Anna Ruhe

Die
Duftapotheke

Ein Geheimnis liegt in der Luft

Mit Illustrationen von
Claudia Carls

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Anna Ruhe wurde in Berlin geboren. Nach einem Abstecher an die englische Küste studierte sie Kommunikationsdesign und Illustration und arbeitete einige Jahre als Grafikdesignerin in großen und kleinen Designbüros. Spannende Geschichten hatte sie schon immer im Kopf, mit dem Schreiben begann sie nach der Geburt ihrer zwei Kinder. Mit ihrer Familie lebt sie in Berlin.

Claudia Carls erklärte in ihrer Kindheit abwechselnd, Schriftstellerin oder Künstlerin werden zu wollen, bis sich dieser Konflikt mit dem Beschluss, Buchillustration zu studieren, schließlich auflösen ließ. Als Diplom-Designerin lebt und arbeitet sie in Hamburg und gestaltet Bilderbücher, Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher und Plakate.

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Für Luk & Milo
… wie immer und alles

 

 

 

 

1. Auflage 2018
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Illustrationen: Claudia Carls
Gestaltung der Handschriften: Anna Ruhe
ISBN 978-3-401-80752-2

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1. Kapitel

Das Erste was mich weckte, war dieser seltsame Duft. Fremd und ziemlich intensiv wehte er um mich herum. Er kam nicht nur aus den Möbeln oder der dunklen Holzvertäfelung an der Wand. Er kam von überall.

Das Zweite war mein kleiner Bruder, der von unten nach mir brüllte.

»Luzie! Kooomm!«

Eisern zog ich die Bettdecke höher. Ich war einfach noch nicht bereit für das, was auf mich wartete. Außerdem war es viel zu früh zum Aufstehen, auch wenn die Vögel draußen schon wie verrückt vor sich hin zwitscherten und es in meinem Zimmer taghell war. Aber das lag vor allem an der blöden Oma-Gardine. Die hing nämlich nur vor der unteren Hälfte des Fensters. Mein erster Gedanke, als ich das hässliche Teil gestern bei unserer Ankunft gesehen hatte, war, es sofort nach dem Aufstehen verschwinden zu lassen. Schließlich war ich nicht hundertzwanzig wie dieser gehäkelte Lappen an der Stange. Aber dann dachte ich, wenn die Gardine es trotz ihres Aussehens geschafft hatte, dort hundert Jahre zu hängen, dann sollte sie wenigstens eine faire Chance bekommen.

Jedes andere Mädchen hätte bestimmt keinen einzigen Gedanken darüber verschwendet und einfach einen neuen Vorhang verlangt. Aber Ma hatte mir schon immer viel zu viel Respekt vor allem, was alt war, eingebläut. Manchmal sagte sie alberne Sätze wie: »Gebrauchte Dinge hüten Geschichten.« Ob irgendjemand diese Geschichten hören wollte oder nicht, interessierte sie dabei überhaupt nicht. War etwas alt, war es automatisch wertvoll. Punkt. Diesen Grundsatz stellte man in meiner Familie besser nicht infrage. Außer man wollte Ärger mit Ma bekommen. Und Ärger war nicht so mein Ding.

»Luuuzie! Früüühstück!«

Benno war wie immer hartnäckig.

Ich seufzte. Für meinen Bruder war unser Umzug ein riesiges Abenteuer. Die alte Villa, der Garten und der ganze altmodische Krimskrams. Alles war höllisch aufregend.

Klar, Benno war ja auch erst fünf.

Ein letztes Mal betrachtete ich die Risse in der Stuckdecke und rutschte dann aus dem Bett. Meine erste Nacht in der Villa Evie hatte ich also schon mal hinter mich gebracht. Und so wie es aussah, würden noch Hunderte folgen.

Ich schlüpfte in Jeans und T-Shirt und stieg die Treppe runter. Dabei knarrte jede einzelne Holzstufe und kündigte mich Schritt für Schritt an.

Hier unten roch es genauso komisch. Irgendwie nach zu vielen Dingen gleichzeitig. Nicht unangenehm, aber definitiv komisch. Und dieser Geruchsmischmasch waberte mir gleichzeitig hinterher und entgegen. Er hing überall wie ein zu stark aufgesprühtes Parfüm, das Leute manchmal in engen Räumen wie Fahrstühlen zurückließen und dort einsperrten. Hoffentlich blieb er ab jetzt nicht auch an mir hängen und kündigte mich in Zukunft schon aus der Entfernung an, ob ich das wollte oder nicht.

Zum Glück gab es auch ein paar vertraute Gerüche, wie den Duft von heißem Toast, geschmolzener Butter und Kaffee, also drückte ich mich im Erdgeschoss zwischen den Umzugskisten durch Richtung Küche. Alle anderen in meiner Familie saßen längst am Esstisch. Benno leckte gerade die Marmelade von seinem Toast und kippelte auf seinem Stuhl.

»Marmelade pur zählt nicht als Frühstück!« Pa hörte sich an, als erwähnte er das heute nicht zum ersten Mal.

»Morgen«, sagte ich.

»Guten Morgen, mein Schatz!« Ma schlürfte ihren Kaffee und blätterte in einer Zeitung.

Es war also alles wie immer. Ich schnappte mir einen Toast, beschmierte ihn ebenfalls, so dick es ging, mit Marmelade und setzte mich neben Benno.

»Gut geschlafen?« Ma warf mir einen ihrer Blicke zu, die Eis zum Schmelzen bringen konnten. Normalerweise gelang ihr das. Heute nicht.

»Geht so«, nuschelte ich und biss in meinen Toast.

Pas rechter Mundwinkel schob sich nach oben. »Jaja, die erste Nacht ist immer die härteste. Bei uns im Schlafzimmer zieht’s wie auf einer Bergspitze. Mein Nacken ist steif wie ein Brett.« Übertrieben rieb er sich die Schulter. Dazu zog er eine selbstmitleidige Grimasse, als müsste er gleich sterben. So war Pa eben. Er versuchte, jede Situation mit einem Scherz zu retten. Aber auch mit denen biss er bei mir heute auf Granit.

»Wir hätten ja einfach zu Hause bleiben können«, sagte ich nur. »Oder wenigstens in ein richtiges Haus ziehen. Eins mit elektrischer Heizung zum Beispiel?«

Ma lachte ungläubig auf. »Wie bitte? Die Villa Evie ist ein Traum! Wir können froh sein, dass wir sie so günstig bekommen haben. Alle anderen Mädchen würden platzen vor Neid!«

»Ja, aber nur, wenn unser bröckeliges Museum nicht vorher zusammenkracht und sie unter sich begräbt.« Ich atmete einmal tief ein. »Und wenn ich ihnen erst erzähle, dass ich den Badeofen eine Stunde vorheizen muss, damit mal ein bisschen warmes Wasser aus dem Hahn kommt, dann platzen sie ganz sicher alle sofort vor Neid.«

»Luzie!« Ma klappte ihre Zeitung zu und funkelte mich an. »Das bisschen Vorheizen haben die Leute früher auch hinbekommen. Du solltest froh sein, dass die Villa Evie kein gesichtsloses Neubauhaus ist! Sie ist alt und genau deshalb ist sie so atemberaubend schön. Wer hat heutzutage schließlich noch einen antiken Badeofen?«

»Eben! Niemand!«

Ich verdrehte die Augen. Meine Ma arbeitete als Restauratorin, was bedeutete, dass sie alles anhimmelte, was verstaubt oder kaputt war. Am glücklichsten sah sie immer aus, wenn sie Altes wieder zum Glänzen brachte. Manchmal nannten wir sie deshalb nur Flohmarktkrankenschwester, aber nicht mal das ärgerte sie. Das Kleidungsstück, das ich an Ma am häufigsten sah, war ihr mit Farbe und Gips verschmierter Arbeitskittel. In dem saß, kniete oder lag sie oft in irgendwelchen Kirchen auf Baugerüsten und pinselte Wandgemälde nach, die außer ihr niemand mehr erkannte. In der Villa Evie gab es zwar keine Wandgemälde, dafür aber haufenweise gruftigen Kram, der – zugegebener Weise – ihre Hilfe ziemlich nötig hatte.

Ich beobachtete Benno, der die Gelegenheit genutzt hatte: Die Marmelade war in seinem Mund verschwunden und der Toast irgendwo unter dem Tisch. Jetzt stand er auf und machte sich auf die Suche nach seinem Lego. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, um ihn nicht zu verraten.

»Leider hat der Bäcker hier am Samstag nur vormittags geöffnet.« Ma nahm einen letzten Schluck aus ihrer Tasse und sah mich an. »Wir brauchen dringend noch ein Brot für morgen. Ich weiß, du bist gerade erst aufgestanden, aber wir müssen so viel …«

»Jaja, ich mach das schon. Kein Problem.« Seit letztem Jahr zählte es zu meinen Aufgaben, am Wochenende zum Bäcker zu gehen.

»Danke, mein Schatz«, flötete Ma mir zu. »Die Bäckerei ist gleich die Straße runter, nur bis zur Kreuzung.«

»Okay.« Schnell stellte ich meinen Teller ins Waschbecken. Eigentlich war ich ganz froh über einen Grund, vor die Tür zu kommen.

Beim Zähneputzen überlegte ich einen Moment, wie ich am schnellsten meine Haare zu einer Frisur überreden konnte. Aber auch heute fiel mir zu meinen dunkelblonden Schnittlauchlocken nicht viel ein. Also machte ich mir einfach einen Zopf. Das war erstens nichts, womit man übermäßig auffiel, und zweitens ging es schnell.

In der Diele griff ich mir das Geld, das Ma mir hingelegt hatte, schlüpfte in meine Turnschuhe und ließ die Eingangstür nach einem »Bis gleich!« hinter mir zufallen. Die vier Stufen unserer Veranda sprang ich nach unten und lief den Lavendelweg entlang Richtung Bäcker. Rechts und links reichten mir die Gartenzäune nur bis zum Knie, was echt ungewohnt war für ein Großstadtkind wie mich.

Zum Bäcker war es wirklich nicht weit. Das Schild mit dem aufgemalten Croissant erkannte ich schon von Weitem. Am Ende des Lavendelwegs öffnete ich die Ladentür und erschreckte mich kurz über das Bimmeln einer Messingglocke über mir. Der Raum war altmodisch eingerichtet, eng und die Leute drängelten sich. Ein richtiger Tante-Emma-Laden! Ich mochte unseren neuen Bäcker sofort und stellte mich ans Ende der Warteschlange. Es roch herrlich nach warmen Brötchen, Vanille und Zimtschnecken.

Vor mir standen zwei Jungs, von denen sich einer zu mir umdrehte. Er war fast einen Kopf größer als ich und bestimmt zwei Klassen über mir. Bevor ich weggucken konnte, hob er eine seiner Augenbrauen. Sofort wurde mir warm. Jetzt fing er auch noch an zu grinsen. Hoffentlich lief ich nicht gleich wieder rot an! Das konnte ich nämlich super, wenn mir etwas unangenehm war.

»Hi«, sagte er. »Bist du neu hier?«

Zack! Sofort begann sich mein Körper in ein Streichholz zu verwandeln. Stocksteif und mit knallrotem Kopf.

»Ähm … wir sind gestern in die Villa Evie gezogen«, sagte ich, um einfach irgendwas zu sagen. »Das ist das alte Haus mit dem –«

»Echt jetzt? Du wohnst in der Villa Evie?« Der Junge riss die Augen auf und stieß den dunkelhaarigen Jungen neben ihm in die Seite. Dann grinste er noch breiter. »Hey, Mats, was sagst du dazu? Die wohnt neben uns, in deiner geliebten Gruselvilla!«

Gruselvilla? Na, das fing ja toll an. Noch keinen Tag hier und schon war es für einen Lacher gut, dass ich in der Villa Evie wohnte. Ich holte tief Luft und kniff die Lippen aufeinander.

Mats, der Junge mit den dunklen Locken, verzog nur ärgerlich den Mund. »Halt doch die Klappe, Leon!«

Der Blonde lachte und klopfte Mats auf die Schulter. »Hör nicht auf ihn«, meinte er und drehte sich wieder zu mir. »Mein Bruder ist von der Villa Evie total besessen. Bestimmt kommt er dich jetzt ständig besuchen und will dann jedes Mal eine Führung durchs Haus bekommen.« Kurz beugte er sich ein Stück näher und flüsterte: »Um das ›große Geheimnis‹ zu lüften.«

»Mann, du nervst!« Mats lief jetzt genauso rot an. Aber bei ihm sah es mehr nach Wut als nach Verlegenheit aus. Für den Bruchteil einer Sekunde warf Mats mir einen Blick zu, den ich schwer deuten konnte. Dann drehte er sich einfach zu der Frau hinter der Theke um. »Äh, hallo. Sechs Brötchen, zwei Croissants und ein Krustenbrot, bitte.«

Leon grinste mich weiter an. »Und? Hast du auch einen Namen, Mädchen aus der Villa Evie?«

»Ja. Hab ich«, sagte ich nur und hob mein Kinn, weil mir das alles so unangenehm war. Im gleichen Moment bezahlte Mats und drückte Leon eine seiner Tüten in den Arm. Mit einem Nicken in meine Richtung verschwand er samt seinem Bruder durch die Ladentür. Schnell bestellte ich ein Brot und vier Hörnchen und tat so, als hörte ich Leons »Tschüss dann, Mädchen mit Namen!« einfach nicht mehr.

Zurück lief ich doppelt so schnell. Erst vor unserem Haus blieb ich stehen. Ich überlegte, was dieser Leon damit gemeint haben könnte, dass sein Bruder von der Villa Evie besessen war. Welcher Junge war bitte schön von einem alten Haus besessen? Und was meinte er überhaupt mit »Gruselvilla«? Langsam öffnete ich das Gartentor und sah an den Hausmauern hinauf.

Von außen betrachtet sah die Villa Evie eigentlich wie ein in Zuckerguss getauchtes und verziertes Minischloss aus. Zumindest wenn man ganz weit weg stand und dabei die Augen halb zukniff. Gestern bei unserer Ankunft hatte Ma ständig das Wort »zauberhaft« geflötet und dabei auf die gusseisernen Schnörkel-Geländer, die endlosen Fenstersprossen und bunten Glasscheiben gezeigt.

Aber spätestens wenn man direkt davorstand, war klar: Die Hütte war einfach nur kurz vorm Zusammenkrachen. An allen Ecken bröckelte die Fassade, die Fenster schlossen kaum noch, der Lack blätterte, es roch superkomisch und überall wucherte wilder Efeu die Hauswände und Glasscheiben hinauf. Aber das Schlimmste von allem war der Ort, an dem die Villa stand. Ganze sechs Stunden hatten wir uns im Auto gelangweilt, bis wir endlich hier angekommen waren – irgendwo kurz vor der holländischen Grenze in einem verträumten Kleinstadt-Nirgendwo. Mit fünf fand man solche Umzüge vielleicht lustig, aber mit dreizehn? Bestimmt nicht!

Langsam ging ich auf die Veranda vor der Eingangstür zu. Hätte Pa sich nur nicht mit dem Direktor seiner Schule verkracht, dann hätte er nicht nach freien Stellen für Musiklehrer gesucht und er hätte niemals vorgeschlagen umzuziehen. Und ich würde jetzt nicht im Lavendelweg 33 von Schnarchhausen hocken.

Wie so oft stellte ich mir vor, was wäre, wenn ich geheime Superkräfte hätte, mit denen ich alles verändern könnte. Da gab es nämlich ein paar Dinge. Als Erstes würde ich natürlich jemand sein, der nicht immer gleich rot anlief. Ich würde nie mehr vor mich hin stammeln, wenn mich jemand anquatschte, und mir müsste nichts mehr peinlich sein.

Vor allem aber würde ich mich zurück in mein altes Zuhause zaubern.

Aber leider konnte ich nicht zaubern und Superkräfte hatte ich erst recht keine. Ab jetzt würde mein Leben also nicht nur langweilig werden, ich war auch noch völlig allein.

Mit Gänsehaut auf den Armen dachte ich an die bevorstehende Zeit, in der ich auf die Schule gehen würde, in der mein Papa unterrichtete. Sehr viel uncooler konnte es gar nicht mehr werden. Schnell schob ich den Gedanken beiseite. Jetzt waren erst mal Sommerferien und ein bisschen Schonfrist hatte ich noch, jedenfalls wenn ich diesen Leon nicht mehr traf.

Ich griff nach meinem Handy, aber es war das Gleiche wie gestern: kein Empfang. Ich konnte also nicht mal meiner besten Freundin Mona ein paar »Bruchbuden«-Fotos von hier schicken und auf Mitleid hoffen. Ich seufzte. Wenn Mona nur nicht in Berlin und Hunderte von Kilometern weit weg wohnen würde, dann wäre alles halb so schlimm. Was machte ich jetzt plötzlich ohne sie? Ob ich schon anrufen konnte? Aber bestimmt lag sie noch im Bett. Wenn keine Schule war und Mona nicht aufstehen musste, tat sie es auch nicht so schnell. Außerdem war sie, genau wie jede Sommerferien, mit ihren Eltern in Italien. Ich tröstete mich damit, dass es eh zu teuer war, dort anzurufen, und steckte mein Handy wieder weg.

So gut es ging, verscheuchte ich meine Gedanken und sah zu Benno, der im Vorgarten einen Ball hin und her kickte. Also legte ich erst mal die Brötchentüte neben der Haustür ab, setzte mich auf die Stufen unserer Veranda und sah ihm zu.

Über mir klapperte ein Emailleschild im Wind. Die Buchstaben darauf waren angeschlagen und nur noch schwer zu entziffern. Die Augen sind der Schlüssel zur Seele, aber die Nase ist das Tor, las ich mit Mühe.

Nase? Sollte das eine Anspielung auf die vielen seltsamen Gerüche im Haus sein? Ein komisches Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich das alles lustig oder doch ein bisschen unheimlich fand.

Wo waren wir hier nur hingezogen?

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2. Kapitel

Noch während ich über den Spruch auf dem Schild nachdachte, klapperte es neben mir. Ich drehte mich zur Seite und entdeckte Hanne van Velden im Vorgarten.

»Einen ganz wundervollen, schönen guten Morgen!« Sie winkte mir mit ihrer Gartenschere in der Hand zu.

»Morgen«, antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln. Aber Hanne kümmerte sich längst wieder um ihre Rosensträucher und schnitt die vertrockneten Blüten ab.

Hanne van Velden war die Erbin der Villa Evie und unsere Mitbewohnerin. Na ja, zumindest fast. Sie hatte meinen Eltern den größten Teil der Villa verkauft. Nur die ehemalige Dienstbotenwohnung im seitlichen Teil des Erdgeschosses hatte sie behalten. In der wohnte sie angeblich schon seit Ewigkeiten, weil sie die ganze Villa zu groß für sich allein fand und keine Lust mehr hatte, sich darum zu kümmern.

Hanne war eine »etwas durchgeknallte, aber liebenswürdige Dame«. Zumindest hatte Pa das bei unserem Einzug in mein Ohr geflüstert. Mit ihrer flatternden Blumenbluse, den vielen Perlenketten um Hals und Handgelenke wirkte sie, wie aus einem anderen Jahrhundert übrig geblieben. Hoffentlich war sie nicht so altmodisch, wie sie aussah, und meckerte bei jeder Gelegenheit gleich rum. Mit alten Damen in Erdgeschosswohnungen war ja meistens nicht zu scherzen – auch so ein Spruch von Pa. Aber zum Glück ließ Hanne mich gleich wieder in Ruhe.

Benno verschwand mit seinem Ball hinterm Haus, also stand ich auf und lief ihm nach. Unter meinen Sohlen knirschte der Kies. Ich blinzelte und schaute an den verwaschenen Backsteinmauern hinauf zum Dach. Moos wuchs überall auf den Ziegeln und ein Blitzableiter schwankte besorgniserregend auf der Hausspitze.

Hinter mir auf dem Kopfsteinpflaster vor der Villa Evie bremste plötzlich ein Auto und hupte. Ich drehte mich um und hoffte für eine Sekunde, dass Mona gleich auf mich zustürzen würde. Aber aus der dunklen Limousine stieg nur eine ältere Frau. Ich drehte mich enttäuscht weg. Das musste Besuch für Hanne sein.

»Was hupen Sie hier rum? Gibt es irgendeinen Grund dafür?« Hanne klang ziemlich gereizt. Okay, befreundet waren die beiden also doch nicht.

Ich blieb erst mal stehen und schaute zum Auto. Die Frau war gar nicht selbst gefahren. Vorne am Steuer saß ein Chauffeur. Mannomann! Der trug einen dunklen Anzug und sogar Handschuhe und die Frau sah noch übertriebener aus. Und mindestens zwanzig Mal so altmodisch wie Hanne! Sie hatte echt ein violettes bodenlanges Samtkleid an, das so aussah, als gehörte es eigentlich einer vor hundert Jahren ausgestorbenen Schlossherrin. War heute irgendwo ein Karnevalsumzug?

»In der Tat gibt es einen Grund!« Die verkleidetet Lady ging auf das Gartentor zu. »Ich suche einen Herrn Boer, wenn Sie gestatten. Wäre es möglich, mich zu ihm zu geleiten?«

Ge…leiten? Ich kicherte in mich hinein. Die war ja schräg.

Hanne winkte sie barsch weiter. »Gehen Sie einfach nach hinten durch. Willem treibt sich bestimmt irgendwo im Gewächshaus rum. Sie finden ihn schon selbst.«

»Besten Dank.« Die Lady raffte ihren Rock und öffnete unser Gartentor. Mit erhobenem Kopf stolzierte sie an mir vorbei und ich überlegte, wie lange sie wohl für ihre kringelige Hochsteckfrisur unter dem winzigen Hütchen gebraucht hatte.

Nur ganz kurz sah sie mich im Vorbeigehen an und sofort strömte mir ihr schweres Parfüm entgegen. Oh Mann, roch das muffig! Irgendwie dunkel und erdig. Ugh! Das war doch kein Duft, den man sich freiwillig aufsprühte?

Als ich meinen Hals nicht mehr weiter verdrehen konnte, um sie zu beobachten, schlich ich ihr nach. Auf dem Rasen hinter dem Haus hielt Benno seinen Ball gerade unter dem Arm und sah zu einem älteren Mann in dreckverschmierter Latzhose hinauf. Er stand ungefähr einen Meter von Benno entfernt. Sein halbes Gesicht bedeckte der Schirm eines abgeschabten speckigen Basecaps. Ich erkannte nur seinen Mund und der sah so aus, als gebe er unfreundliche Töne von sich. Genau verstand ich sie nicht, aber seine Handbewegung machte unmissverständlich klar, dass Benno woanders spielen sollte.

»Hey, Benno, komm mal her!« Ich winkte meinen kleinen Bruder zurück und warf dem Alten einen bösen Blick zu.

Von einem Gärtner, der sich um das Gewächshaus hinter der Villa Evie kümmerte, hatte ich schon gehört. Auch dass es für uns alle strengstes Tabu war und nicht mehr zur Villa dazugehörte.

Dieses Gewächshaus war wieder so eine Sache. Fast das komplette Grundstück hinter der Villa Evie bestand aus einem uralten Glashaus von der Größe eines Einfamilienhauses. Eine »viktorianische Schönheit«, hatte Ma das Ding genannt. Okay, es war zugegeben ganz hübsch, ich verstand nur wirklich nicht, wieso es so riesig war.

Benno stapfte mir schlecht gelaunt entgegen, während sich der alte Mann an sein Basecap tippte und die Lady fast unterwürfig ins Gewächshaus führte.

Was die beiden wohl zu besprechen hatten?

Als ich mich wieder umdrehte, hatte Benno schon was Neues entdeckt. Jemanden, um genau zu sein. Gegenüber auf dem Nachbargrundstück ließ dieser Mats, der Junge, der angeblich besessen war von unserem Haus, einen Basketball hüpfen. Na super, die zwei Jungs wohnten also wirklich nebenan.

Ich spürte, dass er mich aus den Augenwinkeln beobachtete. Am besten, ich tat erst mal so, als hätte ich ihn nicht gesehen. Auf die Art konnte ich ihn prima ignorieren. Ich starrte geradeaus auf den Kiesweg und ging schnell weiter. Nichts wie weg, bevor ich mich noch mit ihm unterhalten musste. Bestimmt fiel mir nach einem »Hallo« sowieso wieder nichts ein.

Aber Benno lehnte schon am Gartenzaun und rief: »Haaallo? Was machst duuu?«

Mats lächelte, als hätte er nur auf das Stichwort gewartet, und kam näher. »Basketball spielen. Willst du auch mal?«

Benno juchzte vor Freude und kletterte sofort über die kniehohen Holzlatten auf das Nachbargrundstück. Geschlagen verabschiedete ich mich von meinem Plan, Mats zu ignorieren, und ging Benno hinterher. Mit genügend Sicherheitsabstand blieb ich hinter dem Zaun stehen.

Ich tippte darauf, dass Mats ungefähr in meinem Alter war, auf jeden Fall war er der jüngere der zwei Brüder.

Es war gut, dass ich mir Zeit gelassen hatte. Mittlerweile machte Mats Benno vor, wie man den Ball zum Korb hochwerfen musste, um ihn durchs Netz zu bekommen. Mats schaffte es jedes Mal und ein kleines bisschen nervte mich das. Es wäre zwar albern gewesen, wenn er mit Absicht danebengeworfen hätte, aber ich fand es trotzdem angeberisch von ihm.

Ich blieb erst mal, wo ich war, schob meine Hände in die Hosentaschen und beobachtete die beiden. Mats trug eins dieser bunten Basketballshirts aus Nylon, das hinter ihm herflatterte, wenn er rannte.

»Ihr seid also die Alvensteins, die neuen Nachbarn?«, rief er zu mir rüber und strich sich dabei durch seine kurzen dunklen Locken.

Ich nickte nur, weil er seine Frage und die Antwort darauf bereits in einen Satz gepackt hatte.

»Sorry wegen Leon vorhin«, redete er einfach weiter. »Vergiss, was er gesagt hat. Er kann ein ziemlicher Idiot sein.«

Da konnte was dran sein. Aber ich fragte mich trotzdem immer noch, was Leon vorhin genau gemeint hatte mit der »Gruselvilla«. Nachhaken wollte ich aber auch nicht, also hob ich nur die Schulter. »Ist schon okay.«

»Ich bin übrigens Mats, aber das weißt du ja schon.« Er lächelte und in seinen Backen tauchten Grübchen auf. »Und du?«

»Luzie. Und der Kurze heißt Benno.« Ich lächelte knapp zurück. »Hilf meinem Bruder nachher wieder über den Zaun, wenn ihr fertig seid, ja?« Damit nickte ich Benno zu und verdrückte mich Richtung Haus.

Hanne stand nach wie vor an den Rosensträuchern und schnitt einen verblühten Ast nach dem anderen ab.

»Ich wünschte, ich könnte sie noch einmal riechen«, sagte sie ganz plötzlich in meine Richtung.

Verwundert drehte ich mich zu ihr um. »Was möchten Sie gern riechen?«

»Meine Rosen natürlich.« Hanne winkte mich zu sich hinüber. »Als Kind habe ich den Duft so geliebt, weißt du?«

Ich ging zu ihr an die Sträucher. Hanne hielt mir eine der dicksten rosa Blüten hin. Also beugte ich mich vor und atmete den zarten Duft aus Sommer und Leichtigkeit ein. Die Rosen rochen wirklich gut, genau so, wie Rosen es eben taten.

Ich deutete leicht irritiert auf die Blüte. »Was ist so besonders an ihnen?«

»Ach, nichts im Grunde.« Hanne betrachtete verträumt ihre Rose. »Ich rieche sie nur kaum noch. Mein Geruchssinn hat mich vor langer Zeit verlassen. Schlimm, nicht? Das Leben verliert irgendwie an Farbe, wenn man nichts mehr riecht. Selbst das Essen schmeckt nach nichts.«

»Oh, das tut mir leid.« Extra für sie roch ich deshalb noch einmal an der rosa Blüte.

Verzückt sah mich Hanne an. »Ach … nur ein einziges Mal den Duft von blühenden Rosen, von Lavendel oder Flieder riechen können … das wär’s. Als Kind konnte ich von den vielen Düften rund um das Haus nie genug bekommen.« Sie seufzte und warf mir einen langen Blick zu. »Wie gefällt es dir denn so in der Villa Evie?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ist schon okay.«

»Schon okay?« Hanne hielt für einen Moment die Luft an. »Na, hör mal, Kindchen! Die Villa Evie ist ein ganz und gar einzigartiges Haus. Weißt du das denn gar nicht? Glaub mir, sie ist prall gefüllt mit Geschichten. Und Geheimnissen!«

In dieser Sekunde hatte sie meine volle Aufmerksamkeit. »Was denn für Geheimnisse?«

Aber Hanne schüttelte nur ihren Kopf und wandte sich einem neuen Rosenstock zu. »Manchmal direkt nach dem Aufwachen glaube ich, mich im Traum an etwas erinnert zu haben. Etwas, das ich vor sehr vielen Jahren im Haus entdeckt habe. Aber sobald ich wach bin, ist alles wie weggeblasen. Liegt bestimmt am Alter. Dafür scheint sich deine Mutter mit Leib und Seele auf die Suche nach den alten Geschichten im Hause zu machen, nicht?«

Ich verzog leicht genervt die Lippen und nickte. »Ist ihr Job. Sie findet alles toll, was alt ist. Je älter, desto besser.«

Hanne seufzte wieder und dabei klangen ihre Worte, als hätte sie mir gar nicht richtig zugehört: »Mir hat die Villa Evie nicht viel Glück gebracht. Ich habe in diesem Haus nur verlernt, die Dinge um mich herum zu riechen. Eigentlich bin ich froh, dass ich mich nicht mehr um das Haus kümmern muss. Aber es ist schön zu sehen, dass deine Mutter darin so aufgeht.«

»Na ja …«, fing ich an, aber da knirschten plötzlich die Sohlen der verkleideten Lady über den Kiesweg. Ihre Limousine wartete immer noch vor der Villa.

Hanne nickte in ihre Richtung. »Guck mal, sie würdigt uns keines Blickes. Aber das tun die nie. Alle, die Willem besuchen kommen, sind schrecklich eingebildet.«

Ich hob meine Augenbrauen. »Bekommt Willem denn oft Besuch von solchen Leuten?«

»Nein, das nicht. Aber alle von denen tragen ihre Nasenspitze viel zu hoch in der Luft!« Hanne legte die Heckenschere in ihren Korb, während die Limousine davonfuhr.

Einen Moment lang schaute sie an der Villa Evie hinauf, als wäre ihr plötzlich wieder etwas eingefallen. Aber dann griff Hanne sich schon ihren Korb und nickte mir zum Abschied zu. »Also dann, es war nett, mit dir zu plaudern, Lizzie.«

»Luzie«, murmelte ich und sah ihr nach, bis sie hinter ihrer eigenen Wohnungstür seitlich im Haus verschwand – während in meinem Kopf nur noch die Worte »Gruselvilla« und »Geheimnisse« umherschwirrten.

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3. Kapitel

Am nächsten Tag machten wir uns daran, die Berge von Umzugskisten auszuräumen und die Villa Evie in etwas zu verwandeln, was grob an unser Zuhause erinnerte. Aber jedes Mal wenn ich endlich eine Kiste ausgeräumt und für all die Dinge darin einen neuen Platz in den Schränken und Regalen gefunden hatte, stand nur die nächste Kiste vor mir und alles fing wieder von vorn an.

Ding-Di-Dong!

Oh Mann. Schon seit Stunden schrillte die Türklingel und irgendein neuer Nachbar stand vor unserer Haustür. Wer war es wohl diesmal? Ich öffnete die Tür und schaute in das Gesicht einer Frau, die freudestrahlend einen Gugelhupf vor sich hielt. »Ja bitte?«

»Einen schönen guten Tag«, trällerte sie. Hinter mir kam Ma an die Tür. Zum Glück.

»Ich wollte Ihnen ganz herzlich zum Einzug gratulieren!« Die fremde Frau drückte Ma den Kuchen in die Hand und reckte ihren Kopf in unseren Flur hinein. Offensichtlich versuchte sie, mit einem Blick so viel wie möglich von der Villa Evie in sich hineinzusaugen.

»Ich bin Silvia Norman von schräg gegenüber, das gelbe Haus.« Sie zeigte hinter sich auf irgendeins der Häuser, aber jetzt, da Ma da war, nutzte ich die Chance, mich schnell wieder zurück zu den Kisten zu schleichen. Benno war nämlich gerade damit beschäftigt, zwischen den Kartons herumzutoben, und schaffte es, unser Durcheinander in ein noch größeres Chaos zu verwandeln.

Plötzlich kam mir eine Idee.

»Wollen wir Entdecker spielen?«, schlug ich Benno vor, um ihn davon abzuhalten, alles noch kurz und klein zu treten. Und weil ich so vielleicht endlich herausfinden konnte, woher diese seltsamen Düfte kamen, die sich über jeden Zentimeter des Hauses gelegt hatten. Ob sie irgendetwas mit den Geheimnissen zu tun hatten? Mir ging einfach nicht aus dem Kopf, wie Hanne darüber gesprochen hatte. Sie hatte ihre Stimme gedämpft, wie jemand, der einem etwas Verbotenes erzählt.

»Hausentdecker?«

»Au ja!« Benno war sofort Feuer und Flamme.

»Dann los!« Ich verstellte meine Stimme, damit sie tief und schaurig klang. »Heute suchen und entdecken wir den geheimen Schatz der Villa Evie!«

»Jaaa!« Benno hüpfte vor lauter Aufregung über ein neues Spiel hoch und runter.

»Also gut.« Ich winkte ihn vom Flur durch die Küche. »Unsere Hausentdeckertour startet im Erdgeschoss!«

Hinter der Küche lag das frühere Esszimmer. In Zukunft würde hier aber kein Esszimmer mehr sein, sondern Mas Arbeitszimmer. An den Wänden stapelten sich schon die endlosen Bücher und Aktenordner zum Thema Epochen, historische Stilelemente und anderem alten Dekokram.

Ma freute sich riesig auf ihr erstes eigenes Büro und begrub den Esstisch unter ihren Pinseln, Schabern und Lappen. Ein ganzes Esszimmer brauchten wir eh nicht und wir vier an einem so langen Tisch beim Abendessen? Das konnte ich mir sowieso nicht vorstellen. Wir aßen zwar immer gemeinsam, darauf bestand besonders Pa, aber es war jedes Mal laut und wuselig und das ging am besten an unserem kleinen, runden Tisch. Pa hatte ihn in der Küche aufgebaut und genau da gehörte er auch hin. Manche Dinge durften sich einfach nicht verändern, weil sie einem dieses besondere Zuhausegefühl gaben.

Ich zog Benno weiter in die Diele, die uns an der Treppe vorbei in den Salon führte. Der Raum war so groß wie drei normale Wohnzimmer zusammen. Unsere kleine Couch mit den zwei Sesseln wirkte hier drin wie eine Puppenhauseinrichtung.