David Arnold

HERZDENKER

Aus dem amerikanischen Englisch
von Ulrich Thiele

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Abdruck der Zitate aus Susan E. Hinton: Die Outsider, aus dem amerikanischen Englisch
von Andreas Steinhöfel, © der deutschsprachigen Ausgabe: 2001
dtv Verlagsgesellschaft mbH, München.
Abdruck der Zitate aus Walt Whitman: Grasblätter. Gesamtausgabe,
übersetzt von Jürgen Brôcan. © Carl Hanser Verlag, München 2009
Abdruck der Zitate aus dem Song »Coming Up Roses«:
Words and Music by Elliott Smith
Copyright © 1995 by Universal Music – Careers and Spent Bullets Music All
Rights Administered by Universal Music – Careers
International Copyright Secured All Rights Reserved
Reprinted by Permission of Hal Leonard Corporation

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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
Kids of Appetite bei Viking, einem Imprint von
Penguin Random House LLC, New York.

1. Auflage 2018
Copyright © 2016 by David Arnold
Published by arrangement with David Arnold
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Thiele
Umschlaggestaltung: Maria Seidel, unter Verwendung
einer Illustration von © istockphoto/artJazz
ISBN 978-3-401-80764-5

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Für meine Brüder Jeremy und AJ,
die ursprünglichen HdH

Und im Gedenken an meine beiden Großväter,
zwei wahre Spitzenrennpferde

Figurenverzeichnis

Die Helden des Hungers

BRUNO VICTOR BENUCCI III., 16 (VIC): Gegenwärtiges Kapitel.
Besonderheiten: Oper, Matisse, Mad. Spitzenrennpferd.

MADELINE FALCO, 17 (MAD): Silvesterschatz.
Besonderheiten: Punkfrise, Elliott Smith, Mengendiagramme, Echtheit.

MBEMBA BAHIZIRE KABONGO, 27 (BAZ): Sammler (Tattoos & Geschichten).
Besonderheiten: Hat was gegen Brot. Gepriesen sei der Herr.

NZUZI KABONGO, 20 (ZUZ): Kleiner Bruder von Baz.
Besonderheiten: Flotte Sohle & Fingerschnippen & Journey. Eigene Art zu reden.

COCO BLYTHE, 11: Songwriterin. Rotschopf.
Besonderheiten: Eiscreme & Queens & verkünsteltes Fluchen. Frak yeah.

Die Polizei von Hackensack

SERGEANT S. MENDES: (…)
Besonderheiten: Kaffeesüchtig. Widerwillige Angebetete. Müde, aber schlau. Der erste Schein trügt.

DETECTIVE H. BUNDLE: Atompilz.
Besonderheiten: Formulare & Papierkram. Stolzer Angehöriger der Begüterten Bourgeoisie.

DETECTIVE RONALD: Weasley?
Besonderheiten: Emsiger Anbeter. Gut im Sitzen. Verirrter Schoßhund.

Die Familie u. Ä.

DORIS JACOBY BENUCCI: Mutter von Vic. Witwe.
Besonderheiten: Backen & Familie & Blick nach vorne. Gibt ihr Bestes.

BRUNO VICTOR BENUCCI JR.: Vater von Vic. Herzdenker.
Besonderheiten: New-York-Mets-Fan.
Jogginghosenträger. Verstorben.

DER SELBSTBILDNISMANN (ONKEL LESTER): Onkel von Mad.
Besonderheiten: Whiskey & Geschrei & Geheul.
Waffenbesitzer.

JAMMA: Großmutter von Mad.
Besonderheiten: Alzheimer. Pantoffeln & Pyjamas & beidhändiges Colasaufen.

FRANK-DER-NEUE-FREUND: Anwalt. Witwer.
Besonderheiten: Bohnenliebhaber & Literatureinsteiger. Anzugträger.

KLINT & KORY: Söhne von Frank.
Besonderheiten: Tiefschwarze Bandshirts & Batman. The Orchestra of Lost Soulz. Helden der Klischees.

PATER RAINES: Priester, Weiser, Vollbringer guter Taten.
Besonderheiten: Hat Vics Eltern vermählt. Hardcorefan von Iron Maiden.

RACHEL GRIMES: Aktuelle Freundin von Baz. Unerschrockene Krankenschwester.
Besonderheiten: Trenton Thunder & Flucht & Pfannkuchen.

Die frühen Kapitel

CHRISTOPHER (TOPHER): Tattookünstler.
Besonderheiten: Battlestar Galactica & Abstinenz & Einfallsreichtum. Keine Haare.

MARGO BONAPARTE: Kellnerin, Schmugglerin, unermüdliche Flirterin.
Besonderheiten: Käsepommes & Rum. Bonjour, mes petits gourmands!

NORM: Russischer Schlachter.
Besonderheiten: Unverstanden. Fleisch. Blutende Schweine. Kein KGB-ler. (Noch?) Njet.

GUNTHER MAYWOOD: Einsiedler. Grundbesitzer. Eigentümer der Maywood-Gärtnerei.
Besonderheiten: –

Der Goldfisch

HARRY CONNICK JR., JR.: Überlebenskünstler. Schwimmer. Kaltwetterfanatiker.
Besonderheiten: Lässt niemals locker. Aber hey.

 

 

***

Merkwürdig, dass der Sonnenuntergang, den sie von ihrer Veranda und ich von unserem Hinterhof aus sah, genau derselbe war. Vielleicht waren die beiden unterschiedlichen Welten, in denen wir lebten, letztlich doch nicht so verschieden. Immerhin betrachteten wir dieselben Sonnenuntergänge.

Die Outsider von Susan E. Hinton

***

 

 

 

EINS

DIE FUNDAMENTALEN VIELHEITEN
(oder: Wappnet euch mit Irrsinn, ihr törichten Menschen)

 

Vernehmungsraum 3

Anwesend: Bruno Victor Benucci III., Sergeant S. Mendes

19. Dezember, 15:12

Das muss man sich mal bildlich vorstellen: In jedem einzelnen der Milliarden Menschen auf dieser Erde steckt ein milliardenfaches Ich bin. Ich bin ein stiller Beobachter, ich bin der König der Nichtbeachteten. Ich bin erfüllt von Liebe zur Kunst, zu den New York Mets, zur Erinnerung an meinen Dad. Ich, ein Siebenmilliardstel der Weltbevölkerung, enthalte all diese fundamentalen Vielheiten, und das ist noch lange nicht alles.

»Anfangen muss ich bei meinen Freunden.«

»Anfangen womit?«

»Mit meiner Geschichte«, antworte ich.

Wobei das nur die halbe Wahrheit ist. Ich muss noch weiter zurückgehen, in eine Zeit, als wir noch keine Freunde waren, als ich noch …

Okay. Ich glaub, ich hab’s.

»Ich habe mich schon ungefähr tausendmal verliebt.«

Sergeant Mendes lächelt fragend und schiebt das Aufnahmegerät näher zu mir. »Äh … wie bitte? Du … du hast dich verliebt?«

»Ungefähr tausendmal«, sage ich und fahre mir mit beiden Händen durch die Haare.

Früher dachte ich, die Liebe wäre ein System aus Zahlen: der erste Kuss, der zweite Tanz, unendlich viele gebrochene Herzen. Ich dachte, diese Zahlen würden die Liebe selbst überdauern, indem sie sich in den dunklen Winkeln gedemütigter Herzen einnisten. Ich dachte, die Liebe wäre schwer und schmerzhaft.

Das war früher.

»Ich bin ein Spitzenrennpferd.«

»Bitte was?« Mendes mustert mich mit einem zugleich abgebrühten und abgekämpften Blick.

»Nichts, nichts. Warum tragen Sie eigentlich keine Uniform?«

Mendes trägt eine locker fallende Bluse und ein Tweed-Kostüm mit tailliertem Blazer. Still beobachte ich ihre braunen, sehr eindringlichen Augen, die ziemlich hübsch wären, wären da nicht die ausgeleierten Tränensäcke und die Krähenfüße, die ihre Gesichtszüge einrahmen wie Klammern. Still beobachte ich die zarten Falten an ihrem Hals und ihren Händen, diese Anzeichen vorzeitigen Alterns. Still vermerke ich den fehlenden Ehering und studiere ihr dunkles, schulterlanges Haar, in dem sich nur noch der Abglanz einer Frisur abzeichnet.

»Gesichtszüge in Klammern«, »zarte Falten«, »fehlender Ehering«, »Abglanz« – sieht so aus, als verbergen sich Mendes’ fundamentale Vielheiten in diskreten Fußnoten.

»Streng genommen, bin ich gar nicht im Dienst«, sagt Mendes. »Und als Sergeant muss man nicht immer Uniform tragen.«

»Als Sergeant? Also haben Sie hier das Sagen?«

»Lieutenant Bell ist mein Vorgesetzter. Aber falls du wissen willst, ob ich die Ermittlungen in diesem Fall leite – ja.«

Mein Rucksack steht unter dem Stuhl. Ich hole meine Augentropfen aus der Vordertasche und träufele mir schnell einen Tropfen ins linke und einen ins rechte Auge.

»Victor. Du warst acht Tage lang verschwunden, und heute Nachmittag marschiert ihr plötzlich bei uns zur Tür herein, du und …« Mendes kramt in ihren Papieren und findet das richtige. »… und Madeline Falco, und dabei haltet ihr sozusagen Händchen mit Mbemba Bahizire Kabongo, gemeinhin bekannt als Baz, dem Hauptverdächtigen in einem Mordfall.«

»Baz und ich haben nicht Händchen gehalten. Und er hat niemanden ermordet.«

»Glaubst du das wirklich?«

»Ich weiß es.«

Mendes schenkt mir ein mitleidiges Lächeln, genauer gesagt ein mitleidig-stirnrunzelndes Lächeln. »Mr Kabongo hat sich eben freiwillig gestellt. Außerdem wurde seine DNA auf der Tatwaffe sichergestellt. Die Beweislage gegen ihn reicht jetzt schon für etliche Jahre hinter Gittern. Aber mich würde trotzdem interessieren, wie man dazu kommt, von zu Hause wegzulaufen und acht Tage später ausgerechnet in ein Polizeirevier zu spazieren. Du hast gesagt, du hast mir eine Geschichte zu erzählen. Ich bin ganz Ohr.«

Die Erinnerung an heute Morgen ist noch frisch, der Klang von Baz’ Stimme hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt: Hinhaltetaktik, Vic. Die anderen brauchen Zeit. Also müssen wir ihnen Zeit verschaffen.

»Jedes Mädchen mit Lidstrich«, sage ich.

Sergeant Mendes kneift die Augen zusammen. »Wie bitte?«

»Jedes Mädchen, das ein Instrument spielt, nur … nur nicht unbedingt Fagott.«

»Tut mir leid, aber ich verstehe kei…«

»Jedes Mädchen, das alte Nikes trägt. Jedes Mädchen, das seine alten Nikes bemalt. Jedes Mädchen, das backt oder Bücher liest oder mit den Schultern zuckt.« Erzähl ihnen von all den Mädchen, die du mal zu lieben geglaubt hast, hat Baz gesagt, von denen davor. Ich lächele innerlich, nur im Inneren kann ich lächeln. »Jedes Mädchen, das Fahrrad fährt.«

Dann ziehe ich mein Stofftaschentuch hervor und tupfe mir damit den Speichel aus dem Mundwinkel. Dad sagte dazu immer, ich würde mir mein »Tropfmaul« abwischen. Das fand ich furchtbar. Jetzt fehlt es mir.

Manchmal kommt es mir vor … ja, genau: Das, was ich früher am furchtbarsten fand, fehlt mir jetzt am meisten.

Mendes lehnt sich zurück. »Kurz nach deinem Verschwinden wurdest du von deiner Mom als vermisst gemeldet. Ich habe mich in deinem Zimmer umgesehen. Alles voller Walt Whitman und J. D. Salinger und Henri Matisse. Du bist ein schlauer Kopf. Und – ohne dir zu nahetreten zu wollen – auch ein bisschen nerdig.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Darauf, dass du eben kein harter Kerl bist. Also wieso tust du so?«

Unter dem Stahltisch fummele ich am Stoff meines HdHArmbands herum. »Ich bin groß, ich enthalte Vielheiten.«

Und Mendes spricht nahtlos weiter: »Ich richte mein Augenmerk auf jene, die nahe sind, ich warte an der Türschwelle. Wer hat sein Tagwerk verrichtet? Wer wird als erster mit dem Abendbrot fertig? Wer hat Lust, mit mir spazierenzugehen?«

Ich tue gelangweilt, aber wer weiß, möglicherweise verrät mein Blick, wie verblüfft ich bin.

»Walt Whitman«, sagt Mendes. »Lyrik war ein gutes Gegengewicht zu den ganzen Strafrechtsseminaren. Du weißt doch, wie das Gedicht weitergeht, oder?«

Ich weiß es nicht. Daher schweige ich.

»Willst du sprechen, ehe ich davon bin?«, flüstert Mendes. »Oder ist es schon zu spät für dich?«

»Bei allem Respekt – Sie kennen mich nicht, Miss Mendes.«

Mendes blickt in die aufgeschlagene Akte. »Bruno Victor Benucci III., 16 Jahre alt, Sohn von Doris Jacoby Benucci und Bruno Benucci jr., Vater vor zwei Jahren verstorben. Einzelkind. 1 Meter 68. Dunkelhaarig. Leidet am Möbius-Syndrom (äußerst selten). Leidenschaftliches Interesse an abstrakter Kunst –«

»Wissen Sie, was das ist?«

»Klar. Erst neulich ist mir wieder ein krimineller Picasso-Freak untergekommen. Ich kann dir sagen, das war kein Zuckerschlecken.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Ich weiß.« Mendes klappt die Akte zu. »Ja, ich habe mich schlaugemacht. Beim Möbius-Syndrom handelt es sich um eine angeborene neurologische Erkrankung, die vom sechsten und siebten Hirnnerv herrührt und eine Lähmung der Gesichtsmuskulatur zur Folge hat. Du hast es sicher nicht leicht im Leben, das kann ich mir vorstellen.«

In Mendes’ Ton schwingt eine Spur Selbstgefälligkeit mit – als hätte sie die ganze Zeit auf die Frage gewartet, ob sie wisse, was mit meinem Gesicht los ist, nur um dann sofort diese Definition abzufeuern. Wer wie ich von Geburt an mit dem Möbius-Syndrom lebt, gelangt mit der Zeit zu folgender Erkenntnis: Alle die, die in ihrer Arroganz behaupten, sich »vorstellen« zu können, wie es für mich ist, können sich gar nichts vorstellen. Die, die es wirklich kapieren, schweigen dazu eher.

»Sie haben sich schlaugemacht«, sage ich kaum hörbar.

»Ein bisschen.«

»Also wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn man andauernd Sandkörner unter den Augenlidern hat.«

»Wie bitte?«

»So fühlt es sich manchmal an, wenn man nicht blinzeln kann. Sie haben was von ›trockenen Augen‹ gelesen, oder? Das ist untertrieben. Sie sind trocken wie die Wüste.«

»Vic …«

»Haben Sie sich auch über die Schlafstörungen schlaugemacht, die man hat, wenn man die Augen nicht richtig zumachen kann? Wissen Sie, wie es ist, wenn man aus einer Tasse trinken will und sich denkt: Okay, da wäre es leichter, den Mond mit einem Lasso einzufangen? Wie es ist, wenn man von den anderen schon gar nichts mehr will, außer in Ruhe gelassen zu werden? Oder wenn manche Lehrer immer betont langsam reden, weil sie glauben, man wäre dumm?«

Mendes rutscht peinlich berührt auf ihrem Stuhl herum.

»Nicht falsch verstehen«, sage ich. »Ich will mich nicht beschweren. Viele Menschen mit Möbius hat es noch viel schlimmer erwischt als mich. Früher wollte ich immer jemand anders sein, aber dann …«

Dann hat Dad mich mit dem Künstler Henri Matisse bekannt gemacht. Matisse entdeckte in jedem Gesicht einen »eigenen Rhythmus« und wollte in seinen Porträts die jeweilige »besondere Asymmetrie« herausarbeiten. Das gefiel mir. Ich machte mir Gedanken über den Rhythmus meines Gesichts und über meine besondere Asymmetrie, und irgendwann erzählte ich Dad davon. Dad sagte, in meiner Asymmetrie liege eine eigene Schönheit. Da ging es mir besser. Ich fühlte mich nicht nicht allein, aber weniger allein.

Wenigstens die Kunst stand mir zur Seite.

»Aber dann?«, fragt Mendes.

Stimmt ja, ich hatte einen Satz angefangen. »Nichts.«

»Ich weiß, du hattest es nicht leicht.«

Mit beiden Händen deute ich auf mein Gesicht und verziehe dabei wie immer keine Miene. »Mit meiner ›Behinderung‹, meinen Sie?«

»Von einer ›Behinderung‹ habe ich nie gesprochen.«

»Stimmt ja. Sie sagten ›Leidet am …‹ Sie sind eine wahre Menschenfreundin.«

Am Handgelenk, unter dem HdH-Armband, spüre ich meine schmalen ziellosen Bahnen. Meine Finger waren schon immer ernst zu nehmende Gegner, sie wollen kratzen und schaben und kneifen, und so wirkungsvoll mich das Armband auch ermahnt, es doch lieber bleiben zu lassen, gegen meine Finger kommt es nicht an, gegen ihre winzig kleinen Fingerhirne, die stets darauf aus sind, meine Schmerzgrenze auszuloten.

»Um der Mensch zu werden, der man sein sollte, muss man durchs Feuer gehen«, sage ich. »Schon mal gehört?«

Mendes nippt an ihrem Kaffee. »Klar.«

»Ich wollte immer stark sein, Miss Mendes. Wenn da nur nicht so viel Feuer wäre.«

»Victor.« Mendes flüstert nur noch, verschwindend leise, und als sie sich vorbeugt, verlagert sich ihre ganze Haltung von der Defensive in die Offensive. »Vic. Schau mich an.«

Ich kann sie nicht anschauen.

»Schau mich an.«

Ich schaue sie an.

»Hat Kabongo dich zu einer Falschaussage angestiftet? So war’s doch, oder?« Mendes nickt langsam. »Es ist schon gut.«

Aber ich sage immer noch nichts.

»Ich erzähle dir jetzt mal, wie ich mir das Ganze vorstelle. Kabongo sieht sein Fahndungsplakat an jeder Straßenecke hängen und kriegt es mit der Angst zu tun. Er kapiert, dass das Versteckspiel ein Ende haben muss, und überredet dich und deine Freundin zu einer Falschaussage. Ihr sollt behaupten, ihr wärt zu einer bestimmten Zeit und in Gesellschaft bestimmter Personen irgendwo gewesen, wo ihr nie wart. Kabongo weiß, ein falsches Alibi ist jetzt seine letzte Chance oder eben ein paar Augenzeugen, die irgendwen anders bezichtigen – und zwei unschuldige Teenager wären da doch ideal. Na? Bin ich nah dran?«

Ich schweige. In Sachen nonverbale Kommunikation bin ich ein absolutes Genie. Außerdem ist jede Minute, die ich hier rausholen kann, ein kleiner Sieg. Ein Gewinn, wenn auch kein entscheidender.

»Ich bin eine ziemlich gute Ermittlerin«, fährt Mendes fort. »Ich weiß zwar nicht, wo du in der Nacht des 17. Dezember warst – aber wo du definitiv nicht warst: im Haus des Opfers. Du hast die Blutlache nicht gesehen. Du hast nicht gesehen, wie die Augen des Opfers erloschen sind. Woher ich das weiß? Hättest du das alles gesehen, würdest du jetzt nie und nimmer ruhig auf diesem Stuhl sitzen und deine dämlichen Spielchen abziehen. Du hättest dir längst in die Hose gemacht. Du hättest eine Scheißangst.«

Was für gemeine Viecher diese Fingerhirne doch sind. Wie sie sich an meinen Vielheiten vollfressen.

»Kabongo verlässt sich darauf, dass du für ihn lügst«, redet Mendes weiter. »Aber weißt du was? Er hat die Rechnung ohne Matisse gemacht. Ohne Whitman. Ohne die Kunst. Denn was hat alle wahre Kunst gemeinsam? Sie ist ehrlich. Ein Teil von dir weiß ganz genau, was richtig und was falsch ist. Und dieser Teil wird mir die Wahrheit sagen.«

Ich zähle still bis zehn, begleitet von Baz’ Stimme in meinem Kopf, die immer wieder denselben Satz sagt wie eine hängende Schallplatte: Sollen sie doch denken, was sie wollen. Aber keine Lügen.

»Wir können dich beschützen«, sagt Mendes. »Du brauchst keine Angst zu haben. Erzähl mir einfach, was passiert ist.«

Hinhaltetaktik, Vic. Die anderen brauchen Zeit. Also müssen wir ihnen Zeit verschaffen.

Ich beuge mich zum Aufnahmegerät und räuspere mich. »Jedes Mädchen, das Tee trinkt.«

In aller Ruhe klappt Mendes die Akte zu. »Okay, mir reicht’s.«

»Jedes Mädchen, das Himbeerscones isst.«

Mendes rückt demonstrativ ihren Stuhl nach hinten, steht auf und sagt laut und deutlich: »15 Uhr 28: Befragung von Bruno Victor Benucci III. durch Sergeant Sarah Mendes beendet.« Ein Druck auf die Stopptaste, dann schnappt sie sich ihren Kaffeebecher und die Akte und marschiert zur Tür. »Deine Mom sollte dich bald abholen. Falls du in der Zwischenzeit einen Kaffee willst – Automat ist auf dem Flur.« Kopfschüttelnd öffnet sie die Tür. »Himbeerscones. Ich fasse es nicht.«

Vor meinen Augen verschwimmt Vernehmungsraum 3 des Polizeireviers von Hackensack, wird zu Gewächshaus 11 der Maywood-Gärtnerei, und ich sehe: Baz Kabongo, väterlicher Beschützertyp mit zutätowiertem Arm; die verwegene, bis in den Tod loyale Coco; den fingerschnippenden, auf der Stelle tanzenden Zuz Kabongo; und Mad. Und ich erinnere mich an einen bestimmten Moment, an meinen persönlichen Moment erschütternder Klarheit, als der Nebel aufriss und ich alles vor mir sah wie zum ersten Mal. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich bis dahin keine Ahnung, was Liebe ist – bis ich sie plötzlich dort im Gewächshaus entdeckte, vor mir ausgebreitet wie eine Landkarte mit lauter weißen, unerforschten Flecken.

Sergeant Mendes ist schon fast durch die Tür. Da ziehe ich die Hand unter dem Tisch hervor, halte mir das Armband dicht vor die Augen und staune über die drei weiß auf schwarz gestickten Buchstaben: HdH.

Walt Whitman hatte recht. Wir enthalten wirklich Vielheiten. Die meisten davon sind schwer und schmerzhaft und können einen ganz schön runterziehen. Aber manche sind ein echtes Wunder.

Diese hier zum Beispiel:

Ich bin ein Held des Hungers.

»Miss Mendes? Ich war sehr wohl im Haus des Opfers.«

Während ich mich ganz auf das schneeweiße H und das d und das andere H konzentriere, erstarrt Mendes’ verschwommener Umriss in der Tür. Sie dreht sich nicht um.

»Ich war dort«, sage ich. »Ich habe gesehen, wie seine Augen erloschen sind.«

(Vor ACHT Tagen)

VIC

Das Blumenduett ging zu Ende.

Das Blumenduett begann von Neuem.

Die Magie der Repeat-Funktion.

Dad fehlte mir. Folglich stand ich am Rand des Piers. Wenn Dad mir so sehr fehlte, war es das Naheliegendste.

Ich stand oft am Rand des Piers.

Die Hände in den Taschen und den Jackenkragen hochgeklappt (weil die Kälte New Jerseys nach mir schnappte wie ein zorniger Drache mit langen Eiszähnen), ließ ich mir vom Wind die Haare um den Kopf peitschen. Meine Frisur war hinüber, aber das kümmerte mich nicht. Kein bisschen.

Frisuren waren fundamental unwichtig.

Zweierlei war dagegen fundamental wichtig:

1. Dieses Lied, das Blumenduett. Früher war es Dads Lieblingslied gewesen. Jetzt war es meines.

2. Die USS Ling, das U-Boot, das vor mir im Hackensack River schlummerte. Ein stolzes Gefährt, das einst die Weltmeere erobert hatte, aber schon lange vor meiner Geburt zur ewigen Ruhe gebettet worden war. Daran erinnerte mich die Ling: an ein Rennpferd im Ruhestand, den es auf einer Sexfarm zubringt, wo es sich den lieben langen Tag mit anderen Rennpferden fortpflanzt, auf dass sich hoffentlich das beste Genmaterial durchsetzt und ein Spitzenrennpferd hervorbringt. (Dad hatte mich mal zu einer Führung auf so einem Gestüt mitgenommen, doch als der Mitarbeiter von »Phantomstuten« und den verschiedenen Möglichkeiten der künstlichen Besamung zu erzählen anfing, wartete ich doch lieber im Auto.)

Bedauerlicherweise lagen im Hackensack River keine anderen U-Boote, mit denen sich die Ling hätte fortpflanzen können.

Folglich bestand keine Aussicht auf U-Sex.

Und damit auch keine Aussicht auf ein Spitzen-U-Boot.

Dieser Bereich des Flussufers war eigentlich nicht frei zugänglich. Das hier war eine offizielle historische Stätte der Marine mit Führungen und so, aber geöffnet hatte sie nur samstags und sonntags, unter der Woche war ich also ungestört. Weil ich meistens auf dem Heimweg von der Schule bei der Ling vorbeiging, fragte ich mich, wie sie nachts wohl wirkte. Ich konnte mir nicht genau erklären, was mich so sehr an ihr faszinierte. Vielleicht dass die Ling immer noch hier herumhing, obwohl ihr eigentliches Leben vorbei war. Das konnte ich gut nachempfinden.

In der Tasche vibrierte mein Handy. Ich wischte über das Display und sah Moms SMS.

Hey. bitte prosciutto v babushkas mitbr HDGDL ImageImage

Diese albernen Abkürzungen machten mich fertig. Mom benutzte immer noch ein vorsintflutliches Klapphandy, bei dem man jede Taste an die zwanzigmal drücken musste, um den gewünschten Buchstaben auszuwählen. Ich hatte immer wieder versucht, ihr die Genialität der QWERTZ-Tastatur näherzubringen, aber das ging über ihren Horizont.

Ich schrieb Folgendes zurück:

Geschätzte Mutter, es wäre mir ein Vergnügen, ja, eine Ehre, Euren Bedarf an venezianischer Pökelware zu stillen. Sogleich will ich hinauseilen in diesen herrlichen Abend und die Lieferung geschwind erledigen. In Liebe, Euer treuer Sohn Victor ImageImageImage

Eine Sekunde später kam Moms Antwort:

Danke :-*

Danke :-*

Ich steckte das Handy ein und betrachtete die Ling. Vor gar nicht mal so langer Zeit hätte Mom mitgespielt und einen Kommentar zu meiner Klugscheißerantwort abgegeben.

Vor gar nicht mal so langer Zeit.

Während mir der Wind weiter durchs Haar fegte, steigerte sich das Blumenduett in meinen Ohren zum herzzerfetzenden Höhepunkt. Mit Opern konnte ich an sich nicht viel anfangen, mit dieser Oper aber schon. Vor meinem geistigen Auge beschwor ich die beiden Sängerinnen herauf, wie sie mit ihren schwindelerregend hohen Sopranstimmen diesen Wahnsinnsauftritt hinlegten. Die beiden sangen nicht, sie hoben ab. Manche Menschen mögen keine Opern, hatte Dad mal gesagt, und zwar weil sie mit dem Gehirn zuhören würden und nicht mit dem Herzen. Vom Gehirn her seien die meisten Menschen recht beschränkt, aber ihre Herzen seien absolute Genies. Die ließen sich nicht verarschen. Du musst mit dem Herzen denken, V, sagte er immer, im Herzen ist die Musik zu Hause. So ein Zeug verzapfte Dad andauernd, er war eben so ein richtiger Hier-und-Jetzt-im-Moment-leben-Typ, ein wahrer Herzdenker.

Von uns Herzdenkern sind nicht mehr viele übrig.

Ich kickte einen herumliegenden Stein weg, wollte das Deckgeschütz auf der anderen Seite des U-Boots abschießen, er landete aber zu weit rechts. Ich unterhielt mich laut mit Dad, auch wenn er mich natürlich nicht hören konnte. Ich konnte mich ja selbst nicht hören, wegen der Kopfhörer und weil mir die beiden schwindelerregenden Sopranstimmen in die Ohren schrien, aber gerade das war schön – zu reden, ohne es zu hören. Einfach nur zu wissen, dass meine Worte da draußen in den Äther stiegen.

Ich kickte den nächsten Stein weg. Voll ins Schwarze. Er donnerte gegen das Deckgeschütz und plumpste ins dunkle Flusswasser.

Innerlich lächelnd, malte ich mir aus, wie er zum tiefsten Grund sank, um dort für immer liegen zu bleiben, unbemerkt von der Menschheit.

Im Schlummer. Wie die Ling. Wie meine Stimme im Äther.

Wie ich.

Ich wandte mich ab, verließ den Pier und überquerte die River Street, immer einen Fuß vor den anderen, und genoss meine Wanderung durch die menschenleeren Straßen zu Babushka’s Feinkostgeschäft. Es war kalt, eine Kälte, die man sehen konnte, wenn sich der Atem vor den Augen auffächerte wie eine schwebende Lotusblüte. Eine Kälte, in der man sich fragte, ob es eigentlich bewölkt war oder bloß der ganze Himmel wolkenfarben. Die Kälte sprach zu mir, ich verstand ihre Worte, sie sagte nämlich: Der Schnee kommt, Leute. Wappnet euch mit Irrsinn, ihr törichten Menschen.

Das Blumenduett ging zu Ende.

Das Blumenduett begann von Neuem.

Die Magie der Repeat-Funktion.

Gott, Dad fehlte mir so sehr.

Über die Fleischtheke gebeugt, überlegte ich, was noch mal der Unterschied war zwischen Pancetta und Prosciutto. Wobei das nichts zur Sache tat. In eine Benucci-Lasagne gehörte Prosciutto. Alles andere hätte sie nicht vertragen.

»Du bist kleine Junge, jä?«

Ich schaute mich um. Hatte der Metzger etwa mich gemeint? Abgesehen von mir, war nur noch ein anderer Kunde in der Fleischerei, ein stämmiger Teenager, der von Kopf bis Fuß in New-York-Jets-Fanartikel gekleidet war: Jets-Mütze, Jets-Schal, Jets-Handschuhe, Jets-Jacke. An einem Ecktisch stehend, nuckelte er an einer Cola, mampfte ein Sandwich und glotzte mich an, ein Blick voller Verwirrung, Neugier und Abscheu.

Diesen Blick kannte ich gut.

»Du!« Mit einem fetten Zeigefinger deutete der Fleischer über die Theke. »Du bist kleine Junge. Jä?«

»Ich, äh … ja, ich bin ein bisschen klein für mein Alter.«

»Hä? Mach Mund auf!«

Hinter mir gluckste der Jets-Anhänger amüsiert. Ich strich mir die Haare hinter die Ohren und beschloss, mich kürzer zu fassen. »Ja. Ich bin kleine Junge.«

Ich bin kleine Junge.

Der Metzger, der laut Namensschild NORM hieß, widmete sich wieder dem Fleischbrocken auf dem Hackbrett. »Okidoki. Kleine Jungens müssen essen Fleisch. Macht Knochen stärker. Groß und stark.« Lächelnd ließ er seinen Bizeps anschwellen. »Groß und stark wie ich! Ha!«

Ich wusste einfach nie, wie ich mit dem Mann reden sollte. Norm stammte einerseits mindestens zur Hälfte von einem Löwen ab, war andererseits aber ziemlich eindeutig Russe, außerdem wuchsen ihm an den unmöglichsten Stellen unfassbare Mengen an Haaren. Natürlich war er fett, aber wirklich bemerkenswert war etwas anderes, nämlich die feste, fleischig-pralle Konsistenz seiner Fettschichten, die nur einen Schluss zuließ: Der Kerl naschte zu häufig von der eigenen Warenauslage. Meiner aktuellen Hypothese nach war Norm ein ehemaliger KGB-Agent, der in Nord-Jersey untergetaucht war und den Aufstieg eines neuen Sowjetregimes abwartete.

Ein Glöckchen läutete, die Eingangstür schwang auf, und da kamen sie herein.

Alle vier. Sie waren immer zu viert unterwegs.

Die Truppe war mir bestimmt schon sechs oder sieben Mal über den Weg gelaufen. Hackensack war nun wirklich keine boomende Metropole, und wenn man regelmäßig die paar zentralen Attraktionen besuchte, stolperte man früher oder später eben über Menschen, die man vom Sehen kannte. In der Regel war das jedoch Zufall und fühlte sich eher an wie ein Déjà-vu und nicht wie eine schicksalhafte Begegnung.

»Hallo, Norm«, sagte der Älteste. Wie ich einmal mitbekommen hatte, nannten ihn die anderen Baz. Baz war um die fünfundzwanzig Jahre alt, ziemlich durchtrainiert und locker 1 Meter 85 groß. Da seine Shirtärmel an den Schultern abgeschnitten waren, sah man die vielen Tattoos auf der ganzen Länge seines linken Arms – mit diesem Look widersetzte Baz sich nicht nur den gesellschaftlichen Konventionen, er trotzte auch noch dem kalten Wetter. Baz hatte einen leichten Akzent, den ich nicht eindeutig zuordnen konnte, und trug stets eine Trenton-Thunder-Baseballkappe.

»Jä, Mister Baz.« Norms Augen leuchteten auf, und er säuberte sich die blutigen Pranken an der Schürze. »Ich mir schon dachte, dass wir uns heute sehen. Sekunde, jä? Ich gleich zurück.« Damit verschwand er im Hinterzimmer. Ich wartete untätig ab, strich mir noch mal die Haare hinter die Ohren und fühlte mich dabei wie eine sehr kleine Junge.

Aus mir schleierhaften Gründen verwandelte sich Norm in Gegenwart dieser Truppe jedes Mal in ein waschechtes Spitzenrennpferd. Und seit die vier zur Tür hereingekommen waren, kaute sogar der Jets-Fan, der bis vor einer Minute wie unter Zwang mein Gesicht angestarrt hatte, nur noch auf demselben Sandwichbissen herum. Die vier strahlten einen unbändigen Übermut aus, als könnten sie jeden Moment alles stehen und liegen lassen und einfach losrennen, einfach so, aus Quatsch, weil warum auch nicht?

»Verfrakt noch mal, Junge, was glotzt du so?«

Das jüngste Mitglied der Truppe, ein zehn- oder höchstens elfjähriges Mädchen mit Sommersprossen und roten Ringellocken, hatte eine übergroße Jacke und zwei verschiedene Handschuhe an und hing wie üblich an Baz’ Hand.

»Coco«, ermahnte Baz sie. »Sei nicht unhöflich.« Er warf mir ein entschuldigendes Lächeln zu und unterhielt sich flüsternd mit dem Dritten im Bunde. Dieser lauschte, schüttelte energisch den Kopf und schnippte zwei Mal mit den Fingern. Der Typ war entweder gerade noch Teenager oder bereits Anfang zwanzig, jedenfalls steckte er in einem Sweatshirt mit dem Schriftzug der Band Journey und mindestens zwölf Zentimeter zu kurzen Ärmeln.

Das vierte Mitglied der Truppe war ein Mädchen mit grauen Augen und gelber Strickmütze, gekleidet in eine taillierte türkisfarbene Jacke mit regenbogenbunten Querstreifen. Weil sie langes und sehr blondes Haar hatte, wusste man nie genau, wo die Mütze aufhörte und ihr Haar anfing. Gelb und grau, dazu ein ganzer Regenbogen – dieses Mädchen war eine wahre Farbexplosion, ein Matisse-Gemälde außer Rand und Band. Im Moment stand sie hinter den anderen und steckte die Nase in ein Buch, und es war, als wäre der Buchdruck einzig und allein dazu erfunden worden, damit dieses Mädchen in dieser Metzgerei in einem Buch lesen konnte. Sie war der Inbegriff kühler Schönheit.

Auch jetzt, bei meiner was-weiß-ich-wie-vielten Begegnung mit der Truppe, war ich der Anziehungskraft dieses Mädchens schutzlos ausgeliefert. Pancetta, Prosciutto oder ein verdammter Klebeschinken, mir war alles scheißegal. Diese Truppe weckte meine tiefsten Instinkte, eine heftige Mischung aus Furcht und Faszination.

»Okay, jetzt reicht’s.« Die kleine Rothaarige ließ Baz’ Hand los und verschränkte die Arme. »Du musst echt mal an deinem Glotzproblem arbeiten, Kleiner. Hat dir das schon mal wer gesagt? Außerdem: Wir müssten eigentlich dich anglotzen.«

»Coco!«, rief Baz.

Ich ließ mir die Haare in die Stirn fallen und drehte mich zur Glastheke mit der großen Auswahl an gepökeltem Schwein. Solche Bemerkungen war ich gewöhnt, besonders von Kindern. Aber nur weil man etwas gewöhnt ist, steckt man es noch lange nicht ohne Weiteres weg.

Norm kehrte mit einer prall gefüllten braunen Papiertüte aus dem Hinterzimmer zurück und wuchtete diese über die Theke in Baz’ Arme. Baz lächelte, bedankte sich und verließ an der Spitze der Truppe das Geschäft. Die vier gingen, wie sie gekommen waren: gemeinsam.

»Okidoki«, wandte Norm sich wieder an mich. »Was darf sein, kleine Junge?«

Durch das Schaufenster beobachtete ich, wie sie die Straße überquerten. Der enge Zusammenhalt dieser Truppe passte irgendwie so gar nicht in mein Bild von der Welt.

»Pancetta«, murmelte ich und merkte nicht, was ich da von mir gab, schließlich musste ich aus dem Fenster gucken.

»Okidoki. Wie viel?«

Draußen bogen die vier von der Main Street in den Banta Place ein und verschwanden um die Ecke.

»Hey, kleine Junge. Alles okay?«

Ich antwortete nicht.

Stattdessen türmte ich ohne Pancetta, Prosciutto oder sonst etwas aus dem Babushka’s, riss im Hindurchrennen fast das Glöckchen von der Ladentür und stürmte blindlings über die Main Street und um die Ecke in den Banta Place. Mein Kleine-Junge-Gehirn war noch damit beschäftigt, die ganze Situation zu verarbeiten, aber mein Herz war ein absolutes Genie. Es ließ sich nicht verarschen.

MAD

Ich schlug die nächste Seite der Outsider auf und wünschte mal wieder, ich könnte mich von diesem Buch verschlingen lassen. Von einem Roman verschlungen zu werden – das ultimative Ach, wenn ich doch nur.

»Häagen-Dazs Coffee ist nicht übel«, meinte Coco. »Cookies & Cream, Choc Choc Chip, Vanilla Caramel Brownie … Mad, was bedeutet das Wort da?«

Als ich von meinem Buch aufblickte, sah ich Coco vor dem Tiefkühlregal stehen, ihre Nase an der kalten Scheibe platt gedrückt, ihr zerzaustes Haar wie eine rote Sonne, in deren Umlaufbahn Tausende Eiscremebecher kreisten. »Tiramisu? Das ist so eine Art weicher Kuchen. Aber kein richtiger Kuchen, würde ich sagen. Dafür mit Kaffee drin und Rum.«

»Ist … nicht … dein … Ernst!«, rief Coco.»RichtigerRum, so wie Piraten trinken? Wieso erfahre ich davon erst jetzt? Ach, hinter welch finsterem Mond ich gelebt habe … oohhh, schaut mal da! Cookie Dough! Zuz, ist das nicht deine Lieblingssorte?«

Zuz fixierte den Eiscremebecher, als hätte er einen Röntgenblick, und schnippte so laut, dass der Knall durch den ganzen Supermarktgang hallte.

Für uns hatte der Foodville-Supermarkt am Banta Place genau den richtigen Flow – sein Markenzeichen war eine beharrliche Stumpfheit. Angestellte räumten die immer gleichen Cornflakes, sauren Gurken und Fertignudeln in die Regale, räumten sie um und räumten die umgeräumten Waren noch einmal um. Sie wienerten den blitzblanken Boden, preisten längst ausgepreiste Waren ein zweites Mal aus und wippten dazu im matten Rhythmus der Fahrstuhlmusik. Sie türmten Suppendosen zu Pyramiden und hingen beim geriebenen Käse herum, hinten in der Ecke unter den flackernden Neonröhren. Und im Zentrum des Foodville lag unsere kleine Privatstadt, der 11. Gang, wo wir gerade das Eiscremeregal anstarrten, als müsste die Eiscreme uns aussuchen und nicht umgekehrt.

Da bog Baz um die Ecke, müde über den halb vollen Einkaufswagen gebeugt wie eine vierfache Mutter.

Jede Familie hat ihren eigenen Normalzustand, aber ich würde sagen, manche sind normaler als andere.

»Na endlich«, sagte Coco, die immer noch gierig die Eiscreme beäugte. »Mad hat gesagt, Tiramisu ist so eine Art weicher Kuchen mit echtem Rum drin, so wie Piraten trinken. Stimmt das? Lüg mich nicht an.«

»Keine Ahnung.« Baz nahm seine Trenton-Thunder-Kappe ab und fuhr sich durchs Haar – eine Geste, die immer dasselbe zu bedeuten hatte, und so wappnete ich mich für Cocos Zornesausbruch. Ein Shitstorm war nichts dagegen.

Coco zog die Tiefkühlregaltür auf. »Also ich finde, dieses ›Tiramisu‹ müssen wir ganz klar probieren. Aber wir brauchen auch noch eine andere Sorte, zur Sicherheit. Falls Weicher-Kuchen-Eis schmeckt wie die letzte Scheiße.«

»Tut mir leid, Coconut«, entgegnete Baz. »Daraus wird nichts.«

Coco seufzte. »Na gut, dann eben nur eine Sorte. Ich würde sagen …«

»Nein. Ich meine, dass es gar kein Eis gibt. Heute nicht.«

Coco wirbelte herum, dass ihre verfilzten roten Locken nur so flogen. »Wie war das bitte?«

»Ich bekomme mein Gehalt erst morgen«, erklärte Baz. »Deshalb ist heute kein Eis drin. Aber morgen Vormittag müssen wir sowieso noch mal wegen Gunthers Sachen hierher, also vielleicht … und es ist doch sowieso eiskalt draußen.«

»Draußen schon, aber in meinem Magen nicht!«, rief Coco und streckte wieder die Hand nach dem Griff des Tiefkühlschranks aus. »So ein Becher passt doch locker unter meine Jacke.« Jetzt sprach sie in einer höheren, tugendhaft flötenden Tonlage. »Wenn einer davon verschwindet, würde das überhaupt niemand mitkriegen.«

Ich fand es bemerkenswert, dass eine so kleine Person einen so kolossalen Mist raushauen konnte.

Man hätte meinen können, Coco wäre nichts als Haut und Knochen gewesen, aber dann hätte man ihren Überlebensinstinkt übersehen, ihren Kampfgeist und ihre grimmige Loyalität, eine echte Seltenheit heutzutage. Wann immer Coco den Mund aufmachte, selbst wenn sie tugendhaft flötete, hörte man hinter jedem Wort das gedämpfte Brüllen eines Raubtiers.

»Wir würden es mitkriegen«, sagte Baz. »Du kennst meine Regeln.«

Hinter uns ertönte ein monumentales Krachen.

Ganz am Ende des Gangs stand ein Junge inmitten von Hunderten Suppendosen, die sich einst zu einer perfekten Pyramide aufgetürmt hatten, nun aber zu seinen Füßen herumlagen wie nach dem Einschlag einer Abrissbirne.

»Den kennen wir doch«, wisperte Coco. »Das ist doch der aus dem Babushka’s. Der mit dem Glotzproblem.«

Coco hatte recht. Bis zu diesem Tag war mir der Typ nur ein, zwei Mal über den Weg gelaufen. Er hatte lange, fettige Haare und stechend blaue Augen, die aber nicht sein hervorstechendstes Merkmal waren, genauso wenig wie sein Rucksack, seine blauen Jeans oder seine Schnürstiefel. Sein hervorstechendstes Merkmal war sein Gesicht. Da war einfach null Bewegung. Kein Lächeln, kein Stirnrunzeln, keine einzige sichtbare Reaktion oder Gefühlsregung. Außer in seinen Augen – er hatte wache, intelligente Augen. Was mir aber vielleicht gar nicht aufgefallen wäre, hätten mich diese Augen nicht gerade direkt angesehen.

Ein Teenagermädchen mit Haarnetz näherte sich dem ehemals fein säuberlich gestapelten Suppenturm. »Scheiße, was soll das? Ich war gerade erst …« Da blickte sie den Jungen zum ersten Mal richtig an, schluckte ihren restlichen Redeschwall hinunter und brachte nur noch ein »Oh« heraus.

Kurz herrschte betretenes Schweigen. Die Angestellte mit dem Haarnetz klaubte die ersten Dosen auf. »Alles in Ordnung, Kumpel. Kann jedem mal passieren.«

Der Junge krallte sich in seinen Rucksack, sah mich noch ein letztes Mal an – und rannte davon.

»Wusste ich’s doch.« Coco wandte sich wieder der Eiscremegalaxie im Tiefkühlregal zu. »Der Kleine ist ein verfrakter Psycho.«

Zuz schnippte einmal mit den Fingern.

Während Baz dem Mädchen mit den Dosen half, schlug ich wieder mein Buch auf und tat so, als würde ich lesen. Als hätte ich die Augen des Jungen nicht bemerkt, dieses erstaunlich stechende Blau, und nicht darüber nachgedacht, was die Foodville-Angestellte zu ihm hatte sagen wollen und sicher auch gesagt hätte, hätte sein Gesicht nicht ausgesehen, wie es nun einmal aussah.

VIC

Ich schüttelte mir den Schnee von den Stiefeln und stellte sie zum Trocknen neben die Haustür. Zwei schwarze Gitarrenkoffer, die vor lauter Bat-Signal-Aufklebern und The-Cure-Aufnähern kaum noch als solche zu erkennen waren, standen im Flur wie zwei Monumente des Rock ’n’ Roll.

Klint und Kory waren da. Die Söhne von Frank-dem-neuen-Freund.

Ich, der ich soeben vor den Augen des vielleicht schönsten Mädchens aller Zeiten (jedenfalls kannte ich kein anderes, das so einzigartig aussah und bei mir solche Schweißausbrüche auslöste) eine Pyramide aus Suppendosen umgerannt hatte, hätte gerade wirklich darauf verzichten können, mich auch noch mit Frank-dem-neuen-Freund auseinandersetzen zu müssen. Und mit seinen Söhnen, zwei Kreaturen, die aus einem Animationsfilm von Tim Burton entsprungen zu sein schienen.

Das konnte einen echt monumental von den Socken rocken.

Klint und Kory waren keine Zwillinge, aber trotzdem praktisch nicht voneinander zu unterscheiden. Sie trugen identische Goth-Klamotten und hatten beide viel zu große Zähne für ihre Kopfgröße. Ich stellte mir gerne vor, ihre Zahnwurzeln hätten sich extratief in ihre Schädel gegraben und sich genau dort breitgemacht, wo bei halbwegs intelligenten Menschen das Gehirn saß. Ein Elternteil von Klint und Kory war an Krebs gestorben, genau wie bei mir. Im Gegensatz zu mir nutzten sie ihren Verlust als Vorwand, schwarzes Make-up zu tragen und eine Band zu gründen, das sogenannte Orchestra of Lost Soulz. (Ich verarbeitete meinen Verlust auf deutlich vernünftigere Weise und hatte so zum Beispiel herausgefunden, wie tief man sich die Kante einer Kreditkarte in die Haut pressen konnte, bevor es zu bluten anfing.) Mom hatte Klint und Kory angeboten, bei uns im Keller ihre »Songs« zu proben, und seitdem gehörten die beiden quasi zum Haushalt.

Seither fühlte ich mich regelmäßig monumental von den Socken gerockt.

Da hörte ich Moms Stimme aus der Küche, wo sie mit Frank und Klint und Kory plauderte. Friede, Freude, Eierkuchen. Vier Friede-Freude-Stimmen klingelten wie Friede-Freude-Glöckchen aus der Friede-Freude-Küche.

Klinge-linge-wie-war-dein-klinge-linge-Tag?

Ich stellte meinen Rucksack neben den Gitarrenkoffern ab, hängte meine Jacke auf und ging den Flur hinunter. Da Mom fest entschlossen war, nicht noch ein Weihnachtsfest ungenutzt verstreichen zu lassen, hatte sie direkt nach Thanksgiving mit dem Dekorieren und Backen angefangen. Plätzchen, Brownies, Früchtebrot, Kuchen und Plumpudding, alles, »weil doch Weihnachten ist«, wie Mom immer und immer wieder betonte. Hätten wir Weihnachten nicht auch dieses Jahr noch mal ignorieren können?

Aber hey.

Ich konnte ihr keine Vorwürfe machen.

Das letzte Weihnachten war sehr trostlos gewesen – es war das (ungefähr) einjährige Jubiläum von Dads Tod. Keine Lichterketten. Keine Brownies. Kein Baum. Wenn es unbedingt sein musste, durfte Mom dieses Jahr daher gerne in jedem Winkel unseres Hauses ihre Lichterketten aufhängen und die Flure zudekorieren wie ein ausgetickter Weihnachtswichtel. Nur vor einem Möbelstück musste ihre Feierwut haltmachen: vor dem Beistelltisch am Flurende.

Der Beistelltisch am Flurende war nichts Besonderes.

Doch wenn ich daran vorbeiging, schlotterten mir jedes Mal die Knie, denn auf dem Beistelltisch am Flurende stand ein Gegenstand von fundamentaler Bedeutsamkeit.

Jetzt schoben sich meine Füße in den Socken vorwärts, als hätten sie einen eigenen Willen entwickelt, bis ich den Tisch mit der Hüfte hätte anstupsen können. Bis ich nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um die Urne mit Dads Asche zu berühren.

Mein Handy vibrierte. Ich zog es hervor und sah die nächste Nachricht von Mom:

Wo bist du?

Aus der Küche schallten die Friede-Freude-Stimmen. Klingelinge-wie-war-dein-klinge-linge-Tag? Ich legte mein Handy auf den Beistelltisch am Flurende und streckte die Hand aus. Zentimeter vor der Urne erstarrten meine Finger.

Es bringt einige Nachteile mit sich, die Augen nicht schließen zu können, vor allen Dingen beim Schlafen und Blinzeln. Doch auf einen Nachteil kommen die Leute nie – auf die Vorstellungskraft. Niemandem ist bewusst, wie häufig er oder sie nur ganz kurz, wie für ein verlängertes Zwinkern, die Augen schließt, um sich einen Ort oder einen Menschen auszumalen.

Für mich war das ein echtes Problem gewesen … bis Dad mir beibrachte, in mein Reich des Nichts zu reisen. Die anderen, sagte er, machen nur deshalb die Augen zu, weil sie sich ohne leere Leinwand gar nichts vorstellen können. Er erklärte mir, was er mit geschlossenen Augen sah: keine Dunkelheit oder Schwärze, nicht wirklich, sondern bloß ein Nichts. Nur im Nichts kann man ein Etwas erschaffen, V.

Jetzt war Dad das personifizierte Nichts.

Er war in einer Dose.

Ich reiste in mein Reich des Nichts und stellte mir vor, wie Dad vor dem Schlafengehen immer zu meiner Zimmertür hereingeguckt hatte.

Hey, V. Brauchst du noch was? Nein, Dad.

Alles klar?

Alles klar, Dad.

Na dann, gute Nacht.

Nacht, Dad.

Immer dasselbe. Als wäre er eine unerträgliche Nervensäge gewesen.

Ich stand auf Socken in der Zwischenwelt des dunklen Flurs, die Hand ausgestreckt, in der Schwebe zwischen Etwas und Nichts, und fragte mich, wie das sein konnte. Wie eine simple Urne heißer glühen konnte als die Wüstensonne.

Dad war seit zwei Jahren tot. Und ich konnte das Ding noch immer nicht anfassen.

»Bombiges Abendessen, Doris.« Frank sah zu seinen Söhnen hinüber. »Jungs? Ist das nicht superlecker?«

Klint räusperte sich. »Aber sicher doch, Dad.«

Kory kaute, kicherte, nickte.

»Wie hast du die Dinger hier …« Frank stocherte in seinen Kartoffeln und suchte vergeblich nach den richtigen Worten. »… also, dass die hier so knusprig sind … und so würzig … wie hast du die so, so …?

»… so knusprig und würzig hingekriegt?«, fragte Mom.

Lachend beugte Frank sich zu ihr und küsste sie auf die Wange. Unter der Tischplatte schob sich seine Hand in Moms Richtung. Ich musste spontan würgen und kam nur durch ein Wunder mit dem Leben davon.

»Ich kann da gar nichts für«, stellte Mom klar. »Aber ich richte dein Lob gerne dem Chefkoch drüben bei der Ore-Ida-Gefrierkartoffel-Fabrik aus, der freut sich bestimmt. Eigentlich wollte ich ja meine legendäre Lasagne machen, aber ein gewisser Herr hat den Prosciutto vergessen …«

Moms Blick traf mich.

»Ja.« Ich räusperte mich. »Tut mir leid.«

Doch als ich das Gesicht der Kühlen Schönheit vor mir heraufbeschwor, tat mir überhaupt nichts mehr leid, nicht mal ansatzweise.

»Ach Schatz, ich hätte doch auf dem Heimweg vom Gericht noch schnell Prosciutto holen können«, sagte Frank und lud sich noch mehr grüne Bohnen auf den Teller.

Frank erzählte liebend gern vom Gericht. Gericht, Gericht, Gericht. Wenn Frank-der-neue-Freund vom Gericht erzählte, fühlte er sich wie Frank-das-Rennpferd.

Tatsächlich war Frank eher ein Schoßhündchen.

»Vorhin«, redete Frank weiter, »wollte ich dich sogar anrufen, ob du noch etwas brauchst, aber du bist nicht rangegangen. Und ich hätte dir ja eine Nachricht hinterlassen, aber –«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Aber eine gewisse Dame weigert sich aus unerfindlichen Gründen, ihre vermaledeite Mailbox leer zu räumen.«

»Ich weiß«, erwiderte Mom etwas lauter und strahlte ihn an. »Ich mach’s gleich nachher, ja?«

Frank beugte sich dicht zu ihr. »Und ob du’s nachher machst, Kleine.«

»Du bist so widerlich, Dad«, murmelte Klint.

Kory keuchte, kaute, schüttelte den Kopf.

Ich trank einen Schluck Cola. Was wohl passiert wäre, wenn ich einfach quer über den Tisch gelangt und Frank-dem-neuen-Freund eine runtergehauen hätte?

Frank war das exakte Gegenteil von Dad: ein modebewusster Erfolgsmensch mit vollem Haar, aber ohne jedes Gespür für Zwischentöne. Ein Anwalt mit lauter Stimme, der für sein Leben gern Bohnen mampfte und stets Anzug trug. Ich hatte den Mann noch nie in irgendeinem anderen Kleidungsstück gesehen. Er stand wohl echt auf Anzüge. Vielleicht war dieses Detail nicht fundamental wichtig, aber mir kam es nun mal wichtig vor, denn Dad war mehr so der Typ gewesen, der in Jogginghose zum Supermarkt ging.

Genauso ein Typ wie ich.

»Sagt mal, Jungs«, sagte Mom. »Wie läuft’s mit der Band?«

»Äh …« Klints Augen zuckten zu Frank. »Ähhm … gut, Miss B. Echt, äh … gut. Stimmt doch, Kory?« Er rammte seinem Bruder den Ellenbogen in die Seite, woraufhin Kory für einen Moment zu kauen aufhörte und sich voll und ganz aufs Kichern und Nicken konzentrierte.

Frank schaufelte sich zum dritten Mal Bohnen auf den Teller.

Keine Ahnung. Der Mann war eben ein echter Bohnenfan.

»Das freut mich«, meinte Mom. »Vielleicht spielt ihr uns ja bald mal etwas vor. So ein kleines Konzert wäre doch toll. Was, Vic?«

Ich hob mein Lieblingsglas, ein Glas mit besonders dünnem Rand, prostete ironisch in die Runde, leerte vorsichtig meine Cola und stand auf.

»Wo willst du hin?«, fragte Mom.

»Ich hole mir noch eine Cola.«

Klint ließ die Gabel fallen, sprang auf und schnappte mir das Glas aus der Hand. »Ich mache das schon.« Und während er in der Küche verschwand, rätselten wir anderen, was zum Teufel in ihn gefahren war. So nett war Klint eigentlich nie, und schon gar nicht zu mir.

Mom strahlte. »Wie lieb von ihm.«

»Er ist ein lieber Junge«, sagte Frank mit einem Mund voller Bohnen.

Im Geist ging ich sämtliche gerichtsmedizinisch nicht nachweisbaren Gifte durch, die Klint eventuell in unserer Küche auftreiben und mir ins Getränk mischen könnte. Eine Minute später stellte er mir dann ein volles Glas hin und setzte sich wortlos auf seinen Platz. Mom redete weiter, sie sagte, sie freue sich, dass wir so prächtig miteinander auskamen oder so ähnlich, aber ich hörte kaum hin. Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf das Glas, das Klint mir gebracht hatte – es war nicht das ursprüngliche Glas, sondern Dads Lieblingsbierglas, das mit dem Mets-Logo drauf. Ein Glas mit dickem Rand. Sollte ich daraus trinken, würde mir die Cola fast zwangsläufig übers Kinn rinnen.

»Klint und Kory sind wirklich besonders eng miteinander«, meinte Frank. »Der Altersunterschied ist ja auch sehr gering. Die beiden teilen sich sogar ihre Klamotten.«

Ich fasste das Glas, führte es aber nicht zum Mund.

»Ist irgendwas?«, fragte Klint mit dem zarten Anflug eines Lächelns.

Kory kaute, kicherte, nickte.

Offene Gemeinheiten bereiteten Klint und Kory keine Freude – die beiden waren lieber hintenrum gemein. Normale Arschlöcher machten sich einfach über mein Gesicht lustig, aber Klint und Kory wussten: Wer bleibenden Schmerz verursachen will, muss auf die Wurzel desselben zielen.

»Genetisch gesehen«, quasselte Frank weiter, »sind sich Brüder genauso ähnlich wie Kinder ihren Eltern.« Und wie um einen Punkt hinter seinen Satz zu setzen, schob er sich noch eine Gabel Bohnen in den Mund.