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4. Auflage 2020

 

© 2015 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

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D-80636 München

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Redaktion: Bärbel Knill, Landsberg am Lech

Umschlaggestaltung: Laura Osswald, München

Umschlagabbildung: Shutterstock / Atomic BHB

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN Print 978-3-86881-697-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-006-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-007-8

 

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Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage

Teil 1: Kleinkinder, Kindergarten und Grundschule

1. Brillante Babys

Die Sehnsucht nach dem perfekten Kind – oder warum Babys vorm Bildschirm verkümmern

2. Im Kreuzfeuer der Werbung

Wie Kinder zu unkritischen Konsumenten werden – beschleunigt durch digitale Medien

3. Impulskontrolle

Warum Verzicht glücklich macht – und digitale Medien das verhindern

4. Denken lernen

Wie wir uns auf den Weg machen, die Welt zu verstehen

5. Digital schnell entwurzelt

Warum uns Tablets nicht auf die Stürme des Lebens vorbereiten

Teil 2: Weiterführende Schulen, Ausbildung und Studium

6. Lernen verlernen

Wie digitale Medien Motivation zerstören

7. Anfassen statt angucken

Warum Schüler am Bildschirm keine realen Lernerfahrungen machen

8. Medienkompetenz

Irrwege zum Heiligen Gral – oder was Kinder in der virtuellen Welt wirklich brauchen

9. Fit für die Zukunft

Nicht Technik zählt, sondern der kritische Verstand – welche Fähigkeiten am Computer tatsächlich notwendig sind

10. Profit

Digitale Bildung ist ein riesiger Markt – egal ob pädagogisch wertvoll oder nicht

11. Murks mit MOOCs

Masse statt Klasse: Vorlesungen auf Video – oder wie es viel besser geht

Wenn alles schiefgeht …

Zukunftsszenario einer schönen neuen, digitalen Welt

Zu Risiken und Chancen fragen Sie das Gehirn

Erkenntnisse der Neurobiologie zum Lernen mit digitalen Medien

Drei zentrale Erkenntnisse

Der Dreiklang aus Aktivität, Dynamik und Kompensation

Ausblick

Unsere Thesen

Danksagung

Die Autoren

Literaturhinweise

Vorwort zur vierten Auflage

Im Bundestag beschimpft zu werden … gibt’s Schöneres für Buchautoren? Sven Volmering hat zwar seine Wiederwahl ins neue Parlament verpasst, aber im Juli 2015 schlug er für die CDU-Fraktion scharfe Töne an: Er warnte davor, »panikmachenden Leuten hinterherzulaufen, die von der Lüge der digitalen Bildung sprechen«. Damit konnte er nur unser Buch meinen, das Sie gerade in der Hand halten. Die erste Auflage war drei Monate zuvor erschienen und setzt seitdem bewusst einen deutlichen Kontrapunkt zum vorherrschenden Digital-Diskurs.

Unsere Kritik hat weite Kreise gezogen. Wir geben vielen Menschen gute Argumente in die Hand, damit Bildungseinrichtungen nicht »alternativlos« digitalisiert werden müssen. Wie wichtig das ist, zeigt ein beklemmendes Erlebnis, das uns ein Student erzählt hat: Er war an einer norddeutschen Universität eingeschrieben, saß in der Bibliothek und hatte vor sich mehrere Fachbücher ausgebreitet – darunter auch Die Lüge der digitalen Bildung. Ein Dozent kam vorbei, warf einen Blick auf die Literatur und kommentierte unser Buch mit den Worten: »So ein Buch würde ich nicht verwenden, sonst könnte das später mit einer Anstellung schwer werden.«

Welch ein Armutszeugnis, wenn Dozenten Denkverbote aussprechen … Außerdem mussten wir die Geschichte verfremden, weil der Student sonst Nachteile im Studium zu befürchten hatte. Ein weiteres Armutszeugnis, diesmal für die akademische Debattenkultur in Deutschland. Hinzu kommt eine ellenlange Liste von Beschimpfungen, die uns an den Kopf geworfen worden sind. Von »selbst ernannten Experten« bis zur »vakuumversiegelten Hohlbirne« war eigentlich alles dabei. Willkürlich wurden unsere Argumente als »unlauter«, »unseriös« oder »indiskutabel« hingestellt. Aber wie lautet eine Redensart? »Der getroffene Hund bellt.«

Warum dieser aggressive Ton? Wer unser Buch bis zum Ende liest, stellt schnell fest: Wir wollen nicht die gute alte »Kreidezeit« verklären, als der Lehrer mit staubigen Händen vor einer Kreidetafel stand. Nein, statt um Verklärung geht es uns um Aufklärung:

Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins ­digitale Zeitalter,

lautet unsere erste These. Paradox? Eher eine bewusste Gegenposition zur alternativlosen Digital-Debatte, die seit langer Zeit recht einseitig in der Öffentlichkeit läuft.

Fast einstimmig wird verkündet: Deutschland läge bei der Digitalisierung der Schulen weit zurück, wir würden den Anschluss an globale Entwicklungen verpassen. Unterschwellig klingt mit: Unser Wohlstand ist in Gefahr, wahlweise stehen Koreaner, Chinesen oder ­Brasilianer vor den Toren Europas. So das fast einhellige Echo auf die ICILS-2013-­Studie, die im November 2014 erschienen ist. Sie attestierte deutschen Achtklässlern nur Mittelmaß, wenn es um die Nutzung von Computern geht (Kapitel 8, Medienkompetenz).Doch unsere These ist nicht paradox – und das beweisen wir in diesem Buch. Dabei leitet uns kein Gefühl der Nostalgie, sondern die Entwicklungsbiologie (Kapitel 4, Denken lernen). Unser roter Faden sind die Fragen:

 

 

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, haben wir intensiv mit vielen Experten diskutiert – unter anderem aus der Psychologie, Pädagogik und Neurobiologie. Die Forschung gibt klare Antworten: Kinder brauchen eine starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie sich in virtuelle Abenteuer stürzen. Ihr Gehirn entwickelt sich besser, wenn kein Tablet oder Smartphone reale Welterfahrungen verhindert. Kinder sollten lieber im Matsch spielen als mit Tablets – das ist der beste Weg, um für das digitale Zeitalter fit zu werden. Warum das so ist, schildern wir ausführlich in Teil 1 des Buches. Außerdem konnten wir Prof. Gertraud Teuchert-Noodt für einen Gastbeitrag gewinnen: »Zu Risiken und Chancen fragen Sie das Gehirn«. Die Neurobiologin hat jahrzehntelang das Gehirn erforscht und untermauert viele Aussagen, die wir aus pädagogischer oder psychologischer Sicht treffen. Sie hat auch die Rubrik »Was das Gehirn sagt« gestaltet: kleine neurobiologische Schlaglichter, passend zu den Themen in einzelnen Kapiteln. Vielen Dank für die wissenschaftliche Unterstützung!

Aufklärung ist notwendig: Zu viele moderne Mythen entstehen in der Öffentlichkeit, zu wenig kritische Diskussion findet statt – zum Schaden der Kleinsten, die sich nicht dagegen wehren können. Sie können sich nicht wehren, wenn Tablets in ihren Kindergärten und Grundschulen platziert werden. Nach Jahren der Betrachtung unseres Themas erhärtet sich der Eindruck: In erster Linie geht es nicht um die beste Entwicklung unserer Kinder, sondern um einen Multi-Milliarden-Markt für die IT-Industrie, pädagogische Konzepte dienen vor allem als Deckmäntelchen (Kapitel 10, Profit). Begleitet durch ein Marketing der Angst, verklausuliert mit dem Mantra der »frühen Medienkompetenz«: Eltern sollen fürchten, ihre Kinder gingen im globalen Wettbewerb unter, wenn sie nicht mit drei Jahren ihre erste App programmieren können. Das halten wir für irreführend und gefährlich, deshalb unser provokanter Titel: »Die Lüge der digitalen Bildung«.

Wir wünschen uns mehr Gelassenheit und den Blick auf das Wesentliche, unsere Kinder. Gönnen wir den Kindern doch ihre Kindheit – mit Toben, Purzeln, Malen und Singen. Tablets bringen nichts im Kindergarten. Statt Milliarden in IT-Infrastruktur zu investieren, sollten wir das Geld besser für Erzieherinnen ausgeben. Sie stehen an vorderster Front und haben den größten Einfluss auf unsere Kinder. Ihr Einfühlungsvermögen entscheidet darüber, wie sie sich entwickeln. Da kann es nicht sein, dass wir sie mit rund 2 500 Euro brutto abspeisen – gerade wegen dieser wichtigen Rolle. Unsere Argumentation orientiert sich an der kognitiven Entwicklung der Kinder, entscheidend ist für uns die Erkenntnis: Wenn das Bildungssystem Kinder nicht zu früh mit Digitalität konfrontiert, sind sie ab der Pubertät in der Lage, vernünftig damit umzugehen (Kapitel 8, Medienkompetenz). Eine Frage der Entwicklungsbiologie: Jugendliche entfalten ihr volles kognitives Potenzial, wenn die Reifung des Gehirns in den ersten Lebensjahren ohne Störung verläuft. Digitale Medien können diesen Prozess stören. Für junge Erwachsene können digitale Medien ein Gewinn sein, sobald sie einen kritischen, verantwortungsvollen und gesunden Umgang mit digitalen Medien aufbauen (Kapitel 9, Fit für die Zukunft). Sie ist viel mehr als die Wisch- und Bedienkompetenz vieler »Digital Natives«, denn die Arbeit am Computer erfordert ein hohes Maß an Konzentrations- und Kritikfähigkeit. Diese Themen stehen in Teil 2 im Mittelpunkt. Um sie sollte sich auch der Bildungsauftrag der Schulen im digitalen Zeitalter drehen.Unser Buch wendet sich besonders an alle, die in Erziehungsprozessen stehen: Eltern, Lehrer und Erzieher. Eigentlich aber auch an alle, die sich darüber wundern …

 

 

Und vor allem, dass unsere Gesellschaft mehr an Technik glaubt als an Menschen. Ein großer Irrtum, weil es immer auf den Menschen ankommt, und auf den Lehrer, damit Bildung gelingt (Kapitel 9, Fit für die Zukunft). Da ist es gleichgültig, ob hinter ihm ein Smartboard oder eine Kreidetafel hängt. Lassen wir uns vom digitalen Hype also nicht blenden, der Tanz ums goldene Tablet in Kitas und Grundschulen wird ein natürliches Ende finden. Vielleicht sieht dann die Welt ganz anders aus, wie wir es in unserer rabenschwarzen Dystopie ausmalen (Kapitel »Wenn alles schiefgeht«). Digitalität schlägt uns nicht mehr in den Bann, wir schaffen es, den Computer ab und zu auszuschalten. So nehmen wir mit unseren Kindern am wirklichen Leben teil – auf dem Sportplatz, im Wald, im Theater, im Konzert, in der Familie und im sozialen Miteinander.

 

Gerald Lembke & Ingo Leipner

 

Teil 1


Kleinkinder, Kindergarten und Grundschule

1. Brillante Babys

Die Sehnsucht nach dem perfekten Kind – oder warum Babys vorm Bildschirm verkümmern

In der ersten Auflage 2015 haben wir über den Atlantik geblickt, um Erkenntnisse US-amerikanischer Kinderärzte auszuwerten. Die American Academy of Pediatrics (AAP) empfiehlt seit Jahren, kleine Kinder von Bildschirmen fernzuhalten. An dieser Aussage ändert sich nichts – deshalb werden Sie in diesem Kapitel wieder auf die AAP stoßen … Ganz neu ist aber die BLIKK-Studie, deren erste Ergebnisse 2017 veröffentlicht wurden (1). Im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums! Diese Ergebnisse zeigen, wie sehr das Bildschirm-Problem auch bei deutschen Kindern ernst zu nehmen ist.

Die BLIKK-Studie – machen digitale Medien Kinder krank?

Bei Vorsorgeuntersuchungen von 5 573 Kindern fragten Ärzte nach dem Medienkonsum in den Familien. Auf dieser Basis stellte die Studie Zusammenhänge her – zwischen gesundheitlichen Auffälligkeiten der Kinder und der Nutzung digitaler Medien. Allerdings handelt es sich um eine Querschnittsstudie, die mit Korrelationen arbeitet. Klare kausale Beziehungen lassen sich statistisch nur in Längsschnittstudien über mehrere Jahre nachweisen. Aber: Schon die starken Korrelationen sind ein Alarmsignal!

Eine erste Zahl: »70 Prozent der Kinder im Kita-Alter benutzen das Smartphone ihrer Eltern mehr als eine halbe Stunde täglich.« Das heißt: Digitale Geräte durchdringen immer mehr den Alltag kleiner Kinder. Das muss Folgen haben …

Hier die ersten Ergebnisse der BLIKK-Studie:

 

1 Monat bis 1 Jahr: Fütter- und Einschlafstörung des Säuglings, wenn Eltern während der Säuglingsbetreuung digitale Medien nutzen (Hinweis auf Bindungsstörung!).

 

2 bis 5 Jahre: Signifikant wurden statistisch erfasst …

 

 

8 bis 13 Jahre: Auch bei ihnen fanden sich statistisch signifikante Ergebnisse wie …

 

 

Schirmherrin der Studie war die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU). Sie kommentierte die Untersuchung mit den Worten:

»Wir müssen die gesundheitlichen Risiken der Digitalisierung ernst nehmen! Es ist dringend notwendig, Eltern beim Thema Mediennutzung Orientierung zu geben. Kleinkinder brauchen kein Smartphone. Sie müssen erst einmal lernen, mit beiden Beinen sicher im realen Leben zu stehen.«

Vor diesem Hintergrund springen wir mitten in eine wahnwitzige Szene.

Ein markerschütternder Schrei, das Baby ist da! Ein kurzer Blick aufs Tablet … und das Baby versteht, wie die Nabelschnur durchschnitten wird. Zweimal schnippt das Neugeborene mit den Fingern – und schon wird im Kreißsaal dem Wunderkind eine Schere gereicht. Schnipp, schnapp; endlich frei und bereit fürs erste Selfie: Das Baby angelt sich ein Smartphone, knipst sich und eine Schwester mit roter Haube. Rundum erstaunte Gesichter, der digitale Knirps amüsiert sich prächtig.

Born for the Internet – der Wahn der Frühförderung

Jetzt kann er schon krabbeln, zielsicher steuert er einen Laptop an. Passwort? Kein Problem – und das Baby ist eingeloggt. Kurz mal die Cam aktiviert, und schon landet das strahlende Kindergesicht im Internet. Weiter geht’s: Der Knirps im blauen Strampler marschiert mit dem Smartphone zu einem Arzt, der vor Schreck auf dem Boden gelandet ist. Klick, auch dieses geschockte Gesicht ist im Kasten. Sicheren Schritts verlässt das Wunderkind den Kreißsaal, das Navi zeigt den Weg. Vorbei an einem Pfleger, der auf einen Bildschirm starrt, wo das Video aus dem Kreißsaal läuft … Kurze Einblendung: »Born for the Internet«.

Fötus-Tuning vom Feinsten, allerdings nur in einem Werbevideo, das ein russisch-indisches Telekom-Unternehmen durch soziale Netzwerke jagt. Auf Facebook wurde es über 13 000-mal geteilt, die Kommentare reichen von »sooooooooooooo süß!« bis zu »Das ist doch krank«. Noch ist kein Baby aus dem Kreißsaal marschiert, das ein Navi im Smartphone startet, um die Welt zu erobern. Aber dieses Video spielt gekonnt mit dem Wunsch nach Perfektion, der Sehnsucht, das perfekte Kind in die Welt zu setzen.

Heute hat sich im Kopf vieler Eltern die Redensart eingenistet: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.« Was bedeutet: Nichts kann früh genug auf den Nachwuchs einstürzen – und eine »Frühförderindustrie« (Ralph Schumacher) sorgt für Angebote, die Hänschen auf den Kampf ums Überleben vorbereiten. Und dieser Kampf wird immer stärker mit Computern ausgefochten. Daher sticht in der Werbung immer die Bildungskarte, zum Beispiel beim Produkt »Mein erster Laptop«, empfohlen für die ­Altersgruppe 12 bis 36 Monate.

Diese grellbunte Hässlichkeit aus Plastik »bietet abwechslungsreichen Spiel- und Lernspaß für kleine Entdecker«, so der Hersteller. Dabei drückt das Kleinkind lediglich auf farbige Tasten, und entsprechende Symbole leuchten in einem Display auf. »Zahlreiche Melodien und ein gesungenes Lied sorgen für zusätzliche Unterhaltung«, heißt es weiter in der Werbung. »Mit der beweglichen Kindermaus werden die feinmotorischen Fertigkeiten Ihres Kindes zusätzlich gefördert.«

Wer jetzt noch nicht einknickt und den Kaufen-Button drückt, den sollen noch folgende Argumente überzeugen: Das Produkt sei gut für die »Sprachentwicklung«, die »Sinneswahrnehmung« sowie »Erkundungsdrang und Neugier«. Alles unter der Überschrift »Für die Entwicklung Ihres Kindes«. Wer kann da noch Nein sagen? Wir sagen aber bewusst: Nein. Unsere These lautet:

Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins ­digitale Zeitalter.

Paradox? Verwirrend? Ja, aber wir werden im Lauf des Buches zeigen, wie sich diese Aussage erhärten lässt. Wir werden darüber nachdenken, wie sich Hänschen zu einem Hans entwickelt, der souverän mit digitalen Medien umgeht – und die großen Chancen der Digitalität zu nutzen weiß. Denn für uns gilt: »Was Hänschen nicht lernt, kann Hans in aller Ruhe lernen.« Das Modewort der Entschleunigung sollte Einzug in die Bildungsdebatte halten, denn gerade digitale Medien können mit ihrer Geschwindigkeit, Reizüberflutung und Oberflächlichkeit Lernprozesse untergraben.

Und das besonders bei kleinen Kindern: »Wenn Sie ihnen etwas erklären, schlafen sie einfach mal weg«, erläutert die Neurobiologin Prof. Gertraud Teuchert-Noodt, »und dieser Schlaf ist sehr wichtig, weil sich dabei im Gehirn viel abspielt.« Der Erfolg des Lernens sei von einem »inneren Rhythmus« abhängig, Langsamkeit im Lernprozess von Vorteil. Wer diesen Rhythmus durcheinanderbringt, schafft es auch später nicht mehr, »durch eine Stunde Yoga Schulklassen auf das richtige Gleis zu bringen«, so die emeritierte Neurobiologin.

Was geschieht aber, sobald die Kinder auf der Welt sind? Sie werden einem medialen Trommelfeuer ausgesetzt, das wir in unserem Alltag nicht mehr wahrnehmen:

»Die Mutter stillt beim Fernsehen, der Vater wiegt das Baby in den Schlaf, während er im Internet recherchiert, der große Bruder passt auf das kleine Geschwister auf, während er ein Computerspiel macht …, derartige Situationen sind Familienalltag.«

So beschreiben Helga Theunert und Kathrin Demmler die Situation, in der Kleinkinder heute aufwachsen (2). Klingt harmlos, ist es aber nicht, wie die American Academy of Pediatrics (AAP) feststellt: Laut einer Umfrage versuchen bereits 90 Prozent der amerikanischen Eltern, Kinder unter zwei Jahren bei Laune zu halten, indem sie elektronische Medien einsetzen. Daher hat die AAP frühere Warnungen verschärft und schon 2011 Empfehlungen veröffentlicht, wie Eltern mit elektronischen Medien umgehen sollten, damit Kinder unter zwei Jahren keinen Schaden nehmen (3). In der AAP haben sich 60 000 amerikanische Kinderärzte und -chirurgen organisiert.

Kurz und knapp schreibt die Ärzteorganisation: »Die AAP rät davon ab, dass Kinder unter zwei Jahren elektronische Medien benutzen.« Dabei stützen sich die Ärzte auf 50 Studien, die seit 1999 untersucht haben, wie Fernsehen und Videos auf unter Zweijährige wirken.

Die destruktive Wirkung von Background Media

Wie kommt die AAP zu ihren Empfehlungen? Betrachten wir einfach den Alltag von Eltern, die vor dem Fernseher sitzen und ihre Kinder im selben Raum spielen lassen. Die erste Wirkung ist offensichtlich:

»Kleinkinder werden einem Fernsehprogramm kaum aufmerksam folgen, wenn sie es nicht verstehen. Aber die Eltern sind damit beschäftigt. Der Fernseher mag für das Kind nur ein Hintergrund-Medium sein, doch für die Eltern steht er im Vordergrund. Der Fernseher lenkt die Eltern ab – und verringert die Interaktion zwischen Eltern und Kind. Das Wachstum seines Wortschatzes hängt aber direkt von der ›talk time‹ mit den Eltern ab bzw. von der Zeit, die Vater oder Mutter mit ihm sprechen. Wird in einem Haushalt sehr viel ferngesehen, kann sich das negativ auf die Sprachentwicklung des Kindes auswirken, einfach weil die Eltern wahrscheinlich zu wenig mit ihrem Kind sprechen.«

Das klingt sofort nachvollziehbar, aber wirklich neu dürfte vielen ­Eltern sein, wie Background Media direkt auf Kleinkinder wirken. Die AAP verweist auf ein Experiment, das Marie Evans Schmidt mit ihren Kollegen durchführte (4): 50 Kinder im Alter von 12, 24 und 36 Monaten spielten mit verschiedenen Spielsachen genau ­eine Stunde lang. 30 Minuten lief im selben Raum eine Spiel-Show im Fernseher, die andere halbe Stunde blieb das TV-Gerät ausgeschaltet. Der Effekt: Background Media reduzieren nicht nur signifikant die Spielzeit der Kleinkinder, sondern auch die Aufmerksamkeit, mit der sie sich dem Spiel widmen. Der Fernseher unterbrach das Spiel der Kinder, auch wenn sie ihre Aufmerksamkeit nicht offensichtlich auf das Gerät gerichtet hatten.

Schmidt und Kollegen schreiben: »Diese Ergebnisse deuten auf spätere Einflüsse hin, die sich bei der kognitiven Entwicklung bemerkbar machen.« Ein erster Hinweis auf die negativen Wechselwirkungen zwischen Medienkonsum und Gehirnentwicklung – Wechselwirkungen, die in unserem Buch noch eine große Rolle spielen werden (siehe auch Gastbeitrag von Prof. Gertraud Teuchert-Noodt: »Zu Chancen und Risiken fragen Sie das Gehirn«).

Auch die amerikanischen Kinderärzte stellen fest: »Das ›unstrukturierte Spielen‹ ist wichtig, um Fähigkeiten zur Lösung von Problemen zu entwickeln. Außerdem fördert es die Kreativität der Kinder.« Und was für die Berieselung aus dem Hintergrund gilt, entfaltet seine destruktive Wirkung erst recht, wenn Kleinkinder unmittelbar elektronische Medien konsumieren: Laut AAP gehen den unter Zweijährigen an Werktagen pro TV-Stunde neun Prozent der Zeit verloren, in der sie sich mit »unstrukturiertem Spielen« beschäftigen. Am Wochenende sind es sogar elf Prozent. Daher machen die Kinderärzte ganz pragmatische Vorschläge: Zum Beispiel soll der Nachwuchs auf dem Küchenboden Becher ineinanderstecken, wenn Eltern eine Mahlzeit zubereiten. Das sei bereits eine »sinnvoll genutzte Zeit des Spielens«, statt dieselbe Zeit einfach vor der Glotze zu sitzen.

Denn: »Das unstrukturierte Spiel ist wertvoller für die Gehirnentwicklung als jede Form der Nutzung elektronischer Medien«, so die AAP. Es sei nicht notwendig, dass sich die Erwachsenen immer aktiv mit den Kindern beschäftigen. Hauptsache, sie können in der Umgebung der Eltern spielen. Auch wenn Kinder erst vier Monate alt sind, hätten sie beim »Allein-Spielen« die Möglichkeit, »kreativ zu denken, Probleme zu lösen und Aufgaben zu bewältigen, ohne dass Eltern eingreifen«.

Außerdem sollten Eltern nicht außer Acht lassen: Unter Zweijährige weisen kurzfristig deutliche Defizite in der Sprachentwicklung auf, wenn sie viele Videos oder Sendungen im Fernsehen sehen. Drastisch sind auch die Folgen für unter Einjährige, die allein viel fernsehen: Für sie besteht eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer verzögerten Sprachentwicklung kommt. »Auch wenn die langfristigen Wirkungen unbekannt sind, geben die kurzfristigen Effekte Anlass zur Sorge«, so die Kinderärzte.

Fernsehen stört Schlaf und Beziehungsfähigkeit

Zwei weitere interessante Punkte stellt die AAP zur Diskussion:

 

Schlafverhalten: In Amerika halten es 19 Prozent der Eltern für sinnvoll, ihren unter einjährigen Kindern ein TV-Gerät ins Schlafzimmer zu stellen. 29 Prozent der Kinder zwischen zwei und drei Jahren haben einen eigenen Fernseher. Und 30 Prozent der Eltern berichten, dass Fernsehen den Kindern beim Einschlafen hilft. Diesen überraschenden Zahlen setzen die Kinderärzte entgegen:

»Obwohl Eltern das Fernsehprogramm als beruhigende Einschlafhilfe betrachten, haben einige Sendungen tatsächlich negative Folgen: Die Kinder wehren sich mehr gegen das Zubettgehen, der Zeitpunkt des Einschlafens verzögert sich, es entstehen Ängste vor dem Einschlafen und die Schlafdauer geht zurück.«

Besonders bei Kindern unter drei Jahren gerät durch Fernsehen der Schlafrhythmus durcheinander, was sich negativ auf Gemüt, Verhalten und Lernfähigkeit auswirkt. Zwar sei zu dieser Fragestellung noch mehr zu forschen, so die Kinderärzte, aber bereits jetzt gebe es »ausreichend Gründe zur Sorge«.

Video-Defizit und die gestörte Interaktion mit den Eltern

Kleinkinder sind nicht in der Lage, zwischen einer realen ­Situation und dem Geschehen auf einem Bildschirm zu unterscheiden (»­Video-­Defizit«). Sind sie zwischen 12 und 18 Monate alt, fällt es ihnen aber leichter, Informationen einer realen Person zu verarbeiten, als Inhalte aus dem Fernsehen zu verstehen. Die Kinder erinnern sich auch besser, wenn ihre Eltern mit ihnen direkt gesprochen haben.

Das deckt sich mit Erkenntnissen aus der Entwicklungspsychologie: Schon das Neugeborene bringt grundlegende Fähigkeiten zur sozialen Interaktion mit, wie Hellgard Rauh schreibt (5). Dazu zählen: eine Präferenz für die menschliche Stimme, die Vorliebe für das menschliche Gesicht, das Interesse an dynamischen Stimuli sowie auditiven und visuellen Informationen. Das Kind unterscheidet zwischen einer Dingwelt und einer Personenwelt: Es betrachtet Objekte als Informationsquellen, denen es »lange, konzentriert und angespannt« seine Aufmerksamkeit schenkt – und sich dann plötzlich abwendet. Ganz anders ist das Verhalten bei Menschen, die als Interaktionspartner gesehen werden: »Mit ihnen ist es entspannter, zeigt lebhaftere Mimik, Lippen- und Zungenbewegungen (…), positive Laute (Gurren) und Lächeln sowie ein rhythmisches Blick- und Vokalisationsverhalten, sogar Handbewegungen, die wie Vorformen von Geste wirken«, so Rauh.

Doch die AAP stößt bei ihren Schlussfolgerungen auf ein erkenntnistheoretisches Problem, das die Organisation nicht verschweigt: Die Daten zeigen nur eine Korrelation auf, die zwischen Entwicklungsdefiziten und Medienkonsum besteht (wie auch bei der BLIKK-Studie!).

Damit ist aber noch kein Kausalzusammenhang ­nachgewiesen, etwa nach dem schlichten Motto »Fernsehen macht dumm!«. »Werden Kinder mit Sprachproblemen öfter vor den Fernseher gesetzt?«, fragen die Kinderärzte. Oder: »Fühlen sich Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit stärker vom Bildschirm angezogen?« Aus diesen Fragen ergibt sich die Notwendigkeit für weitere Forschungen.

Ein Aspekt sticht bei den Empfehlungen der AAP besonders ins Auge: Die Frage nach einem kindgerechten Fernsehprogramm tritt in den Hintergrund; die Ärzte diskutieren nicht in erster Linie, welche TV-Inhalte für Kleinkinder geeignet sind. Ihre Kritik setzt viel grundsätzlicher an, weil sie »jede Form der Nutzung elektronischer Medien« für fragwürdig halten – speziell bei unter Zweijährigen.

Das ist ein klares Statement, das wahrscheinlich die Bundeszen­trale für politische Bildung (BpB) nicht unterschreiben würde: Unter der Überschrift »Fernsehen schon für Wickelkinder?« greift sie die Diskussion um die Sendung Teletubbies auf, die vor ein paar Jahren für Zweijährige im öffentlich-rechtlichen Kinderkanal ­KiKA lief (6). »An den Befürchtungen vieler Eltern kann man erkennen«, so die BpB, »dass die Wirkung des Fernsehens in der Regel überschätzt und der eigene erzieherische Einfluss häufig unterschätzt wird.« Die Sendung wolle »erste kognitive Fähigkeiten vermitteln«, es gehe um das »Wahrnehmen, Denken und Sprechen« der jungen Zielgruppe.

Viele Eltern würden sich freuen, »dass sie ihren Kleinkindern etwas zeigen können, was garantiert keine Gewalt und keine unverständlichen Szenen enthält«. Die BpB akzeptiert zwar auch als mögliche Position die Forderung »Babys gehören nicht vor die Glotze!«. Aber: Wer eine positive Einstellung zum Fernsehen habe, »werde sicher auch weniger Schwierigkeiten haben, sich auf die Teletubbies einzulassen.« Zusätzlich gibt es noch den Tipp, humorvoll mit der Sendung umzugehen: Zum Abendessen könnte es einen »­Tubby-Toast« geben, das »Zubettgeh-Knuddeln« ließe sich auch »Tubbie-Schmusen« nennen.

Eine wachsweiche Position, der wir ein klares Nein entgegensetzen, wie bei unserer ersten These – und zwar ganz im Sinne der amerikanischen Kinderärzte: Je jünger die Kinder sind, desto sinnvoller ist es, sie überhaupt nicht dem Einfluss elektronischer Medien auszusetzen.

Wir sollten nicht diskutieren, ob die Teletubbies mehr oder minder kindgerechte Inhalte transportieren. Vielmehr sollten wir diskutieren, ob unsere Zweijährigen nicht wertvolle Lebenszeit verschwenden, wenn sie vor Tablets und Co. geparkt werden. Eine Zeit, in der sie krabbelnd beginnen, unsere komplexe Welt zu erforschen.

Dazu stellt der amerikanische Psychologe Dr. Jim Taylor fest: »Wir konzentrieren uns auf die Inhalte der Technologie (Videos, Postings, Social Media), unterlassen es aber zu diskutieren, wie uns die intensive Nutzung selbst verändert.« Das habe bereits 1964 Marshall McLuhan gemeint, als er die berühmte Formulierung fand: »The medium is the message« (»Das Medium ist die Botschaft«). Das bedeutet: »Hinter dem vermittelten Inhalt hat das Medium selbst eine Wirkung, weil es einzigartiger Natur ist und mit speziellen Eigenschaften in Erscheinung tritt«, so Dr. Taylor.

Medien hindern Kinder bei der sensomotorischen Entwicklung

Welche Wirkung haben elektronische Medien auf unter Zweijährige? Jede Minute vor einem Tablet oder Fernseher fehlt dem Kind, um in seiner sensomotorischen Entwicklung voranzukommen. Diesen Begriff hat Jean Piaget (1896–1980) geprägt, der ein Modell der kognitiven Entwicklung entworfen hat, und zwar für Kinder zwischen Geburt und Pubertät. An dieser Stelle zoomen wir die erste Phase heraus, die drei weiteren Phasen werden in Kapitel 4 (Denken lernen) auftauchen. Denn Piagets Überlegungen sind für uns der rote Faden, um die Entwicklung des kindlichen Denkens zu verfolgen. Schließlich gilt der Schweizer Psychologe als »Übervater der Entwicklungspsychologie«, wie 2002 Spektrum der Wissenschaft festgestellt hat.

Zurück zur sensomotorischen Phase: Der Wortteil »­senso« steht für Sinneserfahrungen, das heißt, das Kind sammelt seine ersten Erfahrungen in der Welt, indem es sieht, hört, schmeckt, riecht und tastet. Der zweite Wortteil »motorisch« bedeutet, dass unter Zweijährige neben den Sinnen ihren Bewegungsapparat einsetzen, um die nähere Umwelt zu erkunden. Sie krabbeln, greifen oder patschen ins Wasser. »Das Kind baut sich sein Wissen von dieser Welt auf, indem es durch aktives Tun zunächst Erfahrungen an seinem eigenen Körper, später an Gegebenheiten seiner Umgebung sammelt«, fasst Gerd Mietzel diese Vorgänge zusammen (7). Und weiter schreibt er:

»Die einzige Möglichkeit des Denkens besteht darin, etwas mit den vorgefundenen Dingen zu tun, d. h., sie zu betrachten, zu berühren, in den Mund zu stecken und nach ihnen zu greifen. Während es in seiner Objektwelt hantiert, empfängt es über seine Sinnesorgane Rückmeldungen; es wiederholt diejenigen Aktivitäten, die interessante Effekte auslösen.«

Wer ein kleines Kind in die Badewanne setzt, kann das leicht bestätigen: Es wird vergnügt auf das Wasser einschlagen, mal mit seiner Badeente, mal mit der flachen Hand. Die Spritzwirkungen fallen sehr unterschiedlich aus, und das Kind entdeckt auf diese Weise, wie sich Wasser zum Spielen nutzen lässt. Ein Denken wie bei Erwachsenen findet dabei nicht statt: Das Kind reagiert unmittelbar auf Reize der Umgebung – weit entfernt davon, zu seinen Erfahrungen abstrakte Begriffe zu bilden.

Nun stellen wir uns ein kleines Kind vor einem Tablet vor, auf dem es Teletubbies schaut. Wir können eine erste Beobachtung machen, völlig unabhängig vom Inhalt: Das Geschehen auf dem Bildschirm läuft nur zweidimensional ab, kann also keinen realen Eindruck der Welt vermitteln. Außerdem sind die Inhalte aus dem Kontext gerissen, das bedeutet, sie stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Umwelt des Kindes. Oder bewegt es sich im normalen Leben durch die bunte Hasenlandschaft der Teletubbies? Eher nicht …

Im Gegenteil: Vor einem Bildschirm verharrt das Kind in relativer Ruhe, sein Bewegungsdrang wird gedämpft und wesentliche motorische Erfahrungen bleiben aus. Den entscheidenden Punkt nennt aber Prof. Ernst Schuberth, der Mathematik, Physik, Philosophie und Pädagogik studiert hat. Er wurde 1974 Professor an der Pädagogischen Hochschule (Universität Bielefeld), 1978 war er Mitgründer der Akademie für Waldorfpädagogik in Mannheim. Schuberth betont, »dass für das Kind die Sinneserfahrung in den ersten Jahren eine Hauptrolle spielt, und zwar für die Entwicklung von Gehirn und Seele«. Was auf dem Bildschirm erscheint, sei niemals »die Sache selbst«, sondern nur ein Surrogat der Realität.

Welche Konsequenzen hat das für ein Kind? Der Mathematiker erklärt das mit einem einfachen Vergleich: Wer ein Eiscafé besucht, dem gibt die Kellnerin eine Eiskarte – mit bunten Bildern aus dem Angebot, inklusive der Preise. »Wenn Sie in die Karte mit den Bildern reinbeißen«, so Schuberth, »werden Sie nicht das Geschmacks­erlebnis und alle anderen Wahrnehmungen haben, die sich einstellen, wenn Sie einen echten Eisbecher probieren.« Der reale Cup Denmark bewirke im Gehirn viel mehr als das reine Betrachten einer Eiskarte. So sei das mit allen Sinneswahrnehmungen. Ironisch schlägt er vor: »Beißen Sie einmal in eine Banane, die auf dem Bildschirm gezeigt wird – und schulen Sie dabei Ihren Geschmackssinn. Das hält das iPad nicht lange aus.«

Das große Thema ist der Wirklichkeitsbezug: Das Kind forme in den ersten Jahren die Fähigkeit aus, Sinneswahrnehmungen wirklich aufzunehmen, so Schuberth. Es gehe um »den Klang einer Stimme; wie sich ein Mensch fühlt, der gerade spricht; um eine bestimmte Musik oder den Geschmack des Essens«. Dadurch differenziere sich die gesamte Sinnesorganisation aus, so der Mathematiker. Genau das meinte Piaget, als er die sensomotorische Phase kleiner Kinder beschrieben hat. Auch Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther schildern plastisch, worauf es in dieser Phase des Lebens ankommt (8):

»Der Mensch [bewegt sich] zunächst entlang sinnlicher Spuren – da wird alles gerochen, geschmeckt, in den Mund gesteckt, beäugt und befühlt, ja der ganze Körper kommt zum Einsatz, und wie! Es wird gerobbt, geklettert, gesprungen, gehopst, gepurzelt und auf Zehnspitzen gestanden, jeder Muskel wird gestreckt, gewalkt, geübt, und dabei dieser wunderbare Körpersinn aufgebaut, der unsere Hände, Arme und Beine regelrecht Wurzeln schlagen lässt in der Umwelt.«

Ihr Resümee: Dieses »nach und nach entstehende sinnliche Bewusstsein« sei der erste Schritt zu »unserem Selbstbewusstsein«. »Der Besitz unserer Sinne macht uns unser selbst bewusst«, so Renz-Polster und Hüther.

Sätze, denen Schuberth sicher zustimmen kann. Er zeigt in seiner Wohnung auf eine Mühle, die in der Küche steht – und erzählt eine Geschichte von einer Enkeltochter kurz vor der Schulreife: »Für sie gab es nichts Schöneres, als das Korn mit der Mühle zu mahlen, die Zutaten zu vermischen, den Teig zu kneten … und am Ende stand da das Brot mit Butter und Salz auf dem Tisch – ein volles, sattes, sinnliches Erlebnis.«

Solche Erlebnisse warten für Kinder an jeder Ecke des Lebens: Ob im Wald oder in der Küche – besonders in der sensomotorischen Phase geht es um echte Sinneseindrücke, die entscheidend für die kognitive Entwicklung der Kinder sind (siehe dazu auch den Gastbeitrag »Zu Risiken und Chancen fragen Sie das Gehirn«). Daher hat Brotbacken nichts mit Nostalgie zu tun, sondern kann einer von vielen Schritten sein, damit sich Kinder gesund entwickeln.

Analog zu Piaget sprechen Neurobiologen von der »sensomotorischen Integration«, die während der gesamten Kindheit abläuft: Sie definiert das Lexikon der Neurowissenschaft als »Verknüpfung zwischen sensorischen Eingängen und motorischen Ausgängen zur Erzeugung von Verhalten (in biologischen oder künstlichen neuronalen Netzen).« (9) Dieses Zusammenwirken aller Sinne und körperlicher Aktivitäten hat eine hohe Bedeutung für die kindliche Entwicklung: »Wie kann das Gehirn das immense Aufgebot an Muskelzellen so kontrollieren, daß sich der gesamte Körper in die richtige Richtung bewegt? Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um das grundlegendste Problem, das ein Nervensystem bei seiner Evolution lösen musste.« (10) Die Lösung dieses »grundlegendsten Problems« ist absolut notwendig, damit sich das menschliche Gehirn gesund ausbilden kann. Dazu bedarf es einer intensiven Auseinandersetzung mit der Umwelt.

Genau um diese Auseinandersetzung werden Kinder betrogen, wenn Eltern glauben, Sendungen wie die Teletubbies würden »erste kognitive Fähigkeiten« vermitteln, wie es die BpB auf ihrer Website schreibt. Das Gegenteil ist der Fall, sobald die Verbindung mit der Realität leidet: »Wenn ein kleines Kind in seinen Bewegungen und Sinneswahrnehmungen zu wenig geschult wurde, kann es später mit dem Willen Denkprozesse weniger steuern«, so Schuberth. »Was ich aber mit der Hand und dem eigenen Körper getan habe, schlägt sich sofort im Gehirn nieder.« Jede Bewegung und jeder Sinneseindruck verändere die Struktur des Gehirns, was genau die kognitive Entwicklung sei, die ein Kind zu leisten hat, so Schuberth (Kapitel 4, Denken lernen).

Diesen Aussagen kann Prof. Thomas Fischer nur zustimmen. Er hat die Welt in vielen Facetten studiert und drei Studienfächer abgeschlossen (Betriebsökonomie, Jura und Psychologie). Seit 2011 ist er Lehrbeauftragter für Führungspsychologie, und zwar an der Hochschule für Wirtschaft der Fachhochschule Nordwestschweiz. Daher hat er einen Überblick, wohin einseitige Entwicklungen in der Kindheit führen.

aktive geistige Leistung

»Handelnde Erfahrungen« – sie sind zwingend die Grundlage für eine gesunde Entwicklung, die aber nicht passiv vor elektronischen Medien stattfinden kann. Passiv und eben nicht interaktiv, wie der Einwand lauten könnte. Denn wenn Kleinkinder auf dem Ta­blet wischen oder auf dem Spiel-Laptop Tasten drücken, wird nur ein sehr eingeschränktes motorisches Repertoire eingeübt. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass reale Sinneserfahrungen auf diese Weise nicht möglich sind. Oder lässt sich ein Wald auf dem Bildschirm simulieren – mit grünen Bäumen, verrotteten Ästen und Ameisenhaufen? Mit dem modrigen Geruch des Bodens, dem Gesang der Vögel und den knackenden Geräuschen, wenn morsches Holz auseinanderbricht? Nein – diese Welt ist so einzigartig, dass wir die wichtige Aufgabe haben, unsere Kinder von Anfang an in das »Leben einzuleben«, wie es Fischer ausdrückt.

Vor diesem Hintergrund erscheint fragwürdig, was die Firma BrillKids in Amerika ausgetüftelt hat: The Little Math Learning System. Es ist gedacht für Babys unter zweieinhalb Jahre – und soll mit Flashcards mathematische Mengenvorstellungen vermitteln. Dazu heißt es in der Werbung: Das Kind würde sofort »mental calculations« erlernen, was sich vielleicht mit »Kopfrechnen« übersetzen lässt. Weiterhin heißt es: »Es wird für sein ganzes Leben ein selbstbewusster Mathematiker werden.«

Ja, da steht tatsächlich im englischen Original die Berufsbezeichnung »mathematician«! Weitere Produkte nennen sich: Little Reader und Little Musician … Kein Wunder, dass der Claim der Firma lautet: »Kids are brilliant!« Zu diesen Angeboten sagt Fischer: »So ein Programm schadet nur. Das ist so, als würde man beim Hausbau mit dem dritten Stock beginnen.« Auf diese Weise würden Kinder völlig überfordert.

Brillante Babys? Da taucht sie wieder auf, die Sehnsucht nach dem perfekten Kind, das mehrere Nobelpreise abräumt. Brillante Babys werden später brillante Wissenschaftler, Künstler oder Manager … Doch der Schuss geht leicht nach hinten los: Je länger Kinder vor digitalen Spielzeugen sitzen, desto weniger erleben sie die reale Welt. Mit allen negativen Konsequenzen für ihre kognitive Entwicklung! Was sie scheinbar fördert, untergräbt ihre Fähigkeit, die Welt zu entdecken. Digitalität statt Realität – das scheint ein sicheres Konzept zu sein, um Kindern die Grundlage zu rauben, später gesund mit digitalen Medien umzugehen. Das gilt auch für Google-Recherchen im Kindergarten. Erst muss ein Keller gebaut sein, dann der erste und zweite Stock. Dann können wir unterm Dach einen Computer aufstellen – und müssen nicht fürchten, dass ihn später Jugendliche nur zum Daddeln nutzen.

Was das Gehirn sagt

Thema: reale Welterfahrung

»Ich bringe einen eigenen Bauplan auf die Welt mit – und habe entsprechende Ansprüche, damit ich mich gut entwickeln kann. Verschont mich bitte mit digitalen Medien, weil sie sich völlig gegen meine hirnphysiologischen Bedürfnisse richten. Ich bin gerade in der ersten Lebensphase auf soziale, sensible, handlungsbezogene und motivational-emotionale Kommunikation angewiesen. Es geht auch um meine raum-zeitliche Organisation, die ich langsam aufbaue, indem sich mein Körper viel bewegt und meine Sinnesorgane reale Erfahrungen machen. Dadurch reifen Nervennetze, was die Wissenschaft »Synaptogenese« nennt. Je stärker meine Synapsen werden, desto leichter fällt das Denken (13). Tablets und Smartphones helfen mir dabei überhaupt nicht. Im Gegenteil: Sie bringen mich um wichtige Erfahrungen in der realen Welt.«