Über Eliot Pattison

Eliot Pattison ist Journalist und Rechtsanwalt. Er ist oft nach Tibet und China gereist und lebt mit seiner Familie in Oley, Pennsylvania. Acht weitere Romane aus dieser Serie liegen im Aufbau Taschenbuch vor: »Der fremde Tibeter«, »Das Auge von Tibet«, «Das tibetische Orakel«, »Der verlorene Sohn von Tibet«, »Der Berg der toten Tibeter«, »Der tibetische Verräter«, »Der tibetische Agent« und »Tibetisches Feuer«.

Mehr Informationen zum Autor unter www.eliotpattison.com

Thomas Haufschild, geb. 1967, arbeitet seit 1991 als Übersetzer und hat alle Romane von Eliot Pattison ins Deutsche übertragen.

Informationen zum Buch

Tibet sehen …

Shan, ein ehemaliger Ermittler, wurde nach Tibet verbannt. Nun soll er in einem abgelegenen Dorf für Ordnung sorgen. Als an einem heiligen Ort drei Leichen gefunden werden, steht er vor einem Rätsel. Was haben ein toter Lama, ein Soldat, der seit mehr als fünfzig Jahren tot ist, und ein ermordeter Amerikaner gemeinsam? Eine Person könnte ihm weiterhelfen: eine Frau mit auffällig grünen Augen. Doch sie scheint in die Berge geflohen zu sein.

»Pattison ist ein intimer Kenner der tibetischen Kultur. Detektiv Shan ist für den Leser auch Reisebegleiter durch eine fremdartige Welt.« Nürnberger Nachrichten

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Eliot Pattison

Die Frau mit den grünen Augen

Ein Tibet-Krimi

Aus dem Amerikanischen von Thomas Haufschild

Inhaltsübersicht

Über Eliot Pattison

Informationen zum Buch

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Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Epilog

Anmerkung des Verfassers

Glossar der fremdsprachigen Begriffe

Impressum

Dieses Buch ist

der International Campaign for Tibet

und Tibet House

gewidmet.

Kapitel Eins

Wenn du das Alter der menschlichen Seele ergründen willst, schau nach Tibet, hatte ein greiser Lama einst zu Shan Tao Yun gesagt. Hier auf dem Dach der Welt, wo die Menschen so leidgeprüft waren, wo Wind, Hagel und Tyrannei so vielen seit so langer Zeit zugesetzt hatten, kam es einem Wunder gleich, dass der menschliche Funke überhaupt noch existierte. Als Shan einen Blick auf den alten tibetischen Hirten warf, der neben ihm knietief im Schlamm stand, das graubärtige, wettergegerbte Gesicht voller Schmutz, und dessen Augen vor lauter Lebensfreude strahlen sah, erkannte er darin etwas Uraltes und Reines. In Tibet mochten die Seelen der Menschen beständig auf die Probe gestellt und gepeinigt werden, aber sie hielten stets stand.

»Leg dich mehr ins Zeug, Chinese!«, rief der Alte fröhlich und enthüllte dabei eine breite Zahnlücke, bevor er sich den Schwanz des Yaks vor ihnen um die Hand wickelte.

Shan stemmte sich gegen das feuchte Fell am Hinterteil des Tiers. Der riesige Yak versuchte mit lautem Brüllen, dem zähen Morast zu entkommen, und sank dann zurück.

Die vier Tibeter in Shans Begleitung wurden Wilde genannt, und das nicht etwa, weil das alte Ehepaar samt Enkelin und deren Sohn aus einer so abgeschiedenen Bergregion stammte, sondern, weil sie zu den wenigen Tibetern zählten, die es ablehnten, sich bei den Behörden als chinesische Staatsbürger registrieren zu lassen. Ihr kostbarer Yakbulle war im tiefen Schlamm einer Furt stecken geblieben, die gefährlich nahe an der wichtigsten Zufahrt der kleinen Stadt lag. Shan, der ebenfalls bis zu den Knien eingesunken war, während er sich an dem sanftmütigen, massigen Tier abmühte, entging nicht, dass die alten Tibeter immer öfter besorgte Blicke in Richtung der Straße warfen.

»Gyok po! Gyok po!«, rief der alte Trinle seiner Frau Lhamo zu, die gerade den Führstrick an Shans Pritschenwagen festband. »Schnell! Schnell!«

Die junge Frau in dem verbeulten Fahrzeug legte den Gang ein und gab Gas. Sowohl der Yak als auch Shan wurden von einem Schwall aus Schlamm überschüttet, und der Junge, der hinten auf der Ladefläche des alten Pick-ups saß, brach in schallendes Gelächter aus. Das Seil um die Brust des Tiers spannte sich, der Yak schnaubte, und Shan und Trinle stemmten sich ein weiteres Mal gegen die haarigen Hinterbacken. Ein solches Tier, aus dessen Fell der Filz für Zelte, Decken und Kleidung entstand und dessen Dung als Brennstoff diente, konnte in Tibets harten Wintern für arme Nomaden wie diese den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.

Ächzend beugte der Yak sich nach vorn, die Räder des Wagens fanden Halt, und mit einem Mal kam das Tier frei, so plötzlich, dass Shan bäuchlings im Morast landete. Unter dem Gelächter von Trinle und dessen Urenkel rappelte er sich wieder auf. Der Junge sprang von der Pritsche und schloss den sanften Yak liebevoll in die Arme. Dann lachten sie alle gemeinsam, während die alte Lhamo auf Shans schmutziges Gesicht wies und ihr Mann einen Schlammball formte und spielerisch nach ihr warf. Yara, die Frau am Steuer, stieg schwungvoll aus, so dass ihre Zöpfe mit den eingeflochtenen Perlen umherflogen. Die Erleichterung war ihr deutlich anzusehen. »Ati«, rief sie ausgelassen ihrem Sohn zu, »wenn wir ihn sauber gemacht haben, kannst du ihn reiten, bis hoch zu der Weide am …«

Dann verfinsterte sich ihre Miene, und sie verstummte abrupt.

Ein Armeetransporter, dessen Ladefläche von einer Plane überwölbt wurde, kam auf der Straße zum Stehen. Aus einer grauen Limousine dahinter stieg ein junger chinesischer Offizier und musterte das verblichene Abzeichen auf der Tür des Pick-ups. »Ich suche den Polizisten von …« – er zögerte und zog eine Landkarte zurate – »… Buzhou. Wir haben …« Seine Stimme erstarb, denn er bemerkte den nun friedlich grasenden Yak, die alte Frau, die ängstlich den Jungen gepackt hatte und in Richtung des oberhalb gelegenen Berghanges zerrte, und schließlich die beiden schlammbedeckten Gestalten, die immer noch im Morast standen. Shan ging ein Stück flussaufwärts, um sich in dem klaren Wasser zu säubern, und der Offizier beschloss, sich an Yara zu wenden, die nach wie vor bei dem Wagen stand und als Einzige halbwegs saubere Kleidung trug. »Ich bin Leutnant Jinhua«, sagte er. »Frau Wachtmeisterin?«

Shan erkannte die drohende Katastrophe, gab seine zaghaften Reinigungsbemühungen auf und tauchte stattdessen kurz in das eiskalte Wasser ein. Fröstelnd stolperte er dann zurück ans Ufer zu Trinle, der vollkommen reglos dastand und hektisch Mantras murmelte.

»Yangkar«, sagte die junge Tibeterin unterdessen. »Die Stadt heißt Yangkar.«

Shan warf ihr einen ungläubigen Blick zu. Hatte Yara denn nicht die graue Uniform des Mannes erkannt? Wusste sie etwa nicht, dass sie sich mit einem Kriecher anlegte, einem Offizier des gefürchteten Büros für Öffentliche Sicherheit, dessen Patrouillen alle alten Straßenschilder durch neue ersetzt hatten, auf denen nur noch die chinesischen Namen der entlegenen tibetischen Orte standen?

»Nein, sie heißt Buzhou, da bin ich mir sicher«, entgegnete der Offizier und wirkte dabei seltsam verwirrt. Er hielt Yara die Karte hin und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf die chinesische Bezeichnung. »Sehen Sie selbst. Buzhou, Bezirk Lhadrung. Und laut meinen Unterlagen gibt es hier ein Gefängnis.«

Yaras Augen blitzten auf. »Für Häftlinge?« Ihr Blick wanderte zu den verängstigten Tibetern, die unter der Plane des Transporters kauerten. Die meisten von ihnen trugen die Filzmäntel der dropkas, Hirtennomaden wie Yara und ihre Familie.

Aus irgendeinem Grund nahm der Leutnant seine Mütze ab. »Sie wurden nur vorübergehend in Gewahrsam genommen. Ihr Ziel ist eine Einrichtung außerhalb von Lhasa, wo sie ein besseres Leben beginnen können. Doch vor Einbruch der Nacht ist die Strecke nicht zu schaffen. Sie sollen lediglich beisammenbleiben, unter Kontrolle. Eine eigentliche Straftat wirft man ihnen nicht vor.«

»Das soll wohl heißen, diese Leute haben bisher zu weit außerhalb von Pekings Reichweite gelebt«, stellte Yara mit der beißenden Schärfe der Lehrerin fest, die sie einst gewesen war, bevor sie ihren Ausweis zerrissen hatte.

Shan stieß Trinles Schulter an. Der alte Tibeter wandte den Kopf und sah, dass seine Frau und Ati den Yak mittlerweile den breiten Grashang hinaufführten, weg von der Straße. »Yara!«, rief er voller Sorge, machte dann kehrt und eilte den anderen hinterher. Shan ging zu seinem Wagen und nahm die dunkelblaue Uniformjacke von der Ladefläche.

»Ich habe eine Thermoskanne Tee dabei«, bot der chinesische Leutnant an.

»Gut«, erwiderte die junge Frau und wies auf die Gefangenen, die sich verschüchtert an der Klappe des Transporters zusammendrängten. »Die sehen durstig aus.«

Zu Shans Erstaunen grinste der Offizier. »Ich heiße Jinhua«, wiederholte er. Der Mann war ungefähr dreißig Jahre alt, von schmächtiger Statur und mit beinahe jungenhaftem Gesicht, abgesehen von den rastlosen, forschend dreinblickenden Augen.

Shan streifte sich die Jacke über den tropfnassen Leib, zog sie zurecht und trat neben Yara. Sie drehte sich um, bemerkte ihre fliehende Familie und wich behutsam zurück, während der Offizier sie weiterhin unverwandt ansah. Da erst wurde Shan sich des Umstands bewusst, dass die schlanke Yara mit ihren hohen Wangenknochen und den tiefen, leuchtenden Augen eine auffallend attraktive Frau war. Er machte einen Schritt zur Seite und verstellte dem Offizier die Sicht.

Der Leutnant war eindeutig enttäuscht. »Sie?« Er runzelte die Stirn. »Aber Sie haben im Schlamm gewühlt.«

»Mein Einsatz wurde dort benötigt.« Shan, gerade mal drei Monate im Amt, hatte den Kontakt mit der Öffentlichen Sicherheit gefürchtet und sogar zu hoffen begonnen, diese abgelegene Ansiedlung im Hochgebirge möge den Kriechern irgendwie entgehen. »Wie darf die örtliche Polizei Ihnen behilflich sein?«

»Wir können es unmöglich bis Einbruch der Dunkelheit nach Lhasa schaffen. Die Strecke ist nachts zu riskant, und uns hat eine Rast in Wind und Kälte gedroht. Aber dann habe ich auf der Karte Buzhou entdeckt. An der Abzweigung zur Stadt habe ich mich bei einem Bauern nach dem zuständigen Polizisten erkundigt, und da hieß es, Sie seien hier an der Straße beschäftigt.«

Als Shan die Tür seines Wagens öffnete, schaute er Yara hinterher, die inzwischen eilig ihrer Familie folgte. Auf dem weiten Grashang kam von oben ein Reiter im Galopp auf die Hirten zu. Shan deutete auf den Transporter, um Jinhuas Aufmerksamkeit von den Wilden abzulenken, damit sie nicht ebenfalls in Haft endeten.

»Ich habe zwei Zellen, die für je zwei Insassen ausgelegt sind. Aber Sie haben mindestens ein Dutzend Leute dabei.«

Der Leutnant zuckte die Achseln. »Wir alle bringen Opfer, um den Ruhm unserer Nation zu mehren«, zitierte er einen Slogan aus Pekings jüngster Propagandakampagne.

Shan bog auf die befestigte Schotterstraße ein. Leutnant Jinhua warf seinen Schlüssel einem der Soldaten zu und stieg zu Shan ins Führerhaus. Während sie den langgezogenen Serpentinen ins Hochtal von Yangkar folgten, schaute der Kriecher wie ein wissbegieriger Tourist hinaus in die Landschaft. Nach einigen Minuten nahm er den kleinen steinernen Buddha, der auf dem Armaturenbrett stand.

»Sieh sich einer diesen dicken Bauch an!«, spottete der junge Leutnant. »Schon komisch. Da fertigen die ein Abbild ihres Gottes an, und dann machen sie ihn so fett und hässlich.« Er warf die kleine Figur von einer Hand in die andere. Shan zog in Erwägung, sie ihm einfach wegzunehmen. Die Statuette war das Geschenk eines alten Einsiedlers und vor vielen Jahrhunderten angefertigt worden. »Der sieht wie ein träger alter Gärtner aus, den jemand aus dem Mittagsschlaf geweckt hat.«

Shan, der befürchtete, man wolle ihn ködern, starrte stur geradeaus. »Schon komisch«, wiederholte er. »Ein einzelner Offizier der Öffentlichen Sicherheit mit einem halben Dutzend Soldaten der Armee.« Jinhua hielt den Buddha still und sah Shan an. »Eine Viertelstunde nördlich von hier sind Sie an der Abzweigung vorbeigekommen, auf der Sie über den Pass und zur Schnellstraße nach Lhasa gelangt wären«, fuhr Shan fort. »Bei nicht allzu dichtem Verkehr hätten Sie Ihr Ziel am frühen Abend erreicht. Und andernfalls hätte es unterwegs deutlich größere Städte und Gefängnisse sowie jede Menge Unterkünfte gegeben.«

»Es gab eine Sperrung wegen Steinschlags«, erklärte Jinhua und wies nach vorn, als sie den Kamm überquerten und in der Mitte des Tals die kleine Stadt in Sicht kam, eine Ansammlung heruntergekommener Gebäude inmitten von Gerstenfeldern und Weiden. »Ein armseliges Kaff am Arsch der Welt. Genosse, Sie müssen jemanden aber gründlich verärgert haben.«

Shan ging vom Gas und überholte einen Eselskarren voller Yakdung. »Nicht der Arsch der Welt, eher das obere Ende. Ein kleines Paradies aus vierhundertzweiunddreißig Seelen. Wir sind hier so hoch und weit weg von allem, dass der Rest der Welt uns kaum betrifft.«

»Vierhundertzweiunddreißig Chinesen, die froh sind, dass Peking fern ist«, sagte Jinhua, als wolle er Shan korrigieren.

»Genauer gesagt«, erwiderte Shan, »vierhundertneun Tibeter und dreiundzwanzig Chinesen, die größtenteils lieber heute als morgen wieder von hier verschwinden würden, falls das ginge. Aber sie haben sich von der Regierung als Pioniersiedler anheuern lassen, und keiner von ihnen hat das Geld, um sich aus dem Vertrag freizukaufen.«

Der Kriecher schien ihm nicht mehr zuzuhören und lehnte sich aus dem Fenster, um berittene Tibeter mit breitkrempigen Hüten dabei zu beobachten, wie sie ihre Schafe zu den Sommerweiden trieben. Shan griff unter das Lenkrad und schaltete die blinkende Signalleuchte auf dem Dach seines Wagens ein. »Cowboys in China«, murmelte der junge Leutnant. »Wer hätte das gedacht? Haben Sie in Ihrem Städtchen noch andere Wunder zu bieten, Wachtmeister?«

»Das Leben hier besteht aus nichts als Wundern«, sagte Shan. »Man muss sie nur erkennen können.« Er warf Jinhua einen nervösen Blick zu. Der Leutnant hatte eine Straßenkarte vom Armaturenbrett genommen und musterte sie beiläufig. Shan wusste aus schmerzlicher Erfahrung, dass man einem Kriecher, der sich so demonstrativ zwanglos gab, keinesfalls trauen durfte. Sogar als junger Leutnant besaß er bereits die Befugnis, jemanden allein durch seine Unterschrift für ein Jahr ins Gefängnis werfen zu lassen.

Shan verlangsamte das Tempo, denn sie erreichten den Stadtrand und rollten nun an dem großen offiziellen Schild vorbei, auf dem in chinesischen Buchstaben BUZHOU stand. Darunter hatte jemand eine Tafel befestigt und auf ihr per Hand SEGENSREICHES YANGKAR vermerkt, in der einzigen Sprache, die den meisten der Einwohner überhaupt geläufig war. Ein halbes Dutzend Tibeter auf Fahrrädern kam ihnen hastig entgegen, vorgewarnt durch Shans Signalleuchte. Der Mechaniker der einzigen ortsansässigen Werkstatt hielt bei der Reparatur eines Reifens inne und beobachtete die ungewohnte Fahrzeugkolonne. Vor ihnen auf dem kleinen Marktplatz ließ eine junge Nonne von der Arbeit an einem zwiebelförmigen Schrein ab, einem chorten, und lief zum Straßenrand, weil sie sehen wollte, wer hinten auf dem Transporter saß.

Passanten starrten ihnen schweigend hinterher. Die ganze Stadt schien zu verharren. Plötzlich knallte ein lauter Schuss. Die verängstigten Menschen flüchteten sich in Gebäude und Gassen. Shan hielt sofort an und sprang aus dem Wagen. Hinter ihm saßen die Soldaten panisch schnell von dem Lastwagen ab, luden ihre Waffen durch und legten auf die wenigen verbliebenen Einwohner an. Dann warteten sie auf einen Befehl ihres Sergeanten, der einige Meter weit gerannt war, bevor er stehen blieb.

»Jemand hat eine Sprengladung auf die Ladefläche geworfen und ist weggerannt!«, rief er Shan zu. »Ich habe die brennende Lunte genau gesehen.« Er deutete mit seiner immer noch rauchenden Pistole auf die Tibeter im Umkreis. Der Sergeant war ein altgedienter Berufssoldat und wusste vermutlich genau, dass die Bewohner der entlegenen Bergregionen einst erbitterten Widerstand gegen die Chinesen geleistet hatten. »Nicht da raufsteigen! Bist du verrückt?«

Shan ließ sich nicht beirren und kletterte zu den Gefangenen auf die Ladefläche. Dort ging eine alte Frau soeben an den zwei Sitzbänken entlang und hüllte jeden der anderen kurz in die Schwaden eines Bündels aus entzündeten Weihrauchstäbchen.

»Großmutter, wenn du fertig bist, darf ich das dann haben?«, bat Shan freundlich.

Die alte Frau lächelte verunsichert. Als sie ihm dann das Bündel reichte, hielt Shan zunächst sein eigenes Gesicht in den duftenden Rauch, bevor er sich umdrehte. Jinhua stand an der Klappe des Transporters und beobachtete das Geschehen mit äußerster Neugier. »Das ist keine Bombe«, beruhigte Shan die nervösen Soldaten. »Bloß etwas Weihrauch, um Schutzgeister herbeizurufen.«

Er warf das Bündel dem Sergeanten zu, der es nicht auffing, sondern zu Boden fallen ließ und dann wütend mit dem Stiefel zertrat.

Shan führte die Gruppe zu dem eingeschossigen, weiß verputzten Gebäude, das auf Höhe der Mitte des Platzes erbaut worden war. Vor der Tür des Polizeireviers hatte sich bereits ein kleines Empfangskomitee versammelt. Er erkannte Frau Weng, die Eigentümerin des größten Geschäfts der Stadt, Herrn Hui, den Zahnarzt, und Herrn Wu, den Stadtsekretär. Sie hatten sich selbst zum Leitenden Bürgergremium ernannt, einem Teil des örtlichen Parteiapparats. Und sie alle waren Chinesen.

Shan ignorierte ihr beifälliges Nicken und ging mit Jinhua hinein. Sie gelangten in ein karges Büro und weiter in einen dunklen Flur mit zwei offenen Zellentüren. Shan schaltete die Reihe nackter Glühbirnen an der Decke des Korridors ein, nahm eine Uniformmütze vom Tisch und warf sie nach der Gestalt, die auf einer der Pritschen lag.

»Kundschaft!«, rief er. »Wir brauchen mehr Decken, mehr Löffel, mehr Schüsseln. Mehr von allem. Besorg uns ein paar Schlafgelegenheiten aus dem Gästehaus.«

Der Tibeter mittleren Alters drehte sich um, rieb sich die Augen und sprang dann sofort auf, als er die Soldaten hinter Shan erkannte. Er schnappte sich die Uniformjacke, die zwischen die Gitterstäbe der Zelle geklemmt war, und zog sie hastig an.

»Mein Stellvertreter«, erklärte Shan. »Wachtmeister Jengtse.«

Jengtse nahm Haltung an und salutierte unbeholfen vor Leutnant Jinhua und dem Armeesergeanten. Dann wurde er rot, denn der Soldat bedachte ihn nur mit spöttischer Miene und wies auf die Gefangenen. »Sechs pro Zelle«, befahl der Neuankömmling geringschätzig.

Jengtse, der zwanzig Jahre in der Volksbefreiungsarmee gedient hatte, hauptsächlich entlang der Grenze zu Russland, holte pflichteifrig die Schlüssel vom Tisch.

Jinhua nahm auf dem Stuhl an Shans Schreibtisch Platz und verfolgte belustigt, wie sich in dem Büro voller Häftlinge und Soldaten nach und nach so etwas wie Ordnung einstellte. Die verängstigten Tibeter wurden im Gänsemarsch auf die Zellen verteilt, und die Soldaten holten ihr Marschgepäck vom Lastwagen ins Gebäude.

»Hier hinter uns gibt es ein Gästehaus der Regierung«, erklärte Shan dem Sergeanten, als er begriff, dass die Männer offenbar in dem Revier übernachten wollten. »Mit genügend Betten.« Er sah den harten Zügen des Mannes die Skepsis an. »Die Zellen werden bewacht. Heute Nacht sind wir für die Gefangenen zuständig.«

Jengtse verriegelte die Türen und wandte sich verzweifelt zu Shan um. Sie hatten beide die kleinen Schilder an der Kleidung jedes der Häftlinge gesehen, einschließlich der beiden Kinder. Yi, er, san, si. Eins, zwei, drei, vier und weiter bis zwölf. Diese Menschen hatten ihre Namen eingebüßt. Sie zählten zu der großen Schar von Nomaden, die auf den Hochebenen, ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat, von Armeepatrouillen zusammengetrieben und verschleppt worden waren. Bei ihrer Ankunft im Internierungslager würde man ihnen neue, chinesische Namen zuteilen. Nach einigen Wochen Umerziehung im Sinne der strikten Vorschriften des Mutterlandes mussten die Erwachsenen dann in fernen Provinzen Fabrikarbeit leisten, während die Kinder in Internaten verschwanden und ihre Eltern jahrelang nicht wiedersehen würden, falls überhaupt jemals.

Die kleine Tür am hinteren Ende des Zellentrakts öffnete sich plötzlich. »Shan! Wachtmeister Shan!«, rief die Frau, noch bevor sie eingetreten war. »Die Toten erheben sich!« Es war Yara, die Shan zuletzt auf dem Rückzug in die Berge gesehen hatte. Ihr liefen Tränen über das staubige Gesicht. »Du musst …« Sie verstummte jäh, denn sie sah die Soldaten. Ihr nächster Blick galt den Gefangenen und ließ sie sichtlich erschaudern. Dann machte sie kehrt und floh zur offenen Tür hinaus. Shan fragte sich, wie sie so schnell in die Stadt gelangt sein konnte. Da fiel ihm der Reiter wieder ein.

Jengtse gab einen überraschten Laut von sich und hob etwas vom Boden auf, das Yara fallen gelassen hatte. Er betrachtete es einen Moment lang, sah erschrocken erst Shan und dann kurz Jinhua an und steckte es ein.

Shan holte einen Schlüsselring von seinem Schreibtisch und warf ihn dem Armeesergeanten zu. »Das lange, weiß getünchte Gebäude an der Mauer des Hinterhofs. Der Waschraum befindet sich im rückwärtigen Teil, und neben dessen Tür liegt in einem Wandschrank das Bettzeug verstaut. Unser Gästehaus.«

Der Sergeant zögerte noch. »Die Gefangenen befinden sich in meiner Obhut.«

»Sie haben die Leute in meine Zellen gesteckt, also bin ich nun zuständig«, erwiderte Shan. »Wie Sie sehen, gehen die nirgendwohin. Falls Sie sie lieber wieder auf Ihren Transporter verfrachten und ein Lager in den Bergen aufschlagen wollen, nur zu. Aber dann sollten Sie sich lieber beeilen; das dauert nämlich mindestens zwei Stunden.«

»Zwei Stunden?«, fragte der Sergeant.

»So lange werden Sie Yakdung sammeln müssen, damit es für ein Feuer bis zum Morgen reicht. In dieser Höhe gibt es kaum Brennholz.«

Der Sergeant grunzte mürrisch auf und musterte seine sechs erschöpften Männer. »Bettzeug im Wandschrank«, wiederholte er und ging mit den Soldaten hinaus. Shan drehte sich zu Jinhua um, der immer noch am Schreibtisch saß.

Der Kriecher erwiderte den Blick und zuckte dann die Achseln. »Gibt es in Ihrer Metropole so etwas wie ein Café?«, fragte der Leutnant.

»Ein Nudellokal am östlichen Ende des Platzes.«

»Mit Bratreis und Hühnchen?«

»Reis wird einmal im Monat geliefert und ist meistens nach einer Woche schon aufgebraucht. Sie können sich die Nudeln ja in ganz kleine Stücke schneiden, falls Ihr Heimweh so groß ist.« Shan wollte den jungen Kriecher eigentlich nicht herausfordern, aber es ärgerte ihn, dass ein arroganter Offizier der Öffentlichen Sicherheit auf seinem Stuhl saß und Shans Bemühungen untergrub, das Vertrauen der einheimischen Tibeter zu gewinnen. Vor allem aber ärgerte es ihn, dass er gezwungen wurde, an der Umsiedlungskampagne mitzuwirken, die so viel Leid über zahllose tibetische Familien brachte. »Am Ende des Gästehauses liegt eine kleine abgeteilte Zimmerflucht. Wenn Sie sich beeilen, schaffen Sie es vielleicht noch vor dem Sergeanten dorthin.«

Jinhuas kühles Grinsen ließ Shan einen Schauer über den Rücken laufen. Der Kriecher neigte den Kopf, als gebe er klein bei, stand dann auf und ging hinaus. Shan kehrte zu den Zellen zurück und fand dort Jengtse mit dem Gegenstand vor, den Yara fallen gelassen hatte. »Eine alte Gebetskette«, stellte der Stellvertreter fest. Es war eine mala, der Rosenkranz der Buddhisten. »Aus Knochen. Aus leuchtend weißen Knochen«, betonte er und legte die Kette vor Shan auf einen Tisch.

Doch die Perlen waren nicht weiß, sondern so rosa, dass Shan im ersten Moment glaubte, sie seien aus Koralle gefertigt. Als er die Kette nahm, erschrak er. Die knöchernen Perlen, eine jede kunstvoll zu dem heiligen Abbild des ewigen Knotens geschnitzt, fühlten sich klebrig an. Sie waren voller Blut.

»Nyima!«, rief eine Frau entsetzt aus der nächstgelegenen Zelle. Sie starrte die Perlen an.

»Nyima?«, fragte Shan seinen Stellvertreter.

»Die alte Einsiedlernonne, die an den Markttagen in die Stadt kommt«, erklärte Jengtse. »Sie hat eine mit tanzenden Leoparden verzierte Gebetsmühle dabei und verspricht dir tausend Umdrehungen, wenn du ihr eine Münze in den Korb wirfst.«

»Wo lebt sie?«, fragte Shan.

»Das weiß ich nicht genau. Irgendwo nördlich von hier in den Bergen. Manche nennen sie eine Hexe, weil sie so viele verstaubte Rituale abhält. Aber die alten Leute kaufen dennoch Flüche und Zauber bei ihr.«

Die Berge im Norden. Das waren mindestens zweihundertfünfzig Quadratkilometer.

Shan bemerkte, dass Jengtse an ihm vorbeiblickte. Er wandte den Kopf und sah, dass die Frau, die den Namen der Nonne gerufen hatte, ihre Hand durch die Gitterstäbe nach der blutigen Gebetskette ausstreckte.

»Woher kommen diese Gefangenen?«, fragte Shan seinen Stellvertreter.

Jengtse zuckte die Achseln. »Der Sergeant hat nur gesagt, aus dem Norden. Von den Sommerweiden, schätze ich. Da stellen sie für die Soldaten leichte Beute dar, denn sie müssen über die hohen Pässe. Und die sind wie Trichter. Man postiert Leute an beiden Enden, und schon gibt es kein Entrinnen mehr.«

Die Frau, ungefähr Ende dreißig, sah Shan nun flehentlich an. Ihm fiel die ungewöhnliche grüne Farbe ihrer tränennassen Augen auf. »Kennst du die Nonne?«, fragte er und trat näher.

»Nyima«, wiederholte die Gefangene und riss ihm die Perlen aus der Hand.

»Wo ist sie?«, fragte Shan, doch die Frau schien ihn gar nicht zu hören. »Nyima«, sagte sie beklommen, zog sich dann zu einer der Pritschen zurück und setzte sich mit der Gebetskette hin. Als er die Frage etwas lauter wiederholte, schluchzte sie auf und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Such die Frau, die vorhin hier war«, wies er Jengtse an. »Sie heißt Yara.«

Doch sein Stellvertreter stand nicht mehr hinter ihm, sondern an der äußeren Tür und versuchte, jemanden abzuweisen. »Er ist Chinese, du Närrin!«, flüsterte Jengtse eindringlich. »Wir treffen uns im Stall.«

Shan schluckte seinen Ärger herunter und gesellte sich hinzu. Draußen stand Rikyu, die junge Nonne, die sich um die Schreine der Stadt kümmerte, und verbarg hastig eine Hand in den Falten ihres Gewands. Shan zog sie flink wieder hervor. Rikyu hielt eine kleine, einst elegante Gebetsmühle, die nun fast vollständig platt gedrückt war. Die Kupferoberfläche war mit silbernen Reliefs verziert, die wie tanzende Leoparden aussahen.

»Wo?«, fragte Shan streng. »Wo ist Nyima?«

»Ich weiß es nicht«, sagte die Nonne. »Sie schläft in einer Höhle oben jenseits der alten Salzschreine.«

»Kannst du mich dort hinführen?«

Rikyu nickte nervös. »Am Ende der Straße, auf der die Lastwagen Schafe aus den Bergen holen, kurz vor dem Pass, über den man nach Lhasa gelangt.«

»Zeig es mir«, sagte Shan, zog die Nonne herein und deutete auf eine Landkarte an der Wand. Rikyu wies auf eine gewundene gepunktete Linie, die von der Schnellstraße nördlich der Stadt bis zum unteren Ende eines steilen Gebirgskamms verlief. »Wahrscheinlich ist sie nur gestürzt. Ich werde nach ihr sehen. Sie brauchen sich nicht zu bemühen.« Das war eine tibetische Angelegenheit, meinte sie, und Tibeter sollten sich darum kümmern.

Er streckte die Hand nach der zerstörten Gebetsmühle aus und zeigte dann auf ein gezacktes Muster in dem weichen Metall. »Das stammt von einem schweren Stiefel, nicht von dem Schuh einer Nonne.«

Rikyu behielt den Blick gesenkt. Weder sie noch sein Stellvertreter trauten ihm. Sie wussten, dass ein fremder chinesischer Polizist, der allein in den Bergen auftauchte, die wenigen dort lebenden Tibeter allenfalls wie scheue Rehe verscheuchen würde. »Hol Frau Weng«, befahl er Jengtse. »Sag ihr, das Leitende Bürgergremium wird benötigt.«

Jengtse verzog das Gesicht, aber gehorchte. Als er das Gebäude verließ, murmelte er missmutig vor sich hin. Rikyu zögerte kurz, als nehme sie an Shan etwas Neues wahr. Während seiner ersten Wochen im Amt hatte die Nonne ihre Lizenz zum Tragen eines Gewands, die Registrierung des Büros für Religiöse Angelegenheiten, stets deutlich sichtbar an ihre Kleidung geheftet und sich Shan gegenüber wie eine fügsame Dienerin verhalten. Am Ende hatte Shan sie ins Büro mitgenommen, auf dem quietschenden alten Kopiergerät ein Duplikat ihrer Lizenz angefertigt und der Nonne dann gesagt, er würde das Dokument zu den Akten nehmen und sie müsse es fortan nicht mehr offen zur Schau stellen. Danach hatte Rikyu regelrecht verängstigt gewirkt, und Shan hatte begriffen, dass sie sein Handeln als Drohung auffasste.

Nun fanden Frau Weng und die anderen Mitglieder des Komitees sich binnen zehn Minuten im Polizeirevier ein. Als Shan erklärte, was er vorhatte, ließ die allseits wachsende Begeisterung ihn erschaudern. »Jeder der Gefangenen erhält eine volle Schale Nudeln, und vor dem Essen dürfen alle den Waschraum benutzen, jeweils einer nach dem anderen.« Er zeigte auf die Schlüssel, die an einem Haken neben seinem Schreibtisch hingen. »Niemand sonst betritt das Gebäude, während ich weg bin.« Ihm fiel der sehnsüchtige Blick des Zahnarztes zum Waffenschrank auf. »Und nein, Herr Hui, es werden keine Schusswaffen ausgegeben. Niemand in den Zellen hat eine Gewalttat begangen.« Er sah Herrn Wu an, den Stadtsekretär, der ihm wie der Pflichtgetreueste der drei vorkam. »Eine Schale Nudeln für jeden«, wiederholte er. »Und Tee für alle. Meine Überwachungskameras werden mir verraten, ob Sie die Anweisungen befolgen.« Die Komiteemitglieder nahmen so etwas wie Haltung an und nickten. Herr Wu wagte einen verstohlenen Blick zur Zimmerdecke, als halte er nach den Kameras Ausschau. Dann salutierte er unbeholfen.

»Hol einen Verbandskasten und ein paar Decken«, sagte Shan zu Jengtse.

***

Als sie die Stadt verließen, rückte Jengtse sorgfältig den kleinen Buddha auf dem Armaturenbrett zurecht, so dass der Gott in Fahrtrichtung blickte. »Wir haben keine Kameras«, merkte er an.

»Dann setz sie auf die nächste Anforderungsliste. Und alles Nötige zum Sichern von Fingerabdrücken.«

»Bitte bleiben Sie realistisch«, sagte sein Stellvertreter. »Bleistifte und Papier, das mag noch angehen, aber Sonderwünsche wie diese werden nur dazu führen, dass man …« Seine Stimme erstarb, und er wies auf den Hang oberhalb der Stadt. Shan hielt am Straßenrand und richtete sein Fernglas auf den Pass. Berittene Gestalten galoppierten die lange Steigung hinauf und sammelten sich an der Stelle, von der aus man ins Hochgebirge gelangte. Shan warf einen Blick durch die Heckscheibe. Rikyu, die auf einem Bündel Decken auf der Ladefläche des Pick-ups saß, ignorierte ihn geflissentlich und presste sich ihre mala an die Lippen. Sie hatte Angst. Die Toten erheben sich, hatte Yara gesagt.

Stöhnend und ächzend quälte der alte Wagen sich die verwilderte Zufahrt hinauf, die Rikyu ihnen angezeigt hatte. Shan kannte sich in dieser Region noch nicht aus. Der äußerste nordwestliche Zipfel des Bezirks Lhadrung war berüchtigt für seine hohen, unwirtlichen Bergkämme, die das jenseits gelegene Land wie Festungsmauern abschirmten. Die Straße ging nun zunächst in grasbewachsene Furchen über und endete dann jäh an einer breiten, von Felsen umgebenen Freifläche.

»Sie wohnt in einer Höhle auf der ersten Ebene, bei den Eiskavernen«, erklärte Rikyu und stieg von der Pritsche. Shan folgte ihrem ausgestreckten Arm und erkannte weiter oben zwei Terrassen, getrennt durch einen steilen Wall. Von der zweiten, höheren Ebene aus wurden sie von mehreren Personen beobachtet. Rikyu raffte ihr weites Gewand und eilte den ausgetretenen Pfad hinauf.

Die alte Nonne lag in dem schmalen Spalt zwischen zwei Felsvorsprüngen dicht unterhalb der oberen Terrasse, einem überraschend breiten und ebenen Plateau, das sich über mehrere Hundert Meter zu erstrecken schien. Aus einer gezackten offenen Wunde an der Schläfe der Frau lief Blut über ihre Wange und den Hals. Jemand hatte ihr offenbar einen heftigen Schlag versetzt. Auch eine ihrer Hände war blutig und zwei der Finger unnatürlich abgewinkelt und eindeutig gebrochen. Ihr Gewand war ebenfalls mit Blut bespritzt. Rikyu setzte sich neben sie, umschloss die unverletzte Hand der Frau und stimmte das Mantra zur Anrufung des Mitfühlenden Buddhas an: »Om mani padme hum.«

Shan kniete sich an die andere Seite der Nonne. »Großmutter, wer hat dir das angetan?«, fragte er auf Tibetisch.

Nyima zog ihre Hand aus dem Griff der jungen Nonne und vollführte damit eine abweisende Geste, als wolle sie Shan verscheuchen. »Das ist nichts, bloß eine Kleinigkeit«, sagte sie mit krächzender Stimme. »Holt meinen Esel. Der amchi wird schon alles wieder richten.« Das war der Begriff für einen traditionellen tibetischen Heiler, aber Shan wusste nichts von einem Arzt in Yangkar, ob nun tibetischer oder anderer Herkunft. »Nicht ich brauche hier Hilfe. Die dort müssen ihren Weg finden, um mit dem Geist sprechen zu können. Damit er uns in sein Paradies mitnimmt.«

Shan folgte ihrem Blick zu einigen Tibetern in dreißig Metern Entfernung, die sich um eine Stelle versammelt hatten, an der vereinzelte Grasbüschel und Flechten wuchsen. »Hal lei lu jah«, murmelte die alte Nonne. »Hal lei lu jah.« Dieses Mantra hatte Shan noch nie gehört.

Als er sich der kleinen Schar näherte, kam er sich überaus deplatziert vor. Weder die alte Nonne noch sonst einer der Tibeter wollte seine Hilfe. Und nicht zum ersten Mal verfluchte Shan im Stillen Oberst Tan, den Militärkommandanten des Bezirks Lhadrung, dafür, dass er ihm die blaue Uniform aufgenötigt hatte. Er sehnte sich nach der zerlumpten Arbeitskleidung der früheren Jahre zurück, die es ihm gestattet hätte, sich einfach zu diesen frommen Tibetern zu gesellen. Eine Frau wich nun bei Shans Anblick hinter einen stämmig wirkenden Hirten zurück, und zwei Kinder wurden hastig zu den verschwitzten Pferden geschickt, die am Rand des Plateaus grasten.

»Hat sie dich gefunden, Wachtmeister?«, fragte einer der Männer. Da erst erkannte Shan zu seiner Überraschung Trinle, der nun suchend über Shans Schulter blickte. »Yara ist nicht mitgekommen«, erklärte Shan dem wachsamen alten Hirten und rief sich eine Karte der Gegend ins Gedächtnis. Die Straßen waren dem gewundenen Verlauf des gewaltigen Bergsockels gefolgt, doch es musste entlang der Gratlinien sehr viel kürzere und direktere Wege geben. Trinle hatte es von Anfang an eilig gehabt, auch schon vor dem Auftauchen des Armeetransporters. Sein Ziel war genau dieser Ort gewesen, aber nicht wegen des Angriffs auf Nyima. Shan zeigte auf die Stelle, die von allen angestarrt wurde. »Was habt ihr dort gefunden?«

Trinle wollte nicht antworten. Er schaute verunsichert zu seiner Frau Lhamo, die im Kreis der Tibeter eingereiht stand, und dann zu einem schwarzen Spalt im Boden.

»Es hat uns gefunden!«, rief ein Mann mittleren Alters, den Shan als einen Bauern aus der Nähe der Stadt wiedererkannte. »Ein Geist hat uns zu seinem Eingang geführt! Zu einem bayal!« Damit war eines der mythischen Paradiese gemeint, von denen es hieß, sie lägen unter der Erde verborgen und würden sich nur den äußerst Tugendhaften enthüllen. »Nyima hat gestern den Ruf von unten erschallen gehört und dann noch einmal heute Morgen. Hal lei lu jah.« Der Mann berührte das gau, das Gebetsamulett, das um seinen Hals hing. In die Schnur war ein zerknülltes Stück grünes Papier geknotet – und bei allen anderen hier auch, soweit Shan sehen konnte.

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Shan.

»Das können nur die, die reinen Herzens sind«, sagte die Frau neben dem Bauern, als würde das Shans Unwissenheit erklären.

»Hal lei lu jah«, wiederholte der Mann. »Das müssen die Worte sein, mit denen die Geister uns herbeirufen. Erst gestern und dann heute wieder, jeweils zum gleichen Zeitpunkt. Wir sind alle gekommen, um den Ruf zu hören, damit wir sein Geheimnis ergründen können!« Der Bauer wies auf die schmale Öffnung im Boden. »Endlich können wir hinüberwechseln!« Er wandte sich an die Frau an seiner Seite. »Sollten wir nicht etwas Proviant für die Reise vorbereiten?«, fragte er sie.

Shan besah sich den kleinen Spalt aus der Nähe, konnte dort unten aber lediglich dunkle Schatten erkennen. Dann ließ er den Blick über das Plateau schweifen. »Was ist das hier für ein Ort?«, fragte er. Die Umstehenden wichen ihm nervös aus.

»Die Ebene der Geister natürlich«, sagte Lhamo. »Eigentlich traut sich niemand hierher. Sie ist tabu. Nun aber werden wir gerufen, nach all den Jahren.«

Shan kniete sich hin und untersuchte den bewachsenen Rand der Öffnung, hob dann ein Grasbüschel hoch und brachte dadurch die gerade Linie einer eindeutig bearbeiteten Felskante zum Vorschein. Das Büschel war nicht wirklich angewachsen, sondern musste erst kürzlich in die lockere Erde gesteckt worden sein, als wolle man den Stein verbergen.

»Gepriesen sei Buddha! Es ist eine Tür!«, rief der Bauer, fiel auf die Knie und zog weitere Büschel heraus. Seine Frau ging ihm sogleich zur Hand, dann bückte ein weiterer Mann sich, um ihnen beim Wegräumen der Erde zu helfen. Kurz darauf hatten sie eine sorgsam gemeißelte Steinplatte freigelegt, ungefähr zweieinhalb Meter lang und knapp zwei Meter breit.

»Terma!«, sagte eine der Frauen. Damit waren buddhistische Reliquien und Lehren gemeint, die vor Hunderten von Jahren in Tibet vergraben oder versteckt worden waren, damit die Gläubigen zukünftiger Generationen sie finden würden.

»Ein bayal!«, beharrte der Bauer. »Das Paradies, auf das wir gewartet haben.«

Als Shan die Felstafel umrundete, überkam ihn ein zutiefst ungutes Gefühl.

Rikyu, die junge Nonne, war zu Nyima gerannt, um ihr den Fund zu melden, und eilte nun mit wehendem Gewand zurück. »Nicht!«, keuchte sie, als sie Shan erreichte. »Das dürft ihr nicht!« Sie packte seinen Arm. »Halten Sie die anderen auf!«

»Wer hat sie so zugerichtet?«, drängte Shan. »Weshalb sollte jemand eine alte Nonne verprügeln?«

Rikyus ängstlicher Blick richtete sich auf den Kreis der Tibeter. Der Bauer und einige andere Männer nahmen soeben an beiden Enden der Platte Aufstellung. »Nein! Ihr versteht nicht!«, rief die Nonne. »Lasst das sein!« Von weiter hinten ertönte ein verzweifelter Aufschrei, gefolgt von einem Wimmern. Nyima hatte versucht, zu ihnen zu kriechen, war aber vor lauter Schmerzen zusammengesackt. »Halt!«, kreischte sie vom Boden aus. »Ihr bringt damit die lange Nacht zurück!«

»Halt!«, griff Jengtse den Ruf überraschend nachdrücklich auf und fiel einem der Männer in den Arm. Der schüttelte ihn verärgert ab.

Niemand schien hören zu wollen. Der Bauer schnappte sich einen Hirtenstab, schob ihn in den Spalt und fing an, eine Kante der Platte hochzustemmen.

»Bitte nicht!«, flehte Rikyu. »Ich beschwöre euch! Er ist ein Heiliger!«

Der Bauer mit dem Stab bedeutete den anderen, sie sollten unter den Rand der angehobenen Felstafel greifen. »Nicht einmal ein Heiliger könnte aus eigener Kraft aus diesem Loch entkommen«, murmelte er.

Auf einmal bemerkte Shan, dass Leutnant Jinhua nur wenige Meter entfernt stand und mit Raubtiermiene das Geschehen verfolgte. »Wartet noch!«, rief Shan und drängte sich zwischen den Tibetern hindurch, um den Kriecher-Offizier abzufangen.

Doch es war zu spät. Die Platte hatte sich weit genug gehoben, dass die aufgeregten Tibeter sie packen und anheben konnten. Ächzend und wankend wuchteten sie die schwere Last ein Stück zur Seite und legten sie auf dem Gras neben der Öffnung ab.

Eine der Frauen schrie auf und stolperte zurück. Einige der Tibeter liefen weg. Andere nahmen ihre Amulette oder malas und stimmten eindringliche Gebete an. Trinle sank mit ungläubigem Blick auf die Knie.

In dem breiten, mit weiteren Steinplatten ausgekleideten Grab lag ein Lama, die Hände über dem Bauch verschränkt, die Lider der geschlossenen Augen zinnoberrot bemalt, das mumifizierte Gesicht und alle anderen freiliegenden Hautpartien mit Blattgold bedeckt. Die Beisetzung musste in ferner Vergangenheit stattgefunden haben, wahrscheinlich vor mehreren Hundert Jahren, und ein solcher Aufwand war nur den heiligsten aller Lehrmeister vorbehalten gewesen. Die Mantras änderten sich nun und wurden lauter. Die verbliebenen Tibeter wechselten von der traditionellen Anrufung des Mitfühlenden Buddhas zu einer Bitte um Vergebung.

Nur Leutnant Jinhua trat vor und schob sich an den fassungslosen Tibetern vorbei. Am Rand des Grabes ließ er sich erst auf die Knie und dann sogar auf den Bauch nieder, um die Mumie zu betrachten. »Er wollte Hilfe rufen«, stellte der Kriecher fest.

»Aus dem Grab kam irgendein Geräusch, das ist alles«, sagte Shan. »Vielleicht ist ein Tier durch die Öffnung gefallen.«

»Nein«, beharrte der Leutnant. »Ich meine das wörtlich.«

Shan folgte seinem Blick zu den verschränkten Händen des Toten. Einen Moment lang stockte ihm der Atem, aber dann drehte Jinhua sich herum und schwang die Beine über den Rand. Shan packte ihn grob am Kragen, zog ihn zurück und sprang flink selbst hinein in das Grab. Er holte sein eigenes Gebetsamulett hervor, als wolle er es dem lange toten Lama zeigen, schob den verschlissenen Zierteppich, der den größten Teil des Leichnams bedeckte und so groß war, dass er an den Rändern der Grube in mehrfachen Falten lag, ein Stück beiseite, trat vor und reckte den Arm. Dann biss er die Zähne zusammen und zog etwas zwischen den Fingern des Toten hervor. Der vor Ewigkeiten Verstorbene hielt ein Mobiltelefon umklammert.

Shan nahm das Gerät an sich, ignorierte Jinhuas ausgestreckte Hand und drückte den großen grünen Knopf. Ungläubig sah er das Display zum Leben erwachen. Alle Bezeichnungen waren in englischer Sprache. Shan betätigte den Knopf für den Klingelton. »Halleluja«, sang ein Chor.

Er blickte auf in einen Kreis verwirrter Mienen.

Die junge Nonne fand als Erste ihre Stimme wieder. »Bedecke ihn! Er ist ein Heiliger, kein Ausstellungsstück!«

Shan ließ es zu, dass Jinhua sich vorbeugte und ihm das Telefon abnahm. Dann packte er links und rechts die Ränder des alten Teppichs, um sie mit Schwung über den Toten zu breiten. Doch im nächsten Moment erstarrte er.

Die Tibeter, auch die Nonne, zuckten erschrocken zurück, keuchten auf, griffen sich an den Leib. Jengtse stieß eine Verwünschung aus und hob wie zum Schutz den Hirtenstab. Shan ließ den Teppich los und drückte sich flach an das Ende der Grube. Sein Herz klopfte wie wild.

»Genau wie Sie gesagt haben«, stellte Jinhua in scharfem Tonfall fest. »Hier jagt ein Wunder das andere.«

Der abscheulich aussehende vertrocknete Leichnam, den Shan zur Linken des Lama aufgedeckt hatte, war der eines chinesischen Soldaten, der zwar nicht seit Jahrhunderten, aber vermutlich seit Jahrzehnten hier lag. Der Tote zur Rechten war ein Westler und erst vor einigen Stunden gestorben.

Kapitel Zwei

Der Abstieg von der Ebene der Geister war weniger von Trauer als vielmehr von Verärgerung geprägt. Rikyu regte sich darüber auf, dass man das Grab eines so unverkennbar heiligen Mannes geöffnet hatte. Noch mehr aber entsetzte sie, dass die Ruhestätte durch andere Tote entweiht worden war. Die verbliebenen Tibeter, mit Ausnahme des unerschütterlichen Trinle, störten sich am meisten daran, dass Shan sie kurzerhand verpflichtet hatte, die beiden nunmehr in Decken gehüllten Leichen den Pfad hinunterzutragen.

»Wo ist die Eishöhle?«, fragte Shan, als sie unten ankamen. Rikyu würdigte ihn lediglich eines bohrenden Blicks.

»Nur hundert Schritte das Sims entlang«, antwortete Trinle stattdessen und zeigte in Richtung Norden.

Shan schaute unschlüssig zu Leutnant Jinhua, der das kleine Plateau zunächst noch genauer in Augenschein genommen hatte, bevor er im Laufschritt zu Shan aufgeschlossen war. »Zur Höhle«, wies er die Tibeter an und wandte sich wieder an die junge Nonne. »Schnappen Sie sich ein paar Leute, tragen Sie Nyima nach unten und machen Sie es ihr hinten auf meinem Pick-up bequem. Ich nehme sie mit in die Stadt.«

Jinhua blickte fragend den Männern hinterher, die sich mit den beiden Toten einem tiefen Schatten in der Bergflanke näherten. »In Yangkar gibt es keine Leichenhalle zur Kühlung«, erklärte Shan und deutete auf die Stelle, an der ihre Wagen geparkt standen. »Da ist genug Platz für die Behördenfahrzeuge, sogar für ein oder zwei Hubschrauber.«

Der Offizier wirkte überrascht. »Hubschrauber?«

»Die Nachricht, dass hier bei Yangkar ein toter Westler gefunden wurde, dürfte sich ziemlich schnell bis nach Peking herumsprechen und hektische Betriebsamkeit auslösen. Dutzende von Beamten der Öffentlichen Sicherheit werden das Gelände durchkämmen. Das Büro für Religiöse Angelegenheiten wird Ansprüche auf das Grab anmelden. Das Außenministerium wird darauf bestehen, sich um den Leichnam zu kümmern. Und sobald die Herkunft des Toten geklärt ist, werden natürlich Ermittler aus seinem Heimatland hinzustoßen.«

Shan hielt inne. Der junge Leutnant wirkte manchmal so arrogant, bisweilen aber auch nur verwirrt. Shan hatte genügend Morde und Kriecher erlebt, um zu wissen, dass Jinhua über einen derartig sensationellen Fund eigentlich froh, ja sogar begeistert sein müsste, denn für ihn konnte dabei womöglich eine Beförderung herausspringen, auf jeden Fall aber die Versetzung in eine der aufregenden Großstädte im Osten. Doch Shans Worte schienen den Offizier eher zu beunruhigen. Sein Blick folgte immer noch der kleinen Prozession auf der grasbewachsenen Ebene.

»In Tibet verunglücken doch gelegentlich auch westliche Bergsteiger, oder?«, fragte Jinhua nach einem Moment. »Er hatte Kletterstiefel an.«

»Sie stürzen für gewöhnlich aber nicht in uralte Gräber und bedecken sich selbst mit Granitplatten«, wandte Shan ein.

»Und dieser Soldat ist schon lange tot. Tibets Befreiung ging damals nicht ohne Blutvergießen ab.«

»Das sind gefährliche Ansichten für einen ehrgeizigen Offizier, Leutnant. In unseren Geschichtsbüchern steht, die Tibeter hätten die chinesischen Soldaten mit Blumengirlanden behängt, um das Ende ihrer Knechtschaft zu feiern.«

Jinhua ignorierte ihn. »Er wurde zweifellos schon vor Jahrzehnten als tot gemeldet. Kaum zu glauben, dass sein Körper sich so gut erhalten hat.«

»Die Tibeter würden sagen, das habe am Einfluss des Heiligen an seiner Seite gelegen. Wie ein Diener in der Aura seines Herrn.« Shan wog seine Worte sorgfältig ab. Die beiden Toten waren tatsächlich wie Untergebene platziert worden. Warum sollte jemand sich bei der Beseitigung von Leichen solche Mühe machen? Und dann auch noch zwei Mal, im Abstand so vieler Jahre?

»Wohl eher an der Kälte und Trockenheit«, stellte Jinhua fest. »Ausdörrung ohne Verwesung. Das kommt in großen Höhen vor. Wir sind also zufällig auf das Grab eines alten Soldaten gestoßen, so, wie ein Bagger beim Ausheben eines Fundaments irgendwelche alten Knochen zum Vorschein bringt. Man wirft sie einfach in ein neues Loch und macht weiter.«

»Falls Sie den Vorfall lieber nicht melden wollen, kann ich das übernehmen«, bot Shan an. »Sie ziehen einfach mit Ihren Gefangenen weiter und vergessen die ganze Angelegenheit.«