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Die Religionen der Menschheit

Herausgegeben von

Christel Matthias Schröder

Fortgeführt und herausgegeben von

Peter Antes
Manfred Hutter
Jörg Rüpke
Bettina Schmidt

 

 

 

Jens Holger Schjørring
Norman A. Hjelm (Hrsg.)

Geschichte des globalen ­Christentums

2. Teil: 19. Jahrhundert

Verlag W. Kohlhammer

Übersetzungen: Norbert Reck

 

 

1. Auflage 2017

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-21932-8

 

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-031503-7

epub: ISBN 978-3-17-031504-4

mobi: ISBN 978-3-17-031505-1

 

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Inhalt

Vorwort

Das globale Christentum im 19. Jahrhundert

Einführung in Band II

Hugh McLeod

Die Revolutionen und die Kirche: Die neue Ära der Moderne

Hugh McLeod

1.  Eine neue Ära?

2.  Revolution und Krieg

2.1.  Die Revolution

2.2.  Säkularisierung und Erweckung

3.  Der Triumph der Konservativen

3.1.  Die Restauration

3.2.  Die Liberalen

3.3.  Die Suche nach Religionsfreiheit

3.4.  Konflikt und Konversion

3.5.  Feminisierung?

3.6.  Die Situation auf dem Land

3.7.  Die Industrialisierung Großbritanniens

4.  1848

4.1.  Das Jahr der Revolutionen

4.2.  Kirchliche Strömungen

4.3.  Widerstand gegen die Säkularisierung

4.4.  Nationalismus

4.5.  Die soziale Revolution

5.  Die Morgenröte der Demokratie

5.1.  Religion und Politik

5.2.  Die „Ghettos“

5.3.  Die Soziale Frage

6.  Europa in einer globaler werdenden Welt

6.1.  Imperialismus und Mission

6.2.  Die neue Vielfalt

7.  Fazit

Katholizismus, Europäischer Ultramontanismus und das Erste Vatikanische Konzil

Andreas Holzem

1.  Déchristianisation und Gewalt: Die Französische Revolution als Ur-Ereignis der europäischen Christentumsgeschichte

2.  Typen des Konflikts: Europas Katholizismen und die Moderne seit dem frühen 19. Jahrhundert

2.1.  Deutschland: Säkularisation, Staatskirchentum und die strittige Mentalität des Ultramontanismus

2.2.  Frankreich: Ultramontanismus und Laizismus

2.3.  Italien: Ultramontanismus gegen das der nationalen Einigung

2.4.  Belgien: Ultramontanismus im Rahmen der liberalen Volksdemokratie

2.5.  Der Minderheiten-Katholizismus der anglophonen Welt

3.  Ultramontanismus und Infallibilität: Das Erste Vatikanische Konzil

3.1.  Das Setting des Konzils

3.2.  Startbedingungen und Debatten – Majorität und Minorität

3.3.  Deutungen der Konstitution

4.  Kulturkampf und Modernismuskrise: Der europäische Katholizismus nach dem Ersten Vatikanischen Konzil

4.1.  Deutschland, der Kulturkampf und das „Katholische Milieu“

4.2.  Frankreich, das und die Trennung von Staat und Kirche

4.3.  Europas Theologie zwischen Modernismus und Antimodernismus

Literatur

Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert (vom späten 18. Jahrhundert bis 1914)

Kevin Ward

1.  Die Ursprünge des protestantischen Interesses an der Mission

2.  Die Rekrutierung und Ausbildung der Missionare

3.  Die Missionsstation: Familie, Geschlecht, Frauen, Kinder

4.  Der missionarische Auftrag: Die Übersetzung der Bibel und die kulturelle Begegnung

5.  Protestantische christliche Erziehung

6.  Die „Euthanasie der Mission“

7.  Die Missionen und der Kolonialismus

8.  Die Weltmissionskonferenz in Edinburgh im Jahr 1910

Literatur

Das Christentum in Russland 1700–1917

Christian Gottlieb

1.  Russlands Konturen vom frühen 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert

2.  Die Reformen Peters des Großen

2.1.  Die Kirchenreform Peters des Großen

2.2.  Das Synodale System in der Praxis im 18. und 19. Jahrhundert

3.  „Fremde Religionen“: Von der Norm abweichende christliche Konfessionen

4.  Orthodoxe Mission

5.  Christliches Denken und Spiritualität in der Synodalzeit

6.  Die Orthodoxe Kirche im frühen 20. Jahrhundert

Literatur

Das Christentum im Nahen Osten zwischen 1799 und 1917

Mitri Raheb

Eine Vorbemerkung zum Begriff „Naher Osten“

1.  Die Kirchen unter osmanischer Herrschaft

1.1.  Die Landkarte der Kirchen im Osmanischen Reich im frühen 19. Jahrhundert

1.2.  Die sozialen Gegebenheiten für das Christentum im Nahen Osten um die Mitte des 19. Jahrhunderts

1.3.  Das Millet-System

1.4.  Die Ära von Muhammad Ali und der Tanzimat

2.  Die protestantischen Missionen und die Entstehung der protestantischen Kirchen

2.1.  Die erste protestantische Kirche in Palästina

2.2.  Die protestantische Kirche im Libanon

2.3.  Die protestantische Kirche in Ägypten

2.4.  Die protestantische Kirche im Irak und am Persischen Golf

3.  Die Reaktion der Kirchen im Nahen Osten auf die protestantischen Missionen und die Entstehung der protestantischen Kirchen

3.1.  Angriffe und Verfolgung

3.2.  Die Reaktion in Jerusalem

3.3.  Eine „Gegenreformation“ als Reaktion auf die Protestanten

4.  Die Umgestaltung der christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten des 19. Jahrhunderts

4.1.  Die Revolution der Presse

4.2.  Sozioökonomische Veränderungen

4.3.  Die Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten

5.  Die Folgen des Imperialismus

5.1.  Kolonialismus

5.2.  Nationalismus

5.3.  Zionismus

Literatur

Das Christentum in Nordamerika im 19. Jahrhundert

Margaret Bendroth

1.  Die Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten und Kanada

2.  Pluralismus und Toleranz

3.  Christliche Nationen

Literatur

Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Klaus Koschorke

1.  Das christliche Asien um 1800

2.  Südasien (Schwerpunkt Indien): Mission als Faktor der Modernisierung

2.1.  Serampore

2.2.  Stationen der Missions- und Kolonialgeschichte

2.3.  Mission als Faktor der Modernisierung

2.4.  Reaktionen, Rezeption und Impulse außerhalb der Missionskirchen

2.5.  „Pioneers of Indigenous Christianity“

2.6.  Mass Movements

2.7.  Indische Christen als „progressive community“

2.8.  Sri Lanka

2.9.  Myanmar

3.  Nordostasien (China, Japan, Korea): Opiumhandel und Bibelschmuggel

3.1.  China

3.2.  Japan

3.3.  Korea

4.  Thailand, Indochina, Indonesien, Philippinen: Vielfalt kolonialer und außerkolonialer Kontexte

4.1.  Thailand

4.2.  Vietnam

4.3.  Indonesien

4.4.  Philippinen

5.  Indigene Christentumsvarianten

5.1.  Indien: Die Thomaschristen

5.2.  Japans „Verborgene Christen“

5.3.  China: Die Taiping-Bewegung

5.4.  Ausbreitung durch Migranten und

6.  Transregionale Entwicklungen und Herausforderungen seit 1890

7.  Nationalkirchen, Ökumene und Vernetzungen

Literatur

Das Christentum in Afrika vom späten 18. Jahrhundert bis 1914

Kevin Ward

1.  Überblick

2.  Neue Ansätze in der Mission

3.  Kampf gegen die Sklaverei in Westafrika

4.  Südliches Afrika

5.  Ost- und Zentralafrika

6.  Die altorientalischen Kirchen Afrikas

7.  Der Wettlauf um Afrika und das stillschweigende Einverständnis der Missionen

8.  Afrikanische Reaktionen auf den Kolonialismus

9.  Afrikanische spirituelle Erneuerung

10.  Fazit

Literatur

Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

Martin N. Dreher

1.  Das lange Jahrhundert

2.  Die Französische Revolution

3.  Aufklärung und kirchliches Leben

4.  Kirchliches Leben am Vorabend der Emanzipation

5.  Kirche und Emanzipation

6.  Die Unabhängigkeit Brasiliens

7.  Patronat und Liberalismus

8.  Die Krise der Christianitas in Lateinamerika

9.  Rom und der lateinamerikanische Katholizismus

Literatur

Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen: Interreligiöse Dynamiken und Entwicklungen im 19. Jahrhundert

Ulrike Schröder & Frieder Ludwig

1.  Zu den interreligiösen Verhältnisbestimmungen im 19. Jahrhundert: Forschungsansätze und Begriffsklärungen

2.  Interreligiöse Kontakte und Dynamiken: Ein schlaglichtartiger Überblick

3.  Konkretionen

3.1.  Indien

3.2.  Westafrika

3.3.  Das Weltparlament der Religionen im Jahr 1893

Literatur

Reflexion und Ausblick

Hugh McLeod

Kurzbiographien der beteiligten Personen in alphabetischer Reihenfolge

Ortsregister

Personenregister

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Am Anfang dieser drei Bände zur Geschichte des Christentums seit der Reformation im 16. Jahrhundert stand der Gedanke, dass die bekannte Reihe Religionen der Menschheit des Kohlhammer-Verlags einer Erweiterung bedürfe. Aus der Sicht der Herausgeber sollte es darum gehen, den Inhalt und die Herangehensweise dieser Bücher aus anspruchsvollen Studien zu gewinnen und im Zusammenwirken aller Beteiligten zu entwickeln.

Jens Holger Schjørring, emeritierter Professor für Kirchengeschichte an der Universität Aarhus in Dänemark, wurde vom Kohlhammer-Verlag angefragt, die Leitung dieses Projekts zu übernehmen. Er wiederum bat den amerikanischen theologischen Lektor Norman Hjelm, mit einzusteigen. Beide verband bereits eine lange und fruchtbare Geschichte der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, und diese Verbindung besteht fort. Von Beginn an waren sich Schjørring und Hjelm darüber einig, dass die geplanten drei Bände von einer globalen Perspektive getragen und dass die Gruppe der Autorinnen und Autoren international und interkonfessionell zusammengesetzt sein sollte. Mehr als dreißig Wissenschaftler aus Afrika, Asien, Europa, dem Nahen Osten sowie aus Nord- und Lateinamerika beteiligten sich an diesem Projekt. Sie arbeiteten eng zusammen, um den Inhalt ihrer Beiträge aufeinander abzustimmen. Alle bereiteten zu Beginn Entwürfe vor, die dann gemeinsam diskutiert und überarbeitet wurden. Zuletzt aber bestimmten die Autoren selbst über den Inhalt und Stil ihrer Beiträge und sind natürlich selbst für sie verantwortlich. Einer der Autoren, Professor Hugh McLeod von der Universität Birmingham in Großbritannien, hat dieses Projekt – über seine Beiträge für den vorliegenden Band hinaus – schon von der Planungsphase an redaktionell intensiv unterstützt.

Es fanden zwei große Autorentreffen statt: eines am Konferenzzentrum der Universität Aarhus im dänischen Sandbjerg im September 2011 und eines an der Universität Göttingen in Deutschland im Mai 2015. Kleinere Gruppen von Autoren trafen sich 2012 in Göttingen und 2013 in Chichester in Großbritannien. Diese Zusammenkünfte wurden durch großzügige Zuschüsse der Universität Aarhus, des Kohlhammer-Verlags, der Universität Göttingen und der George-Bell-Stiftung in Chichester möglich gemacht. Gastgeberin des abschließenden und größten Treffens im Jahr 2015 unter Leitung von Professor Thomas Kaufmann war die Universität Göttingen; finanziert wurde es von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Theologischen Fakultät der Universität.

Es spiegelt den globalen Charakter dieses Projekts, dass seine Bände sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch erscheinen. Der Kohlhammer-Verlag bringt die deutschsprachige Ausgabe heraus, und der internationale Wissenschaftsverlag Brill in Leiden und Boston ist für die englischsprachige Ausgabe verantwortlich. Unser Dank gilt Daniel Wünsch vom Kohlhammer-Verlag und Ingrid Heijckers-Velt und Tessel Jonquière von Brill. Anke Silomon trug die Verantwortung für die redaktionelle Bearbeitung; Norbert Reck übersetzte die englischen Texte dieses Bandes ins Deutsche, und David Orton steuerte die englischen Übersetzungen der deutschen Beiträge bei. Die mühevolle Aufgabe des Übersetzens erfüllten beide mit großem Sprachgefühl und viel Sachverstand.

Neben den schon erwähnten Institutionen und Personen möchten die Herausgeber und Verlage den drei dänischen Stiftungen danken, die dieses Projekt großzügig unterstützt haben: der Velux-Stiftung in Kopenhagen, der Forschungsstiftung der Universität Aarhus und dem G.E.C. Gads Fond in Kopenhagen.

In den drei aus diesem Projekt hervorgegangenen Bänden geht es darum, einen umfassenderen Zugang zur Geschichte des Christentums zu finden, der sich von den traditionellen Perspektiven der „Kirchengeschichte“ deutlich abhebt. Selbstverständlich bilden die Kirchen einen wesentlichen Teil dieser Geschichte, doch kann ein institutionell oder dogmatisch eingegrenzter Blick die Auswirkungen des Christentums auf das menschliche Leben nicht ausreichend erfassen. Die Kultur im weitesten Sinne muss mitberücksichtigt werden. Die zahlreichen Wechselbeziehungen zwischen Christentum und Gesellschaft, Politik, Philosophie, Kunst und der Vielzahl von Unternehmungen, in denen sich Zivilisationen, Nationen und menschliche Gemeinschaften herausbilden, dürfen nicht aus dem Blick geraten. Welchen Anteil hat das Christentum an den übergreifenden Strukturen des menschlichen Lebens?

Darüber hinaus fragen die drei Bände nach der globalen Entwicklung des Christentums in den vergangenen vier oder fünf Jahrhunderten. War das Christentum zu Beginn dieses Zeitraums – bis auf ein paar Außenposten in anderen Zentren der Welt – auf Europa und Russland begrenzt, so erreichte es auf dem Wege der Mission an der Seite wirtschaftlicher Großmächte sowie durch Eroberungen und Migrationsbewegungen schließlich eine Verbreitung, deren demografische Schwerpunkte an der Schwelle des 21. Jahrhunderts nicht mehr in der nördlichen Hemisphäre liegen, sondern eindeutig im Süden. Die Geschichte dieser globalen Verlagerung nachzuzeichnen ist eines der zentralen Ziele dieses Projekts.

Das globale Christentum im 19. Jahrhundert

Die Französische Revolution von 1789 war ein Wendepunkt in der modernen europäischen Geschichte. Das führte dazu, dass das 19. Jahrhundert gemeinhin als „das lange Jahrhundert“ bezeichnet wird, das sich von jener Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 erstreckt.

Offenkundig waren die zentralen Ideen der Aufklärung, die in der Französischen Revolution umgesetzt wurden, unverwechselbar europäisch. Dennoch kann nicht bestritten werden, dass das Ideal der Befreiung von verschiedenen Formen der „Unterjochung“ früherer Jahrhunderte überall auf der Welt existierten. Diese transkontinentale Realität legt nahe, den Periodisierungen dieser Epoche zurückhaltend zu begegnen.

In seiner Einführung in den vorliegenden Band hebt Hugh McLeod hervor, dass die „Christenheit“ um 1800 noch weitgehend auf Europa und Nordamerika begrenzt war – sowie auf wenige andere Länder wie Äthiopien und jene Gebiete, die nach 1500 von den europäischen Eroberern unterworfen wurden, insbesondere Lateinamerika und die Philippinen. Das europäische Christentum selbst war von einer tiefen Spaltung gekennzeichnet – zwischen Ost und West ebenso wie zwischen den katholischen Kirchen das „alten Glaubens“ und den Kirchen der Reformation, dem „neuen Glauben“.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich das Bild radikal gewandelt. Die intensive Verbreitung der christlichen Botschaft hatte die Karte des globalen Christentums umgestaltet und vergrößert. Gleichzeitig war die christliche Identität zum Thema einer dramatischen Kontroverse geworden, sowohl im Hinblick auf die Frage der Emanzipation, die von den neuen politischen Ideologien, vor allem dem Liberalismus und dem Sozialismus, auf die Tagesordnung gebracht wurde, als auch hinsichtlich des Fortschritts der modernen Wissenschaften, die in den Augen vieler die „Christenheit“ überholt erscheinen ließen. Nicht weniger dramatisch verlief in vielen Fällen die Begegnung des Christentums mit anderen Weltreligionen, die vielfach mit den protestantischen Missionen einherging.

Wenn das „lange Jahrhundert“ von Neuerungen und Modernität geprägt war, dann könnte es angebracht sein, es aus der Perspektive der Revolutionen zu betrachten, die darauf zielten, alle Spuren des Ancien Régime zu tilgen. Folgte man diesem Argument, wäre die Moderne ein Synonym für Säkularisierung. In seiner genau durchdachten Darstellung aber zeigt Hugh McLeod, dass eine so einseitige Sicht zwangsläufig jenen Tendenzen widerspricht, die in andere Richtungen weisen. Das Jahrhundert war auch Schauplatz einer Reihe von Erweckungsbewegungen, deren Dynamik durchaus den Begriff „Rechristianisierung“ rechtfertigt. Das sich daraus ergebende Oszillieren zwischen äußerer politischer und wissenschaftlicher Kritik einerseits und den Erweckungsbemühungen andererseits muss in der Wechselwirkung mit den sozialen, wirtschaftlichen und demografischen Umwälzungen interpretiert werden, die der langandauernde Prozess der Industrialisierung mit sich brachte. Hinzu kommen die damit zusammenhängenden Kämpfe um politische Partizipation und Demokratie, die Europas unterprivilegierte Klassen führten. Die daraus resultierenden Machtverschiebungen und Reformen hatten auch weitreichende Auswirkungen auf Europas Identität und Rolle unter den Kontinenten der Welt, wie man aus anderen Beiträgen zum vorliegenden Band ersehen kann.

Das Zusammentreffen der Dynamik der Moderne mit dem Christentum nahm im Europa des 19. Jahrhunderts verschiedene Formen an. Die Reaktionsmuster unterschieden sich nicht nur zwischen den europäischen Ländern, sondern auch innerhalb der konfessionellen Familien der Kirchen. Die Römisch-Katholische Kirche war die bedeutendste Gegnerin der Ideen der Französischen Revolution. Aus anfänglichen Konfrontationen auf Leben oder Tod wurden aber bald komplexe Geflechte von Positionen auf beiden Seiten. Es gab sehr unterschiedliche Ausprägungen dieses Konflikts, wie Andreas Holzem in seiner Darstellung des römischen Katholizismus im 19. Jahrhundert zeigt. Eine neue Dynamik entstand aus den spirituellen Aufbrüchen, die oft mit einer tiefen Marienfrömmigkeit einhergingen, und es wurden auch neue Strategien entwickelt, die die Kirche in ihren Auseinandersetzungen mit den neuen Nationalstaaten stärken sollten, wobei insbesondere der Ultramontanismus mit Blick auf das Papsttum eine wichtige Rolle spielte. Diese Erwiderung der Katholischen Kirche auf die Nationalstaaten fand ihren machtvollsten Ausdruck im Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70). Dennoch waren sich Theologen und Kirchenleitungen keineswegs in allen Punkten einig. Deutschland erlebte einen Kulturkampf zwischen der Katholischen Kirche und der neuformulierten Idee eines Deutschen Reichs. In Frankreich spitzte sich der Konflikt immer weiter zu, bis er in den Gesetzen zur Trennung von Kirche und Staat (1905/06) kulminierte.

Die globale Dimension des Christentums erfuhr im Laufe des 19. Jahrhunderts eine beträchtliche Erweiterung. Es ist eine Tatsache, dass es außerhalb Europas autochthone Kirchen gab und gibt, deren Wurzeln bis in frühkirchliche Zeiten zurückreichen, und es stimmt ebenso, dass die Globalisierung des Christentums in der Ära der spanischen und portugiesischen Kolonialisierung einen ersten Höhepunkt erreichte, der bereits in Band 1 dieser Trilogie beschrieben wurde. Zudem kam es im 18. Jahrhundert zu einer Reihe missionarischer Anstrengungen seitens europäischer protestantischer Kirchen, vor allem solcher mit pietistischem Hintergrund. Doch es war das 19. Jahrhundert, dessen große Bandbreite missionarischer Expeditionen schließlich die Landkarte des globalen Christentums grundlegend veränderte. Viele Probleme rückten infolge dieser Expeditionen deutlicher ins Bewusstsein, nicht zuletzt jene, die sich aus dem Verhältnis zwischen den „aussendenden“ Kirchen und der kulturellen Identität der Menschen in den „empfangenden“ Missionsgebieten ergaben. Auch die vieldiskutierten Fragen nach dem Zusammenhang von Mission und Kolonialismus traten scharf hervor, wie Kevin Ward in seinem Überblick über die Missionsbewegung zeigt.

Russland wiederum unterschied sich völlig von West-und Mitteleuropa, wie Christian Gottlieb ausführt. Schon die zeitliche Dimension ist eine andere; eine sinnvolle Periodisierung mit Blick auf das russische Christentum reicht von der Zeit Peters des Großen im frühen 18. Jahrhundert bis zur Revolution von 1917. Zudem wurden die Reformen von Peter dem Großen erbittert infrage gestellt von jenen, die die grundlegende Identität des orthodoxen Christentums als unvereinbar mit allen Formen der westlichen Christenheit betrachteten. Die debattierten Probleme berührten fundamentale Fragen zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat, aber auch Fragen der Liturgie und der Frömmigkeit.

Das Christentum, das in Nordamerika Gestalt annahm, hielt noch eine ganze Reihe anderer Varianten bereit, wie Margaret Bendroth zeigt. Ernste Fragen ergaben sich aus der massiven Zuwanderung, aus den Idealen der Religionsfreiheit, wie sie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) verankert sind, und aus dem typisch amerikanischen Phänomen des Voluntarismus, der die bedeutenden Erweckungsbewegungen der Kirchen prägte. Ein weiteres wichtiges Ereignis, das weitreichende Auswirkungen auf die Kirchen hatte, war der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865), dessen Vor- und Nachgeschichte Probleme bereiteten, die weit über die Grundfrage der Sklaverei und ihrer Abschaffung hinausreichten.

Lateinamerika unterschied sich, wie Martin Dreher herausstellt, grundlegend von den anderen Kontinenten, teils, weil es ein überwiegend katholischer Kontinent war und teils, weil die Mehrheit der Länder mindestens ein Jahrhundert früher unabhängig wurde als andere Länder der südlichen Hemisphäre. Die Ideale der Freiheit, der Autonomie und der nationalen Unabhängigkeit waren die Parolen auf dem gesamten Kontinent, wenn auch mit Unterschieden in der Dynamik und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Es entstand eine besondere Art der Emanzipation, die eine grundsätzliche Zustimmung zu den Ideen der Aufklärung mit einer Fortführung der konservativen Elemente des traditionellen Patronagesystems verband. Die Hauptmerkmale der römisch-katholischen Herrschaft in Lateinamerika führten zu anhaltenden Konflikten zwischen lokalen wie nationalen Kirchenbehörden und dem Vatikan.

In Afrika befand sich das Christentum allgemein gesprochen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer schwachen Position. Gewiss gab es die historischen Kirchen in Ägypten und Äthiopien, und die katholischen Missionsaktivitäten hatten in den französischen Kolonien zu positiven Ergebnissen geführt. Aus der Perspektive des Gesamtkontinents schien dennoch der Islam, wie Kevin Ward in seinem Beitrag über das Christentum im Afrika des 19. Jahrhunderts zeigt, größeren missionarischen Erfolg gehabt zu haben. Im Verlauf des Jahrhunderts kam es jedoch zu umfassenderen christlichen Missionsbemühungen, zunächst von britischen und schottischen Kirchen, dann auch von Missionsgesellschaften vieler anderer kirchlicher Organisationen Europas. Unausweichlich führten die Wechselwirkungen zwischen missionarischen Projekten und kolonialen Interessen zu extremen Empfindlichkeiten. Das wurde wohl auf spektakulärste Weise deutlich im Zusammenhang mit der Berliner Konferenz über Afrika 1884/85, auf der die Kolonialmächte sich grundsätzlich über den „Wettlauf um Afrika“ einigten. Die anschließende Aufteilung der Territorien hatte für die Missionsarbeit weitreichende Konsequenzen. Ungeachtet der kolonialen Interessen und ihrer Dynamik hatten die Kirchen oft auch ihre eigenen, unabhängigen Strategien, die sich manchmal sogar ausdrücklich gegen die Weisungen der europäischen Staaten und Regierungen richteten. Nicht zuletzt wurde die Bewegung gegen die Sklaverei zu einem zentralen Moment bei der Arbeit vieler Missionare. Es wäre allerdings irreführend zu behaupten, die Bewegung sei nur einseitig von den europäischen Missionswerken in die Missionsgebiete ausgegangen. Auf vielen Missionsfeldern nahmen die afrikanischen Reaktionen auf den Kolonialismus erkennbar zu, und sie wurden begleitet von Anzeichen neuer, unverwechselbar afrikanischer Formen der Spiritualität.

Die Begriffe „Mittlerer Osten“ und „Naher Osten“ verraten eine eurozentrische Perspektive. Wie Mitri Raheb in seiner Analyse der Geschichte des Christentums im Nahen Osten des 19. Jahrhunderts deutlich macht, wandelte sich die Rolle der christlichen Kirchen im Lauf des Jahrhunderts erheblich. Die osmanische Herrschaft gab eindeutig die Rahmenbedingungen vor, dennoch wurden die Anstrengungen der europäischen, russischen und amerikanischen Missionswerke intensiviert. Ihre Arbeit erwies sich als besonders wichtig für die verschiedenen örtlichen Bildungssysteme. Das ursprüngliche Modell einer multireligiösen Gesellschaft im Rahmen des Osmanischen Reichs veränderte sich schrittweise mit dem voranschreitenden Zerfall der Herrschaft. Zugleich entstanden neue Strategien des europäischen Kolonialismus, wobei insbesondere die Briten ihre kolonialen Interessen mit dem zionistischen Anspruch auf das „Heilige Land“ in Verbindung brachten.

Auf dem asiatischen Kontinent stagnierte die katholische Mission am Anfang des 19. Jahrhunderts weitgehend. Im Gegensatz dazu gewann die Missionsarbeit der Protestanten im Lauf des Jahrhunderts eine neue Dynamik. Die Erfolge waren jedoch, wie Klaus Koschorke herausarbeitet, in den verschiedenen Teilen Asiens recht unterschiedlich. Auf dem indischen Subkontinent und auf Sri Lanka war die Mission – in mehrfacher Hinsicht – ein Faktor der Modernisierung. Die Länder im Nordosten Asiens, vor allem China und Japan, waren für missionarische Aktivitäten von außerhalb weitestgehend verschlossen. Darum galten die Bemühungen häufig der Unterstützung indigener Ausdrucksformen und der Schaffung von Nationalkirchen sowie dem Aufbau transnationaler Netzwerke unter den Eliten bestimmter Länder.

Ulrike Schröder und Frieder Ludwig analysieren die transkontinentale Dynamik der Begegnung zwischen dem Christentum und den anderen Weltreligionen auf der südlichen Erdhalbkugel und zeigen die Auswirkungen dieser Begegnungen auch auf die Kirchen im Norden. Es ist offensichtlich, dass die jeweiligen Haltungen und Praktiken von Land zu Land unterschiedlich waren, wie etwa detaillierte Fallstudien zum Kastensystem in Indien und zu den Beziehungen zwischen Christen und Muslimen in Westafrika zeigen. Darüber hinaus wird in diesem Beitrag das breite Spektrum der Positionen auf dem Weltparlament der Religionen im Jahr 1893 in Chicago und auf der Weltmissionskonferenz, die 1910 in Edinburgh stattfand, beschrieben.

Es ist das Ziel dieses Bandes – zusammen mit dem ersten Band zum globalen Christentum von ca. 1500 bis zum 18. Jahrhundert und dem nachfolgenden Band über das 20. Jahrhundert –, die Auswirkungen der christlichen Bewegung auf den demografischen, kulturellen, sozialen und politischen Lauf der Weltgeschichte im Guten wie im Schlechten nachzuzeichnen. Alle Autorinnen und Autoren dieser Bände haben ihre Texte wissenschaftlich gediegen und in Treue zu ihren persönlichen Überzeugungen hinsichtlich ihres Stoffs erstellt – getragen von dem kollegialen Wunsch, zu globaler und umfassender Verständigung beizutragen.

 

Übersetzung: Norbert Reck

 

Jens Holger Schjørring

Aarhus, Dänemark

Norman A. Hjelm

Wynnewood, Pennsylvania, USA

August 2017