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Matt Rees

DIE DAMASKUS-
CONNECTION

Thriller

Aus dem Englischen
von Werner Löcher-Lawrence

C.H.Beck

Über das Buch

Die Ärztin Amy Weston, spezialisiert auf die Behandlung von Opfern chemischer Kampfstoffe, hat es eilig. Sie muss dringend Federal Agent Dominic Verrazzano sprechen, den man ihr empfohlen hat. Jedes Verbrechen, bei dem die Grenzen des amerikanischen Staates überschritten werden, liegt im Zuständigkeitsbereich seiner New Yorker Behörde Immigration and Customs Enforcement. Und Weston hat eine wichtige Botschaft. Aber bevor sie Verrazzano erreichen kann, wird sie tödlich verletzt, kann ihm nur noch einen kryptischen Zettel geben. Verrazzano, ehemaliger Elitesoldat und Söldner, nimmt die Ermittlungen und, wie es aussieht, auch den Kampf auf. Es geht um Giftgas, um einen Anschlag, und die Untersuchungen führen ihn und seine Kollegen schließlich nach Syrien, mitten in den Bürgerkrieg, zu einem Gelände voller Sarinfässer. Aber wer steckt wirklich hinter den dramatischen Anschlagsplänen und geht es hier tatsächlich um Syrien?

Furios, voll komplexer Charaktere und überraschender Wendungen, actionreich und hochspannend – der erste Thriller von Matt Rees um den charismatischen Federal Agent Dominic Verrazzano.

Über den Autor

Matt Rees, 1967 in South Wales geboren, war Jerusalemer Bürochef der Time und schrieb u.a. vier Omar-Jussuf-Krimis, die auf Deutsch bei C. H.Beck und Heyne erschienen sind und für die er u.a. den John Creasey Dagger der CWA erhielt. Bei C. H.Beck erschien außerdem u.a. der Krimi «Mozarts letzte Arie». Matt Rees lebt und arbeitet in Luxemburg.

«Die Damaskus-Connection» ist der erste Band einer neuen Thrillerreihe des Autors.

Über den Übersetzer

Werner Löcher-Lawrence arbeitete etwa zwanzig Jahre als Lektor in verschiedenen Verlagen. Heute ist er als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u.a. John Boyne, Anthony Doerr, Patricia Duncker, Nathan Englander, Hilary Mantel, Hisham Matar, Louis Sachar und Colin Thubron.

Inhalt

Prolog

TEIL 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

TEIL II

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

TEIL III

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Für Lisa Erbach Vance

«Geduld ist die Kunst des Hoffens.» (Luc de Clapier, 1746)
Hab Dank für deine große Geduld und Kunst.
Hier kommt die Hoffnung …

Dank auch den ICE-Agenten
des New York City Field Office

«Das ICE wird sein Anti-Weiterverbreitungs-Programm
ausbauen und sich dabei auf die besonders ernsten
Bedrohungen konzentrieren: nukleares Material,
fortgeschrittene Waffensysteme und risikoreiche
Technologien.»

US Immigration and Customs Enforcement (ICE)

Alle in diesem Roman vorkommenden Namen, Personen,
Organisationen, Orte und Ereignisse entspringen entweder
der Phantasie des Autors oder werden rein fiktiv benutzt.
Jede Art von Ähnlichkeit mit tatsächlichen Geschehnissen,
Orten oder Personen, lebend oder tot, sind nicht
beabsichtigt und rein zufällig.

Prolog

Underwood hängte sie im Staub und Gedränge um das Grab der Enkelin des Propheten Mohammed ab, stieß mit seinem Jeep auf den Airport-Highway und hielt im Rückspiegel nach dem Mercedes Ausschau, der sich zwischen Eselskarren und überfüllten, bedenklich zur Seite neigenden Mini-Bussen durchwand. Zehn Minuten später kam der Jeep schlitternd vor dem ruhigen Terminal zum Stehen. Ein lethargischer Flughafenangestellter richtete warnend seinen Finger auf das «Nur für Taxis»-Schild am Bordstein. Underwood zog ein paar zerknüllte Geldscheine aus seiner Cargo-Hose und drückte sie dem Mann in die Hand. In der Hitze stach ihm jeder Atemzug scharf und qualvoll in die Lunge, während er unter dem schlecht gemalten Schild mit der Aufschrift Die syrisch-arabische Republik verabschiedet sich und wünscht Ihnen eine glückliche hindurchstolperte. Glück schien etwas so seltsam Fremdes in Damaskus zu sein, dass es den Schildermaler offenbar von der Leiter geworfen hatte, bevor er den Satz beenden konnte. Underwood verstand den Mann.

Drei Männer in weiten, schwarzen Lederjacken und mit dicken Schnauzbärten liefen zwischen Security-Gate und Tabakkiosk hin und her, und Underwood war lange genug im Nahen Osten gewesen, um zu wissen, dass sie zum Geheimdienst, dem Muchabarat, gehörten. Unter schweren Lidern starrten sie ihn an, als könnten sie ihn schon mit ihren Blicken zur Strecke bringen.

Er tastete nach dem Päckchen in der Schenkeltasche seiner Hose. Es war klein und leicht, fühlte sich jedoch so todbringend wie die Glock 17 hinten in seinem Hosenbund an. Er spähte nach dem Logo der Post, einem goldenen Kreis mit türkisfarbenem Strich. Aus der Stadt selbst ließ sich nichts mehr verschicken, aber hier, das wusste er, konnte er sein Päckchen geradewegs ins Flugzeug bekommen. Er durchquerte die Halle zum Schalter.

Die Geheimpolizisten folgten ihm mit ihren Blicken. Sie sehen deine Panik, dachte er. Bleib verdammt noch mal ruhig. Schweiß stach ihm in die Haut, als wären es Fettspritzer aus einer glühend heißen Pfanne. Der Mann draußen hatte sich auf einen Karton gesetzt und pulte sich zwischen den Zähnen herum. Vom Mercedes war nichts zu sehen. Noch nicht.

Underwood legte den Arm auf die Schaltertheke, fingerte das Päckchen hervor und zog einen dünnen, blauen Luftpostumschlag aus der Hemdtasche.

Der Postbeamte war mager, mit einem winzigen Schnäuzer und ohne Kinn, wie die Karikatur seines Präsidenten auf dem verblichenen Plakat hinter ihm an der Trennwand. Der Mann nahm den Brief und sagte etwas.

Underwood deutete auf seine Ohren und hörte sich durch die Schwingung in seinem Kiefer rufen: «Ich bin taub.»

Der Mann zuckte zurück. Underwood senkte die Stimme.

«Artillerie. Granaten», sagte er und machte eine Geste, als flögen ihm die Ohren weg. «Boom.»

Der Postbeamte zupfte nervös an seinem Schnäuzer und schob ihm eine in schlechtem Englisch verfasste Liste mit den möglichen Versandarten hin. Underwood tippte auf das Wort Express. Der Mann nickte und legte die Liste wieder weg.

Der Brief würde das Einzige sein, was seine Frau und Tochter je als Erklärung bekämen. Als eine Art Erklärung. Das Päckchen ging an Jeff Parry. Der würde der Sache ein Ende machen … wenn sie nicht ihm ein Ende machte.

Wie mir.

Die Geheimpolizisten wandten sich dem Fenster zu. Underwood folgte ihrem Blick. Der alte Mercedes kam hinter seinem Jeep zum Stehen. Seine Verfolger waren da.

Underwood schob ein verschwitztes Bündel Geld über die Theke. Der Beamte nahm es verwirrt in die Hand. Es waren mehr als fünfhundert Dollar. «Behalten Sie’s», sagte Underwood.

Die vier Männer sprangen aus dem Mercedes, angespannt, athletisch, die Gesichter hinter Strumpfmasken versteckt. Kurze, belgische Maschinenpistolen an den Hüften.

«Bitte, sorgen Sie dafür, dass der Brief durchkommt.»

Der Beamte sah, was sich draußen zusammenbraute, und versteckte sich hinter der Theke. Er schüttelte den Kopf.

«Viele Menschen werden sterben, wenn das nicht …» Underwood griff nach seiner Brieftasche. Er holte ein Foto von Francine heraus. Wegen dieses Zeugs war sein Blick wie vernebelt, und seit Tagen tränten seine Augen, aber das jetzt waren echte Tränen. Er beugte sich über die Theke und zeigte dem Mann das Foto, nahm den Umschlag und wedelte damit in seine Richtung. «Für mein kleines Mädchen.»

Der Postbeamte packte den Brief und das Päckchen und kroch in den Raum hinter der Trennwand.

Die bewaffneten Männer stürmten herein. Underwood schlug vor den verlassenen Mietwagenschaltern Haken, um sie von der Post abzulenken.

Die Geheimpolizisten zögerten. Sie waren hier, um Bestechungsgelder zu kassieren und von Zeit zu Zeit etwas Scotch zu konfiszieren. Schießereien waren was für Leute, bei denen es um alles oder nichts ging.

«Verschwindet», rief Underwood ihnen zu. «Raus hier.» Er zog seine Glock.

Seine Verfolger eröffneten das Feuer. Drei schnelle Feuerstöße, und die Muchabarat lagen am Boden. Der größte der Männer rief auf Englisch: «Erledigt sie.»

Einer der Schützen lief zu den sich windenden Polizisten. Underwood hob seine Glock und traf ihn in den Hals. Aus zwanzig Metern, die Augen voller Tränen und die Lunge ein nukleares Testgebiet. Nicht schlecht, Daryl. Er ließ die Waffe sinken und würgte. Ein guter Schütze ist noch längst kein guter Mensch. Aber das weißt du, oder, Arschloch?

Der Große hob seine Maschinenpistole und schickte ein Dutzend Kugeln in seine Richtung.

Die Geschosse schnitten durch seine Schienbeine. Er schlug mit dem Hinterkopf auf den Boden. Vor seinen Augen blitzte es auf, dann kehrte die Sicht schemenhaft wieder zurück. Die Decke des Terminals war weit, weit weg, verschattet und ohne Licht. Er schloss die Augen.

Der Schütze grub seinen Stiefel in die breiige Wunde in Underwoods linkem Bein. Der Schmerz war das Geschoss einer Drei-Millionen-Megajoule-Railgun, Underwood zuckte hoch und schlug ein weiteres Mal mit dem Kopf auf den Boden.

Der Mann hockte sich neben ihn und hob die Strumpfmaske. Es war Lance. «Wie geht’s, Daryl? Was machst du am Flughafen? Willst du verreisen?»

Underwood konnte die Worte kaum hören. Er versuchte zu akzeptieren, was kam. Er durfte sich nicht wehren. Er musste stumm bleiben, bis seine Post im Flugzeug war, musste seinem Körper erlauben zu sterben, auch wenn seine Seele noch nicht losließ. Lance beugte sich vor. Sein Trapezmuskel hob sich in einem bedrohlichen Winkel und lüftete die schusssichere Weste. Er fasste Underwoods Kinn und drehte den Kopf zur Seite. «Oh, du hast dein Hörgerät verloren.»

Der Spott drang durch Underwoods Taubheit. Er knurrte und würgte.

«Gehen wir, Hombre.» Lance packte Underwoods Fuß. Er verdrehte den gebrochenen Knochen und zog ihn über den Boden zur Tür.

Underwood hatte nicht die Luft, um zu schreien.

TEIL 1

Kapitel 1

Amy Weston lief die 26th Street hinunter und spürte ihr nahes Ende. Mit jedem Schritt rückte es näher. Sie hatte Übung darin, den Moment der Auslöschung zu erkennen. In Libyen hatte sie sich um phosphorversengte Kinder gekümmert, in Syrien war es Nervengas gewesen. Wann immer ein Patient starb, zählte sie die Tage bis zu ihrem eigenen Ende herunter. Jetzt zählte sie, weil der Hagere hinter ihr her war. Die Kapuze seines grünen Sweatshirts verschattete sein todesbleiches Gesicht, aber sein Mund verriet eine amüsierte, raubtierhafte Lust.

Weston eilte durch den Verkehr auf der Ninth Avenue. Würde er es hier tun? Hier waren zu viele Menschen. Er kam näher. Er versuchte nicht einmal, unerkannt zu bleiben.

Einen Block weiter lag das Gebäude der Polizei- und Zollbehörde des Ministeriums für Innere Sicherheit, des US Immigration and Customs Enforcement, kurz ICE. Da war sie sicher. Fürs Erste.

Die Hand des finsteren Mannes hinter ihr steckte in der Tasche seines Kapuzen-Sweatshirts. Da hatte er eine Pistole, Weston war sich sicher. Wegen ihr hatte er sie dabei.

Quanah hatte sie zum ICE geschickt, weil sie unbedingt mit einem Beamten der amerikanischen Regierung reden wollte. Jedes Vergehen, jedes Verbrechen, bei dem die Grenzen des amerikanischen Staates überschritten würden, liege im Zuständigkeitsbereich des ICE, hatte er gesagt. Weston hatte noch nie von der Truppe gehört. «Ist Verrazzano einer von den Guten?», hatte sie gefragt.

Quanah brummte: «Du brauchst keinen Guten.»

Der Kapuzenmann wurde schneller. Weston rannte. Die Erinnerung an Quanah, seine Kraft und Liebe, überwältigte sie. Wenn er jetzt hier wäre, müsste sie nicht rennen.

Sie stieß mit einem telefonierenden, jungen Mann zusammen und stolperte auf die Straße.

Ein gelbes Taxi wich ihr aus und kam mit quietschenden Reifen vor ihr zum Stehen.

Der Kapuzenmann hielt auf sie zu, eine Hand auf die Brust gepresst, das blasse Gesicht verzerrt. Vielleicht war er dem Tod näher als Weston.

Sie flüchtete auf den Rücksitz des Taxis. «Fahren Sie. Schnell, fahren Sie.»

Der Fahrer war ein schlanker Haitianer. Er setzte den Wagen in Bewegung.

Die Ampel der Avenue schaltet auf Gelb. Der Haitianer bremste.

«Fahren Sie», schrie sie. «Zwanzig Dollar. Zwanzig Dollar, wenn Sie’s noch schaffen.»

Der Haitianer zögerte, trat aufs Gas und raste die Avenue entlang.

Weston starrte aus dem Rückfenster. Ihr Verfolger war verschwunden. Sie hatte den Schmerz in seinem Gesicht und die Hand auf seiner Brust gesehen. Er war einer von ihnen. Sie wusste es. Und es saß in seiner Lunge. Offenbar hatte es auch ihn erwischt.

Etwa einen halben Block weiter drückte sie dem Fahrer einen Schein in die Hand, sprang aus dem Auto und rannte auf die nördliche Straßenseite, auf ein zu einem Bürogebäude konvertiertes Lagerhaus zu.

Ein halbes Dutzend Leute stand am Empfang, um sich in die Besucherliste einzutragen. Sie drängte an ihnen vorbei und verströmte eine solche Angst und Dringlichkeit, dass selbst die sonst so direkten New Yorker keinerlei Kommentar dazu abgaben.

Weston zog eine zusammengefaltete Ausgabe der New York Times aus der Tasche und suchte nach einem Ausweis, bekam ihren Führerschein zu fassen, warf ihn auf die Theke und setzte ihren Namen auf die Liste. Der Wachmann gab ihr einen Pass und wählte Verrazzanos Anschluss. Ein Musikvideo dröhnte auf dem Schirm über dem Zeitungsstand bei den Aufzügen. «Mach das leiser», rief der Wachmann.

Der Kioskbesitzer starrte verwirrt auf seine Fernbedienung. Drückte mit dem Daumen einen Knopf. Die Musik wurde lauter.

«Himmel noch mal, LEISER

Mehr Besucher kamen durch die Drehtür von der Straße, aber niemand mit einem Kapuzen-Sweatshirt.

«Fahren Sie hinauf. Sechster Stock», sagte der Wachmann zu Weston.

Sie hielt dem Mann am Drehkreuz ihren Besucherpass hin, drückte auf den Aufzugknopf. Alles okay, sie trat in den Aufzug. Die Türen schlossen sich, der Lärm aus der Eingangshalle, Musik und Reden verklangen. Dr. Weston atmete auf. Also war das noch nicht mein Ende, dachte sie, noch nicht. Sie wedelte sich Luft zu.

Da schob sich eine sehnige Hand zwischen die fast geschlossenen Türen.

Westons Schrei klang selbst in ihrem Kopf viel zu leise, verschluckt vom Rauschen der Welt, die sie retten wollte.

Der Kapuzenmann kam zu ihr herein.

Weston wich zurück in die Ecke des Aufzugs, möglichst weit weg von ihm. Der Mann hustete heftig. Seine Haut war grau, die Lippen fast blau. Er ist einer von ihnen.

Jetzt sprang auch noch eine Frau zu ihnen in den Aufzug und schenkte Weston ein «Das-war-knapp»-Lächeln.

Der Kapuzenmann packte sie am Hals und stieß sie zurück. Krank und zitternd, aber immer noch voller Kraft. Die Frau taumelte aus dem Aufzug.

Die Türen schlossen sich. Der Mann trat auf Weston zu, seine Augen waren von einem wilden Smaragdgrün, der Kopf zuckte auf seinem Hals wie bei einem Vogel.

Sie kniff die Augen zusammen, doch der Aufzug war voller Toter. Voller Flüchtlingskinder, Rebellen und hilfloser alter Menschen. All die Opfer. Sie schrien – schrien nach ihr und Verrazzano.

Sie spürte die Hände des Mannes kaum, die in ihre Kleider fuhren und sie durchsuchten. Er drückte ihren Kopf zurück und schob ihr seine Finger unter die Zunge. Sie würgte, und er zog sie zurück.

Unter den Toten hörte sie Underwood. Bevor er verschwunden war. Ihr die verheerenden Geheimnisse eines niederträchtigen Lebens zukeuchend, nachdem sie ihm erklärt hatte, dass ihm nur noch Tage blieben.

Der Kapuzenmann drückte ihr seine Pistole auf die Brust.

Kapitel 2

Der Nachmittagsbeschuss mit Granaten fing an, als Nabil Allaf in sein Büro in der Abteilung für Militärische Aufklärung kam. Die Einschläge, drei Kilometer entfernt im Außenbezirk von Damaskus, erschütterten den Raum. Die ferne Bedrohung durchflutete Allaf. Er war braun wie ein Rosenholzsarg, die tiefen Raucherfalten Knoten im Holz, dabei schien es Monate her, dass er es gewagt hatte, durch die Sonne zu gehen. Er schloss das Fenster, um den Lärm des syrischen Bürgerkriegs auszusperren, und steckte sich eine Zigarette an. Er musste sich um eine andere Schlacht kümmern.

Das Mädchen auf dem Display seines Blackphone war so schön, wie es nur schlafende Kinder sein können. Die Wange der Kleinen ruhte auf einem Stoff-Panda. Allaf betrachtete das Bild über das sicherheitsverbesserte Android-System und dachte wehmütig an die eigenen Züge in dem Alter. Er wünschte, seine Erinnerungen ließen sich tilgen wie dieses Video, das gleich nach dem Anruf von seinem Schweizer Server gelöscht werden würde. Der kleine Nabil hatte keine Nacht durchgeschlafen. Dafür hatte sein Vater, der General, gesorgt.

«Bist du so weit?», fragte Allaf.

Die Telefonkamera im Schlafzimmer des Mädchens schwang herum und füllte sich mit dem massigen, kahlen Kopf des Janitscharen, dessen Züge so ausdrucksstark wie die Schnauze eines Autos waren. Man konnte sich vorstellen, in den Scheinwerfern und der Wölbung der Haube eine Persönlichkeit auszumachen, dabei war es nicht mehr als eine Eigenheit des Designs. Allaf benannte seine Agenten nach den Kämpfern des alten türkischen Reiches, die als Kinder entführt und zu Soldatensklaven ohne Vergangenheit gemacht worden waren, mit einer Zukunft, die von ihrer Treue und Ergebenheit abhing. Der Janitschar schloss kurz die Augen, um seine Bereitschaft zu signalisieren, und richtete die Kamera zurück auf das Kind in dem dunklen Raum.

Auf seinem Computer öffnete Allaf Silent Circle, eine verschlüsselte Videoanwendung, die über kanadische Server lief. Die zugehörige App hatte er auf das Handy seiner Zielperson aufgespielt, angehängt an eine einfache, unschuldig wirkende SMS, die den entsprechenden Code beim Anklicken in das Betriebssystem eingab. Jetzt rief er das Telefon an.

«Ja?» Eine klumpige Silbe. Der Mann am anderen Ende der Leitung hatte geschlafen. Allaf schüttelte den Kopf. Es war noch vor sieben Uhr morgens in New York, doch der syrische Botschafter bei den Vereinten Nationen hätte längst wach sein und sich auf einen Tag voller diplomatischer Aufgaben vorbereiten sollen.

«Einen Morgen der Freude, o ehrwürdiger Herr», sagte Allaf auf Arabisch.

«Einen Morgen des Lichts.» Der Mann räusperte sich.

«Möge Allah Sie segnen, ehrwürdiger Abu Hafiz.»

«Und tausend Segenswünsche auch für Sie, o ehrwürdiger Herr.» Der Botschafter wartete, dass der Anrufer sich identifizierte.

Stattdessen begann Allaf mit seiner ersten Instruktion. «Gehen Sie in das Zimmer Ihrer Tochter Nasrine.»

Er hörte die Stille und den Schock am anderen Ende. Dann spürte er die Bewegung und den Luftzug am Mikrofon. Der Mann verließ sein Schlafzimmer und lief über den Flur.

Allaf sah auf den Blackphone-Schirm. Der Janitschar schwenkte die Kamera vom Gesicht des Mädchens und richtete sie auf die Tür. Der Botschafter erschien, massig und mit runden Schultern, seine Silhouette zeichnete sich vorm Flurlicht ab, das Telefon hielt er am Ohr. Er schnappte nach Luft und zitterte.

«Sie tun heute Folgendes», sagte Allaf. «Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten ans Mikrofon der UN-Vollversammlung tritt, verlassen Sie und Ihre Delegation den Saal. Sie kehren in die Botschaft zurück und bleiben dort.»

Eine Pause. Der Botschafter wartete auf mehr. «Und?»

«Das war’s.»

«Das ist eine einschneidende diplomatische Demonstration. Wozu soll das dienen? Wer sind Sie, dass Sie das von mir fordern?»

Allaf lachte leise. «Mein Freund wird es Ihnen zeigen.»

Die Kamera bewegte sich zurück zu dem Mädchen. Die Kleine streckte sich und brabbelte etwas, wachte jedoch nicht auf. Die Glock des Janitscharen schmiegte sich zwischen ihren Kopf und den plüschigen Panda.

«O Abu Hafiz, ich denke, Sie haben keine Fragen mehr», sagte Allaf.

«Keine Fragen», murmelte der Botschafter. «Nehmen Sie die Pistole weg.»

«Möge Allah Ihnen ein langes Leben schenken.» Allaf schloss die Silent-Circle-App auf seinem Computer.

Auf dem Blackphone-Schirm verfolgte er, wie der Janitschar am Botschafter vorbei zur Wohnungstür ging. Er schloss die Verbindung mit einer einfachen Wischbewegung.

Kapitel 3

Verrazzano wartete im Vorraum des ICE-Büros auf Amy Weston. Auf der Stockwerksanzeige sah er, dass der Aufzug bei der Zwei stoppte. Wahrscheinlich sprang da ein schlecht rasierter T-Shirt-Designer mit zerrissener Hose und einem Tablett dünner Frappuccinos für die übrigen Mode-Heinis bei Tommy Hilfiger hinaus. Das ICE-Büro befand sich auf einer Etage, die sie einer Steuersünder-Firma abgenommen hatten. Als die Behörde nach 9/11 gegründet wurde, waren alle Bundesgebäude in New York randvoll belegt gewesen, und das hier hatte sich als Erstes aufgetan. Im Gegensatz zu vielen anderen Beamten störte es Verrazzano nicht, sich die Aufzüge mit Werbeleuten, Modeschöpfern und gelegentlich auch mit Martha Stewart zu teilen, die in ihr Büro hochfuhr, aus dem sie Amerika mit herzhaften Rezepten und Tipps für die perfekte Hochzeit versorgte. Nur die Security machte ihm Sorgen. Sicher, in die Räume des ICE kam niemand hinein, die schwere Tür wurde von einem bewaffneten Wachmann per Fernbedienung geöffnet und geschlossen. So gut wie jeder konnte jedoch in die Aufzüge und in diesen Vorraum vor der Dienststelle.

Seine Finger spielten den schwungvollen Riff eines New-Orleans-Jazz-Klassikers auf seinem Bein. Seine Mutter war immer stolz auf ihn gewesen, wenn er auf dem Klavier Beethoven und Chopin vortrug, Dixieland war jedoch ihre wahre Liebe, da hielt es sie nicht mehr auf ihrem Stuhl. Ohne es recht zu merken, beruhigte er sich mit seinem lautlosen Spiel.

Hinter ihm rollten die quietschenden Räder des Hausmeisterkarrens durch die Sicherheitstür.

«Morgen, Leonard», sagte Verrazzano.

«Java.» Der Hausmeister hob eine Hand und zeigte auf Verrazzano. «Von Allen Toussaint. Aufgenommen unter dem Namen Tousan, 1958.»

Verrazzano war nicht bewusst gewesen, dass er die Melodie mitgesummt hatte. «Erwischt.»

Leonard hob die Hand, Verrazzano schlug dagegen.

«Wie geht’s, Dom?» Der Hausmeister war zwanzig Jahre älter und näherte sich seiner Pensionierung. Er schob seinen Karren neben den Aufzug und drückte den Rücken durch, die Hände in den Hüften. «Allen Toussaint, oh, yeah. Spielen Sie viel?»

«Nur, um mich zu beruhigen, und mich bringt kaum was aus der Fassung.»

«Ganz der eiskalte ICE-Agent.» Leonard grinste. «Und warum spielen Sie jetzt? Was nagt an Ihnen?»

Verrazzano zuckte mit den Schultern. Das gedämpfte Geräusch des Aufzugsmotors setzte wieder ein, die Kabine näherte sich dem sechsten Stock.

«Toussaint hat auch Working in the Coal Mine geschrieben», sagte der Hausmeister. «Ich mag den Song. Besonders die Aufnahme von Lee Dorset. Lord, I’m so tired. How long can this go on? Das frage ich mich auch jeden Tag, Mann. Sie nicht?»

«Wie lange?» Verrazzano schüttelte den Kopf. Ewig würde es so weitergehen. Und das war gerade so lange, wie er brauchte, um für das Leben, das er gelebt hatte, zu bezahlen. Für das, was er getan hatte. «Ich frage mich nie was, es sei denn, ich kenne die Antwort.»

Der Hausmeister lachte und rieb sich das Kreuz. «Tja, da haben Sie recht. Es geht immer weiter und gibt keinen Grund, mit was anderem zu rechnen, egal, wie müde Sie sind.»

Die Stahltüren öffneten sich. Verrazzano streckte die Hand aus, um Dr. Weston zu begrüßen.

Sie ergriff sie und ging in die Knie. Blut sickerte auf Verrazzanos Finger.

«Scheiße, verdammt.» Der Hausmeister ließ seinen Wischmop fallen.

Ihr Blick war durchdringend, und er richtete sich auf Verrazzano, ohne einen Gedanken an ihre Schmerzen. Sie hatte keine Angst vor dem Tod, sondern vor dem, was mit der Welt geschehen würde, wenn sie nicht mehr war. Verrazzano kannte diesen Blick. Maryam Ghattas hatte ihn so angesehen, als sie seine Arme packte, bevor er sie auf den Boden des Treppenhauses stieß und auf die Straßen Beiruts hinauseilte.

Der Hausmeister stolperte zur ICE-Tür und schlug gegen das schussfeste Glas. «Wir brauchen Hilfe. Schickt jemanden her.»

Die schwere Sicherheitstür öffnete sich mit einem elektronischen Klacken, und der Wachmann kam heraus.

Verrazzano legte Dr. Weston auf den dünnen, blauen Teppich. Sie war etwa vierzig, ihr schulterlanges Haar hellbraun, aber dunkel auf der blassen Haut. Der blonde Flaum auf ihrer Oberlippe zitterte. Sie zog an seinem Ärmel, die Augen traten hervor, die Pupillen winzige Bleistiftflecken im Moosgrün der Iris. Er starrte sie an, verzweifelt und schockiert, als wollte sie ihn mit sich nehmen, wenn sich diese Augen für immer schlossen. So, wie Maryam Ghattas das Leben mit sich genommen hatte, das er bis zu ihrem Tod dort im Treppenhaus geführt hatte.

Er schob die New York Times zur Seite, die sie sich auf die Brust drückte. Es waren mindestens drei Einschüsse.

Der Wachmann kam. «Kinsella ist unterwegs.»

Sie war die Top-Erste-Hilfe-Frau unter den Agenten. Aber selbst Noelle Kinsella würde Dr. Weston nicht mehr retten können. Genauso wenig, wie ihr Special Agent Dominik Verrazzano helfen konnte. Er nickte stumm.

Der Hausmeister drückte Verrazzanos Schulter. «Kommen Sie, Mann. Ist okay.»

Die Geste erweckte ihn wieder zum Leben. Er rief dem Wachmann zu: «Lassen Sie das Gebäude schließen. Sämtliche Ausgänge.»

Weston schob ihm ein Stück Papier in die Hand. Es war blutig, die schwarze Tinte jedoch nicht verwischt. Er las: «33.516388, 36.269086.»

Verrazzano hielt den Zettel vor sie hin. «Was ist das?»

Die Sicherheitstür klackte. Kinsella kam mit dem Erste-Hilfe-Kasten zu der auf dem Boden liegenden Frau gelaufen. Ihr Haar war lang und trocken, bunt wie Herbstlaub. Es wehte hinter ihr her, ihr greller Schmuck klirrte. Westons Wunden pulsierten und rasselten.

«Halten Sie durch», sagte Verrazzano. «Dr. Weston, bleiben Sie wach.»

«Sie müssen sich beeilen.» Ihre Stimme war wie das Flüstern aus einem Albtraum. «Sie haben nur noch ein paar Tage. Mehr nicht.»

Die restliche Luft wich aus ihr. Sie schien im Boden zu versinken, als wäre sie eine aufblasbare Puppe und kein Mensch aus Fleisch und Blut.

«Was ist in ein paar Tagen?» Verrazzano beugte sich zu ihr vor. «Doktor, was ist dann?»

Ihr Blick verlor seine Dringlichkeit. Ein paar Tage, ein paar Jahre. Es war egal. Für sie gab es nur noch die Ewigkeit.

Der Hausmeister beugte sich über seinen Karren und fluchte.

Kinsella riss die Zellophanverpackung eines Brustsiegelpflasters auf. Die sich weitenden Einschusskanäle hatten lebenswichtige Organe zerstört. Kinsellas Hände schwebten über der Frau, die dünnen Finger voller dicker goldener Ringe und Sommersprossen. Die Verletzungen waren so groß, dass sie nicht wusste, wohin mit dem Pflaster.

Verrazzano starrte auf das Stück Papier. Es war aus einem Ringbuch gerissen, und offenbar handelte es sich um geografische Koordinaten, die jemand sorgfältig notiert hatte. Bill Todd kam in den Vorraum gerannt, seine Glock 19 bereits in der Hand. Er registrierte den Körper auf dem Boden und die niedergeschlagene Haltung Kinsellas mit dem Brustsiegel in der Hand. Verrazzano sah für eine Sekunde Verzweiflung in Todds Gesicht aufflackern, doch schon war da wieder sein barscher, harter Blick. Er wusste, was für eine niederschmetternde Erinnerung seinen Kollegen in diesem Moment erfüllte. Aber Todd war bereit, und Verrazzano musste darauf vertrauen, dass er ihm den Rücken freihielt.

Kinsella schloss Weston die Augen. So feierlich fuhr sie mit der knochigen Hand über das Gesicht der Frau, als wären tausend Seelen zum Himmel aufgefahren.

Verrazzano und Todd sprangen in den Aufzug.

«Der Schütze muss im zweiten Stock ausgestiegen sein. Da hat er gehalten.» Verrazzano hämmerte auf den Knopf, und sie sanken nach unten.

Kapitel 4

Der Feueralarm schrillte und erfüllte das Großraumbüro im zweiten Stock. Silberne Farbe bedeckte Ziegel und Balken, offen liegende Rohre und Lüftungskanäle. Das Firmenlogo des berühmten Modedesigners pulsierte in grellem Rot, Weiß und Blau über der Empfangstheke. Verrazzano lief vor Todd aus dem Aufzug und schwenkte seine H&K MP7 durch die Lobby.

«Ich bin ein Federal Agent», rief er der Rezeptionistin zu. «Wo ist die Feuertreppe?»

Die Frau starrte ihn wie gelähmt an.

«Wo ist sie? Los doch.»

Die Rezeptionistin hob ihren modisch ausgemergelten Arm und deutete quer durchs Büro.

Verrazzano sprintete zwischen entsetzten Hipstern hindurch. Die Tür zur Feuertreppe stand offen. Schon war er draußen und nahm immer gleich mehrere Stufen auf einmal. Todd folgte ihm, etwas schwerer auf den Füßen, das Gesicht voller Wut über den Mord an der Frau, die oben lag.

Die Verladerampen im Erdgeschoss führten auf die 26th Street hinaus. Die Halle war riesig, ursprünglich einmal hatte die Leigh Valley Railroad hier ihren Wagenpark unterbringen wollen. Ein Band schmutziger Fenster hoch unter der Decke ließ düsteres Licht herein. Die stählernen Tore waren geschlossen, nur das ihnen am nächsten liegende nicht. Todd rannte hinaus und suchte die Straße ab. «Da läuft keiner.»

In diesem Moment öffnete sich ganz hinten in der Halle eine Tür, nur einen Spaltbreit. Ein Mann schlüpfte hindurch. Verrazzano sah ihn.

«Bill, lauf zur Ecke vor», schrie er und nahm die Verfolgung auf, sprang im Halbdunkel über Kisten und Paletten und rannte hinaus auf die Eleventh Avenue. Die Bürgersteige waren nur mäßig bevölkert, und Verrazzano machte den Fußgänger mit dem entschlossensten Gang aus, einen Mann in einem grünen Kapuzen-Sweatshirt. Er sah nach Army aus, als wäre er auf einem Trainingsmarsch.

An der Ecke tauchte Todd auf. Verrazzano nickte zu dem Kapuzenmann hinüber. Todd joggte über die Straße, um ihn abzufangen. Da stoppte ein Taxi vor ihm. Todd schlug aufs Dach und fluchte, es solle weiterfahren. Der Kapuzenmann hörte ihn und sah sich um. Todds billiger blauer Anzug und seine steife Haltung machten ihn so eindeutig zu einem Polizisten, wie eine Flasche Crystal und zwei dahinstolzierende Wackelknie einen Hip-Hop-Künstler erkennen ließen. Die Zielperson sprintete los. Verrazzano rannte quer über die Avenue.

Todd rief dem Mann hinterher, er solle stehen bleiben. Er hob seine Glock, aber an der nächsten Ecke standen lauter auf Grün wartende Leute. «Alles aus dem Weg.»

Der Mann rannte den Block hinunter. Offenbar etwas unsicher auf den Beinen, erreichte er die Treppe, die zur alten Hochbahn hinaufführte, auf der die Stadt einen neuen Park angelegt hatte.

Verrazzano und Todd waren gut zehn Meter hinter ihm.

Der Mann sprang auf die Treppe und eilte zum Park empor. Die ICE-Beamten hämmerten über die Eisenstufen hinter ihm her.

Am oberen Ende der Treppe angekommen, musste Verrazzano lächeln. Manchmal traf es ihn noch unerwartet, dieses Gefühl, ans Ende einer Verfolgungsjagd zu gelangen. Er war es eher gewohnt, sich im Dschungel wegzuducken, während ein afrikanischer Schlägertrupp vorbeikam und seine Angst zu wittern versuchte.

Das ehemalige Hochgleis nördlich des Meatpacking Districts wirkte so gepflegt wie auf einer Stadtplaner-Skizze. Die Menschen schimmerten wie Computeranimationen schweißfreier Jogger und junger Eltern zwischen Wiesenpflanzen und Bänken aus brasilianischem Walnussholz. Der verzweifelt zitternde Flüchtige würde sich hier oben nicht lange verstecken können. Verrazzano ließ den Blick über das stellenweise hoch aufwachsende Pfeifengras gleiten.

Eine Hand mit einer Pistole schob sich aus einem braunen Blätterbusch. Feuer spuckte aus der Mündung.

Jogger strauchelten. Eltern schrien. Todd warf sich auf den Boden.

Verrazzano schrie: «Alles runter.»

Todd schob seine Glock vor, kauerte im Gestrüpp und murmelte unverständliche Worte.

«Schütze, ich bin Federal Agent», rief Verrazzano. «Nehmen Sie Ihre Waffe herunter. Ich will Sie nicht erschießen.»

Der Mann erhob sich aus dem hohen Gras, wie ein Samenkorn, das von einer Böe hochgeweht wird. Sein kantiges Gesicht verzog sich.

Verrazzano sah mehr als nur die Resignation eines Mannes, der wusste, dass er nie wieder frei sein würde. Er hatte in den letzten vier Jahren genug Leute wie ihn hinter Gitter gebracht, um diesen Gesichtsausdruck deuten zu können. Der Kapuzenmann war tieftraurig, als sähe er alles Böse dieser Welt vor sich und erkenne seinen Anteil daran. Die Hand hing schlaff an seiner Seite herab, aber immer noch mit der Ruger LCP.

«Lassen Sie die Waffe fallen.» Verrazzano ging auf ihn zu.

Der Mann sah zu den Wolken hoch, die mit dem Wind über sie hinwegzogen. «Es ist das Vier-Zehn.»

«Das Vier-Zehn

«Es tötet mich.»

«Niemand tötet Sie.»

«Das Vier-Zehn.»

«Was ist das Vier-Zehn?»

Der Mann schüttelte den Kopf auf eine Weise, als hätte er Angst, er würde ihm von den Schultern fallen.

Verrazzano trat näher. Er war nur noch ein paar Meter von ihm entfernt. «Warum haben sie Dr. Weston erschossen?»

«Wen?»

Ihre Stimmen waren weich. Sie sprachen über ein Thema, das sie beide kannten. Das Töten. «Die Frau im Aufzug. Dr. Amy Weston. Warum haben Sie sie erschossen?»

Sein Gesicht war vernarbt, ein wüstes Schlachtfeld. Seine Seele schien zu brennen, zu schaudern und nach Verrazzano greifen zu wollen, der jede Art von Verbrecher kannte, die es gab – Massenmörder, Zuhälter, Drogendealer, Waffenschieber. Das Böse reichte nie nur bis knapp unter die Haut, es drang tief in sie ein und durchflutete sie vollkommen. Überleben konnten sie damit nur, indem sie es in sich aufnahmen, absorbierten und zu einem stolzen Teil ihrer selbst machten. Aber der da vor ihm gehörte nicht zu diesen Männern. Verrazzano konnte es an seinem Gesicht ablesen. Wie er sich mühte, das Böse aus sich herauszuwürgen.

«Wie heißen Sie?», fragte Verrazzano.

Der Mann neigte den Kopf zur Seite, als wäre ihm noch nie in den Sinn gekommen, dass Menschen Namen hatten.

«Geben Sie mir Ihre Waffe.» Verrazzano streckte den Arm aus.

Überrascht sah der Mann auf die Ruger in seiner Hand, wie auf ein Handy, das völlig unerwartet losklingelte. Er ließ sie fallen.

Verrazzano atmete erleichtert aus und bückte sich danach.

Der Mann bewegte sich schnell, sprang auf das Geländer am Rand des Parks und balancierte hoch über der Straße, ein Tänzer, der zu einer Arabeske ansetzte.

«Nein.» Verrazzano versuchte ihn zu erreichen.

Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich nach vorn fallen. Zehn Meter tiefer schlug er mit dem Kopf zuerst auf dem Asphalt auf.

Seine Beine waren noch in der Luft, als der City-Bus ihn erfasste und zehn Meter weit die Straße hinunterschleuderte.

Kapitel 5

Todd kniete sich neben den Körper des Toten. «Er hatte etwas Militärisches», sagte er. Verrazzano überprüfte Atmung und Puls und durchsuchte die Taschen des Mannes. Kein Geld. Kein Ausweis. Er schob die Ärmel des Sweatshirts hoch, keine Tätowierung, die ihnen weitergeholfen hätte. Dicke Adern erstreckten sich über sehnige Muskeln, sonst war da nichts.

«Ich hätte ihn erschossen», sagte Todd. «Wenn es hätte sein müssen.»

Verrazzano wusste, was Todd gemurmelte hatte, als er seine Waffe auf das Gras richtete, in dem der Mann versteckt gewesen war. Gegen seinen trockenen Mund hatte er angeredet und den Drang, danebenzuschießen. Das natürliche Bedürfnis, kein Leben auszulöschen. Er durfte den Fehler nicht wiederholen, für den er vor einem Jahr fast mit seiner Laufbahn bezahlt hatte.

«Ich weiß», sagte Verrazzano.

Er griff in seine Jacke.

«Ich hätte den Kerl töten sollen», sagte Todd. «Den Kerl in D. C.»

Verrazzano hatte den internen Bericht gelesen, hatte gehört, was geredet wurde, bevor Todd nach New York versetzt worden war. Dass er es bei einer Schießerei verpasst hatte, einen Verdächtigen zu eliminieren, und ihn hatte entkommen lassen. Auf seiner Flucht hatte der Mann dann, ein Gangster namens Pangiottis, einem anderen Agenten eine Kugel in den Rücken gejagt, der heute wie ein Neunzigjähriger ging, und das würde so bleiben, bis es endgültig mit ihm vorbei war. Verrazzano zog ein Messer aus der Tasche, dessen Klinge in den schwarzen Stahlgriff eingeklappt war. «Es ist der Kopf, Bill», sagte er. «Du hast keine Ahnung, wie weit er dich gehen lässt, bis dein Finger auf dem Abzug liegt.» Er ließ die Klinge herausschnappen, deren Spitze wie die Klaue eines Raubvogels gekrümmt war.

«Was hast du vor?»

Verrazzano hörte das Schrille in Todds Stimme. «Ganz ruhig, Bill.»

Er drehte die Schraube, um die Klinge zu arretieren, und schlitzte die Vorderseite des Sweatshirts auf. Das weiße T-Shirt darunter war blutgetränkt. Auch das schnitt er auf. Ein schmales Band Brusthaarfusseln bedeckte die Kuhle zwischen den Brustmuskeln. Immer noch keine Tätowierung. Er fuhr mit den Fingern unter dem Schlüsselbein entlang und zog die Brauen zusammen.

Ein paar Leute kamen aus dem Bus und starrten sie an, die Arme um die Körper geschlungen. Auch der Fahrer trat nervös näher.

Verrazzano strich mit der Hand über die Haut unter dem Schlüsselbein und umschloss mit den Fingern eine etwa sieben mal fünf Zentimeter große Vorwölbung. Eine Ader schien davon in Richtung Herz zu führen. Er drückte die Spitze des Messers auf die Haut neben der Wölbung, schob die Lippen vor und trieb sie einen guten Zentimeter in den Körper.

«Dom, hör auf.» Todd griff nach Verrazzanos Schulter.

Der sah ihn so durchdringend an, dass Todd seine Hand zurückzog. «Wir haben nicht die Zeit, bis die Forensiker die Leiche untersucht und die Ergebnisse ins System eingespeist haben. Lass mich.»

Zögerlich trat Todd einen Schritt zurück.

Verrazzano schnitt die Haut um den unteren Teil der Wölbung auf, fuhr mit den Fingern in die blutige Fleischtasche und riss eine kleine, gut einen Zentimeter dicke, silberne Platte heraus.

«Was ist das?», fragte Todd.

«Ein Herzschrittmacher.»

Er durchtrennte die plastikummantelten Drähte, die den Schrittmacher mit dem Herzen des Toten verbanden. Der Busfahrer übergab sich in die Gosse.

Verrazzano nahm einen Beweisbeutel aus der Tasche und öffnete ihn.

Todd bedeckte seine Kehle. «Du kannst doch nicht einfach …»

«Wenn du einen von denen hast», sagte Verrazzano und hob den Schrittmacher in die Höhe, «kannst du im Notfall darauf bauen, dass die Leute, die dich behandeln, Zugang zu deinen Unterlagen bekommen. Jeder Arzt findet, was er wissen muss, wenn er das Ding scannt.»

Todds Blick folgte dem Blut in den Falten des Plastikbeutels. «Darauf ist also …»

«Alles über unseren Mann.» Verrazzano steckte den Beutel ein. «Einschließlich seines Namens.»

Todd erschauderte. «Meine Fresse, Dom.»

Verrazzano klappte die Klinge zurück in ihren Griff. «Warte hier auf die Jungs vom NYPD. Ich finde unterdessen heraus, wer der Typ war.»