ich seit einigen Reisen hatte, und Glasgow ist so gut, wie es hässlich ist. Es ist praktisch dort genau wie zu Hause.

 

Erst Monate später haben meine Eltern geheiratet, und ein Spitzel von der Stasi hat sich in meiner Geburtsurkunde, die deswegen vom Einwohnermeldeamt aus Gründen der möglichen Vergeltung nicht ausgehändigt werden kann, darüber ausgelassen, dass diese Familie einschließlich ihres Bastards eine Gefahr für die sozialistische Ordnung darstellt. Aus eben diesem Grund konnte mich meine katholische Mutter auch nicht taufen lassen, und keine Kirche wollte mich je wieder haben, hätte ich nicht zufällig einen lebenslustigen Pfarrer mit 20 Jahren getroffen, der 1999 darauf drängte, mich zu taufen. Seitdem bin ich evangelisch, besaß aber zudem immer eine innige Liebe zum Katholischen Ritual, wenn ich nicht gleich streikte und den Teufel anbetete, was auch kein sonderliches psychologisches Wunder ist, wenn man in den Augen einiger dieser Christen nichts als ein Bastard und ein Asozialer ist. (Ich wetteifere wohl mit vielen Menschen, wer wen zuerst verachtet.) Gott aber ist mir im Gegensatz zu etwas Lebendigem wie meinem Hund so ziemlich egal, ist er doch „allmächtig“ – was braucht er mich ?

 

Aber um zu meiner Kindheit zurückzukommen, wollte ich meine ersten drei Erinnerungen aufzählen, das waren, wie ich mit meiner Katze von einem Teller aß, wie ich mit meiner Mutter meinen Vater in Berlin Buch besuchen fuhr, wo dieser sterbenskrank mit Hodenkrebs im Krankenhaus lag, und wie ich die Kinderkrippe besuchte.

 

Ich war schon als Baby ungewöhnlich früh helle und begabt und lernte eher sprechen als andere Kinder. Meine Mutter förderte mich mit viel Zuwendung, unter anderem mit klassischer Musik, der ich es wohl zu verdanken habe, dass ich nie singen und tanzen lernte. Doch als Baby sang ich noch viel, z.B. die damals üblichen Schlager, was mit dem Eintritt in den Kindergarten enden sollte. Ich hatte früh ein Bedürfnis, den Babybrei auszuspucken und herzhafte Dinge wie Rührei mit Speck zu essen, wobei ich einmal mit meiner Katze von einem Teller aß, was mich höchst beglückte, sodass ich heute noch daran denken kann. Leider hatte ich den einigen Kindern eigenen ungünstigen Biorhythmus, nämlich einen Spätrhythmus, worauf heute zutage genauso geachtet wird wie auf ADHS, aber damals wurde man brutal durchgeschleift. D. h. ich kam nachts voller Hyperaktivität nicht ins Bett, quälte mich aber morgens als zitternder nasser Sack aus dem Bett und aus dem Haus, und ich musste wegen dem Hodenkrebs meines Vaters, der meine Mutter zum Arbeiten zwang, ständig Krippe und Kindergarten besuchen, seit ich zwei Jahre alt war. Die Todesnähe meines Vaters, der von seiner Familie im Stich gelassen wurde, von seiner Schwester, einer zänkischen, paranoiden alten Jungfer, sogar böse Briefe geschickt bekam, führte zum Bruch meiner Mutter mit diesem Teil der Familie, was noch viel böses Blut bringen sollte, aber mit den Schröders hätte man sowieso nicht leben können…

 

Hennigsdorf war damals eine verrottete, graue Stadt wie fast alle DDR-Städte. Der ungefilterte Dreck aus den Schornsteinen setzte sich an den schmuddeligen Häuserwänden ab und verursachte bei mir schon früh Hautkrankheiten, bei vielen auch Atembeschwerden und Erstickungsanfälle, wenn einmal wieder die Dunstglocke über der Stadt hing, nachdem in der Früh die Schornsteine der beiden Betriebe und des Heizwerkes durchgeblasen wurden. Unsere Seen und Flüsse waren vergiftet, trotzdem trauern Nostalgiker der DDR voller Umweltdreckschleudern hinterher. Alles in allem sah man damals nur Verfall und ein beständiges Grau in Grau.

Mir sind aus meiner frühen Kindheit nur die Morgenkälte und die Trostlosigkeit und eine ständige Sehnsucht nach meiner Mama in Erinnerung. Besonders wenn ich im Dunklen und Kalten weggeschickt wurde, sehnte ich mich nach ewigem Urlaub, aber die Erkenntnis, dass ich mich wohl auf ewig aus dem Bett quälen müsste, kam erst später, als ich vom Arbeiten erfuhr, um das ich ja nun als Dauerurlauber – so nenne ich mich als Berufsunfähigen – glimpflich herumgekommen bin und auch aus dieser Erinnerung versuche, mein Leben aus vollen Zügen zu genießen.

 

Ich war ein sehr ängstliches Kind, und die Erwachsenenwelt flößte mir Schrecken ein, abgesehen davon, dass ich selbst nie erwachsen werden wollte, weil ich Angst vor der großen, weiten Welt hatte. Aber unsere Generation in unserem Land stand allgemein noch unter der Knute der Alten, und das Von-oben-nach-unten-Mobbing wurde hier groß geschrieben, das selbst bis in die 13. Klasse in den 90er Jahren, wo an unserem Gymnasium noch die Herrschaften von damals wüteten. Einerseits konnte man da natürlich besser lernen, andererseits gab es da mehr emotionale Spannungen, wobei ich bezweifle, dass an den heutigen Schulen und Kindergärten all die Messerstechereien eine wirkliche Entspannung zulassen.

Nein, ich war ein diszipliniertes Kind unter geordneten Verhältnissen, unter denen man in Frieden leben konnte bis auf wenige Ausnahmesituationen, die in meiner Pubertät kamen. Eigentlich wurde ich immer übersehen, machte nie Ärger und geriet mit keinem aneinander. Ein unglückliches Kleinkindstrauma bewirkte, dass ich mich isolierte und bis zur Psychose meine ganze Schulzeit über nie Freunde hatte, ausgenommen außerhalb von Kindergarten und Schule. Man hatte mich, weil ich sehr wissbegierig und vereinnahmend war, von einem Tag auf den anderen im Kindergarten weggeschickt, und weil die Erzieherinnen das taten, stellte ich mich ab dieser Zeit nur noch in die Ecke und redete mit niemandem mehr. Spätere Versuche, mich ins Klassenkollektiv einzubeziehen, schlugen fehl, denn ich war wie verhext, mit niemandem dort etwas anfangen zu können. Dennoch ließ ich mir nichts gefallen und prügelte mich, wenn es sein musste, wie ich es vom Hof gewöhnt war.

(Ich musste einmal zusammen mit Guy, einem für seine Aggressivität berüchtigten Klassenkameraden, den Schulhof und die Grünanlagen reinigen, wie wir als Kinder regelmäßig angewiesen wurden, als mich dieser angriff und ich mich so vehement verteidigte und ihn verprügelte, dass die ganze Schule darüber redete, denn ich war als die stille, ruhige graue Maus bekannt, die immer nur diszipliniert zuhörte.)

Die Vereinsamung in Kindergarten und Schule kann mit meinem schizophrenen Gehirn mit seiner Orientierungslosigkeit im Gewühle zusammenhängen, einer Bewusstseinserweiterung, die das Bewusstsein aus begrenzter Wahrnehmungskapazität verengt. Noch heute kann ich eine unordentliche Wohnung nur schwer aufräumen, alles überschlägt sich im Kopf, in Menschenmassen, im Trubel und im Lauten gehemmt, ist der Schizophrene, wo er gehemmt und gefühlskalt wirkt, einfach überfordert. Das Kind als Schizophrenie-Anwärter kriegt vielleicht immer den Ball an den Kopf, versäumt Vertretungspläne und kommt zu Freistunden, ist vertrottelt und einsam für sich. Sozial war ich ansonsten, im mehr Privaten normal.

 

So verbrachte ich schon meine ganze Kindergartenzeit damit, auf meine Mama zu warten, die mich nach Feierabend abholte und mit mir auf den Waldspielplatz ging, wo ich stundenlang ekstatisch schaukelte, so wie ich später nach der Schule auf meinem stabilen Sofa herumzuspringen pflegte. Hennigsdorf ist glücklicherweise ganz dicht von Wäldern und Feldern umgeben und war für uns Naturspinner das gefundene Paradies, alle schönen Winkel auszukundschaften, uns an Teichen, an der Havel, am Kanal und allen schönen Flecken unter den Bäumen und auf den Wiesen zu erholen. Wir leben hier im Flachland, in einer sehr grünen und üppigen Vegetationszone, wo an vielen Orten die Laubwälder noch nicht dem Kiefernforst gewichen sind.

Meine Mutter pflegte ständig etwas in der Natur mit mir zu unternehmen. Oft holte sie mich mit dem Fahrrad von der Schule ab, nachdem sie Hausfrau geworden war, und mit einem Fresspaket ging es ab ins Grüne. Ich besuchte übrigens, weil ich so schnell wie möglich Russisch lernen wollte, eine Russischklasse, wo ich unter den Staatstreuen und der Intelligenz war. In dieser Russischklasse wurden natürlich Lobreden auf die Sowjetunion gehalten (wie wohl überall), dabei ist mir eine ganz auffällige Szene in Erinnerung, und zwar wie unsere Streber die Hände hochrissen, um „DIE SOWJETUNION!!!“ zu brüllen, nämlich als Antwort auf drei Fragen aus dem Russischbuch: „Was ist das größte Land der Welt?“ – „Die Sowjetunion!“ – „Was ist das reichste Land der Welt?“ - „Die Sowjetunion!“ - und „Was ist das schönste Land der Welt?“ - „Die Sowjetunion!“ Dabei japsten sie förmlich vor Eifer und schnipsten mit den Fingern, während sie die Arme in die Luft schmissen. Auch wurde mit den jungen Pionieren exerziert, d. h. vor jedem Unterricht wurde gemeldet und dann ein Wetterbericht abgegeben. Man sagte auf Russisch zu meiner gleichnamigen Lehrerin: „Genossin Schröder, Klasse 3R ist bereit zum Unterricht“. Diese Schule lag weit entfernt in der Innenstadt, von wo ich täglich einen Radelweg von drei Kilometern hatte, denn wir waren, als ich fünf war, ins Neubauviertel gezogen, wo ich jetzt noch lebe.

Genau zu dem Zeitpunkt, als ich fünf war und wir in die neue Wohnung zogen, gewöhnte sich mein Vater an, ein Wüterich zu werden, was ich als erstes dadurch zu spüren bekam, dass ich ab jetzt „Blödi“ geschimpft wurde. Das hatte wohl daran gelegen, dass er sich bei seiner Schwester Geld für die Wohnungseinrichtung lieh und diese ihn erst einmal nach Herzenslust vergiftete, indem sie so ihren Einfluss geltend machte, nun über Frau und Kind herzuziehen. Meine Tante ging einmal an mir vorbei, als ich ihr unten die Tür aufhielt und erkannte mich gar nicht, ließ dann aber vor meinen Eltern kein gutes Haar an mir. Üblicherweise ging es immer ums Arschversohlen, was ich mir bis zur Psychose anhören musste, die angeblich daran lag, dass man mich nicht genug vertrimmt hatte. Auch war mein Vater der Erste, der mich nach der Psychiatrie „Spastiker“ nannte.

Mein Vater pflegte bei meiner Tante immer auf der Kuschelcouch zu sitzen, genau unter den „Katzenkinder“-Bildern, wer weiß, was diese Tierhasser dazu geritten hat, und dann schunkelten sie erst mal zu heimeliger Stimmungsmusik – man kann das nicht wirklich Volksmusik nennen -, bevor sie sich in ein wütendes Gelage hineinschaukelten, wo meine Mutter eine Schlampe und eine Arschgeige geschimpft wurde und wo ich einmal beinah verdroschen wurde, weil ich die Ehre meiner Mutter verteidigte, dann allein im Regen durch Falkensee floh und von meinem Vater nach Stunden mit dem Moped heimgefahren wurde.

Aber nicht nur dieser Einfluss machte aus meinem Vater einen Fluch, sondern auch, dass er unter den Grobianen an der Steuerbühne arbeitete, wo er ständig gemobbt von der Arbeit kam. Ursprünglich hatte er irgendeinen Ingenieur studiert, ging dann aber zum Proletariat, weil die einfachen Arbeiter in der DDR subventioniert wurden und mehr Geld verdienten.

Mein Vater hatte, möchte ich sagen, ein Verbrechergehirn. Wie alle in der Familie war er intelligent, gleichzeitig jedoch ein Chaot und völlig asozial (die ganze Familie ist intelligent und unsozial), er hatte unkontrolliert Kinder in die Welt gesetzt, war zu dumm zum Sparen, weil er sich mit Kinkerlitzchen vertändelte, lag mit allen Huren im Straßengraben und machte allem den Hof, was nicht fliehen konnte, war freigiebig in Kneipen, geizig an Frau und Kind und von seiner Moral primitiv. „Für fünf Mark schlagen sie dir den Schädel ein!“, pflegte er mir einzubläuen und verbarrikadierte seine Garage mit 10 Schlössern. Ansonsten laberte er kommunistische Plattitüden, worin er so lange ein Fanatiker war, bis die Wende kam, als er sofort die Werke von Marx und Engels wegschmiss. Dann sagte er : „Im Westen wird rangeklotzt und nicht gekleckert!“ Arbeiten konnte er wahrlich, war auch ein geschickter, wenn auch ein sehr langsamer und pedantischer Handwerker, jedoch galt er im Stahlwerk mit seinem Jähzorn als „Gefahr für die Produktion“.

Sein Jähzorn bestimmte das ganze häusliche Leben, ständig wütete er, beleidigte er und brüllte, war dabei stets unter der Gürtellinie und äußerst penetrant und widerlich. Schläge hagelte es bis auf einige Ohrfeigen und dann und wann eine blutige Nase nicht, das hätte meine Mutter nicht zugelassen, auch wenn ich mich an eine Tracht Prügel erinnere, als ich noch sehr klein war. Meine Mutter hätte meinen Vater wohl kalt gemacht, wenn er mir ein Haar gekrümmt hätte. Dafür schlug er einmal meine Mutter zusammen, die, treudoof wie sie war, so nicht rausging und hinterher die Anzeige zurückzog, weil er ihr inbrünstig ein neues Eheglück versprach. (Ich hasste die Inkonsequenz meiner Mutter und fühlte mich dadurch verraten.) Auch hat mein Vater meine Mutter liegen lassen, als sie mit einem Kreislaufkollaps umgekippt war und sich an der Badewanne den Kopf aufgeschlagen hat. Er war einfach über sie rübergestiegen und rief keinen Notarzt. Ständig machte er meiner Mutter Szenen, die ihr äußerst peinlich waren, denn sie fanden im Erdgeschoss in der Küche vor der Nachbarschaft statt, die vor dem Haus ein- und ausging. Schon deswegen hätte meine Mutter, grün und blau geschlagen, rausgehen sollen, um das Arschloch, das als Versicherungsvertreter umherzog und sich bedauern ließ, anzuschwärzen. Mein Vater war mehrmals dicht davor, Amok zu laufen, da versuchte meine Mutter, ihn in die Klapse zu bringen, mit dem Ergebnis, dass mein Vater, völlig nüchtern, sich so brillant durchgeheuchelt hatte, dass der Arzt sagte: „Bei dieser Frau würde ich auch durchdrehen!“

Meine Mutter kam ohne Schlaftabletten und ein gelegentliches heimliches Besäufnis nicht ins Bett. Sie neigte dazu, wenn sie einmal aufgebracht war, sich nicht mehr beruhigen zu können, wie es noch heute der Fall ist und ich deswegen meine nicht mehr gebrauchten Beruhigungsmittel mit ihr teile, die meiner Mutter eine echte Hilfe sind. Aber damals machte sie das zu einer „versoffenen Hure“, auch wenn sie wirklich selten trank, seltener als andere Leute feiern. Auch war mein Vater maßlos eifersüchtig, z. B. auf den intellektuellen Freund Mehlgarten, von dem ich an solchen Gesprächsabenden meine Mutter pünktlich entzweite, damit sie mit mir gemeinsam schlafen ging – bis zu zwölf Jahren zusammen in einem Bett-, und aus Eifersucht musste meine Mutter auch Hausfrau werden, aber, schwer depressiv wie sie war, fiel ihr ohnehin die Arbeit schwer.

Meine Mutter war Mama durch und durch, sie war weder noch an Männern interessiert noch sonderlich daran, dass mein Vater auf Schürzenjagd ging, sie beschäftigte vielmehr mein Wohl und dass wir uns einander widmen konnten.

Meine Mutter passte auch von ihrer äußeren Erscheinung vollkommen ins Mama-Schema. Ich fand schon als Kind, dass sie die niedlichste Mama von der Welt war: sie war dick und rund und gemütlich und sehr, sehr kuschelig. Während die anderen Mütter in meinen Augen alle hässlich waren oder streng, die meisten waren irgendwie nervös, drahtig, spitz und zickig, war meine Mama einfach nur RUND, rund und gemütlich. Außerdem sah sie irgendwie lustig aus, denn mit ihrer dicken Brille, die ihre Augen aufblähte, (die sie aber aus Eitelkeit nur zum Lesen trug,) wirkte sie wie ein komisches Insekt, und in diesem Sinne nannte ich sie oft meine Honigbiene. Schon ihre Haare waren komisch, die sie, spinnwebendünn, immer zu einer 60er-Jahre-Frisur toupierte und mit einem Schwung betonhart sprühte. Ihr Gesicht war immer hochrot und verschwitzt, und ihre hellblonden Haare wurden im Sommer manchmal weiß gebleicht.

Mein Vater hingegen war ein großer, muskulöser, ewig jugendlicher Recke, der nie graue Haare bekam, im Gegensatz zu mir auch irgendwie rot ausschaute und der sich immer eine Nummer zu klein einkleidete, um dadurch wohl jung und sportlich auszusehen. Ihn zierte ein hervorstehender Bauch und ein sehr fester, kräftiger Körper, die ich beide von ihm geerbt habe. Sein Gesicht war mehr oder weniger das eines Deppen oder eines Brutalos: lang und knochig, mit eingefallenen Wangenknochen und einem sehr langen Kinn und einem großen Zinken von Nase. Seine dunkelblonden Haare waren stets mit Pomade nach hinten gekämmt, und, obwohl er sich nur nass machte und nie wusch, stank er nicht. Die drei Schröder-Geschwister sahen mit ihren langen, harten Gesichtern alle irgendwie gleich aus, und meine Tante hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Elizabeth Tudor, zumal sie beide alte Jungfern waren. Ich hingegen sah besonders in meiner Jugend so ähnlich aus wie Avril Lavigne, von der ich aber nicht mehr habe als denselben Teint, die Haarfarbe und die sehr blauen Augen, obwohl meine Gesichtsfarbe unter meiner Raucherei leidet.

Aber, um wieder auf meine Kindheit zurückzukommen:

Mein Vater versorgte mich mit dem nötigen heimischen Stress, der mir das Aufstehen für die Schule nur mit einem Riesen Pott Schwarztee oder Kaffee möglich machte. Dennoch lernte ich sehr gut und musste bei unseren Nachmittagsausflügen nur Russischvokabeln pauken. In der Schule entspannte ich beim Lernen und schaltete bis auf den Unterricht ab, war auch immer recht vertrottelt, (verpasste notorisch Vertretungspläne und das rechtzeitige Bestücken mit Papier meiner Hefter, mir immer Blätter leihend). Auch war meine Mutter ein wenig ehrgeizig mit mir und machte mir in der zweiten Klasse wegen eines „Teppigs“ im Diktat eine gewaltige Szene, was wohl an ihrem Missachtetwerden durch meinen Vater lag. Ich wurde wegen den Zweien, die mich hinter den Strebern stehen ließen, gescholten oder zumindest immer angestachelt, auch wenn ich bessere Bedingungen gehabt hätte, wäre mein Leben nicht schon damals so maßlos anstrengend und überladen gewesen. Nachdem ich den ganzen Tag gerackert hatte, wurde ich stets beim Einschlafen in meinem Bettchen wach, wenn mein Vater von der Arbeit kam, die Wohnung mit seinem Qualm verpestete und fluchend das Mittag aus den Kochtöpfen fraß, Mahlzeiten gab es nicht, nur meinen Vater, der schlang und dann sagte: „Ich habe gearbeitet, das Essen steht MIR zu!“ So sagte er auch, als er mich mit 20 an die Zigarette gebracht hatte, um mich von sich abhängig zu machen, - „Diese Zigarette habe ich mir verdient!“ und meine Mutter: „Das Gift!“

2003 verstarb mein Vater an erneutem Krebs, das nachdem er uns ein Leben lang gequält hatte, ich schon als 5-jährige immer sein „Blödi“ war, sein „Doofitz“ und seine „Schlampe“, was mich für Missachtung aller Art empfindlich gemacht hat, und keiner hat unseren Vater vermisst, keiner auf der Beerdigung geweint bis auf die fremden Frauen, wo ich in der letzten Reihe saß und zuschaute. Die letzten Worte meines sich ausröchelnden Vaters, als meine Mutter vor Mitleid ausstieß „Du armer Karl-Heinz!“, waren „Blöde Kuh!“, während ihn zuvor nichts weiter bewegte, als dass sein BMW richtig geparkt war und dass die übriggebliebene seiner zwei Geliebten sein ganzes Erspartes zugesteckt bekam, welchen Wunsch ich ihm als Todgeweihtem erfüllte, denn ich hatte ja das Leben, meine Mutter ihn aber samariterisch bei sich ein Jahr vor seinem Tod, der er 1994 ausgezogen war, aufnahm, was er ihr dankte, indem er ihr die Butter auf dem Brot nicht gönnte.

 

Ich erinnere mich, dass bei uns regelmäßig Heulgelage bis spät in die Nacht, manchmal sogar bis in den nächsten Morgen hinein, stattfanden. Das war jedes Mal, wenn mein Vater uns wieder ganz schlimm zusetzte, z. B. als er meinen kleinen Hund ertränkt hatte, den ich zur Einschulung bekommen hatte, weil dieser den Parteisekretär gebissen hat. Zuerst wurde mir gesagt, der Hund sei überfahren worden, während meine Mutter völlig zusammenbrach. Das war eine durchweinte Nacht. Ein paar Jahre später bekam ich dann die ganze Wahrheit zu erfahren. Das war wieder in einer durchweinten Nacht.

Am selben Kanal, in dem Rüffel ertränkt wurde, hatte ich ihm, einem grau-beigen Norwich-Terrier, einige Zeit zuvor noch die Haare mit der Nagelschere geschnitten und ihm, selbst frischer ABC-Schütze, versucht, Lesen und Schreiben beizubringen. Leider war das liebe Tier durch seine Herkunft geschädigt und zu Fremden hochaggressiv, von uns ließ er sich jedoch alles duldsam gefallen. Mein Vater, aus purem Geiz, den Hund einschläfern zu lassen, und aus Sadismus, hat Rüffel so ein qualvolles Ende bereitet.

Meine Mutter pflegte, da der Terror ja offensichtlich war, immer offen und ehrlich zu mir zu sein und keine pädagogische Einheit mit meinem Vater zu bilden. Sie weinte ihren Kummer stets bei mir aus, und das halte ich als Erwachsene selbst für das Beste, was sie tun konnte. Wozu soll man Kinder belügen, wenn man schon zusammen so tief in der Scheiße steckt?! Wir haben immer zusammengehalten, und wir halten heut noch zusammen, wie es Mutter und Kind immer sollten. Nichtsdestotrotz entflohen wir dem „alten Sack“ und trieben uns in der Weltgeschichte herum, klapperten die Gegend bis Berlin Süd am Müggelsee ab, kannten die schönsten Flecken, und, wenn ich nicht mit meiner Mutter unterwegs war, rettete meine Seele mein Spieltrieb, der wirklich immens war, und ich wurde schon damals nicht zum Aufräumen gezwungen. Mein Zimmer war ein von mir so organisiertes Schlachtfeld. Ansonsten fand ich mich, in bequeme Lumpen gekleidet, auf dem Hof mit einer Horde Kinder, obwohl meine Mutter ständig darauf achtete, gute Kleidung für mich zu haben, während sie selbst, aus Geiz meines Vaters, in Sack und Pack ging. Dies näher auszuführen, wäre ihr peinlich. Aber, was mich betrifft, war es schon an einem schönen Ostertag unmöglich gewesen, mich in ein Kleidchen zu pellen, denn ich wollte in meiner Lederhose auf Bäume klettern. Und noch heute laufe ich rum wie ein Schlunz, weil ich es unbedingt bequem haben will, besonders auffällig ist, dass ich bis auf Schneematsch das ganze Jahr in Latschen gehe. So habe ich mich im Sommer 96 auf der Strandpromenade in Bulgarien gelangweilt, um dort chic Klamotten auszuführen, und reiste zwei Tage nach dem Heimflug nach Schottland, wo es trotz des kühlen Wetters viel interessanter war, schon weil ich mit den Einheimischen sprechen konnte. Was einst mein Spieltrieb war, sind heute Bücher und Bildung für mich, und ein Batzen schöne Bücher vertreibt mir sogar den Liebeskummer. Diese kann ich mir mit ach und krach dank meines fehlenden Schuhticks sogar leisten, obwohl man für alles, was halbwegs speziell ist, ein Vermögen ausgibt. Ich bin nun wahrlich nicht bildungsbeflissen, wie es hier scheinen mag, eher finde ich immer etwas Verbotenes, was mich reizt, ob es nun „unheilige“ Bücher sind oder der Vittorio Alfieri, mit dem ich meine Psychologin betrogen habe, bei mir kommt so etwas Langweiliges wie sich Allgemeinbildung zu verschaffen, nicht vor, denn ich kenne schon meine Richtung. Mir ist auch von Psychologenseite streng verboten worden, mich mit Magie zu beschäftigen (mein Pfarrerchen hingegen hat mir Kabbala und Geheimwissenschaften angeraten), und das ist es, was ich gerade lerne, denn man kann mit solchen Aktivitäten ungemein seinen seelischen und sozialen Stress bewältigen.

Eigentlich ist Magie dem kindlichen Spiel nicht unähnlich, stellt man doch im Ritual und im Spiel etwas nach, was man sich für die Wirklichkeit wünscht. Ansonsten spiele ich immer noch für mein Leben gern ein Spiel für Erwachsene, wenn auch für sehr junge Menschen: Ich stelle mir vor, ich wäre jemand anders, manchmal auch nur ein bisschen anders, und bastle mir neue Horoskope, die man sich wie Identitäten vorstellen muss. Was ich dann darüber lese und was mir schmeichelt bzw. was meine Konflikte beschreibt und meine Probleme löst, inspiriert mich und motiviert mich, im Alltag mehr zu leisten. Das hat den Nebeneffekt, dass sich meine Kenntnisse der Astrologie immer mehr erweitern und ich so ziemlich jedem ein treffsicheres Horoskop stellen kann.

Als Kind drehten sich meine Spiele im Wesentlichen um den Ausdruck von Geborgenheit, seltener um das Abreagieren sexueller Aggressionen, ferner um utopische Ideen und alle möglichen Grillen. Was die Geborgenheit betrifft, so machte ich an meinen Teddys alles wieder gut, was ich mir für mich selbst wünschte. Ich hatte eine ziemlich große Sammlung von Plüschtieren, die alle einen Namen hatten und die ich zusammen Familie Päp nannte. Davon waren die beiden Riesenteddys Emma und Joseph die Eltern, und Emma war ein Abbild von meiner Mutter. Sie stellte den absoluten Manager und Macher dar, der für alle und alles sorgte und die immer dominant war. So schnappte sie sich in einer der Teddygeschichten, die ich mit 6 Jahren schrieb, Joseph, um ihn zum Tanzen aufzufordern, klemmte ihn sich unter den Arm und schleifte ihn über die Tanzfläche. Emma war es auch, die in meinen Phantasien die armen anderen Teddys von der Straße auflas, besonders die kleine Katze Marymou, die halb verhungert und erfroren im Regen saß und von Emma in einem wunderschönen warmen Bettchen eingemummelt wurde. Das Kleiden (mit alten Baby- und manchmal Puppensachen) und immer und immer wieder das Betten meiner Plüschtiere war mein allabendliches Ritual, und, obwohl ich es selbst hasste, die Füße zugedeckt zu bekommen, wurden meine Teddys bis auf den Kopf fast „vakuumverpackt“ oder „mumifiziert“. Manchmal hatte ich sogar Phantasien, meine Lehrerinnen ins Bettchen zu stecken, die verhungert und erfroren auf meine Hilfe angewiesen waren. Ich hatte da einige heimliche Zuneigungen, die mich aber nicht weiter bewegten, als ab und zu meine Zudecken-Träumereien zu bestimmen. Das war dasselbe, wie ich immer versuchte, das Lachen und die Mimik der anderen, besonders meiner Klassenlehrerin, zu kopieren.

Meine Teddy-Familie lebte in meiner Phantasie entweder in einem unterirdischen erloschenen Vulkan oder auf dem Andromeda-Nebel, wo eine Seilbahn einen Stern mit dem anderen verband, und von den Bäumen des Planeten fiel gebratenes Fleisch, um keine Tiere schlachten zu müssen, was schon der Ausdruck meiner utopischen Ideen war.

Außerdem spielte ich mit meiner dicken Freundin Sina, neben der ich ein kleiner, dünner Hering war, für mein Leben gern mit den Handpuppen, und dabei machten wir uns oft gehörig über die Lehrerschaft lustig, wenn einmal wieder die Hexe Frau Pix war und der Teufel irgendeiner, ich glaube der Hausmeister, und diese sich küssten und rauften. Außerdem spielten wir mit den Handpuppen gern Hotel, ich nannte meins „Hotelare Isque“.

Meine Teddymannschaft durfte natürlich auf keiner Reise fehlen, und in der Wintersaison mieteten wir uns manchmal für einen doppelten Durchgang in dem Urlaubsheim in Baabe auf Rügen ein. Dabei wurden die Teddys teils mitgeschleppt, teils in Kartons nachgesendet, und ich setzte sie alle neben mir in der ersten Reihe beim Konzert der Sängerin Karin Gerstenberger hin. Das Konzert für die Urlaubsgäste war es, worauf ich das ganze Jahr gewartet hatte, und es trieb mir vor Romantik die Tränen in die Augen. Außerdem war ich hingerissen vom Meer, und ich erträumte mir, dass hinter der Ostsee wohl Afrika liegen müsste, wo die Kinder glücklicher waren, weil sie immer bei ihren Mamas sein konnten. Meine Mutter hatte mir nämlich erzählt, dass in den Urwaldstämmen die Kinder einfach auf den Rücken ihrer Mutter gebunden werden und überallhin mitgetragen. (Es war in der DDR kaum möglich, sich ein objektives Bild vom Ausland zu machen, da die Presse einer erstickenden Zensur unterstand und wir fast wie im Mittelalter die Welt nur vom Hörensagen kannten. Dennoch versuchte meine Mutter, so naiv sie hier scheint, immer schlau zu werden und studierte z. B. heimlich Psychologie.) Außerdem kannte ich aus Puzzles die schönen Landschaften Afrikas, das ich hinter dem Meer vermutete, und aus dem Zoo die Tiere, und, worauf die Ostdeutschen einen geradezu quälenden Heißhunger hatten, das waren die Bananen. Wir lebten nämlich von sehr einseitiger und meist auch nicht frischer Kost und hatten immer einen Mangel an Obst und Gemüse. Aus der Schulküche stank es wie aus einer Schweinefutteranlage, weil die verkochten Kartoffeln uralt waren – sozusagen in der sozialistischen Lagerhaltung verkommen, wo der rechtzeitige Transport in der Trägheit unterging -, und ich aß glücklicherweise zu Hause, wo meine Mutter noch das Schlimmste am Essen verhinderte.

So war es dann auch schön, wenn man eine Großmutter mit einem Garten hatte oder wenn irgendwo auf den Feldern beraubbare Obstbäume standen, wo man sich den Bauch mit etwas Frischem vollschlagen konnte, wie wir auch kilometerweit zu einem Bäcker radelten, um einmal frisches Brot zu essen. Ich hatte solch eine Großmutter, die in Leegebruch in einer Doppelhaushälfte mit einem riesigen Garten lebte. Meine Mutter und meine Oma hatten nicht das beste Verhältnis, weil meine Mutter ihre ganze Kindheit hindurch von ihr misshandelt wurde, und meine Oma, eine von den Russen vergewaltigte Kriegerwitwe, die sich mit ihren beiden Töchtern allein durchschlagen musste in all der Not, die, als meine Mutter ein Baby war, auf der Flucht umherirrte, konnte wohl nicht allzu viel dafür, stand sie doch viel zu sehr unter Druck und war selbst Opfer der Verhältnisse. Meine Oma war eine immens intelligente, hochmusikalische und körperlich starke Frau, die bis ins hohe Alter ihr Haus noch selbst in Ordnung hielt.

Meine Oma pflegte immer, Naschwerk und Mandarinenbüchsen aus Westpaketen für mich bereitzuhalten, und ich glaube, ich war fast jedes Jahr während der Erdbeersaison bei ihr, und die Erdbeeren düngte sie schön mit dem Plumpsklo. Normalerweise bekam ich bis auf wenige Naschereien zu Weihnachten und zum Geburtstag, die in zwei/ drei Tagen vertilgt waren, gar nichts zu naschen. Auch kochte mir meine Mutter fast nie Milchreis oder Spaghetti mit Tomatensoße, nach denen ich immer verschmachtete, denn sie dachte, solche Schlabbereien seien nicht nahrhaft genug, so bekam ich stets nur zwiebelgespickte Braten vorgesetzt und mauserte mich zum Hungerkünstler, wie ich stets genannt wurde. Wenn ich krank war, musste ich eine große Schüssel von bis zur Bitterkeit zermatschten Zwiebelbrei essen, um einen winzigen Schokoriegel zu bekommen, und – ich aß es. Aber obwohl es bei Oma Lehmann etwas zu naschen gab, war ich deswegen nicht öfter dort, als es die Anlässe mit sich brachten, das war meist zu den christlichen Feiertagen, und meine Oma, kreuzkatholisch, ging dann stets in die Kirche, was vielleicht der Grund für meine Jugendzuneigung für gemütliche katholische Großmütter war, und in den Gottesdiensten von 1999 waren fast nur alte Frauen in der Katholischen Kirche. Bei meiner Oma aber spielte ich aufs Herrlichste im Garten in den Gänseblümchen, aalte mich auf ihrer Hollywoodschaukel, baute Buden, planschte in der Zinkbadewanne im Garten und „pinkelte“ mit dem zwischen die Beine gehaltenen Gartenschlauch wie ein Junge in die Luft, sehr zum Ärgernis meiner verklemmten Oma. Dort lernte ich auch das Nachbarmädchen Mariechen kennen, an der das ganze Dorf so lange seine Verklemmtheit, Prüderie und seinen Anstoß ausließ, bis die kleine, geistig behinderte Marie auf die schiefe Bahn geriet und zur Hure wurde. Schon als 5-jährige wurde sich über sie das Maul zerrissen, wenn sie nackt über die Straße lief. Bevor Mariechen mir als Jugendliche heilig wurde, ließ ich als Kind noch meinen ganzen Schabernack an ihr aus und führte sie vor meinen Freunden vor, wie dusslig sie doch war, ich erzählte ihr die tolldreistesten Dinge, und sie antwortete stets mit „Hmm, weeß ick…“

Überhaupt neigte ich als Kind dazu, recht grausam oder besser – grob sein zu können und mich an manchen Kindern zu versündigen. Ob es ein kleines Mädchen war, dem ich unter einem Balkon brutal einen Stock in den Hintern steckte und dann weglief, ob die dicke Petra das Opfer unserer Doktorspiele war, der ich mit Folge einer Blutvergiftung eine Stopfnadel in die Pobacke rammte oder ob Piepsie ausgebrütet wurde, d. h. bei Sina und mir unter die langen Röcke kam, mit denen wir uns verkleideten, und dann an einem Bein darunter hervorgezottelt wurde mit dem Aufschrei „Er ist geschlüpft!“: Das Schlimmste jedoch muss gewesen sein, wie ich dem armen Norman, der in mich verliebt war, im Buddelkasten eine Schippe mit Dreck an den Kopf knallte und er weinend davonlief. All solche Erinnerungen haben mich in meiner Angst- und Panikkrankheit 2007 bewegt, in der ich dafür Schuldgefühle ausstand, zumal ich erfuhr, dass Norman Zeuge Jehovas geworden war, und den erwachsenen Piepsie als Satanisten sah. 2007 hat es mit Bezug auf die Vergangenheit sogar auf dem Hof an der Stelle des alten Buddelkastens gespukt. Ich war mir natürlich sicher, dass das beides meine Opfer waren.

 

Auch war ich sehr fürs Turnen und Rumtoben. Ich konnte wie keiner sonst mit dem Reck und dem Klettergerüst umgehen und schlug im Wald auf den sandigen Brandschutzstreifen Kabolz, wohin ich auch immer meine dicken Freundinnen mitnahm, die sich zwar nicht schmutzig machen durften, aber sich voll Feuereifer austobten.

Mein Pappa ging einige Male mit mir baden und nahm mich mit dem Moped zum Autobahnsee, einem Kiessee mit. Eines Tages erklärte er mir hochheilig, als ich mit ihm spielen wollte: „Ich bin ein freier Mensch“ und dass er nie mit mir spielen wird Auch war ich einmal in der Mitte des Sees kurz vorm Absaufen, da rief ich ihn um Hilfe. Er rührte sich nicht und rief: „Du schaffst das schon!“, und ich muss mich noch irgendwie ans Ufer gequält haben, während andere Badende mir schon helfen wollten. Während mein Vater ein Mann der Gaststätten war und von den alten Suffköpfen bis hin zu seinen Bräuten alles ausführte, kaufte er mir aus Geiz am Kiessee nie eine Bockwurst oder ein Eis an der Imbissbude, ich solle zu Hause essen. Meiner Mutter hat das immer mehr das Herz gebrochen als mir, besonders als wir etwa 2001 unseren Hund in Berlin zum Tierarzt brachten und uns den ganzen Tag dort aufhielten, als meine Mutter mir dann, ungefrühstückt, ein Schnitzel spendierte und mein Vater einen Tobsuchtsanfall bekam und sich gar nicht mehr abregen konnte. Das alles ist jedoch gar nichts im Gegensatz zum Schicksal meiner vier älteren Geschwister, denen unser Vater in ihren Kinderbettchen einen Eimer Scheiße über den Kopf gekippt hat. Sie waren völlig verwahrlost und mussten sich allein durchschlagen und früh ihr eigenes Geld auftreiben, was meine Geschwister sehr selbständig gemacht hat. Ihrer unfähigen Mutter und ihrem brutalen Stiefvater ausgeliefert, wurde die jüngere meiner zwei Schwestern sogar sexuell missbraucht. Meine Geschwister sind mir gegenüber immer ein ständiger Vorwurf gewesen, voller Eifersucht, besonders auf mein vieles Spielzeug. Auch denken sie, dass ich Pabbas Lieblingskind war, obwohl ich eigentlich nur sein Fußabtreter war. Auch haben sich Streitigkeiten um Pabbas vermeintliches großartiges Erbe ergeben, an meine Geschwister: Was er seiner Geliebten gab, das waren um die 3000 Euro, die, durch 6 geteilt, jedem von uns nur 500 Euro eingebracht hätten, was sowieso schon verpulvert wäre – Seid froh, dass Ihr im Gegensatz zu mir als Behinderte arbeiten könnt!

Aber nun genug zu diesem Kapitel, das mir an der ganzen langen Stelle keinen Spaß gemacht hat, wo ich so ausführlich meinen bescheuerten Vater schildern musste, und bei dem ich beinahe in einer dadurch entstandenen Depression aufgegeben hätte. Ich denke aber, ich bin mit meiner Kindheit fertig geworden und kann im nächsten Kapitel mit dem Ende meiner Kindheit beginnen.

 

Trotz so einigen Missständen in meiner Kindheit und vielem, was mit meinem chaotischen Vater schief gelaufen ist, muss ich meinen Eltern zugute halten, dass ich weder sexuell noch körperlich missbraucht worden bin, wie mir bereits als junge Frau Einblicke in das Leben eines Perversen ermöglicht worden sind. Dieser begann seine jämmerliche Existenz als kleiner Junge, der in die Mülltonne gesteckt worden ist, damit, seine Mutter abartig zu begehren und machte dann als Familienvater nicht vor seiner Tochter Halt, die er zudem gleichgültig vernachlässigte und die wegen Ernährung mit Chips und Süßigkeiten immer zu dick war. Nein, ich durfte ganz Kind sein und in den Begriffen meiner Mutter als Kind die Krone der Schöpfung sein. Überhaupt war die Welt für mich als Kind meist in Ordnung: mein Pabba brabbelte halt vor sich hin, das aber ging Mama in ein Ohr rein, ins andere raus, die wie ein Walfisch herumwatete und hier und da wischiwaschi machte. Noch in Videos aus meiner Jugendzeit ist zu beobachten, wie mein Pabba die ganze Zeit auf Mama einredet und diese zwei Ohren hat und ihrem Trott nachgeht. Als Kind sagte ich dazu immer: „Der Papa kann meckern und meckern, irgendwann spricht die Mutter ein Machtwort, und dann ist Schluss.“ Mama widerspiegelte sich in der Emma-Figur meiner Teddy-Spiele und in meinem ganzen Frauenbild, das keinesfalls masochistisch ausgefallen ist, obwohl meine Mutter zeitweise gedemütigt und misshandelt worden ist. Mama und ich, wir beide waren immer die Stärkeren, wir waren ein großes Liebespaar, seit ich endlich auf der Welt war, und sind es heute noch. Wir waren einfach der Urtyp einer intakten Mama-Kind-Beziehung, wo das Kleine in seinem Liebreiz verzärtelt, in seinen Späßen und seiner Lustigkeit bestärkt wird und wo es ganz der ewige Mama schreiende Parasit sein kann, wenn irgendwas schief läuft, es Kummer hat oder alleine im Leben nicht weiter kommt. So sollten alle Kinder von ihren Mamas geliebt werden und nicht unbehütet in einer chaotischen Welt gebrandmarkt und missbraucht werden. Ich finde, man kommt mit so viel Abartigkeiten heute zutage in Berührung, geschürt durch die neue Hinwendung zur Religion, die meist nur ein Ventil krimineller Energien ist, jedenfalls kann mit seiner Religion jeder Mensch ganz „er selbst“ sein und damit sowohl Normales als auch Abartiges, Gutes wie Böses verbinden und leben. Meist aber ist die Hinwendung zum Dämonischen, und dieser ganze Christengott ist dämonisch, ein Anzeichen ungesunder Energien. Ich habe zwar in diesem Buch Partei für die Kirche ergriffen, aber nur aus der Retrospektive, wie ich es damals empfunden habe, als ich dem Glauben aufgrund unzumutbarer Erfahrungen (als eigene Irrtümer) noch nicht den Rücken gekehrt habe.