Barack Obama

 

Ein amerikanischer Traum

Die Geschichte meiner Familie

 

 

Aus dem Amerikanischen

von Matthias Fienbork

 

 

 

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

 

 

Titel der Originalausgabe:

Dreams from My Father

A Story of Race and Inheritance

Three Rivers Press, New York 2004

 

 

Ursprünglich als Hardcover-Ausgabe erschienen

1995 bei Times Books, Random House, Inc.

 

 

ISBN 978-3-446-23367-6

© 1995, 2004 by Barack Obama

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2008

Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH,

Hamburg

www.hanser.de

 

 

 

 

Denn wir sind Gäste und Fremdlinge vor dir,

wie alle unsre Väter.

 

1. Chron 29,15

Vorwort zur Neuausgabe von 2004

Fast zehn Jahre sind seit dem Erscheinen dieses Buches vergangen. Dass ich es geschrieben habe, ging – wie damals in der Einleitung erwähnt – auf ein Angebot zurück, das mir während meines Studiums gemacht wurde, nach meiner Wahl zum ersten afroamerikanischen Präsidenten der Harvard Law Review. Diese Berufung sorgte für ein gewisses Aufsehen. Ein Verleger zahlte mir einen Vorschuss, und ich machte mich an die Arbeit, überzeugt, anhand der Geschichte meiner Familie einen Beitrag zum Verständnis der Rassenprobleme in unserem Land und der Identitätsbrüche leisten zu können, der Ungleichzeitigkeiten und kulturellen Differenzen, die für moderne Gesellschaften so charakteristisch sind.

Als das Buch erschien, war ich, wie die meisten Jungautoren, voller Hoffnung und Zweifel – Hoffnung, es könne ungeahnten Erfolg haben, Zweifel an mir selbst, nichts Wesentliches gesagt zu haben. Die Wahrheit lag irgendwo in der Mitte. Das Buch wurde wohlwollend besprochen, und zu den Lesungen, die der Verlag organisierte, kamen tatsächlich Leute. Die Verkaufszahlen waren nicht überwältigend. Und nach ein paar Monaten kehrte ich in meinen Alltag zurück, überzeugt, dass meine Schriftstellerkarriere kurzlebig sein würde, aber froh, die Sache mehr oder weniger würdevoll überstanden zu haben.

In den nächsten zehn Jahren blieb mir kaum Zeit zum Nachdenken. 1992 war ich in einem Projekt zur Registrierung von Wählern engagiert, ich begann als Bürgerrechtsanwalt zu arbeiten und unterrichtete an der Universität von Chicago Verfassungsrecht. Meine Frau und ich kauften ein Haus, bekamen zwei reizende, gesunde und lebhafte Töchter und mussten Geld verdienen. Als 1996 im Parlament von Illinois ein Sitz frei wurde, drängten mich einige Freunde zu kandidieren. Ich errang das Mandat. Mir war schon klar, dass die Politik in den Bundesstaaten längst nicht so aufregend ist wie in Washington. Man steht nicht im Scheinwerferlicht, beschäftigt sich mit Themen, die für einige Leute wichtig, für den Mann auf der Straße aber ziemlich uninteressant sind (Zulassungsbestimmungen für Wohnmobile etwa oder Abschreibung bei landwirtschaftlichen Maschinen). Doch ich fand die Arbeit befriedigend, vor allem, weil hier in überschaubarer Zeit konkrete Ergebnisse möglich sind – beispielsweise die Einbeziehung armer Kinder in die Krankenversicherung oder eine Gesetzesreform, die verhindern soll, dass Unschuldige in die Todeszelle wandern. Und auch, weil man im Parlament eines großen industriell geprägten Bundesstaats tagtäglich im Gespräch mit den Menschen ist: mit der schwarzen Mutter aus dem Slumviertel und dem Farmer, dem Investmentbanker und dem ungelernten Arbeiter – sie alle wollen ihr Anliegen vorbringen, gehört werden.

Vor einigen Monaten wurde ich von der Demokratischen Partei als Repräsentant des Staates Illinois für den US-Senat nominiert. Es war eine hart umkämpfte Entscheidung in einem Feld mit vielen finanziell abgesicherten, fähigen und prominenten Kandidaten; ich selbst, ein Schwarzer mit einem merkwürdigen Namen, ohne organisatorischen Rückhalt und Vermögen, war als Außenseiter angetreten. Und als ich dann die Mehrheit errang, mit den Stimmen weißer und schwarzer Wähler aus den Vorstädten und den innerstädtischen Vierteln von Chicago, fiel die Reaktion ähnlich aus wie bei meiner Wahl zum Präsidenten der Law Review. Mainstream-Kommentatoren äußerten sich überrascht und mit der ehrlichen Hoffnung, dass mein Sieg einen spürbaren Wandel in unserer Rassenpolitik signalisiere. Die schwarzen Wähler empfanden Stolz auf das, was ich erreicht hatte, auch wenn sich in diesen Stolz Frustration mischte, weil wir – fünfzig Jahre nach dem Verfahren Brown vs. Board of Education und vierzig Jahre nach Verabschiedung des neuen Wahlrechts – noch immer die Chance feiern (nur die Chance, denn es stehen schwere Wahlen an), dass ich der einzige Afroamerikaner im Senat (und erst der dritte in seiner Geschichte) werden könnte. Meine Familie, meine Freunde und ich registrierten das große Interesse mit Verwunderung, waren uns immer der Kluft zwischen dem Medienhype und der banalen Alltagsrealität bewusst.

So wie jenes Interesse vor zehn Jahren meinen Verleger aufmerksam gemacht hatte, so hat der abermalige Medienrummel zu einer Neuauflage geführt. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich das Buch wieder in die Hand genommen und einige Kapitel gelesen, weil ich sehen wollte, ob sich meine Stimme im Laufe der Zeit verändert hat. Ich muss gestehen, dass ich immer wieder zusammenzuckte – bei einer ungeschickten Formulierung, einer unverständlichen Aussage, einem larmoyanten oder allzu kalkuliert eingesetzten Gefühl. Weil ich den knappen Ausdruck zu schätzen gelernt habe, würde ich das Buch am liebsten um fünfzig Seiten kürzen. Ich kann aber nicht ernsthaft behaupten, dass die Stimme in diesem Buch nicht mir gehört, ich die Geschichte heute ganz anders erzählen würde als vor zehn Jahren, auch wenn bestimmte Passagen sich als politisch unbequem erwiesen haben und Wasser auf die Mühlen von Kommentatoren und politischen Gegnern sind.

Deutlich verändert hat sich natürlich der Kontext, in dem das Buch heute gelesen wird. Entstanden war es vor dem Hintergrund von Silicon Valley und dem Börsenboom, zu einer Zeit, als die Berliner Mauer fiel, Mandela langsam, unsicheren Schritts das Gefängnis verließ und Staatspräsident wurde, die Osloer Friedensvereinbarung unterzeichnet wurde. Die kulturpolitischen Auseinandersetzungen hierzulande – um Waffenbesitz und Abtreibung und Rap-Musik – wurden so heftig geführt, weil Bill Clintons Dritter Weg (ein reduzierter Wohlfahrtsstaat ohne große Ambitionen, aber auch ohne scharfe Kanten) einem allgemeinen Grundkonsens entsprach, dem selbst George W. Bush, der »Konservative mit Herz«, zustimmen musste. Außenpolitisch war vom Ende der Geschichte die Rede, vom Sieg des Kapitalismus und der Demokratie, vom globalisierten ökonomischen Wettstreit, der an die Stelle von Krieg und alten Rivalitäten treten würde.

Und dann, am 11. September 2001, zerbrach die Welt.

Ich will gar nicht erst versuchen, diesen Tag und die folgenden Tage zu beschreiben – die Flugzeuge, die gespenstisch in Stahl und Glas rasten, die zeitlupenhaft einstürzenden Türme, die aschgrauen Gestalten in den Straßen, den Schmerz und die Angst. Und ich will auch nicht so tun, als könnte ich den abgrundtiefen Nihilismus verstehen, der die Terroristen und ihre Gesinnungsgenossen antrieb und noch heute antreibt. Meine Empathie versagt angesichts des ausdruckslosen Blicks all jener, die eine sinnlose Befriedigung darin finden, unschuldige Menschen zu töten.

Ich weiß nur, dass sich an diesem Tag die Geschichte mit Macht zurückmeldete. Und dass, wie Faulkner schon sagte, die Vergangenheit nicht tot, nicht einmal vergangen ist. Diese kollektive Geschichte, diese Vergangenheit, berührt unmittelbar meine eigene. Nicht nur, weil die unheimlich präzisen Anschläge von al-Qaida mir vertraute Orte trafen – Nairobi, Bali, Manhattan; nicht nur, weil sich überege Republikaner seit dem 11. September über meinen Namen lustig machen. Sondern auch, weil der Grundkonflikt – zwischen Reich und Arm, zwischen Moderne und Tradition, zwischen jenen, die die anstrengende, konfliktträchtige Unterschiedlichkeit der Menschen akzeptieren und doch auf gemeinsamen, verbindlichen Werten bestehen, und jenen, die, unter welcher Flagge, Parole oder heiligen Schrift auch immer, eine verkürzte Eindeutigkeit suchen, die Gewalt gegenüber dem Anderen rechtfertigt – weil dieser Grundkonflikt auch in meinem Buch anklingt.

Ich kenne die Verzweiflung und die Unruhe der Ohnmächtigen: ich habe gesehen, wie sie das Leben der Kinder auf den Straßen von Djakarta, Nairobi und in der Chicagoer South Side beeinflusst, wie schmal der Grat zwischen Demütigung und grenzenloser Wut ist, wie schnell aus Hoffnungslosigkeit Gewalt wird. Ich weiß, dass die Antwort der Mächtigen auf diese Unruhe – schwankend zwischen träger Selbstzufriedenheit und, sobald die Unruhe eine gewisse Grenze überschreitet, gedankenloser Anwendung von Gewalt, längeren Gefängnisstrafen und noch ausgeklügelteren Waffen – nichts ausrichtet. Ich weiß, dass unversöhnliches und fundamentalistisches Denken uns alle ins Verderben stürzt.

Und so verband sich mein Versuch, diesen Konflikt zu verstehen und meinen Platz darin zu finden, mit der gesellschaftlichen Debatte, in der ich mich engagiere, einer Debatte, die auf Jahre hinaus unser Leben und das unserer Kinder prägen wird.

Was das politisch heißt, wäre Thema für ein anderes Buch. Ich möchte statt dessen mit einer sehr persönlichen Bemerkung schließen. Die meisten Menschen, die in diesem Buch vorkommen, sind – mal mehr, mal weniger – Teil meines Lebens.

Einen ganz besonderen Platz nimmt aber meine Mutter ein, die kurz nach Erscheinen dieses Buches an Krebs starb.

Sie hatte in den vorangegangenen zehn Jahren all das getan, was ihr am Herzen lag. Sie reiste, arbeitete in entlegenen Dörfern Asiens und Afrikas, half den Frauen, eine Nähmaschine oder eine Milchkuh zu kaufen oder eine Ausbildung zu beginnen, die ihnen wirtschaftliche Unabhängigkeit bringen würde. Sie schloss Freundschaften mit Menschen aus allen Schichten, unternahm lange Wanderungen, betrachtete den Mond und stöberte auf den Märkten von Delhi oder Marrakesch nach irgendeiner Kleinigkeit, einem Schal oder einer Figur, die ihr gefiel. Sie schrieb Berichte, las Romane, ging ihren Kindern auf die Nerven und träumte von Enkelkindern.

Wir sahen uns oft, hatten eine gute Beziehung. Sie las das Manuskript dieses Buches, korrigierte mich, wenn ich etwas falsch verstanden hatte, äußerte sich nicht zu meinen Beschreibungen ihrer Person, war aber sofort bereit, die weniger schmeichelhaften Facetten im Charakter meines Vaters zu verteidigen oder zu erklären. Sie trug ihre Krankheit mit Würde und Heiterkeit und half meiner Schwester und mir weiterzuleben – trotz unserer Ängste, unseres Nicht-wahrhaben-Wollens, unseres plötzlichen Schmerzes.

Vielleicht, denke ich manchmal, hätte ich ein anderes Buch geschrieben, wenn ich gewusst hätte, dass sie ihre Krankheit nicht besiegen würde – weniger eine Auseinandersetzung mit dem abwesenden Vater, eher ein Loblied auf die Mutter, die in meinem Leben die einzige Konstante war. In meinen Töchtern sehe ich sie jeden Tag, ihre Freude, ihre Fähigkeit zu staunen. Ich will gar nicht versuchen zu beschreiben, wie sehr ich ihren Tod noch immer betrauere. Sie war der freundlichste, großzügigste Mensch, dem ich je begegnet bin – ihr verdanke ich das Gute in mir.

Einleitung

Geplant war ursprünglich ein ganz anderes Buch. Das Angebot, es zu schreiben, erhielt ich während meines Studiums, nach meiner Wahl zum ersten schwarzen Präsidenten der Harvard Law Review, einer außerhalb von Fachkreisen weitgehend unbekannten juristischen Fachzeitschrift. Meine Ernennung sorgte für ein gewisses Aufsehen. Es erschienen mehrere Zeitungsartikel, die weniger von meinen bescheidenen Leistungen zeugten als von der besonderen Stellung, die die Harvard Law School in der amerikanischen Mythologie einnimmt, und zugleich vom Hunger Amerikas auf optimistische Signale von der Rassenfront, denen zu entnehmen wäre, dass letztlich doch Fortschritte erzielt worden sind. Einige Verleger riefen mich an, und weil ich mir einbildete, etwas über die aktuelle Rassenpolitik zu sagen zu haben, erklärte ich mich bereit, nach dem Abschlussexamen ein Jahr freizunehmen und meine Gedanken zu Papier zu bringen.

Mit geradezu erschreckendem Selbstbewusstsein ging ich daran, den Inhalt des Buches zu entwerfen. Rassengleichheit und die begrenzten Möglichkeiten, sie auf juristischem Weg durchzusetzen, die Bedeutung von Solidarität und die Aktivierung des öffentlichen Lebens durch engagierte Arbeit an der Basis, affirmative action und Afrozentrismus – die Liste der Themen nahm eine ganze Seite ein. Ich würde natürlich auch persönliche Erlebnisse einbeziehen und die Quellen wiederholt auftretender Gefühle analysieren. Alles in allem würde es aber eine intellektuelle Reise sein, mit Landkarten und Rastzeiten und einem strikten Fahrplan – der erste Teil sollte im März fertig sein, der zweite im August...

Doch als ich dann tatsächlich mit dem Schreiben begann, stellte ich fest, dass sich meine Gedanken in eine völlig andere Richtung bewegten. Erinnerungen an frühe Sehnsüchte stiegen in mir hoch, ferne Stimmen erklangen, wurden leise und wieder lauter. Ich entsann mich der Geschichten, die meine Mutter und ihre Eltern mir als Kind erzählt hatten, Geschichten, mit der eine Familie sich selbst zu erklären versuchte. Ich erinnerte mich an mein erstes Jahr in Chicago, an die Stadtteilarbeit, an mein unsicheres Erwachsenwerden. Ich hörte meine Großmutter, die unter einem Mangobaum saß, meiner Schwester das Haar flocht und mir von meinem Vater erzählte, den ich nicht kannte.

Angesichts dieser Flut von Erinnerungen schienen all meine wohldurchdachten Theorien irrelevant und übereilt. Immer noch wehrte ich mich gegen den Gedanken, meine Vergangenheit in Buchform offenzulegen. Es wäre mir unangenehm gewesen, und ich hätte mich auch ein wenig geschämt. Nicht, weil diese Vergangenheit sonderlich schmerzhaft oder schwierig war, sondern weil sie jene Teile von mir berührte, die sich dem Bewusstsein entziehen und – zumindest an der Oberfläche – dem Leben widersprechen, das ich heute führe. Ich bin jetzt dreiunddreißig, arbeite als sozial und politisch engagierter Anwalt in Chicago, einer Stadt, die mit ihren Rassenwunden lebt und stolz ist auf ihre Unsentimentalität. Wenn ich kein Zyniker geworden bin, so halte ich mich doch für einen Realisten, der sich keinen allzu großen Erwartungen hingibt.

Und doch fällt mir beim Nachdenken über meine Familie vor allem meine – selbst für ein Kind unvorstellbare – Arglosigkeit auf. Der sechsjährige Cousin meiner Frau hat diese Unschuld schon verloren: Vor einigen Wochen erzählte er seinen Eltern, dass einige seiner Mitschüler wegen seiner Hautfarbe nicht mit ihm spielen wollten. Seine Eltern, in Chicago und Gary geboren und aufgewachsen, haben ihre Unschuld natürlich schon längst verloren, und wenn sie auch keineswegs verbittert sind – sie sind stark und stolz und energisch wie alle Eltern, die ich kenne –, so hört man in ihren Stimmen doch den Schmerz, wenn sie von ihren Zweifeln berichten, ob es richtig war, aus der Innenstadt in eine mehrheitlich weiße Vorstadtsiedlung zu ziehen, weil sie ihren Sohn davor bewahren wollten, in Bandenkriege hineinzugeraten und eine mangelhaft ausgestattete Schule besuchen zu müssen.

Sie wissen zu viel, wir alle haben zu viel gesehen, als dass wir die kurze Ehe meiner Eltern – ein Schwarzer und eine Weiße, ein Afrikaner und eine Amerikanerin – einfach so akzeptieren könnten. Manchen Leuten fällt es schwer, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Wenn Leute, die mich nicht gut kennen, seien es Schwarze oder Weiße, von meinem Hintergrund erfahren (meist ist es eine Entdeckung, denn ich habe schon mit zwölf oder dreizehn Jahren aufgehört, auf die Hautfarbe meiner Mutter hinzuweisen, weil ich ahnte, dass ich mich damit bei Weißen einschmeicheln würde), dann erlebe ich den kurzen Moment, in dem sie ihren Blick neu fokussieren, in meinen Augen nach einem Zeichen suchen. Sie wissen nicht mehr, wer ich bin. Insgeheim stellen sie sich vielleicht meine Zerrissenheit vor, das gemischte Blut, das gespenstische Bild des tragischen Mulatten, der in zwei Welten gefangen ist. Und wenn ich erklären sollte, dass die Tragik nicht meine sei, jedenfalls nicht meine allein, sondern die aller, der Söhne und Töchter von Plymouth Rock und Ellis Island, der Kinder Afrikas, des sechsjährigen Cousins meiner Frau und seiner weißen Klassenkameraden, und sie sich also nicht den Kopf zu zerbrechen brauchten, was mich belastet (in den Abendnachrichten kann das jeder sehen), und dass, wenn wir zumindest dies akzeptieren könnten, der tragische Kreislauf vielleicht unterbrochen würde..., nun ja, das klingt unglaublich naiv, es klingt nach enttäuschten Hoffnungen, wie bei jenen Kommunisten, die in Universitätsstädten ihre Blätter verkaufen. Schlimmer noch: Es klingt, als wollte ich vor mir selbst davonlaufen.

Ich kann niemandem verübeln, wenn er misstrauisch ist. Ich habe schon früh gelernt, meiner Kindheit zu misstrauen und den Geschichten, die sie geprägt haben. Erst viele Jahre später, nachdem ich am Grab meines Vaters gesessen und mit ihm durch die rote afrikanische Erde gesprochen habe, wurde mir klar, welche Bedeutung diese frühen Geschichten für mich hatten. Genauer gesagt: Erst da begriff ich, dass ich viel zu lange versucht hatte, diese Geschichten neu zu schreiben, Lücken zu füllen, unschöne Details zu retuschieren, persönliche Entscheidungen vor den blinden Gang der Weltgeschichte zu projizieren – alles in der Hoffnung, ein Stückchen Wahrheit auszugraben, das meinen ungeborenen Kindern sicheren Halt geben könnte.

 

Obwohl ich mich keiner allzu kritischen Prüfung aussetzen wollte und immer wieder versucht war, die ganze Sache hinzuwerfen, wird in dem vorliegenden Buch eine persönliche, innere Reise beschrieben – die Suche eines Jungen nach seinem Vater und damit auch nach einem überzeugenden Lebensinhalt für ihn, den schwarzen Amerikaner. Es ist also eine Autobiographie entstanden, obwohl ich dieses Wort immer vermieden habe, wenn mich in den zurückliegenden drei Jahren jemand fragte, worum es in diesem Buch geht. Eine Autobiographie verspricht bemerkenswerte Leistungen, Begegnungen mit Berühmtheiten, Teilnahme an wichtigen Ereignissen. Nichts von alldem in meinem Buch. Eine Autobiographie impliziert zumindest eine Art Bilanz, die bei jemandem meines Alters, der seinen Platz in der Welt erst noch zu erobern hat, reichlich übertrieben anmutet. Ich kann nicht einmal meine persönlichen Erfahrungen als repräsentativ für die Erfahrungen der schwarzen Amerikaner hinstellen (»Schließlich stammen Sie nicht aus einer unterprivilegierten Familie«, erklärte mir ein New Yorker Verleger); tatsächlich geht es in meinem Buch auch um diese spezielle Erkenntnis – dass ich mich zu meinen schwarzen Brüdern und Schwestern, ob in Amerika oder Afrika, bekennen und für ein gemeinsames Ziel eintreten kann, ohne mich als Sprecher unserer vielfältigen Kämpfe ausgeben zu müssen.

Und in jeder autobiographischen Arbeit lauern schließlich Gefahren: die Versuchung, Ereignisse in einem für den Autor günstigen Licht darzustellen, die Bedeutung der eigenen Erlebnisse zu überschätzen, die selektive Erinnerung. Bei jungen Leuten, denen die Weisheit des Alters fehlt und die Distanz, die vor gewissen Eitelkeiten schützt, sind solche Gefahren besonders groß. Ich kann nicht sagen, dass ich all diese Klippen erfolgreich umschifft habe. Ein Großteil dieses Buches stützt sich auf zeitgenössische Zeitschriften und auf die Erzählungen meiner Familie, doch die Dialoge geben nur annähernd wieder, was tatsächlich gesagt oder mir berichtet wurde. Einige Figuren setzen sich aus mehreren mir bekannten Menschen zusammen, und manche Ereignisse haben ihre eigene Chronologie. Mit Ausnahme meiner Familie und einer Handvoll öffentlicher Personen erscheinen die meisten Figuren unter anderem Namen.

Welches Etikett man diesem Buch auch geben mag – Autobiographie, Erinnerungen, Familiengeschichte oder dergleichen mehr –, ich habe mich bemüht, einen Teil meines Lebens wahrheitsgemäß aufzuschreiben. Wenn ich ins Stolpern kam, stand mir meine Agentin Jane Dystel treu und unbeirrt zur Seite. Mein Dank geht ebenso an meinen Lektor Henry Ferris, der mich mit sanfter, aber fester Hand leitete, an Ruth Fecych und ihre Mitarbeiter bei Times Books, die das Buch aufmerksam durch seine verschiedenen Stadien begleiteten, an Robert Fisher und andere Freunde, die das Manuskript bereitwillig lasen, und meine wunderbare Frau Michelle, die mich mit ihrem Witz und ihrer Offenheit immer wieder ermuntert hat.

Doch es sind vor allem meine Familienangehörigen – meine Mutter, meine Großeltern, meine Geschwister, über die ganze Welt verstreut –, denen ich Dank schulde und denen dieses Buch gewidmet ist. Ohne ihre beständige Liebe und Unterstützung, ohne ihre Bereitschaft, mich ihr Lied singen zu lassen und dabei manch falschen Ton zu ertragen, hätte ich dieses Buch nie beenden können. Wenn schon nichts anderes, dann möge es deutlich machen, wie sehr ich sie liebe und respektiere.

Erster Teil

Kindheit