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Gottfried Keller

Kleider machen Leute

Gottfried Keller

Kleider machen Leute

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-66-9

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Kleider machen Leute

An ei­nem un­freund­li­chen No­vem­ber­ta­ge wan­der­te ein ar­mes Schnei­der­lein auf der Land­stra­ße nach Gol­dach, ei­ner klei­nen rei­chen Stadt, die nur we­ni­ge Stun­den von Seld­wy­la ent­fernt ist. Der Schnei­der trug in sei­ner Ta­sche nichts als einen Fin­ger­hut, wel­chen er, in Er­man­ge­lung ir­gend­ei­ner Mün­ze, un­abläs­sig zwi­schen den Fin­gern dreh­te, wenn er der Käl­te we­gen die Hän­de in die Ho­sen steck­te, und die Fin­ger schmerz­ten ihm or­dent­lich von die­sem Dre­hen und Rei­ben. Denn er hat­te we­gen des Fal­li­ments ir­gend­ei­nes Seld­wy­ler Schnei­der­meis­ters sei­nen Ar­beits­lohn mit der Ar­beit zu­gleich ver­lie­ren und aus­wan­dern müs­sen. Er hat­te noch nichts ge­früh­stückt als ei­ni­ge Schnee­flo­cken, die ihm in den Mund ge­flo­gen, und er sah noch we­ni­ger ab, wo das ge­rings­te Mit­tag­brot her­wach­sen soll­te. Das Fech­ten fiel ihm äu­ßerst schwer, ja schi­en ihm gänz­lich un­mög­lich, weil er über sei­nem schwar­zen Sonn­tags­klei­de, wel­ches sein ein­zi­ges war, einen wei­ten dun­kel­grau­en Rad­man­tel trug, mit schwar­zem Samt aus­ge­schla­gen, der sei­nem Trä­ger ein ed­les und ro­man­ti­sches Aus­se­hen ver­lieh, zu­mal des­sen lan­ge schwar­ze Haa­re und Schnurr­bärt­chen sorg­fäl­tig ge­pflegt wa­ren und er sich blas­ser, aber re­gel­mä­ßi­ger Ge­sichts­zü­ge er­freu­te.

Sol­cher Ha­bi­tus war ihm zum Be­dürf­nis ge­wor­den, ohne dass er et­was Schlim­mes oder Be­trü­ge­ri­sches da­bei im Schil­de führ­te; viel­mehr war er zu­frie­den, wenn man ihn nur ge­wäh­ren und im stil­len sei­ne Ar­beit ver­rich­ten ließ; aber lie­ber wäre er ver­hun­gert, als dass er sich von sei­nem Rad­man­tel und von sei­ner pol­ni­schen Pelz­müt­ze ge­trennt hät­te, die er eben­falls mit großem An­stand zu tra­gen wuss­te.

Er konn­te des­halb nur in grö­ße­ren Städ­ten ar­bei­ten, wo sol­ches nicht zu sehr auf­fiel; wenn er wan­der­te und kei­ne Er­spar­nis­se mit­führ­te, ge­riet er in die größ­te Not. Nä­her­te er sich ei­nem Hau­se, so be­trach­te­ten ihn die Leu­te mit Ver­wun­de­rung und Neu­gier­de und er­war­te­ten eher al­les an­de­re, als dass er bet­teln wür­de; so erstar­ben ihm, da er über­dies nicht be­redt war, die Wor­te im Mun­de, al­so­dass er der Mär­ty­rer sei­nes Man­tels war und Hun­ger litt, so schwarz wie des letz­te­ren Samt­fut­ter.

Als er be­küm­mert und ge­schwächt eine An­hö­he hin­auf­ging, stieß er auf einen neu­en und be­que­men Rei­se­wa­gen, wel­chen ein herr­schaft­li­cher Kut­scher in Ba­sel ab­ge­holt hat­te und sei­nem Herrn über­brach­te, ei­nem frem­den Gra­fen, der ir­gend­wo in der Ost­schweiz auf ei­nem ge­mie­te­ten oder an­ge­kauf­ten al­ten Schlos­se saß. Der Wa­gen war mit al­ler­lei Vor­rich­tun­gen zur Auf­nah­me des Ge­päckes ver­se­hen und schi­en des­we­gen schwer be­packt zu sein, ob­gleich al­les leer war. Der Kut­scher ging we­gen des stei­len We­ges ne­ben den Pfer­den, und als er, oben an­ge­kom­men, den Bock wie­der be­stieg, frag­te er den Schnei­der, ob er sich nicht in den lee­ren Wa­gen set­zen wol­le. Denn es fing eben an zu reg­nen, und er hat­te mit ei­nem Bli­cke ge­se­hen, dass der Fuß­gän­ger sich matt und küm­mer­lich durch die Welt schlug.

Der­sel­be nahm das Aner­bie­ten dank­bar und be­schei­den an, wor­auf der Wa­gen rasch mit ihm von dan­nen roll­te und in ei­ner klei­nen Stun­de statt­lich und don­nernd durch den Tor­bo­gen von Gol­dach fuhr. Vor dem ers­ten Gast­ho­fe, Zur Waa­ge ge­nannt, hielt das vor­neh­me Fuhr­werk plötz­lich, und al­so­gleich zog der Haus­knecht so hef­tig an der Glo­cke, dass der Draht bei­na­he ent­zwei­ging. Da stürz­ten Wirt und Leu­te her­un­ter und ris­sen den Schlag auf; Kin­der und Nach­barn um­ring­ten schon den präch­ti­gen Wa­gen, neu­gie­rig, welch ein Kern sich aus so un­er­hör­ter Scha­le ent­hül­len wer­de, und als der ver­dutz­te Schnei­der end­lich her­vor­sprang in sei­nem Man­tel, blass und schön und schwer­mü­tig zur Erde bli­ckend, schi­en er ih­nen we­nigs­tens ein ge­heim­nis­vol­ler Prinz oder Gra­fen­sohn zu sein. Der Raum zwi­schen dem Rei­se­wa­gen und der Pfor­te des Gast­hau­ses war schmal und im üb­ri­gen der Weg durch die Zuschau­er ziem­lich ge­sperrt. Moch­te es nun der Man­gel an Geis­tes­ge­gen­wart oder an Mut sein, den Hau­fen zu durch­bre­chen und ein­fach sei­nes We­ges zu ge­hen – er tat die­ses nicht, son­dern ließ sich wil­len­los in das Haus und die Trep­pe hin­an­ge­lei­ten und be­merk­te sei­ne neue selt­sa­me Lage erst recht, als er sich in einen wohn­li­chen Spei­se­saal ver­setzt sah und ihm sein ehr­wür­di­ger Man­tel dienst­fer­tig ab­ge­nom­men wur­de.

»Der Herr wünscht zu spei­sen?« hieß es. »Gleich wird ser­viert wer­den, es ist eben ge­kocht!«

Ohne eine Ant­wort ab­zu­war­ten, lief der Waag­wirt in die Kü­che und rief: »In drei Teu­fels Na­men! Nun ha­ben wir nichts als Rind­fleisch und die Ham­mel­keu­le! Die Reb­huhn­pas­te­te darf ich nicht an­schnei­den, da sie für die Abend­her­ren be­stimmt und ver­spro­chen ist. So geht es! Den ein­zi­gen Tag, wo wir kei­nen Gast er­war­ten und nichts da ist, muss ein sol­cher Herr kom­men! Und der Kut­scher hat ein Wap­pen auf den Knöp­fen, und der Wa­gen ist wie der ei­nes Her­zogs! Und der jun­ge Mann mag kaum den Mund öff­nen vor Vor­nehm­heit!«

Doch die ru­hi­ge Kö­chin sag­te: »Nun, was ist denn da zu la­men­tie­ren, Herr? Die Pas­te­te tra­gen Sie nur kühn auf, die wird er doch nicht auf­es­sen! Die Abend­her­ren be­kom­men sie dann por­tio­nen­wei­se, sechs Por­tio­nen wol­len wir schon noch her­aus­krie­gen!«

»Sechs Por­tio­nen? Ihr ver­ge­sst wohl, dass die Her­ren sich satt­zues­sen ge­wohnt sind!« mein­te der Wirt, al­lein die Kö­chin fuhr un­er­schüt­tert fort: »Das sol­len sie auch! Man lässt noch schnell ein hal­b­es Dut­zend Ko­te­let­tes ho­len, die brau­chen wir so­wie­so für den Frem­den, und was er üb­riglässt, schnei­de ich in klei­ne Stück­chen und men­ge sie un­ter die Pas­te­te, da las­sen Sie nur mich ma­chen!«

Doch der wa­cke­re Wirt sag­te ernst­haft: »Kö­chin, ich habe Euch schon ein­mal ge­sagt, dass der­glei­chen in die­ser Stadt und in die­sem Hau­se nicht an­geht! Wir le­ben hier so­lid und eh­ren­fest und ver­mö­gen es!«

»Ei der Tau­send, ja, ja!« rief die Kö­chin end­lich et­was auf­ge­regt, »wenn man sich denn nicht zu hel­fen weiß, so op­fe­re man die Sa­che! Hier sind zwei Sch­nep­fen, die ich den Au­gen­blick vom Jä­ger ge­kauft habe, die kann man am Ende der Pas­te­te zu­set­zen! Eine mit Sch­nep­fen ge­fälsch­te Reb­huhn­pas­te­te wer­den die Lecker­mäu­ler nicht be­an­stan­den! So­dann sind auch die Fo­rel­len da, die größ­te habe ich in das sie­den­de Was­ser ge­wor­fen, wie der merk­wür­di­ge Wa­gen kam, und da kocht auch schon die Brü­he im Pfänn­chen; so ha­ben wir also einen Fisch, das Rind­fleisch, das Ge­mü­se mit den Ko­te­let­tes, den Ham­mel­bra­ten und die Pas­te­te; ge­ben Sie nur den Schlüs­sel, dass man das Ein­ge­mach­te und das Des­sert her­aus­neh­men kann! Und den Schlüs­sel könn­ten Sie, Herr, mir mit Ehren und Zu­trau­en über­ge­ben, da­mit man Ih­nen nicht al­ler­or­ten nach­sprin­gen muss und oft in die größ­te Ver­le­gen­heit ge­rät!«

»Lie­be Kö­chin, das braucht Ihr nicht übel­zu­neh­men! Ich habe mei­ner se­li­gen Frau am Tod­bet­te ver­spre­chen müs­sen, die Schlüs­sel im­mer in Hän­den zu be­hal­ten; so­nach ge­schieht es grund­sätz­lich und nicht aus Miss­trau­en. Hier sind die Gur­ken und hier die Kir­schen, hier die Bir­nen und hier die Apri­ko­sen; aber das alte Kon­fekt darf man nicht mehr auf­stel­len; ge­schwind soll die Lie­se zum Zucker­beck lau­fen und fri­sches Back­werk ho­len, drei Tel­ler, und wenn er eine gute Tor­te hat, soll er sie auch gleich mit­ge­ben!«

»Aber, Herr! Sie kön­nen ja dem ein­zi­gen Gas­te das nicht al­les auf­rech­nen, das schläg­t’s beim bes­ten Wil­len nicht her­aus!«

»Tut nichts, es ist um die Ehre! Das bringt mich nicht um; da­für soll ein großer Herr, wenn er durch un­se­re Stadt reist, sa­gen kön­nen, er habe ein or­dent­li­ches Es­sen ge­fun­den, ob­gleich er ganz un­er­war­tet und im Win­ter ge­kom­men sei! Es soll nicht hei­ßen wie von den Wir­ten zu Seld­wyl, die al­les Gute sel­ber fres­sen und den Frem­den die Kno­chen vor­set­zen! Also frisch, mun­ter, spu­tet Euch al­ler­seits!«

Wäh­rend die­ser um­ständ­li­chen Zu­be­rei­tun­gen be­fand sich der Schnei­der in der pein­lichs­ten Angst, da der Tisch mit glän­zen­dem Zeu­ge ge­deckt wur­de, und so heiß sich der aus­ge­hun­ger­te Mann vor kur­z­em noch nach ei­ni­ger Nah­rung ge­sehnt hat­te, so ängst­lich wünsch­te er jetzt, der dro­hen­den Mahl­zeit zu ent­flie­hen. End­lich fass­te er sich einen Mut, nahm sei­nen Man­tel um, setz­te die Müt­ze auf und be­gab sich hin­aus, um den Aus­weg zu ge­win­nen. Da er aber in sei­ner Ver­wir­rung und in dem weit­läu­fi­gen Hau­se die Trep­pe nicht gleich fand, so glaub­te der Kell­ner, den der Teu­fel be­stän­dig um­her­trieb, je­ner su­che eine ge­wis­se Be­quem­lich­keit, rief: »Er­lau­ben Sie ge­fäl­ligst, mein Herr, ich wer­de Ih­nen den Weg wei­sen!« und führ­te ihn durch einen lan­gen Gang, der nir­gend an­ders en­dig­te als vor ei­ner schön la­ckier­ten Türe, auf wel­cher eine zier­li­che In­schrift an­ge­bracht war.

Also ging der Man­tel­trä­ger ohne Wi­der­spruch, sanft wie ein Lämm­lein, dort hin­ein und schloss or­dent­lich hin­ter sich zu. Dort lehn­te er sich bit­ter­lich seuf­zend an die Wand und wünsch­te der gol­de­nen Frei­heit der Land­stra­ße wie­der teil­haf­tig zu sein, wel­che ihm jetzt, so schlecht das Wet­ter war, als das höchs­te Glück er­schi­en.

Doch ver­wi­ckel­te er sich jetzt in die ers­te selbst­tä­ti­ge Lüge, weil er in dem ver­schlos­se­nen Rau­me ein we­nig ver­weil­­­­­­­