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Inhalt

Anmerkung des Autors

Prolog

Kapitel 1

Allein in der Wildnis

Canada

Kapitel 2

Eine Reise mit vielen ersten Malen

Costa Rica | Nicaragua | Guatemala | Honduras | El Salvador | Belize | Mexiko

Kapitel 3

Die Tropen und das Geschäft des Reisens

Indonesien | Thailand | Burma | Kambodscha | Singapur

Kapitel 4

Kolonisiert und balkanisiert: Lumper und Splitter

Australien | Neuseeland | Albanien | Kroatien | Bosnien-Herzegowina | Albanien | Mazedonien

Kapitel 5

Iran, Irak – ist doch alles das Gleiche!

England | Katar | Iran | Bahrain | Oman | Jordanien | Irak | Türkei | Ägypten

Kapitel 6

Nabe-Speiche-Reisen

Deutschland | Mittel-, Ost- und Südeuropa | Skandinavien

Kapitel 7

Das Dach der Welt

China | Tibet | Nepal | Indien

Kapitel 8

Auf Russlands Schienen

Russland | Sibirien

Kapitel 9

Pinguine und Kondore

Uruguay | Paraguay | Peru | Chile | Bolivien | Argentinien | Antarktis

Kapitel 10

Roter Sand, Schwarzes Meer

Kasachstan | Kirgisistan | Usbekistan | Tadschikistan | Afghanistan | Turkmenistan | Aserbaidschan | Armenien | Georgien

Kapitel 11

Das Treffen der Wasser

Brasilien | Kolumbien

Kapitel 12

Die Steppen des Fernen Ostens

Kasachstan | Mongolei | Japan

Kapitel 13

Der urzeitliche Wald

Marokko | Ruanda | Kongo | Gabun | Kamerun

Kapitel 14

In Afrika

Grönland | Sudan | Somalia | Puntland | Malawi | Madagaskar | Namibia | Angola

Kapitel 15

Endlose Inseln

Karibik | Bangladesch | Bhutan | Korea | Südpazifik

Kapitel 16

Ein Arabischer Frühling

Eritrea | Jemen | Kuwait | Spanien | Italien | Zypern

Kapitel 17

Heilige Länder und Visa-Teufeleien

Jordanien | Saudi-Arabien | Israel

Kapitel 18

Die Grüne Insel: Neue Freunde finden und die alten behalten

Irland

Anmerkung des Autors

Was nun folgt, ist ein Bericht aus dreiundzwanzig meiner letzten fünfundzwanzig Lebensjahre; Jahre, die ich damit verbracht habe, die Wildnis zu durchqueren, über Ozeane zu reisen und über Land zu wandern, um die Erde zu erkunden, ganz ohne Heimat und Besitztümer, abgesehen von den Sachen, die in meinen treuen Rucksack passten. Ich hatte kein bestimmtes Ziel im Sinn, ich wollte einfach nur Länder besuchen – nicht deren Flughäfen und Luxushotels, sondern die Länder selbst –, um die dortige Kultur zu erleben, die verschiedenen Lebensweisen. Der Stapel meiner Reisetagebücher aus aller Herren Länder ist zweimal so hoch wie Moby Dick, dessen Umfang berüchtigt ist, also war eine besonnene Auswahl vonnöten, um dieses Buch zugänglicher als Melvilles Klassiker zu gestalten. Ich wollte eine Vielzahl von Regionen, Charakteren und Stimmungen abbilden. In die gefährlichsten Länder bin ich eher alleine gereist, die ausgelassensten Reisen habe ich oft mit Freunden erlebt. Dieses Buch soll beide Seiten zeigen, zu gleichen Teilen; ich wollte unterschiedliche Perspektiven einbringen, von Abenteuern auf verschiedenen Kontinenten bis hin zu ganz und gar menschlichen. Mein Leben lang war ich immer unterwegs; ich habe in den Hütten von Stammesangehörigen und in billigen Herbergen übernachtet. Wann immer es möglich war, habe ich mich der Fortbewegungsmittel vor Ort bedient: Die Straßen im Dschungel Gabuns habe ich zusammengepfercht mit dreizehn anderen Seelen und vier riesigen Bananenstauden auf der Ladefläche eines Hilux-Pick-ups bereist; ich bin den Amazonas entlanggeschippert und habe gerösteten Piranha gegessen; ich bin per Anhalter durch den Irak gefahren, während dort die Kämpfe des offiziell nur drei Wochen währenden Zweiten Golfkriegs tobten. Ich bin auf maroden Fähren über wogende Flussmündungen getrieben, bin auf Pferderücken oder in Militärfahrzeugen durch Wüsten und über flaches Land gereist; ich bin Flussläufen gefolgt und habe Ödland durchquert, bin in Bussen und auf Ochsenkarren durch tiefen Urwald gefahren, habe Bergketten überquert und mich an den entlegensten Stränden gerekelt. Ich habe mich den Gepflogenheiten vor Ort angepasst und die lokale Küche gegessen: gegrilltes Ziegenauge als Ehrengast beim Festessen eines mongolischen Stammes, Alligatoren-Nuggets, Kebab mit ungewissem Inhalt und »Buschfleisch«, das in manchen Gegenden Afrikas weit verbreitet ist … den Schlussstrich habe ich gezogen, als man mir Schubkarrenladungen mit geräucherten Affenkadavern präsentierte. Ein Mann muss seine Grenzen kennen.

Prolog

»Nun, dort, wo ich herkomme«, sagte Alice noch immer etwas außer Atem, »kommt man in der Regel woandershin, wenn man so schnell und so lange läuft wie wir gerade.«

»Ein behäbiger Ort!«, sagte die Königin. »Hier bei uns muss man so schnell rennen, wie man kann, wenn man am gleichen Fleck bleiben möchte. Und wenn man woandershin gelangen will, muss man mindestens doppelt so schnell laufen!«

Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln

In der Abflughalle des internationalen Flughafen Asmara wartete ich während der Regensaison 2013 auf den Flug, der mich aus Asmara, Eritrea, hinausbringen sollte, als eine ältere Frau sich zu mir setzte und mich in ein Gespräch verwickelte. Vermutlich hatte sie mich ausgewählt, weil ich der einzige Nicht-Eritreer in Sichtweite war. Da sie wiederum die erste andere Reisende war, der ich in Eritrea begegnete, war ich neugierig auf ihre Eindrücke von dieser Diktatur, in der es nur unter Anstrengungen möglich ist, die nötigen Genehmigungen zu bekommen, um sich ein bisschen was vom Land ansehen zu können.

»Haben Sie sich den magischen Fruchtbarkeitsbaum angesehen?«, fragte ich.

»Nein.«

»Waren Sie am Roten Meer?«

»Nein.«

»Was ist mit dem letzten Waldgebiet am Horn von Afrika?«

»Nein. Nein, ich habe nichts davon gesehen – ich habe mich nicht weit von meinem Hotel entfernt.«

Wie sich herausstellte, war sie eine dieser Ländersammlerinnen, die es in ihrem Leben bisher auf insgesamt 170 Länder gebracht hatte. Ich hätte es mir bei einem Blick auf ihre Reiselektüre denken können: eine Liste der IATA-Codes für die großen Flughäfen der Welt. Sie war stolz darauf, dass sie die am meisten frequentierten auswendig aufzählen konnte, von ABC (Albacete, Spanien) bis ZRH (Zürich, Schweiz). Nichts gegen einen Kurzurlaub, manchmal ist das die beste Option und manch einer ist eben offener für neue Erfahrungen als andere, aber anders als meine neue Bekanntschaft kann ich mich für den bloßen Transport von hier nach dort nicht sonderlich erwärmen. Flugzeuge können mithin Teil des Abenteuers sein, auch Boote oder Busse, das kommt auf die Umstände an, aber meistens ist der Transport für mich schlicht zweckdienlicher Natur. Der echte Gewinn ist es, die Erde und ihre verblüffende Vielzahl an Menschen und Umgebungen zu erkunden.

Als sie hörte, dass ich in beinahe allen Ländern der Erde gewesen bin und dass es nur eine Frage von wenigen Monaten war, bis ich auch die übrigen bereist hätte, vermutete sie in mir eine verwandte Seele und lächelte. Also sagte ich: »Wenigstens hatten Sie Gelegenheit, die interessante eritreische Küche kennenzulernen.«

»Das musste ich zum Glück nicht«, sagte sie. »Ich bin über Minsk geflogen, um Weißrussland von meiner Liste zu streichen. Dabei habe ich das ganze zusätzliche Essen behalten, das im Flugzeug serviert wurde. Ich habe es in Plastiktüten mitgenommen, um es hier in Eritrea wieder aufzuwärmen.« Ich muss sie daraufhin etwas schief von der Seite angesehen haben, denn sie fügte hinzu: »Die Plastiktüten waren sauber.«

»Probieren Sie denn nie das Essen vor Ort?«, fragte ich.

»Hmm, einmal hat mir in Nordafrika ein Beduine Tee angeboten. Als ich ablehnte, murmelte er einen Fluch: ›Tod denen, die den Tee ablehnen, den man ihnen anbietet.‹ Also trank ich den Tee, auch wenn das Glas ziemlich schmutzig war. Und hier verlangt die Polizei, dass man eine Genehmigung hat, wenn man außerhalb der Stadt reisen will, also lief ich gar nicht erst Gefahr, in solche Situationen zu geraten, konnte aber trotzdem Eritrea von der Liste streichen.«

. . .

In Jaipur, einer Stadt in Indiens staubigem Bundesstaat Rajasthan, steht ein beeindruckendes Gebäude aus gemeißeltem rosa Sandstein. Es ist ein Bauwerk ohne Tiefe, kaum mehr als eine aufsteigende Fassade abgeschirmter Balkone, die als Ausguck dienten. Der Maharadscha Singh hatte es erbauen lassen, damit die Frauen aus den höheren Kasten sich das Marktgetümmel ansehen konnten, ohne sich in Gefahr zu begeben oder Schmutz und unangenehmen Gerüchen ausgesetzt zu sein – um das Leben der anderen beobachten zu können, ohne daran teilzuhaben oder selbst davon besudelt zu werden.

»Der Palast der Winde«, wie diese großartige Fassade genannt wird, hat seine modernen und riesigen Entsprechungen in Konferenzzentren und Weltklassehotels, in feinen Restaurants und sonstigen touristischen Erschließungen einer »kleinen Welt«, die die Globalisierung propagiert und die von Ländersammlern regelrecht fetischisiert wird. Taxis, Limousinen und Hochgeschwindigkeitszüge bringen VIPs zu den Flughäfen mit ihren Business-Lounges, Sicherheitschecks und Luxus-Shops im Duty-Free-Bereich – sodass sich die oberen Kasten unserer Zeit genauso geborgen fühlen können wie eine Prinzessin aus Jaipur in den Korridoren eines standardisierten Kulturpalastes. Es braucht nur ein paar Flugzeugwechsel und vielleicht noch eine Hotelbuchung via Internet und man kann von überall nach irgendwo reisen, absolut bequem und sicher. Früher noch exotische und wundersam abgelegene Orte gehören heute längst zum Programm von Pauschalreisen. Lhasa, Tibet, einst einer der am schwierigsten zu erreichenden Orte auf diesem Planeten, kann man mittlerweile im Rahmen einer Rundreise besuchen: »Acht heilige Städte in acht Tagen.« Machu Picchu, den letzten Zufluchtsort der Inka hoch oben in den Anden, kann man mit dem Zug und einem klimatisierten Bus erreichen.

Das ist der neuzeitliche, globalisierte Palast der Winde, und hier wird man unweigerlich den Typen wiedertreffen, dem man am Strand der Kaimaninseln begegnet ist – oder diese Regisseurin aus Frankfurt. Für die Geschäftsreisenden mit Platin-Kreditkarte, für die Delegierten, die Pauschaltouristen und Entwicklungshelfer, die Unmengen ihrer Zeit an Flughäfen und in Hotellobbys verbringen, ist es wahrhaftig »eine kleine Welt«.

An diesem globalisierten Kulturpalast gibt es nichts auszusetzen, aber was ist mit den »Fly-over-Staaten« und anderen selten besuchten Orten der Welt – was gibt es dort? Flache Wüsten, so weit das Auge reicht? Urwälder, in denen sich Affen und wilde Männer tummeln? Städte, die aus endlosen Slums und Vororten bestehen? In Wirklichkeit lebt der Großteil der Weltbevölkerung in diesen Gegenden, und es ist gar nicht so übel dort. Wagen Sie sich einfach mal aus dem Palast der Winde hinaus und reisen Sie mit dem Rucksack durch die Staaten, Landschaften und Ökosysteme unseres Planeten. Viele seltsame und wunderbare Sachen werden Ihren Horizont erweitern und Ihre Sinne bezaubern.

. . .

Kulturanthropologen liegen bekanntermaßen ständig im Clinch miteinander, demonstrieren aber Einigkeit, wenn es darum geht, verallgemeinernden Aussagen über die Menschheit zu widersprechen – abgesehen vielleicht von der Behauptung, dass die Kulturen, die sich am meisten dem Ideal des Fortschritts verschrieben haben, häufig W.E.I.R.D. sind: westlich erzogen, industriell, reich, demokratisch. Das gilt sicherlich für mein Geburtsland Kanada, das mich mit einem machtvollen Reisepass ausgestattet hat, der mir die visafreie Einreise in mehr als 140 Länder gewährt; ein Grund mehr, die Rhetorik den Akademikern zu überlassen und sich die Welt auf eigene Faust anzusehen. Genau das habe ich getan. Ich bin jetzt achtundvierzig Jahre alt, fast mein ganzes Erwachsenenleben lang habe ich aus dem Rucksack gelebt. Unser Planet steckt voller Überraschungen, und deshalb ist mein Entdeckerdrang, der mich so weit hat reisen lassen, noch immer derselbe wie damals. Ländergrenzen erstrecken sich kreuz und quer über die Kontinente, und wenn man eine Zeit lang auf der einen Seite unterwegs gewesen ist, scheint einem das Gras auf der anderen Seite des Grenzzauns grüner. Neue Länder werden einem vertraut, eines nach dem anderen.

Vor vier Jahren feierten Reporter aus allen Bereichen, Print und TV, Radio und Video, meinen Verdienst, in jedem Land der Welt gewesen zu sein – eine seltsame Begleiterscheinung meiner vielen Reisen. Eben diese donquichottische Leistung ist das Ziel der heldenhaften Passagiere, die hauptsächlich Stempel in ihrem Pass sammeln wollen. Doch Reisende und Passagiere kann man leicht voneinander unterscheiden: Reisende haben Geschichten zu erzählen. In den vergangenen vier Jahren habe ich meine Reisen in zehn Ländern auf drei Kontinenten fortgesetzt, habe nachgedacht und geschrieben, darum bemüht, folgende Frage zu beantworten: Wenn es nicht um die Stempel im Pass geht und du ganz sicher nicht der Erste oder der Schnellste bist, was ist dann der Sinn des Reisens? Ist es einfach nur eine nette Art, alt zu werden? Denn Reisende haben keine materiellen Werte, die sie als Lohn für die investierte Zeit vorweisen könnten. Da geht es ihnen nicht anders als den Passagieren. Manch einer hat vielleicht schon den nächsten Rekord im Sinn und würde sagen, es geht darum, wer am meisten gereist ist. Dieses Buch soll meine Antwort auf die Frage darlegen: Ich reise um der Geschichten willen, die mir unendlich viel bedeuten.

Die meisten Menschen wollen am Ende ihres Lebens nicht bereuen, dass sie nie rausgegangen sind, um sich die Welt anzuschauen. Ich führe zum Glück keine Liste über Dinge, die ich irgendwann mal bereuen könnte, aber diese Sorge, so viel kann ich sagen, fände sich sicherlich nicht darauf. Viele Reporter und andere Reisende betrachten mich als den meistgereisten Mann der Welt, nicht nur im Hinblick auf die Kilometer, die ich zurückgelegt habe. Für sie bin ich der Schutzheilige der Backpacker oder irgendein ähnlicher Würdenträger. Ist das gerechtfertigt? Ich glaube, das hängt sehr davon ab, was Reisen für einen bedeutet.

Im nur wenige Hundert Jahre währenden Zeitalter der Segelschiffe musste, wer sich die Welt ansehen wollte, auf den großen Schiffen anheuern; die echten Seebären hatten eine gelbliche Haut, die man nur vom Teer und der salzigen Gischt, vom Wind und der sengenden Sonne bekommen konnte. Bei diesem Hautton war Fälschung ausgeschlossen. Für diese Männer waren Reisen und Segeln gleichbedeutend und welche Häfen man schon angefahren hatte, war die eigentliche Frage der Ehre, insbesondere da man sich im Landesinneren der fremden Destinationen schnell Krankheiten holen oder sich in den unwegsamen Gebieten wilder Stämme verlieren konnte. Für diese tüchtigen Seelen waren die Überfahrten mit dem Segelschiff Abenteuer genug, um kühn verkünden zu können, dass sie den Orient gesehen hatten. Sie hatten in den Häfen von Peking und Batavia angelegt, das reichte ihnen aus. Sie hatten genug haarsträubende, furchterregende Geschichten zu erzählen, wenn sie einfach nur ihren Job machten. Auch mit dem Zeitalter der Dampfschiffe und als dann schließlich die ersten Züge fuhren, die ersten Flugzeuge flogen, war die Art der Fortbewegung immer noch Abenteuer genug, sodass man es als unnötig erachten konnte, einen Unterschied zwischen dem generellen Konzept des Reisens und diesen heroischen Fortbewegungsarten zu machen.

Diese Tage sind lang vorbei. Wer nach Mikronesien fliegt, der ist deswegen keine Amelia Earhart; man ist Kunde der United Airways und hat sich zweimal vergewissert, dass einem die Vielfliegerpunkte auch wirklich gutgeschrieben wurden. Und wessen Kreuzfahrtschiff Halt in Singapur macht, der hat deshalb nicht wirklich den Orient gesehen – auch wenn man sich an der Bar des Raffles-Hotels so lange Singapore Slings genehmigt, bis der Boden unter den Füßen zu schaukeln scheint, als durchquere man gerade die Straße von Malakka. Heutzutage können wir guten Gewissens die Warnungen ignorieren, die jenen großes Leid prophezeiten, die ohne gültige Dokumente in Tatarstan strandeten – während des Great Game im 19. Jahrhundert, als Spion gegen Spion antrat, um die jähzornigen Herrscher Zentralasiens zu beeinflussen, durchaus ein kluger Rat. Wenn heute mit unseren Papieren etwas nicht stimmt, ist das eine Unannehmlichkeit, keine Garantie für ein elendes Ende in den feuchten Kerkern von Buchara.

Es geht mir hier nicht um eine Verächtlichmachung von Ländersammlern; viele, denen ich auf meinen Reisen begegnet bin, hatten die heilige Anzahl von einhundert Ländern (Warum? Weil es eine dreistellige Zahl ist?) bereits überschritten. Gespräche mit ihnen sind oft anregend; naheliegend, dass die Themen sich oft beschränken auf Reiselogistik und Visaanträge. Ihr Kerngeschäft, wenn man so will. Wenn diese Ländersammler dann hören, was Reisen für mich noch bedeutet, jenseits der technischen Notwendigkeiten, sagen sie alle mehr oder weniger dasselbe: »Du machst etwas vollkommen anderes als ich.«

Dann ist das eben so.

In letzter Zeit hat man von einer Menge solcher Leute gehört, überwiegend junge Männer, die jedes Land der Welt bereist haben – in nur vier Jahren und ohne dabei ein Flugzeug zu nutzen, als bisher jüngster Amerikaner oder meinetwegen auch als erste Person, die das auf einem Springstock vollbracht hat. Die erzählen mir dann zum Beispiel von ihrer Ankunft in Bhutan, dem Land des Donnerdrachen mit seiner uralten Kultur, dem Tigernest-Kloster Taktshang, das auf einer nebelverhangenen Klippe steht, und den anderen Dzongs, weiß gestrichene Klosterburgen, von deren Dächern riesige Bienenstöcke hängen. Dort endet dann die Reiselust dieser Weltenbummler absurderweise. Sobald sie einen Fuß über die Grenze gesetzt und einen Stempel in ihren Reisepass bekommen haben, machen sie direkt wieder kehrt, um in das nächste Land auf ihrer Liste zu hasten. Da muss ich an die Worte Senecas denken, geschrieben vor mehr als tausend Jahren:

»Denn meinst du, es habe einer eine weite Reise gemacht, wenn ihn schon bei der Ausfahrt aus dem Hafen ein heftiger Sturm erfasste, um ihn nach hier und nach dort zu zerren und im Wechselspiel der kreuz und quer einherbrausenden Winde ständig in der gleichen Kreisbahn zu jagen? Ein solcher hat keine weite Reise getan, er ward nur viel umhergeworfen.«

Hunderte von Leuten haben sich der Idee verschrieben, sich an die Küste jedes Landes dieser Erde werfen zu lassen, und der überwiegende Teil dieser Horden sieht in den einzelnen Stationen solch einer Weltreise nicht viel mehr als ein Gimmick. Natürlich gibt es da dieses minimalistische Ideal: »Hinterlass nichts als Fußabdrücke, nimm nur Erinnerungen mit.« Aber es ist schon eine extreme Art des Minimalismus, nicht mehr als einen einzigen Fußabdruck zu hinterlassen und keinerlei das eigene Leben bereichernde Erinnerung mitzunehmen.

Allein jedes Land in Asien lang genug zu bereisen, um einen echten Eindruck davon zu bekommen, dauert deutlich mehr als vier Jahre – vorausgesetzt, man ist ungeheuer schnell und hervorragend organisiert; acht Jahre sind da schon realistischer. Radiosender und Fernsehstationen, die einen Reisenden nach einer vier oder acht Jahre dauernden Weltreise interviewen wollen, täten besser daran, jemanden zu befragen, der im selben Zeitraum eine überschaubare Anzahl von Ländern besucht hat. Solch eine Person hätte bedeutend interessantere Geschichten zu erzählen als jemand, der seine Energie für eine generalstabsmäßig geplante Weltreise verschwendet hat. Storys statt Stempel – das sollte unser Mantra sein. Diesen »Ich habe jedes Land der Welt gesehen«-Typen ist klar, dass andere Reisende wissen, dass sie das System nur austricksen und sich selbst etwas vormachen, anstatt sich auf den Geist des Reisens einzulassen. Sie wissen, dass andere Leute, wenn sie sagen, dass sie irgendwann gern die Möglichkeit und die Zeit hätten, die Welt zu sehen, nicht davon sprechen, Stempel zu sammeln und mit Grenzübergängen zu punkten. Und was wäre denn, wenn man sein Reisen darauf beschränkt und eines Tages bei einem schrecklichen Autounfall seinen Fuß verliert? Wer wäre denn dann in jedem Land der Welt gewesen? Man selbst oder der Fuß?

. . .

An einer Strandbar in China habe ich mich bei ein paar Bier mal mit einem Brasilianer unterhalten. Schnell stellten wir fest, dass wir beide Vollzeit-Reisende sind.

»Wo bist du am liebsten«, fragte er, »London, Paris, Berlin, Rio oder Hongkong?«

»London, wegen der Freunde, die ich dort habe«, sagte ich. »Aber diese Metropolen sind nur ein Aspekt des Reisens, nicht das A und O. Man hat mehr davon, in einem Jeep durch Tibet zu fahren oder auf einem Boot zu den Togian-Inseln. Oder den Nil entlang bis zum Horn von Afrika.«

»Aber was ist mit den Klubs, dem Shopping … und den Frauen, nicht zu vergessen?«

Die Erwähnung von Shopping outete ihn als einen Angehörigen dessen, was man früher den Jetset nannte.

»Ich ziehe es vor, mich dem Lebensstil der Menschen vor Ort anzupassen, Lehm- oder Strohhütten, alte Kolonialhotels, egal, ob ich nur zu Fuß oder als Anhalter weiterkomme.«

»Das ist ja schrecklich«, sagte er lachend. »Hast du da nicht das Gefühl, dein Leben zu vergeuden? Es sollte eine niemals endende Party sein, Mann.«

Wie schwierig ist es doch, sich über einen Reisebegriff zu verständigen, wenn man dabei nicht über die Philosophie dahinter spricht – wie und weshalb man überhaupt auf Reisen geht. Die Menschen fragen mich oft – und oft sehr ernsthaft –, ob ich eine spezielle Technik habe, durch die das Reisen billig und einfach wird, als ginge es darum, eine gebrauchsfertige »Bestimmung« freizulegen. Dann erwarten sie eine Antwort, die eine griffige Erklärung liefert – so wie damals in den Neunzigern, als Englisch-als-Fremdsprache-Lehrer das Interesse an Asienreisen haben ansteigen lassen. Halten sie mich für eine Art Ratgeber-Guru für ESL-Lehrer auf Steroiden? Das bin ich nicht, und ich finde, dass jemand, der über klare Zielvorstellungen und üppige Finanzen verfügt – mehr als genug, um die Welt zu bereisen –, bald feststellen wird, dass es sich dabei eher um einen König-Midas-Fluch handelt. Niemand, der über ausreichend Mittel verfügt, um die Welt stilvoll zu bereisen, kann je die Welt sehen, wie sie wirklich ist. Die Verlockung, sich dem Jetset (oder was immer heute seine Entsprechung ist) anzuschließen und das Unerfreuliche, Staubige oder Mühsame zu meiden, ist einfach zu groß. Jede Übernachtung in einer Lehmhütte oder einem Unterstand im Regenwald läuft dann Gefahr, zu einem Aufenthalt in einem Vier-Sterne-Hotel oder einem Regenwald-Spa zu werden.

Oft höre ich auch: Wo gibt es die besten Frauen? Sehr lustig – inwiefern denn die besten? Ich könnte die Fragenden vermutlich in primitive Dörfer in den straßenlosen Gegenden Madagaskars schicken, wo sie Unmengen von Frauen finden würden. Und wenn sie dann am Morgen einer dieser Schönheiten einen Zettel mit ihrer Mailadresse zustecken würden, würde sie den vermutlich essen wollen.

Außerdem scheint es da diese Vorstellung zu geben, dass ich mit einem guten Maß an gesundem Menschenverstand ausgestattet sein sollte, da ich doch so viel von der Welt gesehen habe. Wenn das nur wahr wäre!

2008 versuchte ich, zu Fuß von Herat, Afghanistan, nach Turkmenistan zu kommen und gelangte an eine alte Brücke, hinter der die turkmenische Zollstation lag. Zufälligerweise war die leitende Beamtin an diesem Tag eine umwerfend schöne Turkmenin, der eine Truppe aus acht engagierten Grenzkontrolleuren unterstellt war. Sie hatten all meine weltlichen Besitztümer vor sich auf dem Tisch ausgelegt und prüften mit ihren Daumen jede Naht meines Rucksacks, während sie mich wegen einiger Zettelchen und alten Quittungen verhörten. Davon trage ich nie viele bei mir; ich werfe sie weg, um in Situationen wie dieser Ärger zu vermeiden. Also musste sie sich darauf konzentrieren, mich wegen meines Lebenswandels in die Mangel zu nehmen, wobei ihre Gesichtszüge sich zunehmend verfinsterten, je mehr sie von meinen Antworten hörte.

»Hören Sie mit dem ganzen Reisen auf!«, brüllte sie. »Suchen Sie sich eine Frau, heiraten Sie und setzen Sie Kinder in die Welt!«

»Jawohl, Ma’am!«, sagte ich und salutierte ihr pfiffig. »Ich werde mich gleich ans Werk machen.«

Wumms!, sie stempelte meinen Pass und ließ mich passieren. Ganz im Ernst, was weiß ich schon über gesunden Menschenverstand? Würde jemand mit einem Fünkchen Menschenverstand die Grenze zwischen Afghanistan und Turkmenistan zu Fuß überqueren? Nein. Er hätte irgendwo ein Haus, an einem schönen, sicheren Ort, mit einer Frau, die ihm Freunde auf irgendeiner Party vorgestellt hätten, und er hätte ausreichend Kinder, um eine Grenzbeamtin versöhnlich zu stimmen, sollte es ihn irgendwann einmal ins ferne Turkmenistan verschlagen.

Wenn ich also keinen gesunden Menschenverstand habe, was dann? Ich habe jede Menge gesunden Menschenunverstand aufgrund der oft chaotischen und stetigem Wandel unterliegenden Verhältnisse, in denen ich lebe: Ich kenne ungewöhnliche Kulturen, unmögliche Beamten, verdutzte Einheimische, wilde Tiere, wilde Stammesangehörige und noch wildere Polizisten. All das habe ich kennengelernt, während ich über unseren großen Planeten gestreunt bin.

Kapitel 1

Allein in der Wildnis

Canada

Vor mehr als neun Jahren habe ich nahe den Quellwassern des Amazonas, dort, wo der Flusslauf sich beruhigt, nachdem er die Anden hinuntergerauscht ist, einige Zeit bei einem indigenen Stamm verbracht, der an Besucher gewohnt war, die auf Booten kamen, um den in dieser Gegend lebenden rosa Flussdelfin zu besichtigen. Der Stamm lebte auf einer Ebene aus geschlagenem Holz, die über der Flussaue errichtet worden war, deren Morast fast das ganze Jahr über einen perfekten Lebensraum für Moskitos bildete. Eines schwülen Nachmittags schliefen alle Erwachsenen in Hängematten, und das einzige Baby unter ihnen (das einzige, das ihnen noch geblieben war?) war mit Bändern in einem dieser Baby-Laufgestelle auf Plastikrollen angegurtet, die es den Kleinen erlauben, sich zu bewegen, noch bevor sie ihre ersten eigenen Schritte machen, indem sie ihre baumelnden Beinchen über den Boden streifen lassen. Dieses Baby rollte immer näher an die Kante der Holzebene, nur um dann, gerade als ich aufspringen und hinlaufen wollte, abzuschwenken und sich einer anderen Kante zu nähern. Schlimm genug, dass es nach Süden hin zwei Meter in die Tiefe ging, wo Schlamm und Wurzeln warteten, während auf der nördlichen Seite ein ähnlich tiefer Fall in trübe Wässer drohte. Im Fluss gab es aber noch dazu Piranhaschwärme und, schlimmer noch, einen massigen schwarzen Kaiman, der mit seinem boshaft grinsenden Reißverschluss aus scharfen Zähnen im Schlamm lauerte. Können Sie sich vorstellen, was das Jugendamt hierzulande sagen würde, wenn es bei einem Hausbesuch feststellen würde, dass Sie ein offenes Becken mit wilden Reptilien und fleischfressenden Fischen im Kinderzimmer Ihres Nachwuchses haben?

Die modernen Länder der westlichen Welt bilden das andere Extrem. Vor Kurzem, als ich meine Nichten und Neffen in Kanada besuchte, habe ich einen meiner Brüder gefragt, warum die Kinder sich nicht ständig in die Wälder und Hügel aufmachten, die rings um sein Haus in den Rocky Mountains lagen. Warum verschwanden sie nicht ständig, um nur aufzutauchen, wenn es was zu essen gab oder sie zur Schule mussten? Er erklärte mir, dass die Dinge heute anders laufen: Alles läuft nach einem bestimmten Zeitplan und unter der Aufsicht von Erwachsenen ab. Wenn die Kinder eine Tour auf ihren Mountainbikes machen, dann in einem vorher abgesteckten Zeitraum, in einer alters- und begabungsmäßig homogenen Gruppe, die von einem ausgebildeten Erwachsenen begleitet wird, der die ganze Sache mithilfe dieser kleinen Supercomputer koordiniert, die uns heute das Telefon ersetzen.

»Aber können sie nicht einfach zum Spielen mit den Nachbarskindern abdampfen?«, fragte ich.

»Es gibt keine Nachbarskinder. Traurig, aber wahr.«

Ich hatte das Privileg, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger aufzuwachsen, diese nachlässigen Jahre, nachdem man die Kinder von der Arbeit in den Fabriken und auf den Farmen befreit hatte, aber noch bevor die Eltern anfingen, sich zu sorgen, dass sie dadurch über zu viel ungenutzte Zeit verfügen könnten. Eine Sorge, die dazu führte, dass sie den Nachwuchs heute in ein Korsett aus scheinbar strukturierten Aktivitäten zwängen – immer mit dem Hintergedanken, welchen Vorteil das für die Bewerbungen um einen Studienplatz oder ein Praktikum bringen könnte. Die Freiheiten, die meine Generation hatte, gibt es heute nicht mehr, aber sie gaben mir das nötige Selbstbewusstsein, auf Entdeckungsreisen zu gehen.

Zu meinem sechsten Geburtstag schenkte meine Mutter mir ein Beil, eine Säge und ein kleines orangefarbenes Messer, das ich überall mit hinnahm, sogar in die Schule. Einige meiner Onkel waren damals noch Teenager. Aus Teilen vom Schrottplatz, auf dem sie immer Ratten schossen, hatten sie einen Strandbuggy gebaut. Sie ließen auch mich und meine Brüder mitfahren; manchmal spielten sie uns Streiche, indem sie zum Beispiel auf unserer Seite des Wagens Bretter aus dem Boden entfernten, um dann über Kies zu fahren, sodass die Steinchen hochflogen und uns schmerzhaft trafen. Oder sie feuerten unter unserem Gegröle Schusswaffen ab und hielten die Pistolen so, dass die heißen Geschossmäntel in unsere Schöße fielen.

Eines schönes Morgens Anfang Februar, am Murmeltiertag – ich war gerade sieben Jahre alt geworden –, raste ein Hurrikan der Stärke 2 auf Nova Scotia und unser Zuhause im Annapolis Valley zu. Unsere Mutter sagte meinen Brüdern und mir, dass wir den ganzen Tag drinnen verbringen müssten. Wenn wir über solch eine schrecklich lange Zeitspanne im Haus bleiben mussten, trafen wir für gewöhnlich Vorsichtsmaßnahmen und fingen im Teich vor unserem Haus Ochsenfrösche; das letzte Mal war an einem verregneten Tag im Herbst gewesen, als die Langeweile uns in die Küche trieb, wo unsere Mutter in einem Topf auf dem Herd Bohnen rührte. Wir machten uns einen Spaß daraus, die Frösche hüpfen zu lassen; einer wäre fast in die Bohnen gesprungen, er landete mit einem Schmatzen auf dem Rand des Topfes, fiel dann aber in die andere Richtung. Wir flohen vor dem Holzlöffel unserer Mutter hinaus in den strömenden Regen.

Jetzt, im eisigen Februar, war ein Tag Stubenarrest noch schwerer zu ertragen, und wir schafften es, auch ohne die obligatorischen Amphibien eine echte Plage zu sein. Bald schon hörte man den Hurrikan heulen; er riss Äste von den riesigen Ulmen – einer davon stürzte in eines unserer Dachfenster – und entwurzelte sogar einige Ahorne auf dem Grundstück. Dann fiel das Sonnenlicht durch unsere Fenster.

Als sie sah, dass es nun sonnig und verdächtig ruhig war, scheuchte unsere Mutter uns mit dem Holzlöffel aus der Küche: »Raus mit euch! Raus, raus.«

Wir flitzten in den Wald und rannten somit genau in den tosenden Hurrikan. Er war nicht abgeflaut. Vielmehr hatte sich das Auge des Sturms über unser Haus geschoben.

Als wir wieder nach Hause rannten, riss es mich fast von einer kleinen Brücke, die uns über einen Bach führte. Ich hielt mich am Geländer fest und flatterte im Wind wie eine Fahne, direkt über dem Geistersumpf, an dem sich das Moccasin-Hollow-Massaker zugetragen haben soll. Spaßige Zeiten.

Später, nachdem wir im Winter 1977 westwärts nach Alberta gezogen waren, lernte ich die Grundlagen des Kanufahrens, Angelns und Jagens – wesentliche Fertigkeiten, damals bereits und vor allem, als ich dann erwachsen war. Unser Haus stand am Fish Creek Park, der am damaligen Rand der Stadt Calgary lag. Südlich lagen nur die Felder der umliegenden Farmen und dahinter Prärie, westwärts war es nur eine kleine Spritztour bis zu den Gebirgsausläufern der Rocky Mountains. Die Grundlage für meine Überlebensfertigkeiten war mein Talent zum Steinewerfen. Wir haben damals viele Steine geworfen, vier Stunden am Tag vielleicht, zu Zeiten, in denen wir einander oder die Kinder aus den umliegenden Gemeinden mit Stöcken und Wurfkeulen bekämpften. Ein paar von uns wurden so gut im Werfen, dass wir dieses Talent zum Jagen nutzten. Wenn man einen Stein wirft, legt man sein ganzes Körpergewicht in den Wurf und bestimmt mit dem Handgelenk den jeweils gewünschten Spin. Nun, ein Freund von mir und ich konnten einen Stein aufheben, ihn mit nach vorne gestrecktem Arm von uns halten, um ihn dann nur aus dem Handgelenk zu werfen. Der Stein sprang aus unserer Hand und schien der Schwerkraft zu trotzen; in der Luft gab er ein seltsames Summen von sich, das verstummte, wenn wir unsere Hand wieder ausstreckten und ihn aus der Luft schnappten. Als wir uns unsere ersten Flinten leisten konnten, blieb das Steinewerfen auf der Strecke und wir konzentrierten uns ganz auf die Wildnis, von der es im westlichen Kanada reichlich gab.

In den späten Achtzigern – wir waren noch Teenager – gingen ich und Chad, ein großer und geselliger Freund, dessen Familie von den Cree abstammte, raus in die Wildnis, wann immer es uns möglich war. Wir erkundeten die Pazifikküste und Regenwälder, bestiegen Berge ohne Ausrüstung und richtige Vorbereitung. Jeder, der einen Blick auf Chads Buchsammlung wirft, ohne ihn vorher kennengelernt zu haben, würde wohl eher eine verkopfte Person erwarten, einen wandernden Gelehrten vielleicht. Wenn man ihn dann sieht, fällt auf, wie athletisch er ist: Er erklimmt Felsen, fährt Tourenski, surft und macht Radsport; er besitzt kaum mehr, als er für diese Aktivitäten benötigt, seine Freizeit widmet er ganz dem Sport, dem Reisen und wohltätiger Arbeit.

An einem Wintermorgen während unserer späten Teenagerjahre machten wir uns auf den Weg, um über regenwaldbewachsene Hänge zu klettern. Ziel war der Carmanah Giant, ein kurz zuvor entdecktes Exemplar von Kanadas höchster Baumart, die auf Vancouver Island wächst, dort, wo sich heute der Carmanah Walbran Provincial Park befindet. Chads abenteuerlicher 1961er-F-100-Truck brachte uns dorthin, mit seinem Sechszylindermotor, der Dreigangschaltung und manuellem Choke. Dieses Monster war bananengelb mit gelber Innenausstattung aus Stahl, inklusive einem gelben Armaturenbrett (das einem im Falle eines Unfalls problemlos den Schädel hätte spalten können), ohne Gurte und – da im Bremsschlauch Blasen waren – oft auch ohne Bremse. Es dauerte eine Weile, bis wir feststellten, dass keiner von uns an etwas Essbares gedacht hatte. Auch Streichhölzer und Schlafsäcke hatten wir nicht dabei. Allerdings hatten wir ein Zelt, also konnten wir uns nicht wirklich beklagen, da es ja nur eine dreitägige Exkursion werden sollte.

Los ging’s, und wir kletterten über enorme Berge toten Fichtenholzes, bedeckt von Schnee und leuchtend grünem Moos. In der ersten Nacht schliefen wir Rücken an Rücken im eisigen Schlamm und wateten dann im Lauf des Carmanah Creek, einem Bach, der sich seinen Weg durch dünne Schichten aus Eis brach, die sich an den Uferseiten gebildet hatten, bis wir die riesige Sitka-Fichte erreichten, 112 Meter hoch. (Mittlerweile hat ein Blitz einen Teil der Krone abgeschlagen.) Die Anstrengungen hatten an unseren Energiereserven gezehrt, vor allem jetzt, am zweiten Tag einer besonders anspruchsvollen Wanderung, die wir ohne Nahrung angetreten waren. Also beschlossen wir, uns durch das Unterholz bis zu einem Kahlschlag zu kämpfen, von dem irgendwo eine Forststraße abgehen musste. Es ist wohl wichtig zu erwähnen, dass wir während der gesamten Tour eine tolle Zeit hatten.

Die kahl geschlagenen Gefälle der Westküste hochzuwandern, ist herausfordernd, da die Baumstümpfe massig sind und Regenfälle große Teile des Bodens unterspült haben. Jeden Moment kann dein komplettes Bein verschluckt werden und du steckst bis zur Hüfte zwischen den ausladenden Wurzelansätzen. Die Nacht brach herein und nach Gefühl kletterten wir weiter, weil es auf solch einem Gelände nirgends einen Platz gab, an dem wir unser Zelt hätten aufstellen können. Es wäre ohnehin zu kalt zum Schlafen gewesen. Endlich erreichten wir eine Forststraße und mussten uns entscheiden: nach links oder nach rechts? Wir entschieden uns für rechts und nach einer Weile sahen wir ihn, unseren treuen, alten, gelben Ford, unseren Erlöser, der uns zu Pizza und Bier in der nächstgelegenen Stadt führen würde.

An anderen Tagen planten wir unsere Trips, indem wir einen Dartpfeil auf eine Karte von Vancouver Island warfen und dorthin fuhren, wo der Pfeil landete, solange der Ort nur abgelegen und wild genug war – was ein leicht zu erfüllendes Ziel war. Einmal hatten wir Wölfe in unserem Zeltlager, Bären sahen wir häufiger oder auch Weißkopfadler, die mit finsterem Blick auf jedem sich anbietenden Stumpf Totholz saßen.

Etwa zu dieser Zeit habe ich mir zum ersten Mal einen neuen Rucksack gekauft, anstatt wie bisher die abgelegten Canvas-Rucksäcke zu nutzen, die an mich weitergegeben wurden. Meinen neuen Rucksack, leuchtend violett, petrol und schwarz, hatte ich bei Mountain Equipment Coop geholt. Bemerkenswerterweise habe ich von da an all meine Besitztümer darin mit mir herumgetragen. Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich quasi daraus gelebt, überall auf dieser Erde, ohne dass ich mich irgendwo niedergelassen hätte.

In einem Sommer in den frühen Neunzigern ging ich mit meinem großen Bruder Steve Auto-Campen in den Rocky Mountains. Auf der Ya-Ha-Tinda-Ranch, wo man die Pferde für die Ranger der Parks-Kanada-Behörde trainierte, nutzten wir lose Steine, um ein Biergehege im seichten Wasser des Red Deer Rivers zu bauen. Die meisten von uns ruhten sich einfach aus, nachdem wir unsere Zelte aufgebaut hatten, unter anderem Leon, ein Bauernjunge aus dem Norden von Alberta. Er sah mich im Dreck hockend, wie ich den Vögeln zuhörte, deren Rufe jenseits des glucksenden Flusses im Wald tönten.

»Man merkt, dass du kein besonders erfahrener Camper bist«, stellte er fest.

»Ach ja? Woran?«, fragte ich.

»Erst mal hättest du einen bequemen Sitzplatz, wenn du einfach das Stück Holz da umdrehen würdest. Und noch besser wäre es natürlich, wenn du einen Klappsessel hättest, wie diesen da, mit der Dosenhalterung in der Armlehne.«

»Ich sitze nicht mehr auf solchen Stühlen«, gab ich zu. »Ich finde sie unbequem.«

Genau genommen hatte ich mich mehr und mehr in die Wildnis verabschiedet, und das so sehr, dass ich mir nicht nur das Sitzen auf Sesseln abgewöhnt hatte – ich fühlte mich auch unter Stadtmenschen unwohl. Die Menschen, die mir die liebsten waren, kann man wohl als schillernde Charaktere bezeichnen: alternde amerikanische Wehrdienstverweigerer, Geächtete, Bauern, Anarchisten, Anhänger von Kulten, Rave-Girls, Säger, Goldsucher, Bankräuber, Holzfäller, Hip-Hopper, Hippies, und Hip-Hoppies. Ich kannte einen obdachlosen Junkie, für den Rohrkolben ein Grundnahrungsmittel waren. Er zeigte mir, wie man aus alten Büchsen einen Ofen machte, und empfahl mir, Kalmus zu essen, um meine Ausdauer zu verbessern. Ich verbrachte eine Menge Zeit in den Selkirk Mountains in British Columbia, zwischen dem Kootenay-Pass und Anarchist Mountain.

Ken, ein guter Freund, lebte in diesen Bergen, und ein Jahrzehnt später sollte er mich auf einigen Reisen nach Asien und Russland begleiten. Nicht nur kam er aus einer Familie von Duchoborzen, einer aus Russland stammenden christlich-anarchistischen Religionsgemeinschaft, sie waren auch noch Mitglieder der Sons-of-Freedom-Sekte, deren Mitglieder berüchtigte Protestler (meist traten sie nackt in Erscheinung), Brandstifter und Bombenleger waren. Diese Herkunft war auch für sein Aussehen verantwortlich – er war von mittlerer Statur und hatte eine Mischung aus zentralasiatischen und weißrussischen Gesichtszügen, im Sommer wurde er nussbraun, im Winter war er blassweiß, und er zeigte großes Geschick im Überqueren von Strömungen sowie im Besteigen beforsteter Steilhänge. Er war ein friedfertiger junger Mann; sein Vater indes war zwar charismatisch, hing aber unerbittlich der Überzeugung an, dass die Kommunisten bald die Welt beherrschen würden. Er hatte einige Zeit im Gefängnis verbracht, weil er während einer Anschlagsserie im Jahre 1962 einen einhundert Meter hohen Strommast zerstört hatte, wodurch Tausende im Dunkeln gesessen hatten. Selbst damals waren solche Handlungen als Terrorismus verpönt.

Die Selkirk Mountains schienen Außenseiter und Träumer anzuziehen, oft zum Ärger der vernünftigen Leute. Dennoch war es ein ungewöhnlich toleranter Ort zu dieser Zeit. Und das passte gut zu mir, da ich zu einem Menschen geworden war, der mit Bestimmungen, Formularen und anderen Fallstricken der Zivilisation nichts am Hut haben wollte. Ausgiebige Ausflüge in die Wildnis fühlten sich für mich normaler an als die Zeiten, in denen ich mich in besiedelten Gebieten aufhalten musste; meine subarktischen Baumpflanzungen nördlich von Prinz-Georg-Land waren vergleichsweise angenehme soziale Erfahrungen. Und während ich zahlreiche ganze und halbe Sommer in den Bergen oder in Sümpfen und Wiesenland genoss, waren 86 Tage in der Valhalla Range der Selkirk Mountains meine längste Zeit ohne menschliche Kontakte – Hunderte Kilometer von jeder Zivilisation entfernt, ohne zu sprechen oder zu baden.

Wenn man badet, riecht man anders und zieht Moskitos und Kriebelmücken an. Auch jedes andere Tier wittert dich dann schon von der anderen Seite des nächsten Hügels, während man irgendwie eins mit der Umwelt wird, wenn man auf das Baden verzichtet. Es kam schon dreimal vor, dass Eichhörnchen, die einander verfolgten, in Spiralen meinen Körper hochschossen, weil sie mich für einen Baumstamm hielten. Dann gingen sie auf meinen Schultern in Stellung, eines links, eines rechts, bis sie sahen, wie meine Lippen sich zu einem Lächeln hochzogen. Sofort machten sie sich aufgeregt aus dem Staub und ich hörte eine halbe Stunde lang keinen Pieps mehr von ihnen, was ein ziemlich sicheres Anzeichen für ein geschocktes Eichhörnchen in der Paarungszeit ist.

Ich habe gelernt, Bären aufzumischen, indem ich meine Arme in die Luft warf und auf sie zurannte, um anschließend an ihren Markierungsbaum zu pissen und die Rinde mit einer Axt einzuritzen, an einer Stelle, die über den Rissen ihrer eigenen Tatzen lagen. Es macht tatsächlich irgendwie Spaß, sich mit Bären anzulegen, wenn man sie erst mal besser kennt. Eines Augusts im Little Slocan Valley, ich schlief auf meinem Schlafsack, da es eine heiße, schweißtreibende Nacht war, wurde ich behutsam vom Schnüffeln eines Bären nahe meines Schlaflagers geweckt. Ich setzte mich langsam auf und lauschte dem Flattern der Nüstern an der Plastikplane, die mir als Tür diente. Still in mich hineinkichernd beschloss ich, dem Bären einen Schrecken einzujagen, und stand vorsichtig auf. Dann schwang ich meine Faust gegen die Plane, sodass diese laut knitternd zur Seite flog. Ich grub meine Zehen in den Lehm des Hügels, fuhr auf, splitterfasernackt, mitten in der Dunkelheit, und stieß ein altbewährtes Bärenverjagungsknurren aus. Wusch!, schoss der Bär den Hügel hinauf. Und als wäre das nicht genug, schoss, wusch!, ein zweiter Bär durch das Buchsbaumbuschwerk und folgte dem anderen den Hügel hinauf. Lachend stellte ich mein Lager wieder her und legte mich erneut schlafen.

Ich habe gerissene E-Saiten von Gitarren aufgehoben, um damit Hasen und Moorhühner zu fangen; ich habe mich an wildem Lachs, Haselnüssen und Beeren gelabt. Eine Zeit lang habe ich eine große und bösartig aussehende Wespe als Haustier gehalten – sie war schwarz und hatte Streifen von leuchtendem Grüngelb, derselbe Farbton wie die zähe Flechte, die von Tannen baumelt. Während ich in einer Hängematte lag und zu meiner eigenen Belustigung einen Roman schrieb (Living Off the Land nannte ich ihn, bevor ich ihn dann in einer Kiste verschwinden ließ) oder wilde Erdbeeren pflückte, schwirrte die Wespe um mich herum. Wenn eine Stechfliege sich zu nah an mich heranwagte, packte die Wespe sie, trennte ihr systematisch die Gliedmaßen und den Kopf ab und flog dann mit dem ergatterten Insektentorso irgendwohin, nur um später wieder aufzutauchen und erneut die Jagd zu beginnen, für die sie mich als lebenden Köder ausgewählt hatte. Wenn auch die Wespe nicht wirklich mein Haustier war, so war es doch zumindest eine Win-win-Situation.

Was habe ich von der Natur gelernt? Die Talente und Impulse, die mich zunächst lockten und schließlich förmlich zwangen, mir die Welt anzusehen. Damals, im selben Jahr, als ich mir die Seen des Little Slocan Valleys ansah – miteinander verbunden wie aufgezogene Perlen – und den Eidechsen zuhörte, wie sie unter der orangefarbenen Schuppenborke herumwuselten, habe ich darüber nachgedacht, wie seltsam dieser mir so vertraute Ort auf Menschen aus der eisigen Tundra, dem tropischen Dschungel oder den wandernden Sanddünen wirken würde. Das warf in mir die Frage auf, ob sich tatsächlich schon mal jemand aufgemacht hatte, sich die ganze Welt anzusehen. Man kann also sagen, dass es die Liebe zur Natur war, die meinem Erwachsenendasein seinen Sinn gegeben hat.

Die Wildnis hat mich auch andere nützliche Sachen gelehrt. Eine davon: Die Natur ist geradezu übertrieben gerecht – und deshalb muss ein Mensch seine Grenzen kennen. Eine weitere Erkenntnis ist schwer in Worte zu fassen: Zivilisierte Menschen haben keine Ahnung. Bei Jägern und Sammlern ist das anders, aber die sind heutzutage rar gesät. Ein Teil der Natur des Menschen ist darauf eingestellt, mit der eigenen Horde zusammenzuleben – ein soziales Interagieren mit der eigenen Gruppe, mit Familie, Freunden und Rivalen, das ist etwas, für das wir die entsprechende soziale und konzeptuelle Denkweise entwickelt haben. Aber das ist nur die Hälfte dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein – es gibt noch eine Kehrseite, eine komplette zweite Hälfte der Natur des Menschen, und zwar diejenige, die geschaffen ist, um sie zu nutzen, wenn wir allein in der Wildnis sind. Nur wenige kommen damit überhaupt je in Berührung. Mich hat sie fasziniert.

Um sie am eigenen Leib zu erfahren, muss man allein in die tiefe Wildnis gehen, ohne andere Menschen um sich, ohne zu sprechen oder menschengemachte Strukturen zu sehen. Menschengemachte Strukturen und von Menschenhand veränderte Landschaften sind manifestierte Gedanken. Man spürt die Konzepte, das menschliche Streben dahinter – wer sie sieht, wird an andere Menschen erinnert. Wenn man allein ist, aber umgeben von Vorrichtungen, die von Hand und Verstand anderer Menschen erschaffen wurden, dann wird man diese zweite Natur des Menschen, den Buschmodus, nicht verstehen; stattdessen lernt man ihren elenden Cousin kennen, den Hüttenkoller. Dasselbe gilt, wenn man mit einem anderen Menschen unterwegs oder auch nur in dessen Nähe ist; vielleicht kann man ein Stückchen Buschmodus retten, wenn man mit diesem Menschen gänzlich auf demselben Level ist und deshalb wortlos miteinander kommunizieren kann.

Wenn man sich aber von allen künstlichen Vorrichtungen und anderen Menschen entfernt, sind die Veränderungen tiefgreifend. Nach zehn Tagen wird man eine schlichte Verwerfung der eigenen nicht hinterfragten Besessenheit mit dem Konzept Zeit bemerken – die Zeit wird sich wie Gummi dehnen, und man wird nicht mehr wissen und sich auch nicht mehr kümmern, ob nun acht oder zwölf Tage vergangen sind, weil der Stand der Sonne oder des Mondes wichtiger ist als das Datum. Das ist nicht gerade ein besonders bewusstseinsverändernder Effekt, aber es ist das erste Anzeichen einer Umkehrung der Polarität von Bewusstem und Unbewusstem. Nach ein paar Wochen wird es dann interessant; man beginnt, eine Angewohnheit abzulegen, von der man gar nicht wusste, dass man sie hat: die Angewohnheit, die eigenen Gedanken zu komprimieren, sodass sie prägnant genug sind, sie in Worte zu fassen, was eine absolut wesentliche Voraussetzung für Sprache ist.

Wenn man nicht mehr spricht, werden diese Teile des Verstandes anderweitig genutzt. Ein guter Monat ohne Sprache oder Kontakt zu anderen Menschen und die Transformation ist abgeschlossen – das Loslassen von Begrifflichkeiten des Geistes und die Schwächung des Selbst, und zwar in einer Weise, dass man nach beidem keine Sehnsucht und für beides keinen Habitus mehr hat. Zwei weitere Monate, und Schlafen und Wachen gleichen sich einander an. Wenn man auf dem Waldboden schläft, so wie ich es getan habe, den Elementen ausgesetzt, mit nichts als ein wenig Schutz vor dem Regen, kann der Verstand die Realität auch im Schlaf wahrnehmen. Und wenn man träumt – so wie ich einst in einer Nacht mit Nieselregen –, dass ein Reh leise über den Berghang läuft und die Tigerlilien frisst, dann wird man am Morgen sehen, so wie es mir passiert ist, dass eine Reihe Lilien fehlt. Was man träumt, ist Wirklichkeit. Und in ähnlicher Weise werden tagsüber die Gedanken Tagträumen weichen. Alles Notwendige wird angegangen, indem man diesen Träumen Folge leistet, und zwar zur rechten Zeit und in der richtigen Reihenfolge, ganz ohne nachzudenken … Man ist vielmehr im Einklang mit der Realität, ganz ohne zu jammern oder in Panik zu verfallen.