Ilona Einwohlt

Erdbeersommer

Galopp in die Freiheit

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Ilona Einwohlt,
geboren 1968, war ein richtiges Pferdemädchen, bevor Germanistikstudium und
Familie wichtiger wurden als der Stall und sie mit dem Schreiben begann.
Seither sind aus ihrer Feder unzählige Bücher für Kinder und Jugendliche
geflossen. In ihrer Romanreihe »Erdbeersommer« verbindet die Autorin der
bekannten »Sina«-Bände erstmals die Leidenschaft für Pferde mit ihrem
Sehnsuchtsort, der stürmischen Nordsee, und erzählt von den Verwirrungen der
ersten Liebe. Ilona Einwohlt lebt mit ihrer Familie in Darmstadt.

Mehr unter www.ilonaeinwohlt.de

Weitere Titel von Ilona Einwohlt im Arena Verlag:
Erdbeersommer
Erdbeersommer – Unterm Sternenhimmel
Alicia. Unverhofft nervt oft
Alicia. Wer zuerst küsst, küsst am besten
Alicia. Liebe gut, alles gut!!!
Drillingsküsse. Wen lieb ich und wenn ja, wie viele?

 

 

 

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1. Auflage 2018
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Frauke Schneider
Lektorat: Kerstin Kipker
ISBN 978-3-401-80758-4

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Liv, gut, dass du endlich da bist! Du musst schnell kommen!« Tante Isodora lief mir wie ein aufgescheuchtes Huhn entgegen, als ich nach der Schule nach Hause auf den Friesenhof geradelt kam.

»Was ist denn passiert?« Alarmiert sprang ich von meinem Rad. »Ist etwas mit Hauke?« Sofort wollte ich Richtung Stall rennen, um nach meinem Lieblingspferd zu schauen, doch sie hielt mich am Ärmel zurück.

»Nein, deinem Hottemax geht es bestens.« Sie verdrehte die Augen. »Aber unten am Strand! Das hat die Welt noch nicht gesehen …« Isodora atmete so heftig, dass ihr Dekolleté unter ihrem bunten Blumenkleid auf und ab wogte. »Ich würde ja selbst gerne gucken gehen, aber ich habe gerade einen Rosinenstuten im Ofen und einen Riesentopf frisch gekochte Erdbeermarmelade auf dem Herd.«

»Und, was gibt es dort zu sehen? Hat sich wieder ein Wal verirrt, wie im letzten Herbst?« Halb genervt, halb erleichtert, stellte ich mein Rad am Zaun ab. Eigentlich wollte ich am liebsten sofort ausreiten, wie immer, wenn es so wie heute Ferien gab. Zwar sah ich meinen Schimmelhengst Hauke, seit ich hier bei Onkel Piet und Tante Isodora in Töwerhaven lebte, täglich. Aber meistens blieb mir neben Schule und Stallarbeit nicht viel freie Zeit – und deswegen hatte ich mich so besonders auf diesen Tag gefreut, weil wir früher Schulschluss hatten.

»Quatsch, nein, ein Wal ist es diesmal zum Glück nicht! Der würde ja bis hierher stinken … Nee, Mann, da ist ein Frachtschiff in einen schweren Sturm geraten und dabei sind etliche Container über Bord gegangen. Einer davon hatte Plastikeier geladen, die liegen jetzt alle am Strand! Aber geh selbst gucken – und mach Fotos für mich, ich muss wieder zu meiner Marmelade.« Tante Isodora sagte es und war schon wieder Richtung Küche verschwunden.

Also blieb mir nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich hinunter an den Strand zu laufen. Plastikeier statt Muscheln – die Sensation konnte ich mir nun wirklich nicht entgehen lassen. Als ich den Dünenabgang erreichte, glaubte ich meinen eigenen Augen kaum: Isodora hatte nicht übertrieben. Der Strand war übersät mit bunten Punkten! Und überall waren die Leute bereits dabei, die verstreuten Plastikeier in Tüten zu sammeln.

»Unglaublich, was?« Onkel Piet kam mir entgegen und schüttelte den Kopf. »Hoffentlich sind die bald alle wieder weg, für die Seevögel ist das eine Katastrophe! Was für eine Umweltverschmutzung!«

»Wie konnte das passieren?«, fragte ich aufgeregt. »Sind noch mehr Container verloren gegangen?«

»Angeblich nicht … und die Besatzung konnte zum Glück auch gerettet werden.« Mein Onkel räusperte sich umständlich und legte einen Arm um meine Schulter.

Hä? Was war denn plötzlich mit dem los? Solche zärtlichen Gesten war ich nicht gewohnt von dem bodenständigen Knodderkopp. Piets Stimme klang belegt, als er fortfuhr.

»Ich war ganz schön bang in der Büx, als ich den Namen des Schiffes gehört habe. Liv, min Deern, hör mir zu. Es war das Schiff deines Vaters! Also das, auf dem er der Kapitän ist. Aber keine Sorge. Aus irgendwelchen Gründen hatte er bei dieser Fahrt nicht angeheuert, er war also überhaupt nicht an Bord.«

»Das Schiff von Sean?!« Ich atmete tief ein und bekam einen Riesenschreck, mein Magen drehte sich. Das musste ich erst mal sacken lassen. All die vielen Jahre hatte niemand mit mir über meinen Vater gesprochen. Als ich in der Grundschule war, hatte er meine Mutter und mich verlassen und seitdem wurde er quasi nicht mehr erwähnt. Nur heimlich hatte ich immer mal wieder in alten Alben gestöbert oder später, als ich älter war, seinen Namen gegoogelt. Ich hatte nur noch eine vage Erinnerung daran, wie er ausgesehen hatte. Im letzten Sommer, als ich – wie mein Vater – in Hamburg so unglücklich war, hatte mir meine Mutter endlich erzählt, was damals wirklich passiert ist. In diesem Zusammenhang hatte sie mir dann nach stundenlanger Diskussion endlich erlaubt, in Töwerhaven zu leben. Und jetzt erfuhr ich auf einmal so nebenbei, dass mein Vater als Kapitän normalerweise hier ganz in der Nähe rumschipperte? Ich wandte mich aus Piets Arm und schloss die Augen, um zu kapieren, in welchen falschen Film ich hier geraten war.

»’tschuldigung, dass ich damit einfach so rausplatze …«, sagte Piet und fuhr sich nervös durch seine spärlichen Haare. »Aber ich hab es wirklich mit der Angst zu tun bekommen, als ich von dem Unglück erfuhr. Dann haben sie den Namen eines anderen Kapitäns in den Nachrichten erwähnt – und ich wunderte mich darüber. Wir haben nämlich ab und zu noch Kontakt, aber er hat mir nicht erzählt, dass er jetzt woanders angeheuert hat.«

»Du hast noch Kontakt mit ihm?« Kopfschüttelnd blickte ich ihn an. Jetzt kapierte ich gar nichts mehr.

»Ja, ähem, aber Isodora darf das nicht wissen. Und deine Mutter erst recht nicht, verstehst du? Ich mochte Sean immer, auch wenn er sich sehr egoistisch verhalten hat. Denn eigentlich ist er kein schlechter Mensch, Liv, das musst du mir glauben!« Onkel Piet strich mir sanft eine meiner roten Locken aus dem Gesicht und zog mich abermals an sich. »Bist doch meine lütte Deern!«

»Ist schon okay!«, wehrte ich ihn ab. Wer einfach so auf den sieben Meeren verschwand und sich nicht einen Deut für seine Tochter interessierte, der konnte nicht wirklich ein sooo guter Mensch sein, fand ich. Plötzlich hatte ich ein brennendes Gefühl in den Augen und wusste nicht so recht, ob es Tränen der Wut waren, weil ich daran erinnert wurde, dass mein Vater mich verlassen hatte. Oder waren es Tränen der Erleichterung, weil ihm offenbar nichts bei dem Schiffsunglück passiert war? Oder – dritte Möglichkeit – waren es einfach traurige Tränen, weil Piet beteuerte, dass mein Vater ein guter Mensch war, ich aber keine Chance bekam, das selbst zu beurteilen?

Ich spürte auf meiner Schulter Piets Hand, die mich die ganze Zeit über unbeholfen streichelte. Schnell zog ich die Nase hoch, wischte mir über die Augen und sagte: »Dann werde ich auch mal mit anpacken, damit wir diese bunten Dinger hier loswerden, was?« Mit diesen Worten wollte ich losstapfen.

»Warte, Liv«, rief Piet mir hinterher. »Lass das hier die Urlaubsgäste machen, die finden das toll! Hilf lieber Isodora und Frauke, morgen ist Anreisetag, wir haben genug auf dem Friesenhof zu tun.« Seine Stimme klang besorgt. Er wollte mich jetzt so nicht gehen lassen, das war mir klar.

Ich blieb stehen und atmete tief durch. Nach Ostereiersuchen war mir tatsächlich nicht.

»Komme gleich!«, rief ich Piet zu und versuchte, möglichst normal zu klingen. »Ich muss doch wenigstens noch die Fotos für Isodora machen.«

Mein Onkel schien erleichtert über meinen unbekümmerten Tonfall. Er grinste und hielt den Daumen hoch. »Einen besseren PR-Gag hätte sich die Bürgermeisterin gar nicht ausdenken können, was? Auch wenn diese Plastikeier eine riesige Umweltschweinerei sind …!« Er winkte mir zu und marschierte den Dünenweg voraus Richtung Friesenhof.

Ich fischte mein Handy aus der Tasche, um die Fotos zu machen, doch bevor ich dazu kam, den Auslöser von meinem Smartphone zu drücken, klingelte es.

Es war Camilla – meine Mutter. Was jetzt? Hatte sie womöglich auch etwas von dem Frachterunglück gehört? Ich schluckte und nahm ab.

»… freut es mich, Ihnen mitteilen zu können, dass sich Ihre Tochter Liv zu unserer allergrößten Zufriedenheit an der Töwerhavener Gesamtschule vorbildlich integriert hat. Sie ist eine besonders aufmerksame Schülerin, zuverlässig und auffallend sozial engagiert …«, hörte ich ihre Stimme am anderen Ende der Telefonleitung. Und dann: »Bist das wirklich du? Meine Tochter, ein Engel?«

Ich grinste erleichtert in mich hinein. Ein anderes Thema, zum Glück! Es wäre mir sehr schwergefallen, mit ihr jetzt über meinen für mich nicht existenten Vater zu plaudern. Da kam mir der ironische Tonfall, in dem mir meine Mutter den Brief der hiesigen Schule vorlas und sich über mich als Musterschülerin lustig machte, gut gelegen.

»Was dagegen?!«, antwortete ich kokettierend und ließ mich seufzend am Dünenrand nieder – ein Gespräch mit meiner Mutter konnte dauern …

»Mir wäre es lieber, deine Lehrer hätten deine herausragenden Fähigkeiten in Naturwissenschaften und Sprachen erwähnt.« Camillas Stimme klang plötzlich ernst. »Ehrlich, Liv, du kennst meine Meinung …«

»Und du meine.« Boah, wie mich das nervte! Jetzt war ich doch sauer. Jedes Mal die gleiche Leier!

Ich schnickte mit dem Fuß eine Fontäne Sand in die Luft. »Du hast mal zu mir gesagt, jede Frau hat ihren Weg, erinnerst du dich?«, warf ich ein. »Die eine als Mutter, die andere als Karrierefrau, die dritte irgendwo dazwischen, die vierte hat nur Pferde im Sinn, so wie ich. Also, was soll das jetzt? Ich bin nicht du! Ich dachte, das Thema hätten wir durch und du hättest verstanden, dass mein Weg ein anderer ist als deiner?!«

Ich hörte trotz des Rauschens im Mikrofon, wie meine Mutter am anderen Ende der Leitung tief ausatmete und dreimal schluckte. Dabei hatte sie mir damals in jener Nacht, als wir gemeinsam auf Hauke zum alten Leuchtturm geritten waren, das Gefühl vermittelt, mich verstanden zu haben. Schließlich war sie einmal selbst ein richtiges Pferdemädchen gewesen.

»Es ist nur so … du fehlst mir hier sehr«, sagte sie leise. »Natürlich bin ich ständig unterwegs, ich arbeite so viel wie nie zuvor, eine Marketingkonferenz jagt die nächste. Aber wenn ich abends nach Hause komme, bist du nicht da.«

»Dafür hast du jetzt ja Thorsten.« Das war mir einfach so herausgerutscht und es war gar nicht so fies gemeint, wie es vielleicht den Anschein hatte. Kurz überlegte ich, ob ich meiner Mutter von den Plastikeiern am Strand erzählen sollte – und davon, dass der verunglückte Frachter Seans Schiff war. Aber ich entschied mich dagegen.

»Hallo, der ist ein Mann, keine Tochter«, erklärte sie. »Der kann mir nicht sein Lieblingstop für die Sommernachtsparty in der Agentur leihen und seine Guten-Morgen-Hallo-Wach-Smoothies sind auch nur halb so gut wie deine.« Sie lachte und ich musste auch grinsen, als ich mir Thorsten mit seinen Riesenpranken beim Gurken-Ananas-Pürieren in der Küche vorstellte. Camilla konnte furchtbar anstrengend sein – wie Mütter eben sind, wollte sie immer nur das Beste für mich. Aber sie war nie lange nachtragend und im Grunde verstanden wir uns prima – bis auf die Tatsache, dass sie mich viel zu intelligent fand, um Pferdeställe auszumisten und Gäste herumzukutschieren.

Das wiederum war etwas, was mir meine hiesigen Mitschüler auch oft genug entgegenhielten. Genauer gesagt, waren es Lena und ihre Hühner, die mich als Großstadttussi immer wieder spüren ließen, dass ich nicht eine von ihnen war. Dabei war ich quasi in Töwerhaven aufgewachsen und hatte allen hier das Reiten beigebracht. Aber Lena war die Tochter der Bürgermeisterin und bildete sich wer weiß was ein. Worauf genau, wusste keiner, vielleicht auf ihre blonden Haare, die sie wie fast alle Mädchen lang und platt trug. Ich dagegen besaß eine feuerrote Mähne, weshalb man mich hier wahlweise als Hexe, Möhrenkopf oder Merida bezeichnete und was mich nicht gerade beliebter machte.

»Also gut«, versuchte ich, meine Mutter zu besänftigen, und schleuderte noch eine Ladung Sand mit meinem Fuß hoch. »In den Herbstferien komme ich dich besuchen, einverstanden? Kannst ja schon mal Urlaub einreichen, damit du auch wirklich freihast.« Letzteres meinte ich bitterernst, denn Camilla war ein richtiges Arbeitstier und kaum zu bremsen, wenn es darum ging, für einen Kunden die passende Strategie zu entwickeln.

»Das glaube ich erst, wenn du da bist und dich ausnahmsweise von deinem Herzallerliebsten trennst«, spottete sie und ich war mir nicht sicher, wen sie in diesem Augenblick meinte. Hauke, meinen vierbeinigen Seelenverwandten, mein Ein und Alles. Oder meinte sie Finn, mit dem ich im letzten Sommer das Abenteuer meines Lebens bestanden hatte? Wir waren nämlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einfach abgehauen – er mit seinem Dunkelfuchs Morango, ich auf Hauke –, nachdem wir mitgekriegt hatten, dass unsere Pferde verkauft werden sollten. Finn war mein allerbester Freund und Kumpel, vielleicht auch ein bisschen mehr, aber wenn mich nicht alles täuschte, interessierte er sich neuerdings für Anna – und das war völlig okay für mich.

Anna war Thorstens Tochter. Im Sommer vor zwei Jahren war sie zum ersten Mal zusammen mit ihrer Araberstute Moonlight auf dem Friesenhof gewesen und seitdem verbrachte sie all ihre Ferien hier an der Nordsee. Als im letzten Jahr die Zukunft des Friesenhofs auf dem Spiel stand, hatte Thorsten seiner Tochter zuliebe seine Beziehungen als Immobilienmakler spielen lassen und sein Geld in die Renovierung des Friesenhofs investiert. Jetzt war fast alles so wie früher, nur statt schrabbeliger Tapeten und abgewetzter Teppiche gab es hell gestrichene Wände und gemütliche Holzdielen. Einzig der Kaffee für die Gäste blubberte wie eh und je aus Isodoras altgedienter Melitta-Maschine und sorgte für den vertrauten Frühstücksduft am Morgen.

»War noch was?«, fragte ich meine Mutter, die offensichtlich vor lauter Verwunderung über diesen euphorischen Schulbrief den eigentlichen Grund ihres Anrufes vergessen hatte. Daraufhin fing sie an, sich umständlich zu verabschieden, weil sie morgen spontan mit Thorsten nach Vietnam in den Urlaub flog, aber ich hörte schon nicht mehr richtig hin. Ich spürte mit einem Mal, wie dringend ich Hauke an meiner Seite brauchte und losgaloppieren musste. Meine Gedanken brauchten frische Luft! Meine Mutter und ihre alte Leier waren die eine Sache. Aber viel gewichtiger war das Ding mit meinem Vater und dass Piet Kontakt zu ihm hatte – das musste ich erst mal verdauen. Und so sagte ich meiner Mutter schnell Tschüss, wünschte ihr schöne Ferien in Vietnam und trug ihr Grüße an Thorsten auf. Dann rappelte ich mich hoch, verstaute mein Handy und joggte zurück zum Friesenhof. Ich konnte es kaum erwarten, auf Haukes Rücken zu sitzen … schnaufend erhöhte ich das Tempo. Ich wusste: Im Galopp würde die Welt gleich etwas anders aussehen – auf Haukes Rücken hatten sich schon immer meine Sorgenwolken geklärt.

Denn was hatte sich eigentlich geändert? Mein Vater wollte nichts von mir wissen. So what? Ich hatte eine tolle Familie mit Piet und Isodora, eine großartige und nur manchmal nervende Mutter, einen super Kumpel mit Finn und das beste Pferd der Welt. Wozu brauchte ich also einen Vater? Sollte er doch weiter die Wellen der Ozeane reiten. Und dass Piet mit ihm in Verbindung stand, konnte mir doch eigentlich ganz egal sein …

Aus der Küche drangen bei meiner Ankunft laute Stimmen an mein Ohr. Das waren Isodora und Frauke, die sich stritten. Wieder einmal. Seit Finns Eltern gemeinsam mit meinem Onkel und meiner Tante den Friesenhof bewirtschafteten, war kein Tag ohne Streit zwischen den beiden vergangen. Obwohl alle Beteiligten sich einig gewesen waren, dass es die beste Lösung sei, und einen entsprechenden Vertrag unterschrieben hatten. Ehrlich gesagt, hatte aber keiner von ihnen eine andere Wahl gehabt: Frauke und Henry nicht, weil sie außer ein paar Kochtöpfen und ihren Kochkünsten nichts mehr auf der Kante hatten und froh darüber sein mussten, auf dem Friesenhof ein neues Zuhause zu finden. Und Isodora und Piet nicht, weil sie kein Geld und keinen Geschäftsplan für einen Neuanfang samt Renovierung hatten.

So war es dank Thorstens Ideen und Investition dazu gekommen, dass das Team vom »Anker« mit einem angegliederten Restaurant für das kulinarische Wohlergehen der Gäste sorgte und damit ordentlich Geld in die gemeinsame Kasse spülte. Isodora hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie mit der »neuen friesischen Küche«, wie sie vor allem von Frauke vertreten wurde, nicht viel anfangen konnte. Und erst recht nicht mit Fraukes reservierter Art, mit Menschen umzugehen.

»Der Rosinenstuten heißt Rosinenstuten, weil er in einer Kastenform gebacken wird«, hörte ich Isodora nun unten räsonieren. »Was will ich denn mit Rosinen-Cupcakes und Buttertopping?« Woraufhin Frauke irgendetwas antwortete, von dem ich nur »mundgerecht«, »innovativ« und »das Auge isst mit« verstand.

Ich legte einen Schritt zu, um auf direktem Weg zum Stall zu laufen, machte aber einen Bogen, damit die beiden mich vom Fenster aus nicht bemerken konnten. Pech gehabt! Durch meinen panischen Blick zum Küchenfenster hatte ich die Schiebkarre mit den Futtersäcken übersehen und prallte gegen einen ihrer Holme, riss sie mit lautem Getöse um und fiel auch noch darüber. Fluchend rappelte ich mich auf und rieb mir die schmerzende Stelle am Knie. So ein beknackter Ferienbeginn! Erst die Plastikeierkatastrophe am Strand. Camilla, die mich mit ihrem stundenlangen Gesabbel und der ewig alten Leier aufhielt, dann eine Kollision mit Wilms alter Karre und jetzt noch Isodoras und Fraukes Streit, der nicht mal von meinem Gerumpel unterbrochen wurde. Aber alles war nichts gegen die Sache mit meinem Vater und Piets geheime Kontakte zu ihm. Jetzt brannten mir doch wieder Tränen in den Augen.

Ich humpelte in die Küche. »Haste mal ein Kühlpäckchen für mich?«, unterbrach ich die beiden Streithühner, wohl wissend, dass dies das perfekte Stichwort für meine Tante war. Isodora liebte es, andere zu umsorgen und mit Kräutertinkturen und Globuli gesund zu machen, was ihr bis auf wenige Ausnahmen auch immer gelang.

»Selbstverständlich, mein Kind. Was ist passiert?« Sie reagierte sofort, sah mich prüfend an und schob die feuchten Augen wohl auf den Schmerz in meinem Knie.

Frauke schüttelte genervt den Kopf und wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Mit Beginn der Sommerferien wurden zum Wochenende neue Gäste erwartet, der Friesenhof war zum ersten Mal seit der Wiedereröffnung für die nächsten Wochen komplett ausgebucht. Es gab nur noch wenige Lücken, dem Balkendiagramm nach zu urteilen. Auch eine Neuerung, mit der sich Isodora nur schwerlich anfreunden konnte – mit Computern und komplizierten Programmen wollte sie schlichtweg nichts zu tun haben. Dass das System absolut anwenderfreundlich und kinderleicht zu bedienen war, hatte sie nicht glauben und erst recht nicht ausprobieren wollen. Sie verschwendete keinen einzigen Blick darauf und scherte sich nicht darum, dass man mit einem Klick eine komplette Übersicht wahlweise von der Anzahl der Kinder, der Pferde, der Familien oder ihres Heimatortes haben konnte. Aber es führte kein Weg drum herum: Isodora musste sich von ihrer alten Kladde mit den handschriftlichen Einträgen und den mit dem Lineal gezogenen Linien verabschieden. Und seitdem nervte sie Frauke und alle anderen mit Eingabefehlern, brachte die Seiten durcheinander oder sogar das System zum Abstürzen. Wie genau sie es schaffte, konnte niemand verstehen und ihr dabei erst recht nicht nachweisen, dass pure Absicht im Spiel war.

»Ich hab mir das Knie geprellt«, sagte ich und nahm jetzt dankbar das Kühlpäckchen samt ein paar Globuli entgegen. »Gibt sicher nur einen fiesen blauen Fleck …«

»Wolltest du etwa ausreiten?«, fragte mich Frauke, ohne weiter auf meine Blessuren einzugehen.

Typisch! Mitgefühl zeigte sie nur gegenüber Finn, den sie bis zum Gehtnichtmehr verwöhnte und dessen Unterhosen sie im Winter auf der Heizung vorwärmte. »Im Gästetrakt müssen die Zimmer hergerichtet werden, überall fehlen Blumen und Obstteller. Kannst du dich bitte darum kümmern?«

Ich verzog mein Gesicht. War ja klar, dass Frauke mich nicht losziehen ließ, ohne mir vorher eine Aufgabe aufs Auge zu drücken. Dabei wusste sie genau, dass ich mich in den letzten Wochen und Monaten sehr zuverlässig um alles gekümmert hatte und heute zu Beginn der Sommerferien als Allererstes ausreiten wollte. Außerdem hatte ich erst gestern bergeweise Handtücher zusammengelegt, nachdem ich vorher mit Piet die Pläne für die kommenden Wochen durchgegangen war. Wir hatten zahlreiche Sonderausfahrten im Angebot, die beworben und organisiert sein wollten. Aber Frauke war eine gnadenlose Chefin, die keine Diskussionen duldete, wie wir alle längst bemerkt hatten. Piet moserte hinter ihrem Rücken, hielt sich ansonsten aber mit Kommentaren zurück und organisierte seine Ausflugsfahrten nach wie vor mit Wilm, unserem altgedienten Stallburschen. Isodora dagegen passte es überhaupt nicht in den Kram, dass sie sich unterordnen und ständig klein beigeben musste. Bei jeder Gelegenheit rasselte sie deshalb mit Frauke aneinander, wobei es meistens um Kleinigkeiten ging, wie eben beispielsweise die Frage, ob nicht zur Abwechslung Rosinen-Muffins auf den Tisch sollten statt fingerdicke Scheiben des Stutens, wie es die Gäste des Friesenhofs jahrelang gewohnt waren.

»Ich mache das, wenn ich wieder zurückkomme«, sagte ich entschieden und straffte meine Schultern. »In zwei Stunden bin ich wieder da … und die Gäste reisen ja erst morgen an. Da ist noch genug Zeit, um alles zu arrangieren. Die Boxen für die Urlaubspferde müssen ja auch noch eingestreut werden.« Ich nickte Frauke kurz zu, dann humpelte ich einfach an ihr vorbei. Sie murmelte mir noch etwas von wegen »Na, so geht das aber nicht« hinterher, aber ich tat so, als hörte ich es nicht. Ich musste jetzt einfach ausreiten – davon hielt mich niemand ab. Selbst Frauke nicht.

Als ich den Stall betrat, wieherte mir Hauke sanft entgegen, wie immer erkannte er meine Schritte sofort und hob erwartungsvoll den Kopf. Und wie immer klopfte mein Herz vor lauter Freude, als ich ihn erblickte.

»Na du!«, begrüßte ich ihn mit einem Nasenstüber, bevor ich ihn für den Ausritt fertig machte. Der Schimmelhengst tänzelte bereits unruhig umher, als könne auch er kaum erwarten, dass es losging.

Das gehörte immer wieder zu den schönsten Augenblicken am Tag: er und ich ganz nah, sein warmer Pferdeatem in meinem Gesicht. Stirn an Stirn gelehnt, standen wir oft minutenlang still, teilten miteinander die Zeit und spürten unsere tiefe Verbundenheit. Wie oft schon hatte ich mich nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, heimlich zu ihm in die Box gekuschelt. Bei Hauke fühlte ich mich behütet und beschützt und schlief tief und fest – bis mich Wilm am nächsten Morgen aus den Träumen riss und ermahnte, fix zurück ins Haus zu flitzen, damit Piet nichts merkte. Wenn mein Onkel nämlich etwas nicht leiden konnte, dann waren es meine heimlichen Nachtbesuche und stets bekam ich eine donnerwettermäßige Standpauke, wenn er Wind von der Sache bekam. Er konnte mein inniges Verhältnis zu Hauke nicht verstehen. Für ihn waren Pferde Nutztiere, die man wie Alma und Luigi vor das Fuhrwerk spannte und ordentlich mit Futter versorgte und für die man ab und zu Tierarzt und Hufschmied kommen ließ. Wenn Piet wüsste, dass Hauke mich schon öfter des Nachts zum alten Leuchtturm weit draußen im Watt geführt hatte, hätte er mir unter Garantie jeglichen Umgang mit ihm verboten. Auch wenn er sonst keinen Cent auf das Gerede der Töwerhavener gab, die ja zu Genüge über ihn als Zugereisten hinter vorgehaltener Hand lästerten – aber der Legende vom Leuchtturmmädchen, das seinen Vater sucht, schenkte selbst er Glauben. Doch weder Piet noch Isodora ahnten, dass mich eine unerklärliche innere Sehnsucht immer wieder dorthin trieb und ich auch dann und wann tagsüber hinaus ins Watt ritt, um am Fuße des Leuchtturms vor mich hin zu träumen.

Keine zehn Minuten später galoppierte ich auf Haukes Rücken am Strand entlang. Obwohl wir das schon so oft gemacht hatten, jagten mir jedes Mal vor lauter Glück die Tränen in die Augen, wenn mir, tief über Haukes Hals gebeugt, die Gischt ins Gesicht spritzte, die Haukes wirbelnde Hufe aufstießen. Das war meine Freiheit, mein Leben! Ich gab mich voll und ganz seinen Bewegungen hin, verschmolz mit Zeit und Raum und für einige Sekunden stand alles still. Und die Sache mit meinem Vater und Piet war plötzlich nur noch ein Gedanke, den der Wind wegblies und der im Moment nicht zählte. Es gab nur noch Hauke und mich, den Sommer und das Meer.

Wir flogen den Strand Richtung Osten dahin. Hier waren nur wenige Plastikeier angespült worden und selbst in der Hauptsaison waren hier nicht so viele Menschen unterwegs. Es würde natürlich kein so gutes Bild abgeben, wenn jemand der Einheimischen einen der Urlaubsgäste über den Haufen ritt. Manche waren sowieso nicht gut auf die Pferde zu sprechen und zeterten, wenn die Fuhrwerke an ihnen vorbeirumpelten oder die Tiere in den Sand äppelten.

Ich spürte, wie Hauke unter mir sein Tempo drosselte, instinktiv richtete ich mich auf und griff die Zügel fester, die ich ihm vertrauensvoll frei gegeben hatte. Als ich meinen Blick hob, wusste ich, was Hauke irritierte: Uns kam nämlich ein Reiter entgegengefetzt, nicht minder schnell unterwegs als wir. Auch er hatte uns längst bemerkt und war langsamer geworden. Als wir auf gleicher Höhe waren, grinsten wir uns an. Es war Finn auf Morango.

»Hey, was machst du denn hier?«, rief ich ihm verwundert zu und duckte mich, als eine Möwe dicht über unseren Köpfen hinwegsegelte. Hauke machte einen erschrockenen Satz zur Seite, der alte Schisser, dabei war er doch mit dem Gekreische der Seevögel aufgewachsen und bestens damit vertraut. Doch sensibel, wie er war, brachte ihn manchmal das kleinste Geräusch aus der Fassung.

»Sag bloß, dir ist was angebrannt?!« So sauertöpfisch, wie Finn aus der Wäsche guckte, konnte es nämlich nur einen Grund geben, weshalb er seine Kochschürze gegen Reitstiefel getauscht hatte.

»Hab die Erdbeersuppe verbockt. Meine Mutter hat einen riesigen Aufstand gemacht«, gestand er mir zerknirscht und das war der Moment, wo ich ihn wieder einmal unglaublich süß fand. Unwillkürlich griff ich nach seiner Hand und drückte sie fest. Erdbeersüppchen mit Vanilleschaum, das war der Renner auf dem Friesenhof, weshalb etliche Urlaubsgäste mit ihren Fahrrädern von sonst woher angeradelt kamen. Finns »Kombüse«, wie das kleine angegliederte Bistro genannt wurde, war im letzten Jahr zu einem beliebten Ausflugsziel und zum Aushängeschild des Friesenhofs geworden.

»Komm, vergiss es. Wer zuerst am Oststrand ist!«, rief ich ihm übermütig zu und trieb Hauke an. Morango kapierte als Erster und galoppierte mit einem Satz los, Finn konnte sich gerade noch im Sattel halten.

2

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Auf dem Friesenhof herrschte reges Treiben, als wir zurückkamen. Die Lütten waren damit beschäftigt, ihre Ponys für den Ausritt startklar zu machen, den wie immer Mareike leiten sollte. Aber es fehlte jede Spur von den blauen Haaren meiner besten Freundin, die sie wie ihr Herzallerliebster Brian so eingefärbt hatte.

»Wo steckt denn Mareike?«, wollte auch prompt ein Junge wissen, der sich vergeblich abmühte, Cookie zu trensen. Das Shetlandpony schüttelte immer wieder seinen Kopf. »Der will und will das Gebiss nicht nehmen.«

»Klar, der versucht es auch mit allen Tricks! Warte, ich helfe dir, Michi!« Ich sprang von Haukes Rücken und gab meinem Schimmel einen liebevollen Klaps aufs Hinterteil als Zeichen dafür, dass er für heute Feierabend hatte. Ich lockerte den Sattelgurt und schob die Steigbügel hoch, später würde ich ihn gründlich mit dem Wasserschlauch abspritzen, um Salz und Sand aus seinem Fell zu spülen. Aber jetzt musste ich mich erst mal um Cookie kümmern, der bereits drohend die Hinterhand hob.

»Da! Der tritt mich gleich!«, rief Michi verzweifelt und machte einen Schritt zur Seite.

»Der droht dir nur. Cookie ist ein alter Schlawiner, der spürt genau, wenn du Angst hast. Pass auf! Wir legen ihm erst den Sattel auf und dann die Trense. Hast du ihm schon die Hufe ausgekratzt?«

»Nö.« Michi schüttelte verlegen den Kopf. Es war ihm sichtbar peinlich, dass er sich von Cookie hatte austricksen lassen, während die Mädchen nebenan offensichtlich ohne weitere Probleme ihre Ponys versorgten.

»Na komm, du Scherzkeks, gib die Hufe.« Ich stellte mich neben Cookie, drückte leicht meine Schulter gegen seine und ergriff gleichzeitig sein linkes Bein. »Schau, so macht man das«, erklärte ich Michi und säuberte mit raschen Bewegungen Cookies Vorderhuf. Strohfitzel und dicke Lehmbrocken fielen zu Boden.

»So, und jetzt du!« Ich hielt ihm den Hufkratzer hin und bemerkte, wie er zögerte. »Der Trick ist, sich ganz dicht neben ihn zu stellen. Erstens spürt er dann deine Überlegenheit und zweitens kann er dich nicht treten, weil er keinen Schwung holen kann. Na los, komm schon! Cookie tut nur so …« Ich versuchte, nicht ungeduldig zu klingen, weil Michi an sich ein prima Kerlchen war. In Wahrheit gingen mir diese Schisser-Kinder sonst schrecklich auf den Wecker: Gaben an wie Graf Koks, wenn sie im Sattel saßen, aber hatten Schiss in der Büx, wenn’s drauf ankam.

»Okay.« Michi atmete tief durch und stellte sich ganz dicht neben Cookie.

»Der muss spüren, dass du stärker bist!«, rief ich ihm aufmunternd zu und beobachtete dann zufrieden, wie Michi nach kurzem Zögern einen Huf nach dem anderen ordentlich auskratzte.

»Super! Jetzt noch die Trense und es kann losgehen.«

»Wo bleibt denn Mareike?«, quengelte ein blondes Mädchen, die bereits auf ihrem Shetty saß. »Wir wollen heute zum Waldsee, ich habe extra meinen Badeanzug angezogen.«

»Kannst du mir mit den Steigbügeln helfen?«, rief ein anderes dazwischen. »Ich komme mit den Löchern nicht klar.«

»Und kriege das mit den Schnallen nicht hin!«, rief ein Junge.

»Aber reiten könnt ihr alleine, was?«, rutschte es mir heraus, während ich rasch Gurte und Riemen prüfte und einem nach dem anderen auf die Ponys half.

»Hey, du hörst dich an wie dein Onkel Piet persönlich!« Mareikes vertraute Stimme drang an mein Ohr.

»Spotte du nur! Bin ich Babysitterin oder Reitlehrerin, hä?« Ich grinste breit, während ich sie zur Begrüßung umarmte.

»Beides!« Mareike drückte mir einen dicken Schmatzer auf die Wange, bevor sie ihr Fahrrad in die Hecke pfefferte und mich liebevoll in die Seite knuffte. »Bin gleich bei euch, ihr Süßen, muss hier nur noch kurz was mit eurer Chefin klären.«

»Schieß los, du siehst scheiße aus«, sagte ich und blickte sie fragend an. Ein Blick in ihre Augen ließ mich das Schlimmste ahnen. Ich zog sie ein Stück zur Seite.

»Danke, so genau wollte ich es gar nicht wissen …« Mareike grinste schief.

»Lass mich raten: Brian.«

»Bingo.« Sie seufzte. »Du weißt ja, wie er sich nach der Flutkatastrophe und der Sache mit seinem Vater verändert hat … ich komme überhaupt nicht mehr an ihn heran. Manchmal ist er ganz lieb und weich, so wie früher. Und dann wieder ist er total ätzend, wie vorhin. Wir waren zum Schwimmen verabredet und wollten danach gemeinsam Burger essen gehen. Aber mitten beim Umziehen hat er sich weggedreht und ist einfach abgehauen, er hat mir noch nicht einmal tschüss gesagt. Langsam weiß ich nicht mehr, was ich tun soll.« Mareike wischte sich eine Träne aus dem Auge, jetzt wirkte sie traurig und verzweifelt.

Oft hatten wir in den letzten Monaten über Brian gesprochen, der den Tod seines Vaters immer noch nicht verarbeitet hatte. Hilflos mussten wir zusehen, wie er sich immer mehr vom Leben zurückzog und jede Hilfe und jeden Zuspruch von uns und anderen verweigerte. Mareike hatte sich lange Zeit wirklich aufopferungsvoll um ihn gekümmert, sich große Mühe gegeben und versucht, ihn abzulenken. Gleichzeitig hatte sie ihm immer wieder und wieder zugehört, wenn er ihr sein Herz ausgeschüttet hatte, oder ihn getröstet, wenn er verzweifelt zusammengebrochen war. Hatte ihm bei den Schulaufgaben geholfen und mit ihm gemeinsam gelernt, damit er wenigstens in der Schule nicht den Anschluss verlor, und ihn mit auf Partys und Events geschleppt, damit er abgelenkt wurde.

»Viel kannst du da nicht machen, er braucht noch Zeit. Und endlich professionelle Hilfe. Wichtig ist jetzt, dass du nicht aus den Augen verlierst, was dir Spaß macht!« Ich hatte sie in meine Arme gezogen und streichelte tröstend über ihre Haare. »Komm, worauf wartest du, die Lütten scharren schon mit den Hufen. Und nicht nur die.« Ich deutete lachend auf Cookie, der sich zu Michis Verzweiflung über ein paar verdorrte Grasbüschel am Wegesrand hermachte.

Mareike nickte und wischte sich die Augen frei. »Denn man tau!«, rief sie. »Habt ihr Kusmi fertig?«

Kurz darauf wirkte sie wie ausgewechselt, als sie mit der bunten Kindertruppe auf ihren Shettys vom Hof ritt und fröhliche Kommentare hin und her schwirrten. Ich winkte ihr hinterher und musste an Brian denken, der um seinen Vater trauerte.

Beinahe hätte ich um meinen auch trauern müssen, ging es mir durch den Kopf. Hätte es mich traurig gemacht, wenn mein Vater bei dem Frachterunglück ums Leben gekommen wäre? Oder hätte sich für mich damit ohnehin nichts geändert? Vielleicht wäre es ja ein besseres Gefühl, sagen zu können, mein Vater ist tot, als: Mein Vater will von mir nichts wissen.

»Löpt sich allens torecht«, meinte Onkel Piet, der unbemerkt hinter mich getreten war. Er hatte wohl Mareikes und mein Gespräch gehört und legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter »Der Jung kriegt sich schon wieder ein. Und du solltest dir wegen Sean auch keinen Kopf machen«, fügte er noch hinzu, als ob er meine Gedanken lesen konnte.

»Wenn du meinst.« Ehrlich gesagt, machte ich mir weniger Sorgen wegen Brian oder Sean als um meine Freundin. Mareike war das fröhlichste Menschenkind unter der Sonne und immer zu Späßen aufgelegt, aber hoffnungslos in Brian verliebt, der zu den Blackies im Ort gehörte, wie sich die schwarz gekleideten Jugendlichen nannten, die immer unten bei den Containern im Hafen rumhingen. Sie hatte sich völlig in ihm verloren und ihren kompletten Klamotten- wie Musikgeschmack dem seinen angepasst. Deshalb auch die blauen Haare. Ich hoffte sehr, dass sie bald kapierte, dass sein Unglück nicht das ihre war.

Seufzend wendete ich mich ab, um endlich Hauke zu versorgen und auf die Koppel zu bringen. Außerdem wurde es höchste Zeit, die Fuhrwerke startklar zu machen, in einer Stunde sollte es hinaus ins Watt gehen und die Plätze waren alle ausgebucht. Kein Wunder, bei dem herrlichen Wetter!

Ich war gerade dabei, die Sitzkissen zu sortieren, da hörte ich draußen einen Hänger auf den Hof rumpeln. Verwundert hielt ich in meiner Arbeit inne. Heute war doch Freitag und überhaupt kein Anreisetag, wir erwarteten die neuen Gäste erst morgen. Mit dem Kissen in der Hand lief ich rasch hinaus, um nachzusehen.

»Moin, Anna, wo geit di dat!« Noch bevor ich etwas sagen konnte, war Isodora aus dem Haus gestürmt und hatte das junge Mädchen überschwänglich an ihren üppigen Busen gedrückt.

»Hey! Wusste gar nicht, dass du schon heute kommst«, begrüßte ich die zarte dunkelhaarige Gestalt, nachdem meine Tante sie endlich losgelassen hatte.

»Ich auch nicht«, antwortete sie und rollte mit den Augen. »Aber Papa hat’s eilig, mich loszuwerden …« Sie deutete auf Thorsten, der mit dem Handy am Ohr aus dem Auto stieg. »Er und Camilla wollen morgen nach Vietnam fliegen. Spontan.«