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Cressida Cowell

DRACHENZÄHMEN

LEICHT GEMACHT

Jagd um das Drachenerbe

Aus dem Englischen
von Karlheinz Dürr

Mit Illustrationen
von Clara Vath

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In der Reihe »Drachenzähmen leicht gemacht« von Cressida Cowell
sind im Arena Verlag erschienen:
Band 1 Drachenzähmen leicht gemacht
Band 2 Drachenzähmen leicht gemacht. Wilde Piraten voraus!
Band 3 Drachenzähmen leicht gemacht. Strenggeheimes Drachenflüstern
Band 4 Drachenzähmen leicht gemacht. Mörderische Drachenflüche
Band 5 Drachenzähmen leicht gemacht. Brandgefährliche Feuerspeier
Band 6 Drachenzähmen leicht gemacht. Handbuch für echte Helden
Band 7 Drachenzähmen leicht gemacht. Im Auge des Drachensturms
Band 8 Drachenzähmen leicht gemacht. Flammendes Drachenherz
Band 9 Drachenzähmen leicht gemacht. Jagd um das Drachenerbe

www.drachenzaehmen.de

 

 

Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte
war ein Furcht einflößender Schwertkämpfer, ein Drachenflüsterer und überhaupt der größte Wikingerheld, der jemals lebte. Doch seine Memoiren entführen dich in die Zeit, als er noch ein ganz gewöhnlicher Junge war und sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass aus ihm mal ein Held werden würde.

Cressida Cowell
verbrachte ihre Kindheit in London sowie auf einer unbewohnten Insel an der schottischen Westküste. Sie war überzeugt, dass es dort nur so vor Drachen wimmelte, und ist seither von ihnen fasziniert. Neben den Aufzeichnungen von Hicks’ Memoiren hat sie mehrere Bilderbücher geschrieben und illustriert. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Kindern im englischen Hammersmith.

Clara Vath
liebte es schon als Kind, bunten und verrückten Fantasiewesen eine Gestalt zu geben. Dass ihr dabei auch der ein oder andere Drache begegnet ist, kam ihr bei der Arbeit an Hicks’ Memoiren sehr gelegen. Seit 2012 arbeitet sie als freie Illustratorin für verschiedene Unternehmen.

Dieses Buch widme ich LAUREN CHILD
(Beste Freundin für immer, oder BFFI, wie meine
Kinder sagen würden)

Cressida Cowell möchte dieses Buch
ihrem Bruder Caspar widmen.
In Liebe und Bewunderung.

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Die Originalausgabe erschien erstmals 2011 unter dem Titel
»How To Steal A Dragon’s Sword« bei Hodder Children’s Books, London.
© 2011 by Cressida Cowell

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1. Auflage 2018
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr
Einband, Satz und Illustration: Clara Vath
ISBN 978-3-401-80754-6

Besuche uns unter:
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PROLOG

Jetzt, da ich ein alter, alter Mann bin, scheint die Vergangenheit sehr weit zurückzuliegen.

Aber früher gab es in unserem Archipel wirklich Drachen.

Ich war damals noch ein Junge – ein Junge, der in seinem dreizehnten Lebensjahr einen furchtbaren Fehler beging. Ich befreite den Drachen Wildwut aus seiner Gefangenschaft auf der Insel Berserk.

Der Drache musste mir versprechen, sich weitab vom Archipel in die eisige Einöde des Nordens zurückzuziehen, und tatsächlich versprach er mir das auch – aber nur für ein Jahr. Ein Jahr Gnadenfrist gab er uns. Doch dann, schwor er, würde er zurückkehren und einen Aufstand der Drachen anführen, eine Rebellion mit dem einzigen Ziel, die gesamte Menschheit vollkommen und für immerdar auszulöschen.

In diesem einen Jahr schoss der Junge-der-ich-einst-war wie Unkraut in die Höhe, am Ende hatte ich satte acht Zentimeter zugelegt. Die mageren Arme ragten aus den Ärmeln, die Hosenbeine schlotterten eine Handbreit über den Knöcheln, aber dann war das Jahr auch schon vorbei und vom Drachen Wildwut und dem Drachenaufstand hatten wir nichts zu sehen oder zu hören bekommen.

Ich atmete erleichtert auf und fing schon an zu hoffen, dass uns das Schlimmste erspart bleiben würde. Vielleicht hatten der reine, unberührte Schnee und das klare, saubere Eis des Nordens die Wut des Drachen und seinen Schmerz über die hundertjährige Gefangenschaft besänftigt. Vielleicht hatte er gelernt, sein Leben wieder so richtig zu genießen, den freien, frohen Flug über eiskalte Gewässer, die herrliche Jagd auf verzweifelt fliehende Robben, die wunderbare Freiheit in einer endlosen, kalten Wildnis – ja, vielleicht genoss der Drache Wildwut nun wieder das glückliche, sorgenfreie Leben, das seine Vorfahren viele Tausend Jahre lang geführt hatten.

Vielleicht war er dort im Norden in seinem Element, vielleicht hatte er sich wieder daran erinnert, wie er früher gelebt hatte, und vielleicht hatte er seinen Schwur längst vergessen … und vielleicht kehrte er nie mehr zurück?

Das waren sehr viele »Vielleicht«.

Aber was wäre, wenn er doch …?

Ja, was wäre dann?

In den stillen Stunden der Nacht, wenn ich hellwach im Bett lag, stürmten die letzten Worte des Drachen immer wieder auf mich ein. Zischend, fauchend brannten sie sich in meine Gedanken ein und beherrschten sie, und es waren keine Worte, die bei Anbruch des neuen Tages wieder wegschmolzen wie Schneeflocken in der Sonne. Nein – es waren flammende Worte, gehässige Worte, Worte, die zischend zu riesigen Flammensäulen aufloderten und in meinen Träumen immer neue Nahrung suchten.

»Wir werden diese Welt mit unserem Drachenfeuer vollkommen einäschern. Kein elendes Menschenwesen wird am Leben bleiben, nicht ein einziges. Denn hundert Jahre lang habe ich in die Vergangenheit und in die Zukunft geblickt, und das kann ich dir sagen, Junge: Menschen und Drachen können nicht zusammenleben …«

Hasserfüllte Worte, die sich durch meine Gedanken fraßen wie lebendige, hungrige Feuerschlangen: »… und deshalb muss ich alle Drachen von nah und fern zusammenrufen, von den Tiefen des Ozeans und von den hintersten Winkeln der Erde, und wir werden diesen letzten großen Kampf austragen, bevor es zu spät ist.«

»NEIN!«, schrie ich in meinem Traum. »NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN!«

Aber keine Uhr tickt rückwärts: Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Und auch der Junge-der-ich-einst-war konnte sie nicht aufhalten.

Und der Drache kam.

1. EINE (NICHT GANZ) STILLE NACHT IM STEILEN STEIG

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Es war Mitternacht vor langer Zeit, als Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte entsetzt, voller Angst und schweißnass aus dem Schlaf hochschreckte.

Hicks, Erbe und Hoffnung des Stammes der Räuberischen Raufbolde, war ein schmächtiger, magerer, vollkommen gewöhnlich aussehender Junge mit einem Gesicht, das man in einer Menschenmenge jederzeit übersehen würde.

Aber, das muss man zugeben, er hatte auch nicht sehr gut geschlafen.

Es ist nämlich recht schwierig, gut zu schlafen, wenn man in einer Hängematte liegt, die auf Dreiviertelhöhe auf dem Steilen Steig des Wutgebirges hängt.

Der Steile Steig des Wutgebirges ist kein Steg und auch kein Weg, sondern ein Aufstieg an einer Steilküste. Diese Klippe ist allerdings so hoch, dass man für den Aufstieg zwei Tage und eine Nacht braucht. Und sie ist so steil, oder vielmehr so senkrecht, dass ein Klippenkletterer irgendwann ein paar Nägel in die Wand hauen und daran eine Hängematte aufhängen muss, um diese eine Nacht darin zu schlafen. Höchst unbequem, muss ich hinzufügen. Wer könnte schon ruhig und bequem schlafen, wenn man in lebensgefährlicher Höhe an einer senkrechten, nass glänzenden Felswand baumelt?

Hicks’ Reitdrache, ein Espenlaubler, schlief ein paar Fuß entfernt auf einer kleinen Felsnase und sollte eigentlich nach möglichen Gefahren Ausschau halten.

Aber es war eben immer noch Winter und der Espenlaubler hielt im Winter normalerweise seinen Winterschlaf. Deshalb konnte der Drache sogar tagsüber kaum die Augen offen halten und jetzt, mitten in der Nacht, schlief er so fest und tief, dass man glauben konnte, er sei mausetot. Und so lag er auf dem kleinen Felsvorsprung, den langen, ungepflegten Drachenkörper in die halb zerfetzten Flügel gewickelt, und schnarchte lauter als ein Braunbär mit Stirnhöhlenkatarrh.

Jedes Raubtier hätte ihm seelenruhig mit der Pranke den Kopf tätscheln können, bevor der Drache auch nur bemerkt hätte, dass er gleich gefressen werden würde.

Ohnezahn, Hicks’ winziger, egoistischer Jagddrache, lag auf Hicks’ Brust. Er war ein Felddrache, die gewöhnlichste Drachenart. Und er hatte ebenfalls nichts bemerkt, denn er schlief mindestens genauso fest und tief wie der Espenlaubler, schnarchte sanft im Takt mit Hicks’ Herzschlag und stieß dabei kleine Rauchwolken aus, die in der Hängematte hingen wie eine Nebeldecke.

Aber eine Gefahr drohte und deshalb wachte Hicks auf.

Er spürte die Gefahr … er war sich absolut sicher.

Hicks’ Herz begann so heftig gegen die Rippen zu pochen wie ein Schachtelteufel, der dringend aufs Klo muss, und plötzlich war er wach, hellwach, wacher als wach, denn mit jeder Faser seines Körpers spürte er die Gefahr.

Gefahr – um ihn herum, überall.

Eigentlich hätte er sich hier, hoch in den Klippen hängend, in Sicherheit befinden sollen, noch dazu mitten im Winter, wenn die meisten gefährlichen Drachen im Archipel immer noch ihren Winterschlaf hielten.

Die einzige Gefahr hätte sein können, dass die Hängematte von ihren Haken rutschte und abstürzte. Aber das war nicht der Fall. Weshalb hätte Hicks’ Herz sonst so rasen sollen, wieso grummelte und blubberte sein Magen so sehr, dass er sich am liebsten übergeben hätte?

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Hicks schob den Kopf – sehr langsam, damit die Hängematte nicht in Schieflage geriet – zum Mattenrand und spähte in die Tiefe.

Unter ihm fiel die Klippe steil ab – sehr weit, schwindelerregend weit unter sich sah er den Fuß der Klippe und das schäumende Meer.

Hicks schluckte und versuchte, nicht mehr in die Tiefe zu schauen.

Er war so hoch oben an der Klippe, dass er fast in jede Richtung meilenweit blicken konnte, gerade so, als würde er auf eine Landkarte des Archipels hinabschauen. Im Westen das Meer, im Norden erstreckte sich drohend und düster der riesige Spalt tief in das Land, der Thors Donnerbalkenschlucht genannt wurde. Noch weiter nördlich sah er die gewaltigen Gletscher und wild gezackten Gipfel des Kalten Gebirges.

Und hier, genau hier, erstreckte sich das fremdartige Festland, das von Eis und Schnee bedeckt war, in dem aber an manchen Stellen unheimlich blubbernde, warme Tümpel zu sehen waren. Sie stießen immer wieder ekelhaft stinkende Rülpser aus, die wie Rauchwolken zu den schnarchenden Drachen und dem verängstigten kleinen Wikinger in seiner Hängematte aufstiegen.

Ein paar Fuß von Hicks entfernt hing eine noch stärker zerschlissene und noch öfter geflickte Hängematte in den Klippen und darin lag Hicks’ bester Freund Fischbein.

Auch Fischbein schnarchte, was das Zeug hielt, aber das lag wahrscheinlich an seinem Asthma. (Unglücklicherweise war Fischbein allergisch gegen seinen eigenen Drachen Horrorkuh, der neben ihm in der Matte lag.) Natürlich konnte es auch sein Heuschnupfen sein. (Fischbein war der einzige Mensch, den Hicks kannte, der mitten im Winter Heuschnupfen bekam.)

Und über Hicks, weit über ihm, wölbte sich der Nachthimmel, an dem unzählige Sterne funkelten.

Still war der Himmel allerdings nicht. Sondern voller Geräusche. Geräusche, die unheilvoller klangen als der Donner, der auf einen Blitz folgte. Und besonders ein Geräusch war lauter als alle anderen, ein schrilles Heulen, das die Trommelfelle erzittern ließ, ungefähr so, als würden Wale in einem fremdartigen Universum einander rufen.

Ganz hoch oben am Himmel entdeckte Hicks schwarze Schattengestalten, die rasch näher kamen. Sie flogen über Thors Donnerbalkenschlucht heran.

Drachen! Noch waren sie zu weit entfernt, als dass Hicks genau hätte ausmachen können, zu welcher Art sie gehörten, aber die dunklen Schatten mit ihren gewaltigen, scharfzackigen Flügeln erschienen ihm wie Ungeheuer aus einem Albtraum. Tief im Innern wusste er, wer sie waren.

Wenn ein junges Kaninchen einen kreisenden Falken am Himmel entdeckt, ist es nicht nötig, dass es einen solchen Raubvogel irgendwann in seinem Kaninchenleben schon mal gesehen hat. Denn dann regt sich in seinem Innern ein Instinkt, ein uraltes Wissen, das ihm viele Generationen seiner Ahnen vererbt haben und das tief in sein Gedächtnis eingebrannt ist. Und dieses Wissen befiehlt ihm, mit riesigen, von Angst und Panik getriebenen Sprüngen in seinen sicheren unterirdischen Bau zurückzujagen. So ungefähr verhielt es sich auch mit Hicks und diesen Drachen.

Und dabei war es keineswegs so, als hätte Hicks noch nie im Leben einen Drachen gesehen.

Er lebte in einer Welt, in der es vor Drachen – wilden und zahmen – nur so wimmelte.

Aber was den großen Unterschied zu den unheimlichen Drachen dort oben am Nachthimmel ausmachte, war ihr Verhalten. Schon jetzt konnte er erkennen, dass sie ganz unterschiedlichen Arten angehörten, aber sie flogen heran, als seien sie gemeinsam auf der Jagd. Das war höchst ungewöhnlich, denn verschiedene Drachenarten schließen sich normalerweise nicht zusammen, um gemeinsam auf Menschenjagd zu gehen.

Sicher, ein wilder Drache würde dich fressen, wenn du ihm irgendwo über den Weg läufst und er gerade ziemlich hungrig wäre. Aber eine organisierte Jagd auf Menschen, wie es sie früher vielleicht einmal gegeben hatte, gab es längst nicht mehr.

Hicks’ Kopfhaut kribbelte, als würden tausend Kakerlaken darüber krabbeln. Er lauschte mit solcher Konzentration in die Nacht hinaus, dass er glaubte, seine Ohren würden immer weiter aus dem Kopf wachsen. Und tatsächlich hörte er über dem Heulen des Windes ein wahrhaft entsetzliches Geräusch – ein Zischen, das er sofort erkannte: Drachenesisch. Aber es war ein böses Drachenesisch, schlimmer, als er es jemals gehört hatte – und es klang kalt, hasserfüllt und voller Wut.

Und die Worte, die die Drachen ausstießen, klangen wie etwas, das in Trance gesungen wurde, heulend, unheimlich, aber noch so schwach, dass er sie kaum voneinander unterscheiden konnte. Aber vielleicht war es auch besser so, dass er sie nicht verstehen konnte:

TAUCHT DIE KRALLEN IN MENSCHENBLUUUT
ROTTET AUS DIE FAULE BRUUUT
VERNICHTET SIE MIT FEUERSGLUUUT
DER AUFSTAND KOMMT MIT IRRER WUUUT …

Näher und immer näher zog der riesige Drachenschwarm heran, flog direkt auf die Felswand zu, an der die beiden kleinen Wikinger in ihren Hängematten baumelten.

Hicks verrenkte den Kopf, um noch weiter hinaufschauen zu können. Fliehen – aber wohin? Ungefähr sechzig Fuß über ihm hingen die Hängematten der anderen Jungkrieger der verschiedenen Stämme des Archipels. Doch um zu ihnen zu kommen, würden Hicks und Fischbein eine gute halbe Stunde klettern müssen. Fischbeins und Hicks’ Matten waren aus alten braunen Decken zusammengeflickt, während die anderen Jungen in Matten aus alten Segeln lagen. Und weil Wikingersegel meistens rot-weiß oder blau-golden gestreift waren, boten die vielen Hängematten an der Felswand eigentlich ein recht buntes, fröhliches Bild. Mit ihrer Farbenpracht waren sie vor der düsteren grauen Felswand sogar mitten in der Nacht so gut zu erkennen wie ein knallroter Flamingo in der Eiswüste.

Und die mysteriösen Drachen flogen genau auf sie zu.

Jetzt konnte Hicks endlich auch erkennen, was sie waren. Er erkannte sie an ihren Flügelformen.

Viele gehörten zu den schlimmsten und grausamsten Drachenarten des Archipels: Sichelflügler und Zungengrabscherdrachen und heimtückische Albdrücker und die besonders blutrünstigen Vampir-Sechstöter.

Ich muss die anderen warnen!, schoss es Hicks durch den Kopf. Schon riss er den Mund auf, um den Warnschrei auszustoßen, aber irgendwie versagten ihm plötzlich die Stimmbänder den Dienst, so ungefähr, wie wenn du in deinem schlimmsten Albtraum auf einer Bühne stehst und vor tausend Leuten ein Gedicht aufsagen sollst und dir nicht mal mehr die erste Zeile einfällt.

Hicks’ Stimme quiekte kaum hörbar. Er versuchte es noch einmal, auch wenn seine Stimme noch immer sehr leise war: »Drachen …« Und nach kurzer Pause fiel ihm noch ein: »Echt schlimme …«

Das reichte nicht mal, um Ohnezahn aufzuwecken, ganz zu schweigen von einer Bande junger Krieger, die ahnungslos hoch über ihm friedlich schnarchten.

Inzwischen waren die Drachen schon entsetzlich nahe herangekommen. Sie flogen in ordentlicher, enger Formation – auch das war bei Drachen ein sehr unnatürliches Verhalten. Und jetzt streckten sie die Beine aus und reckten die scharfen Krallen weit vor, bereit, sich auf ihre Opfer zu stürzen. Die Jungkrieger waren dem Angriff vollkommen hilflos ausgeliefert und würden in ihren knallbunten Segeltuchmatten im Schlaf ihr Leben aushauchen.

Hicks beugte sich zu dem winzigen Felsvorsprung hinüber, auf dem er seinen Rucksack abgestellt hatte. Mit zitternden Händen zog er seinen Bogen heraus und riss hastig einen Pfeil aus dem Köcher.

Vielleicht war es ein glücklicher Umstand, dass Hicks von den anderen so weit entfernt war. Denn hätte er sehen können, was der Anführer des Drachenpacks in genau diesem Augenblick machte … er wäre wohl auf der Stelle ohnmächtig geworden.

Der Anführer war nämlich ein mächtiger Zungengrabscherdrache.

»Zungengrabscher« – für einen Drachen klingt das irgendwie fast niedlich und süß. Aber das, fürchte ich, ist nicht so ganz der Fall. Zungengrabscherdrachen haben nämlich die unschöne Angewohnheit, mit ihren äußerst kräftigen Zungen ihren Opfern die Glieder einzeln auszureißen, damit sie nicht mehr weglaufen können, um dann alle Einzelteile genüsslich zu fressen.

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Tut mir echt leid, aber so ist es eben.

Der Zungengrabscherdrache, der den Drachenschwarm anführte, schwebte absolut still neben den Hängematten. Dann öffnete er den Rachen und seine Zunge schoss heraus: eine Zunge, dicker als Haudraufs sehr muskulöser Wikingerarm. Das Zungenende war gespalten; die beiden langen Spitzen waren sehr beweglich und außerordentlich empfindlich; mit ihnen konnte der Drache Dinge grabschen.

Die Grabscherzunge glitt in eine der Hängematten, und zwar in die, in der Hicks’ widerlicher Vetter Rotznase schnarchte, und glitt suchend darin herum.

Hicks zielte sorgfältig und schoss den Pfeil ab.

Natürlich zielte er dabei auf den Zungengrabscherdrachen.

Hicks war eigentlich kein schlechter Bogenschütze. Nicht so gut wie als Schwertkämpfer, aber wirklich nicht schlecht.

Aber zu Hicks’ Verteidigung muss man zugeben, dass es ziemlich schwierig ist, einen Pfeil aus einer schwankenden Hängematte abzuschießen und ein Ziel genau zu treffen. Vor allem, wenn man dabei einen Bogen und einen Pfeil verwenden muss, die beide völlig verbogen worden waren – und zwar von niemand anderem als Rotznase selbst.

Der leicht verbogene Pfeil schoss spiralförmig nach oben und wackelte dabei so verrückt wie ein besoffener Sumpfdieb. Im letzten Augenblick befand er sich gerade auf einer Rechtsdrehung, weshalb er den Drachen verfehlte und sich stattdessen in Rotznases linke Pobacke versenkte.

Das war nicht unbedingt das, was Hicks beabsichtigt hatte, aber es hatte die erwünschte Wirkung – gewissermaßen.

Rotznase stieß einen nicht sehr lauten, eher halb erstickten Schrei aus, genau wie du wahrscheinlich schreien würdest, wenn du gerade einen Pfeil in die linke Pobacke bekommen hättest, und sprang aus der Hängematte … zur totalen Überraschung (und verständlichen Verärgerung) des Zungengrabscherdrachens, der sich in diesem Moment noch immer nicht entschieden hatte, welches Glied er Rotznase zuerst ausreißen sollte.

Natürlich hatte Rotznase in seinem halb verschlafenen, geschockten und pfeildurchbohrten Zustand völlig vergessen, wo er sich befand, nämlich in einer Hängematte, die Tausende Fuß hoch an einer Meeresklippe baumelte. Und so fuhr er aus der Matte hoch … und stürzte ab, stürzte in einem Wahnsinnstempo an der senkrechten Felswand entlang nach unten, vorbei an den bunt-fröhlichen Hängematten seiner Jungkriegerkameraden, vorbei an Hicks, der verzweifelt die Hand ausstreckte, um ihn zu fangen, obwohl Rotznase viel zu schwer gewesen wäre …

Und das wäre wohl Rotznases bitteres Ende gewesen, wenn nicht, ein kleines Stück unterhalb von Hicks, ein mickriges Bäumchen aus der Felswand gewachsen wäre. Dieses Bäumchen unterbrach Rotznases freien Fall, und obwohl es nun wirklich zu schwach und mickrig war, um ihn völlig aufzufangen, bekam Rotznase doch mit knaaappster Not einen der verkrüppelten Äste zu fassen und klammerte sich in seiner Todesangst daran fest.

Da war nun Rotznase, von einem dünnen Ästchen baumelnd, das zu einem mickrigen Bäumchen gehörte, welches sich selbst nur mühsam, dreitausend Fuß über der wilden Brandung des Meeres, an der Felswand festklammerte. Und Rotznase war so überrascht, so total baff, dass er zuerst keinen einzigen Ton herausbrachte, sondern nur mit weit aufgerissenen, entsetzten, verängstigten Augen zu Hicks hinaufblickte.

»HILF MIR, DU IDIOT«, brachte er schließlich hervor. Das war unhöflich, aber Rotznase hatte noch nie zu den höflichen Menschen gehört und auch jetzt gab er sich keine große Mühe, obwohl er gerade vor einem grausamen Schicksal bewahrt worden war und obwohl er ausgerechnet die Person beleidigte, die ihn vor diesem Schicksal bewahrt hatte.

Es war klar, dass sich Rotznase nicht mehr lange halten konnte, aber leider befand er sich knapp außerhalb von Hicks’ Reichweite.

Hicks rutschte verzweifelt durch seine Hängematte und versuchte, eines der Kletterseile zu fassen zu bekommen, das irgendwo am Fußende liegen musste. Aber wer schon einmal in einer Hängematte gelegen hat, wird wohl wissen, wie schwer es selbst unter normalen Umständen ist, sich in einem solchen schaukelnden Ding zu bewegen, ohne herauszufallen. Das ist ungefähr so, als würde man versuchen, in einen Kissenbezug zu schlüpfen und sich dort drin die Unterhose anzuziehen – das nur als Beispiel. In Hicks’ Fall kam erschwerend hinzu, dass in der Hängematte eine Art Nebel herrschte, den Ohnezahn mit seinen kleinen Atemrauchwolken – und mit kleinen Fürzen – erzeugt hatte. Tja, was Hicks da tat, war also ungefähr so wie eine bizarre, absurde, schwitzige Turnverrenkung in einer Zwergsauna.

Hin und her strampelte und kämpfte Hicks und die Hängematte schwang immer ungestümer an ihren schwachen Felsnägeln, doch sosehr er sich auch bemühte, er bekam das verdammte Ende des verdammten Kletterseils nicht zu fassen. Noch einmal nahm er seine ganze Kraft zusammen und krümmte sich wie ein gestrandeter Meereswurm – bekam etwas zu fassen … und zog versehentlich statt des Seils sein Schwert aus der Scheide …

Und das Schwert fuhr mit einem entsetzlichen Reißgeräusch durch das zerschlissene, tausendfach geflickte Gewebe alter Decken, aus dem Hicks’ Hängematte bestand, und schnitt sie mittendurch.

»Uaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhh!!!«

Und jetzt, endlich, fand Hicks auch seine Stimme wieder. »DRACHENANGRIIIIIIIFFFF!!!!!«

Das war ein enormer Schrei, denn die Angst hatte sich in Hicks’ Lungen zu einem gewaltigen Druck aufgestaut, der nun mit diesem Schrei förmlich explodierte, gegen die düstere Felswand der Klippe prallte, durch die gesamte Donnerbalkenschlucht hallte und als hundertfaches Echo immer und immer wieder zurückkam.

Fischbein, nur wenige Fuß entfernt, bekam die volle Gewalt des Schreis ab und wurde so jäh aus seinem Schlummer gerissen, dass er wie ein aufgeschreckter Seestern aus der Matte hochfuhr. Beinahe wäre er selbst abgestürzt. Und weiter oben gerieten sämtliche anderen Hängematten ins Schaukeln, als sich ihre Insassen schlaftrunken regten und drehten und schließlich mit verwirrtem »Wasss isss? Wasss iss los?« aufsetzten.

»Iiiiiiihhhhh!«, quiekte Ohnezahn voller Schreck, riss die Augen auf und breitete die Flügel aus, als ihm klar wurde, dass er sich mitten im Sturz aus großer Höhe befand.

Die angreifenden Drachen stutzten und schwebten einen Moment lang verblüfft vor der Felswand. Das Gelb ihrer Augen wurde mit einem Mal viel heller (ein außergewöhnlicher Trick, den manche Drachen eben draufhaben), sie schalteten sozusagen vom Nachtflugmodus auf grelle Suchscheinwerfer um und richteten die Köpfe nach unten …

Ihr hell strahlendes Augenlicht erfasste Hicks, der an den kläglichen Resten seiner Hängematte baumelte. Im gleißenden Licht unzähliger Drachenaugen war er vor dem finsteren Hintergrund der Felswand in brillanter Klarheit zu sehen.

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»Oh … oh … ESPENLAUBLER! WACH AUF!!!!!«, kreischte Hicks und schwang wild das Schwert. (Er schrie auf Drachenesisch, denn Hicks war einer der wenigen Wikinger, die jemals lebten oder noch leben, die diese faszinierende Sprache beherrschten.)

»Pfffrrruuuhhh … zzzaaarrrhhh!«, röchelte der Espenlaubler, der immer noch selig schnarchte.

Der Drachenschwarm, der bisher unheimlich still über Hicks am Himmel gehangen hatte, ließ nun ein gereiztes, langsames, immer lauter werdendes Zischen hören. Etwas in ihren Augen klickte. Das war die kleine Fokussierlinse, die immer dann über ihre Pupillen herabfiel, wenn sie eine Beute in höchster Schärfe und selbst aus größter Entfernung klar und scharf sehen wollten.

Einen Moment lang blieben sie noch bewegungslos in der Luft hängen.

Nur ihre Augen bewegten sich ein klein wenig, als sie Hicks’ hin und her schwingendes Schwert beobachteten.

Dann falteten sie ihre Flügel stromlinienförmig zurück und gingen in den Sturzflug über.

In den Beutesturzflug.

Was für ein wunderbarer, einmaliger Anblick! Wenn Hicks bloß in der Stimmung gewesen wäre, ihn zu genießen! Stattdessen baumelte er nur am zerschlissenen Rest einer zerfetzten Decke an der höchsten Klippe im ganzen Archipel.

Der Beutesturzflug ist eigentlich ein außerordentlich akrobatischer Kunstflug: Der Drache geht dabei in einen freien Sturzflug über, wobei er die Flügel eng am Körper anlegt. Und wenn gleich ein ganzer Schwarm riesiger Drachen dieses Manöver simultan ausführt, fast senkrecht niederstoßend und so dicht vor dem Steilen Steig an den Meeresklippen des Wutgebirges, dass ihre Flügelenden praktisch an den nass glänzenden Felsen entlangstreichen – dann, das kann ich dir sagen, wäre es eine große Ehre gewesen, dieses seltene Schauspiel beobachten zu dürfen, etwas, das jeder Drachenliebhaber einmal im Leben gesehen haben muss, bevor er stirbt. (Allerdings will ich dir da nichts vormachen: Wenn du diesen Anblick zu sehen bekommst, ist es äußerst wahrscheinlich, dass du ziemlich bald tot sein wirst.)

Der Anführer des Drachenheeres riss das Maul weit auf, sein gesamtes Drachengeschwader schoss mit durchdringendem Kreischen auf Hicks hinunter, der sich in allerletzter Sekunde verzweifelt zur Felswand zurückschwang. Und deshalb verfehlte ihn der Schwarm um Haaresbreite, konnte nicht schnell genug abbremsen und schoss im prächtigen Schwung ihres wunderbaren Beutesturzflugs an ihm vorbei weiter senkrecht in die Tiefe.

Hicks wand sich und zappelte wild, versuchte verzweifelt, irgendwo an den glänzenden, glasglatt geschliffenen Felsen Halt zu finden. Er spürte, wie ihm der Rest der Hängematte langsam durch die schweißnassen Finger glitt. Viel länger würde er sich nicht mehr daran festhalten können … aber noch fanden seine tastenden Füße nichts, das ihm hätte helfen können, deshalb stieß er sich wieder von der Felswand ab, um über dem abscheulichen Abgrund zu einer anderen Stelle zu schwingen.

Mittlerweile war Ohnezahn auf dem Bauch des schnarchenden Espenlaublers gelandet und sprang dort wild und verzweifelt auf und ab, um ihn aufzuwecken. »W-w-wach auf! Wach auf! Sonst zermalmt dir Ohnezahn die Knochen zu Fleischbrühe!«, kreischte der kleine Drache. »Wach a-a-auf, du schlappschwänziger Lo-Lo-Lotterhaufen!«

»Pfffrrrooohhh!«, schnarchte der Espenlaubler noch zufriedener als zuvor. In seinen Träumen flog er glücklich von Baum zu Baum, während der hübsche kleine Schmetterling, den er gerade verschlungen hatte, mit seinen netten kleinen Schmetterlingsflügeln in seinem Magen herumflatterte und ihn kitzelte.

Inzwischen versuchte auch Fischbein, aus seiner Hängematte zu krabbeln, um Hicks zu helfen, verfing sich aber mit einem Fuß in einem der Seile.

Peng!

Der dreiundfünfzigste Drache, auch ein Zungengrabscher, war mit knapp zweihundertvierzig Stundenkilometern an Hicks vorbeigeschossen, hatte es aber geschafft, sich in allerletzter Sekunde blitzschnell herumzuwerfen und sich mit den hakenartigen Krallen an den Flügelspitzen in der Felswand festzuklammern.

Brillant. Absolut brillante Flugtechnik, ohne Frage.

Der Drache richtete die gelben Augen fest auf Hicks und begann, sich mithilfe seiner Krallen über die Steilwand der Klippe zu Hicks hinüberzuhangeln, der hilflos an seinem Hängemattenfetzen baumelte.

Ohnezahn hatte es aufgegeben, auf dem Bauch des Espenlaublers herumzuspringen. Stattdessen versuchte er nun, mit all seiner winzigen Kraft Hicks’ glücklich schnarchenden Reitdrachen von der kleinen Felsnase zu rollen, auf der er lag. Und hoffte dabei, dass der Espenlaubler noch rechtzeitig aufwachen würde, bevor er unten aufschlug.

»Oi, bitte nicht wegflattern, liebes kleines Schmetterdings«, flüsterte der Espenlaubler im Schlaf und stieß ein paar vorwurfsvolle Rauchwolken aus. »Bleib doch bei mir, mein kleiner Flatterling, du süßer kleiner Bauchkitzler, dann können wir zusammen auf den Blütenwiesen tanzen …«

»HICKS! DU VOLLIDIOT!«, brüllte Rotznase, der sich immer noch mit beiden Händen an den mickrigen Ast des mickrigen Bäumchens klammerte, nur ein paar Fußbreit unter Hicks. »TU DOCH WAS, SEI EINMAL IM LEBEN ZU ETWAS NÜTZLICH! ICH KANN MICH NICHT MEHR LANGE FESTHALTEN!«

Aber Hicks hatte eben selbst gewisse Probleme, sich irgendwo festzuhalten.

»Aaaaiiiiieeehhh!!!«, kreischte Hicks, als sich der Zungengrabscherdrache wie eine gierige Vampirfledermaus immer näher an ihn heranhangelte. Er kam näher und noch näher, und als er das Maul aufsperrte, sah Hicks darin die grauenhafte, muskulöse haarige Zunge, die wie eine schleimige Schlange im dunklen Schlund lauerte.

Dann riss der Drache die Schnauze noch weiter auf und die grausige Zunge schlängelte sich heraus, wand sich um Hicks’ Schwertgriff und um seine Hand und zog Hicks zu sich heran …

Als sich die Zunge immer weiter um seinen Arm schlang, zitterte Hicks vor Ekel.

Ping!

Ein weiterer Strang der Hängematte riss durch, sodass Hicks plötzlich nur noch am buchstäblichen dünnen Faden über dem Abgrund hing.

Der Drache hielt inne – offenbar dachte er kurz nach, ob er Hicks den Arm mit Schwert und Schulter oder mit Schwert ohne Schulter ausreißen sollte.

2. WIESO HINGEN DIE JUNGKRIEGER IN DER STEILWAND?

Während der Drache noch über diese schwierige Frage nachdenkt, nutze ich die kurze Pause, um zu erzählen, wie Hicks überhaupt in diese missliche Lage geraten war.

Es ist immer recht ärgerlich, wenn man mitten in eine Story geworfen wird, ohne jede Erklärung, warum die Helden hier- oder dorthin gelangt waren, wie sie dorthin kamen und was um alles in der Welt sie sich dabei gedacht hatten, ihr Nachtlager ausgerechnet in Dreiviertelhöhe auf dem Steilen Steig an den steilen Klippen des Wutgebirges aufzuschlagen, noch dazu mitten im Winter.

Das war doch bestimmt eine echt bescheuerte Idee, oder nicht?

Deshalb werde ich hier kurz beschreiben, wie es dazu gekommen war.

An diesem hellen, klaren Wintermorgen hatten sich die Stämme des Archipels am Fuß des Wutgebirges versammelt. Es war eine großartige Versammlung – eine Unmenge Zelte, Schlitten und Skis dazu lärmende, rempelnde, rülpsende Leute, alte Freunde, die sich mit gewaltigen, aber herzlichen Schulterschlägen begrüßten, Freunde und Feinde, die ihre massiven Bäuche aneinanderrieben, Jagddrachen, die über ihren Köpfen Rad schlugen und sonstige Kapriolen vollführten, und Reitdrachen, die ständig miteinander Streit anfingen.

Hoch oben auf dem Gipfel des Wutgebirges befand sich Blitzbrenners Schwertkampfschule. Die Stämme reisten jedes Jahr zu einem dreiwöchigen Fest dorthin, einem Fest mit viel Fresserei, Saufen, Kämpfen und anderen wunderbaren Feierlichkeiten, die am Neujahrstag mit einem Schwertwettkampf und der Zeremonie »Neues Jahr, neue Krieger« zu Ende gehen sollte. Diese Zeremonie war wichtig, weil dabei die Jungkrieger des Archipels endlich von Jugendlichen zu Erwachsenen und damit zu Stammeskriegern wurden.

Es gibt nur zwei Wege, auf das Wutgebirge zu kommen.

Da ist zum einen der Leichte Steig, ein sanfter, gemütlicher, angenehmer Aufstieg, den man fröhlich hinaufschlendern kann, ohne auch nur außer Atem zu kommen. Das ist der Weg, den die erwachsenen Wikinger immer einschlugen, wenn sie mit ihren Zelten und Wagen und Schlitten und Reitdrachen und Zugdrachen und Waffen und Bierfässern und Unmengen Verpflegung unterwegs waren.

Aber dann gab es auch noch den Steilen Steig, der praktisch senkrecht an der Felswand emporführte und für den man, wie gesagt, zwei Tage und die Nacht dazwischen benötigte. Das ist der Weg, den junge Möchtegernkrieger einschlugen, um zu beweisen, dass sie würdig waren, in ihren Stamm aufgenommen zu werden.1

Und genau diese Möchtegernkrieger standen also an diesem hellen, klaren Wintermorgen am Fuß der gigantischen Klippe und starrten recht sorgenvoll hinauf.

Es war eine bunt gemischte Bande von pickeligen Halbwüchsigen, alle beträchtlich größer und viel muskulöser als die schmächtigen Bürschchen Hicks und Fischbein. (Von Kamikazzi ganz abgesehen, Hicks’ bester Freundin, einer wilden kleinen Sumpfdiebin mit einem mächtigen blonden Haarschopf, der immer so aussah, als hätte sie ihn ziemlich nachlässig mit einer Mistgabel zu kämmen versucht.)

Grobian der Rülpser, der Lehrer des Piratentrainingsprogramms der Raufbolde, holte tief Luft, um den Möchtegernkriegern mit einer echt anspornenden Rede ein bisschen Feuer unterm Hintern zu machen.

»ALSO, IHR SCHWAMMKÖPFIGEN HÄNFLINGE, ALLE MAL HERHÖREN!«, brüllte Grobian mit Donnerstimme. »Das hier wird der reinste Parkspaziergang! Ihr braucht nur zwei Tage und die Nacht dazwischen an dieser lächerlichen senkrechten Felswand emporzuklettern! Sobald wir oben sind, werden wir zur Schwertkampfschule marschieren, wo ihr für den Schwertwettkampf am Neujahrstag trainieren werdet! Das ist eure Chance, eine Menge guter Tricks zu lernen und Tipps vom größten Schwertkämpfer des Archipels zu bekommen, nämlich vom großen Blitzbrenner höchstpersönlich!«

OOOHs und AAAHs von den Möchtegernkriegern.

»Oh, ich kann’s kaum erwarten, den großen Blitzbrenner höchstpersönlich kennenzulernen!«, seufzte Kamikazzi hingerissen und aufgeregt. »Er soll absolut supertoll sein, der perfekte Held …«

»Und da kommt er auch schon!«, rief Schurki, der Sohn des Dickschädel-Häuptlings Hinkebein, und deutete nach oben.

Und tatsächlich war hoch am Himmel ein prächtiger Rottigerdrache zu sehen und auf seinem Rücken ritt, tief gegen den Flugwind geduckt, kein anderer als der große Blitzbrenner höchstpersönlich. Der Drache schien wie aus dem Nichts herabzustoßen. Kamikazzi stieß ein begeistertes »WOW!« aus und boxte in die Luft, als der Drache über die Köpfe der Jungkrieger hinwegsauste, so dicht, dass ihnen der von den mächtigen Flügeln erzeugte Wind fast die Helme von den Köpfen fegte.

So tief schwang der Rottigerdrache über sie hinweg, dass sich Blitzbrenner herabbeugen konnte und Haudrauf dem Stoischen keck den Helm vom Kopf riss. Mit ein paar kräftigen Flügelschlägen stieg der Drache fast senkrecht in die Höhe.

Haudrauf der Stoische, Hicks’ Vater, war gebaut wie ein echter Wikinger, mit Oberarmmuskeln, so prall wie Fußbälle, und einem mächtigen Bart, so wild wie ein Gewittersturm. Nur sein Denkmuskel war nicht so gut entwickelt: Seine grauen Hirnzellen hätte man ohne Probleme mit einem winzig kleinen Teelöffel zusammenschaben können.

Haudrauf fand die Sache mit dem Helm gar nicht komisch.

»Oh, dieser Blitzbrenner! Immer noch der alte Angeber!«, schnaubte er, während ringsum Gelächter ausbrach und die Jungkrieger ihren neuen Helden wieder mit vielen OOOHs und AAAHs anbeteten.

»KOMM RUNTER, DU ANGEBER!«, röhrte Haudrauf der Stoische. »WENN WIR SO WEITERMACHEN, HÄNGEN WIR NOCH MORGEN FRÜH HIER HERUM!« Ein wenig leiser stöhnte er: »Keine Ahnung, was sich diese Helden immer denken! Nehmen überhaupt keine Rücksicht …«

Doch endlich, mit einem finalen, anmutigen, weiten Schwung, setzte Blitzbrenners Rottigerdrache zur Landung an – und direkt vor Haudrauf dem Stoischen sprang Blitzbrenner mit einem doppelten Überschlag vorwärts über den Kopf des Drachen hinweg, landete perfekt auf beiden Füßen und präsentierte Haudrauf den Helm mit einer eleganten Verbeugung.

»Da ist er wieder, dein Helm, mein lieber Haudrauf …«

»WAGE ES BLOSS NICHT, MICH LIEBER ZU NENNEN!«, donnerte Haudrauf und riss ihm den Helm aus der Hand. »MACH ENDLICH DEIN DING, BRINGEN WIR’S HINTER UNS!«

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Blitzbrenner lächelte nachsichtig und sprang mit einem Satz auf einen fast mannshohen Felsbrocken in der Nähe, damit ihn alle sehen konnten.

Und er bot ja nun auch wirklich einen prächtigen Anblick – ein außerordentlich gut aussehender Mann mit langem blondem Haar.

Der berühmte Goldene Schwertkampfgürtel war um seinen Bauch geschnallt und daran hingen ein paar Schwerter, die er von den berühmtesten Schwertkämpfern des Archipels erobert hatte.

»Seid gegrüßt, ihr alten Fettwänste!«, rief Blitzbrenner mit gutmütigem Lächeln. »He, Hinkebein, du bist ja noch fetter geworden! Hätte dich beinah nicht mehr erkannt! Und Berta die Prallbusige – na ja, ich bin nicht sicher, ob dir dieses zarte Violett wirklich steht, mein Mädchen. Und wen haben wir denn da? Irrwürg der Mörderische! Nicht zu glauben! Fallen dir wirklich schon die Haare aus?«

Ohne auf das beleidigte Grummeln der älteren Krieger zu achten, wandte sich Blitzbrenner an die versammelten Jungkrieger. »Auch ihr Jungkrieger – seid gegrüßt! Ich habe das große Glück und die außerordentlich hohe Ehre, der Große Blitzbrenner höchstpersönlich zu sein! Ihr dürft jetzt begeistert jubeln.«

Die Jungkrieger jubelten begeistert.