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Here we are now, entertain us.

NIRVANA, SMELLS LIKE TEEN SPIRIT

PROLOG

Als Andreas Landwehr starb, saß ich neben meinem Bruder in der Dresdner Semperoper, genoss das Intermezzo in Pietro Mascagnis Oper Cavalleria rusticana und war glücklich. Es war der Abend des 16. Januars, ein Samstag, und ich ahnte nichts, aber als ich später die Zeiten verglich und die Geschehnisse rekonstruierte, schien es ein beinahe prophetischer Umstand, dass ich gerade diese Oper sah, in der Liebe, Leidenschaft und Tod so intensiv dargestellt werden, während Andreas als letzte Konsequenz seiner Taten auf dem Pflaster der Berliner Karl-Marx-Allee sein Leben beendete. In genau dieser Stunde erlebte ich einen wunderbaren Augenblick, eine Woge melancholisch-schönen Glücks, die mir beinahe die Tränen in die Augen trieb, vielleicht auch, weil ich an die Frau dachte, die ich mit dieser Melodie verbinde.

Ich hatte vor, eine Woche bei meinem Bruder zu verbringen, aber als ich am Nachmittag des folgenden Tages den Anruf erhielt, dass Andreas gestorben war, dass er Selbstmord begangen hatte, reiste ich sofort ab. Ich nahm den ersten Zug nach Berlin. Auf der zweistündigen Fahrt dachte ich über Andreas nach, über unsere eigentlich längst beendete Freundschaft. Ich machte uns Vorwürfe, dass wir unser Verhältnis nicht gepflegt, dass wir kaum telefoniert und uns nur selten gesehen hatten. Zuletzt waren wir uns zufällig im vergangenen Sommer im Berliner Pratergarten begegnet. Wir hatten kurz miteinander gesprochen, aber er schien merkwürdig abwesend. Er beteiligte sich mit höflicher Teilnahmslosigkeit an den Gesprächen, lächelte und nickte an den richtigen Stellen, aber sah seine Gesprächspartner nicht wirklich an. Er blickte durch sie hindurch, als wären sie kaum vorhanden und nur unscharfe Skizzen einer Person. Erst viel später, als ich seinen Nachlass sichtete, als ich die Zusammenhänge und damit das ganze Ausmaß seines Vorhabens verstand, begriff ich auch, wie tief er an diesem Sommertag schon in seine grauenvolle Idee verstrickt gewesen war.

Wir kannten uns aus Köpenick, wo wir beide aufgewachsen sind. Er war drei Jahre jünger als ich. Mit Anfang zwanzig wurden wir zu besten Freunden. In den Gesprächen, die wir auf unseren stundenlangen Spaziergängen führten, prägten wir einander, und es überraschte niemanden, als wir beide den Entschluss fassten, Schriftsteller zu werden. Es war eine Entscheidung, die letztlich aber auch das Ende unserer Freundschaft einleitete. Wenn man so will, löste sie sich proportional zu unseren Karrieren auf. Erfolg wird einem nur selten verziehen, dieser Gedanke ist nicht neu, er trifft allerdings unter Schriftstellern viel stärker zu, weil man sich in diesem Beruf sehr wichtig nehmen muss, um überhaupt produzieren zu können. Eine wirkliche Freundschaft kann es deswegen zwischen ihnen nicht geben. Man beobachtet sich eher aus der Ferne, kann sich einem Konkurrenzdenken nicht entziehen, vergleicht, freut sich insgeheim über die Misserfolge des anderen und versucht, sich dessen Erfolge so zu erklären, dass sie weniger mit Talent als mit glücklichen Zufällen zu tun haben. Ein ähnliches Prinzip griff auch zwischen Andreas und mir, ein Prinzip, das zwei Freunde im Laufe der Zeit zu entfernten Bekannten gemacht hatte.

Unsere Leben waren bereits auseinandergedriftet, aber als sein Roman erschien, der Andreas zu einer Art – ja, man kann schon sagen – literarischem Rockstar machte, brach unser Kontakt vollends ab. Ich weiß nicht, ob Neid ein zu starkes Wort ist, um zu beschreiben, was ich empfand, als sich sein Buch in den Buchhandlungen stapelte. Es war eher das Gefühl, aufschließen zu wollen. Wenn man selber schreibt, blättert man gerne mal in den aktuellen Bestsellern, allerdings nur um festzustellen, dass man es besser kann. Andreas’ Buch war angreifbar, wie ich fand, es war nicht schwer zu verreißen, aber es schien tatsächlich ein Lebensgefühl zu beschreiben, das dem vieler nahekam und seinen Erfolg ausmachte. Es war Andreas große Zeit.

Als bald darauf mein Buch erschien, stand Andreas dessen Erfolg vollkommen verständnislos gegenüber, wie ich später aus seinen Aufzeichnungen erfahren sollte. Auch weil die Sammlung meiner Kolumnen als Ratgeber missverstanden wurde und er diese Kultur, die sich in den letzten Jahren so stark etabliert hatte, ablehnte. Er war der Auffassung, dass man in einem guten Roman mehr über das Leben erfährt als in irgendwelchen Ratgebern.

Andreas’ Erfolg war jetzt vier Jahre her. Ein langer Zeitraum in einer Branche, in der man schnell vergisst. Man könnte annehmen, dass einem Autor das Schreiben im Laufe seiner Karriere und mit der Zeit leichter fällt, aber genau das Gegenteil ist der Fall, gerade wenn man ein so erfolgreiches Buch geschrieben hat wie er. Die Ansprüche, die man an sich selbst stellt, steigen, man verliert die Unbefangenheit, aus der heraus die frühen Texte entstanden sind. Ich wusste, dass Andreas an einem Roman geschrieben hatte, an seinem Opus magnum, wenn man den Zeitraum berücksichtigte und die vagen Geschichten, die man überall hörte. Er starb, bevor er es verwirklichen konnte.

Auf Andreas’ Beerdigung begegnete ich dann zum ersten Mal seit Jahren seinen Eltern. Sie freuten sich trotz der tragischen Umstände aufrichtig, mich wieder zu sehen, und luden mich ein, sie einige Tage darauf zu besuchen. Sie wollten mich um einen Gefallen bitten, sagten sie, aber die Beerdigung sei ein unangemessener Rahmen für ihre Bitte. Wir müssten uns unbedingt ungestört unterhalten. In ihrem Haus tauchten wir vier Stunden lang in Andreas’ Vergangenheit ein. In Anekdoten seiner Kindheit und Jugend, in denen sich seine Eltern wohler zu fühlen schienen als in den letzten Jahren, die unser Gespräch nur selten berührte. Bevor ich aufbrach, baten sie mich schließlich, die Arbeit ihres Sohnes zu sichten, er hatte doch jetzt schon seit Jahren an seinem Roman geschrieben und sie kannten niemanden außer mir, dessen Urteil sie vertrauen wollten. Niemanden, der ihrer Meinung nach geeigneter wäre, seine Arbeit einzuschätzen. Nach kurzem Zögern stimmte ich zu. Ich ahnte nicht, dass dieses Einverständnis die nächsten zwei Jahre meines Lebens bestimmen sollte.

Nur einige Tage darauf betrat ich zum ersten Mal die Wohnung, in die Andreas vor fünf Jahren eingezogen war. Sie wirkte leer, es gab nur wenige Möbel, schlichte Möbel, denen man ansah, dass sie nicht billig gewesen waren. Die Einrichtung war auf eine kühle Art elegant – keine Bilder, keine einzige Pflanze, nur diese Designklassiker, die ein Vermögen kosten. Ich ahnte, dass man sich in dieser Wohnung sehr einsam fühlen konnte. Es gab hier nichts, was ich mit Andreas verband. Es war die Wohnung eines Fremden.

Ich fand keine Notizen oder beschriebenen Blätter, seine Arbeit schien sich ausschließlich auf seinem Rechner zu befinden, auf den ich nicht zugreifen konnte, weil er passwortgeschützt war. Ich rief einen Freund an, den ich immer anrufe, wenn ich Probleme mit technischen Geräten habe. Der war allerdings verreist. Weil vor seiner Rückkehr meine Lesetour begann, dauerte es drei Monate, bis ich auf Andreas‘ Dateien Zugriff hatte. Rückblickend war das ein glücklicher Umstand, er verlängerte die Zeit, in der ich mich an Andreas erinnern konnte, wie ich mich an ihn erinnern wollte.

Es fällt schwer, mir einzugestehen, dass Andreas ein schlechter Mensch gewesen ist. Trotz des abgebrochenen Kontakts hatte ich immer noch angenommen, ihn zu kennen, aber als ich seine Notizen las, begriff ich, wie groß der Abstand zwischen uns war, wie wenig ich von dem Menschen wusste, zu dem er geworden war. Er hatte sich zwar nie an die üblichen Normen gebunden gefühlt, dessen war ich mir auch vorher bewusst gewesen, in seiner Obsession war er jedoch noch weiter gegangen: Er hatte sich seine eigenen Werte geschaffen, seine eigene Moral, die ausschließlich seiner Idee verpflichtet war.

Die unzähligen Textfragmente, in denen sich lose und unzusammenhängende Charakterisierungen, tagebuchartige Aufzeichnungen und fragmentarische Szenen abwechselten, als Rohfassung eines Romans zu bezeichnen, wäre zu weit gegriffen. Es waren Recherchen, Anfänge, Vorbereitungen. Es gab überhaupt keine Struktur. Mit der eigentlichen Umsetzung hatte er noch nicht begonnen. Als ich dann einen Ordner mit Audio­dateien offensichtlich heimlich aufgenommener Mittschnitte von Gesprächen entdeckte, wurde mir klar, was ich bisher nur vage geahnt hatte, dass sich hier nicht – wie in den meisten fiktiven Werken – Dichtung und Wahrheit unauflöslich durchdrangen, sondern dass die dargestellten Ereignisse wirklich passiert und die Figuren real existierende Menschen waren.

Alles war Realität. Das war der Moment, der alles änderte.

In den folgenden Monaten habe ich oft daran gedacht, abzubrechen und Andreas‘ Arbeit zu vernichten, aber letzten Endes konnte und wollte ich mich wohl ihrem verführerischen Sog nicht entziehen. Vielleicht weil mir die dargestellten Ereignisse viel mehr über mich und meine eigenen Abgründe erzählten, als ich mir eingestehen wollte. Das Schreiben dieses Buches gab mir die Möglichkeit, in Andreas Landwehrs tiefste Gedanken vorzudringen, in seine Abgründe zu sehen. Er ist kein Mensch, mit dem ich gerne Zeit verbracht hätte. – Dieser kalte Blick, mit dem er alles und jeden bewertete. Doch in gewisser Weise war er ein Spiegel, der mich zwang, mir bisher ungestellte Fragen zu stellen. Fragen, die mir halfen, auch Neues, Unerwartetes und sogar Beunruhigendes über mich herauszufinden. Wir haben alle etwas zu verbergen. Hinter einer Maske verstecken wir sorgfältig unsere dunklen Seiten, oft sogar vor uns selbst. Andreas‘ Aufzeichnungen halfen mir, hinter diese Maske zu blicken.

Ich habe Andreas also kennengelernt, besser, als ich es erwartet und wohl auch gehofft hatte. Er hatte als Schriftsteller eine Grenze überschritten, die ich nie zu übertreten gewagt hätte. Vielleicht löste genau das den unwiderstehlichen Reiz aus, den die Idee, von der er besessen war, auch auf mich ausübte. Ich beschloss, seine Arbeit zu vollenden. Ich beschloss, den Roman zu schreiben, den Sie jetzt in Ihren Händen halten. Diesen vergifteten Text, aus einer Idee entstanden, der drei Leben zum Opfer fielen, einschließlich jenes seines auf so grausame Weise fehlgeleiteten Schöpfers.

Dies ist eine wahre Geschichte. Die in ihr dargestellten Ereignisse fanden im Jahr 2016 in Berlin statt und wurden im darauffolgenden Jahr aufgeschrieben. Auf Wunsch der Überlebenden sind die Namen geändert worden. Aus Respekt vor den Toten wird die Geschichte genau so erzählt, wie sie sich zugetragen hat.

(FREI NACH ETHAN UND JOEL COEN)


VORBEMERKUNG

Natürlich habe ich mich nicht nur auf Andreas‘ Aufzeichnungen verlassen, um die folgende Geschichte zu erzählen. Die Geschehnisse nur aus seiner Sicht zu zeigen, hätte sie verzerrt. Nach der Durchsicht der Dokumente habe ich mich mit allen tragenden Figuren der Handlung getroffen. Die ergänzenden Gespräche mit Leonie, Julia und Christoph waren wichtig und notwendig, um ein umfassendes Bild zu bekommen, vor allem, weil sie die Missverständnisse zwischen ihnen erkennbar machten. Der Umgang zwischen den Menschen setzt sich förmlich aus Missverständnissen zusammen, wird von ihnen bestimmt, und ist vielleicht eine der tragischsten Klammern, die dieses Buch umschließen.

ERSTER TEIL

DIE BESETZUNG

BERLINICATION

»Vielleicht solltest du mal wieder mit einer Frau schlafen, die du magst«, hatte Stephan gesagt, und dann, ungefähr einen Gin Tonic später: »Vielleicht würde es dir gut tun, mal wieder einer Frau gut zu tun.«

Ich stelle mir vor, wie Andreas‘ Gedanken durch die Unterhaltung mit Stephan treiben. Wenn man eine Geschichte erzählen will, stellt sich die Frage, wann sie beginnt, man sucht nach dem richtigen Moment, um in die Geschichte einzutauchen. Ich habe in den vergangenen Wochen, den Wochen des Sortierens, der Sichtung und Auswertung der unzähligen Dokumente, die sich auf Andreas‘ Laptop sammeln, oft darüber nachgedacht.

Jetzt, im Licht dieser Sätze, taucht vor meinen Augen eine Szene auf: Ich sehe Andreas klar vor mir, wie er an einem Freitagvormittag den Balkon seiner Wohnung betritt, strahlendes Sonnenlicht, eine Zigarette in der Hand. Er tritt aus dem vorgefertigten Bild heraus, das ich in Gedanken von ihm gezeichnet, mit dem ich ihn festgelegt hatte. Erst jetzt, als er sich die Zigarette anzündet, während die Wärme der Sonne unter seine Haut dringt, wird der Mensch sichtbar, und ich begreife, dass ich ihn gefunden habe. Den richtigen Moment. Den richtigen Ausschnitt aus einem Leben. Den Anfang der Geschichte.

Es war ein wundervoller Frühlingstag, an dem ein leichter Wind wehte und Berlin unter einem weiten, wolkenlosen Himmel strahlte, als wäre es eine andere Stadt. Eine Stadt, die am Meer liegt. Berlin am Meer, dachte Andreas. Es war ein Sehnsuchtsbild, das sich vor ihm ausbreitete und ihn daran erinnerte, wie oft er sich in letzter Zeit vorgenommen hatte zu reisen. Er wollte Italien sehen, diese Landschaften, die er nur aus Filmen kannte, und die alten Ortschaften, die George Clooney in dem Film The American besuchte, in denen eine Langsamkeit herrschte, nach der er sich so sehnte.

Sein Blick ging über die Passanten auf der Promenade sieben Stockwerke unter ihm. Das war es, was er am Berliner Frühling so mochte, sobald es warm wurde, wirkte die Stadt, als hätte jeder frei. Der Frühling veränderte die Gesichter der Leute. Sie wirkten, als würde in ihrem Leben alles genau so laufen, wie sie es sich immer erträumt hatten. Es war einer dieser Tage, an denen man sich wünschte, verliebt zu sein, dachte er mit einem Lächeln, als würde es dieses Gefühl nur geben, weil es solche schönen Frühlingstage gab.

In einem offenen Fenster des gegenüberliegenden Hauses fiel ihm die Silhouette eines Mannes auf. Aus irgendeinem Grund hob Andreas leicht die Hand, und der Mann hob ebenfalls die Hand, als wolle er ihm ein Zeichen geben. Zwei Männer, die sich am ersten schönen Frühlingstag des Jahres eine Auszeit nahmen, im Einverständnis miteinander. Dann fiel ihm auf, dass an dem Mann irgendetwas seltsam war. Er schien Andreas‘ Bewegungen nachzuahmen. Zunächst hielt er es für einen Irrtum, aber irgendwann begriff er, dass der Mann seine Gesten kopierte. Er ahmte sogar detailliert nach, wie er rauchte. Das war beunruhigend. Er dachte an Susanna, die immer wieder betont hatte, dass Berlin voller Freaks und Psychopathen war. Ihm selbst fielen sie nicht mehr auf, er hatte sich an sie gewöhnt. Plötzlich hatte er ein Bild vor Augen, in dem der Mann in einer Wohnung stand, die genauso eingerichtet war wie seine, bis ins kleinste Detail, dass er nicht nur seine Gesten nachahmte, sondern sein Leben, die Einrichtung seiner Wohnung und seinen Kleidungsstil. Er fixierte den Mann auf der anderen Seite und wünschte sich ein Fernglas, um seine Züge erkennen zu können, und erst jetzt sah er, dass er in einen Spiegel blickte, der in der anderen Wohnung angebracht war. Er atmete tief ein, während ihm wieder einmal auffiel, wie sehr er von den Filmen, die er gesehen hatte, sozialisiert war. Er blickte noch einmal zu seinem Spiegelbild. Es war ein seltsames Gefühl, es aus dieser Distanz zu sehen. Als würde er aus großer Entfernung auf sein Leben blicken.

Wie beschrieb man ein Leben?, fragte er sich plötzlich. Wie fasste man es zusammen? Wenn er sein Leben überblickte, es in die wichtigen Momente, Personen und Ereignisse zerlegte und dann nach Verbindungen suchte, nach dem Geheimnis, das alle Teile verband, entstand vielleicht nur eine Skizze, eine Andeutung davon, wie man sein Leben eigentlich beschreiben sollte. Eine Art Biografie. Aber was war seine wirkliche Biografie?

Eine Biografie war eine Auswahl von Ereignissen, die man in seinem Leben für bedeutend hielt, dachte Andreas. Allerdings hielten die meisten Menschen Ereignisse ihres Lebens für bedeutend, weil sie von anderen für bedeutend gehalten wurden. Jeder Lebenslauf bewies das. Er hatte Lebensläufe immer als etwas dem Leben künstlich Hinzugefügtes empfunden. Eine Zusammenstellung von Geschehnissen, die mit dem Leben, dem wirklichen Leben, nichts zu tun hatten. Wahrscheinlich beruhte das Drama im modernen Menschen auf diesem großen Missverständnis, dachte er; den Unterschied zwischen beruflichem Erfolg und privatem Glück nicht zu erkennen oder genauer: beruflichen Erfolg mit Glück zu verwechseln. Es war das vermeintliche, das künstliche Glück der Angepassten, die sich nach den Regeln richteten, welche die Gesellschaft vorgab. Die meisten beurteilten ihr Leben nach ihren beruflichen Erfolgen, nach ihrer Karriere, und vielleicht war genau dieses Missverständnis das Fundament ihrer inneren Zerrissenheit.

Andreas selbst ging es nicht anders, wenn er sich über den Grund und die Art der Zerrissenheit auch bewusst war. Vor anderen sortierte er seine Vergangenheit nach beruflichen Abschnitten und Erfolgen, für sich selbst sortierte er es nach den Frauen, nach den erfüllten und den unerfüllten Lieben seines Lebens.

Sein Blick zog über das gegenüberliegende Gebäude, das das Licht dieses strahlenden Himmels reflektierte. Vielleicht gab es ja auch aus diesem Grund so schöne Frühlingstage, dachte er, damit man sich da­rauf besinnen konnte, worauf es im Leben ankam, also wirklich ankam.

Er vergegenwärtigte sich das Zimmer in seinem Rücken, den langgezogenen Schreibtisch, der eigentlich ein Esszimmertisch war, und die Sechzigerjahre-Deckenlampe, die eigentlich für ein Schlafzimmer gedacht war. Zweckentfremdung war sein Stilmittel. Er hatte den Großteil der letzten beiden Jahre in diesem Raum verbracht. Der Erfolg seines letzten Romans und die damit verbundene finanzielle Sorglosigkeit gaben ihm die Freiheit, die er sich so oft gewünscht hatte. Bereits nach der ersten Lizenzabrechnung des Romans hatte er ausgerechnet, dass er zehn Jahre seinen Lebensstil halten konnte, ohne irgendein Einkommen zu haben. Ihm war die Besonderheit dieser Umstände bewusst, die meisten Schriftsteller, die er kannte, waren Hartz-IV-Empfänger. Seit zwei Jahren arbeitete er an dem neuen Buch. Die Tage verbrachte er in seiner Wohnung, um zu schreiben. Er sah tagelang keinen Menschen, sein soziales Leben fand fast ausschließlich an den Abenden statt, auf Dates oder auf Partys, und war immer mit Alkohol verbunden.

Er hatte schon darüber nachgedacht, sich ein kleines Büro zu mieten, das ihn zwingen würde, die Wohnung zu verlassen, in der sich die Tage zu sehr ähnelten, in der sie ineinander übergingen wie die Songs in den langen Nächten einer dieser Electro-Partys, die klangen, als hätte der DJ die ganze Nacht dasselbe Lied gespielt. Manchmal hatte er den Eindruck, jeder Tag wäre derselbe, als wäre er in einer Art Zeitschleife gefangen, einer ständigen, aus Gewohnheiten zusammengesetzten Wiederholung, in der es keine Impulse gab, die das Alltägliche durchbrachen. Eine endlos kreisende Bewegung. Als wäre – diesen Eindruck hatte er tatsächlich – seine Existenz auf nahezu gar kein Leben reduziert. Das war aus dem Traum geworden, nach dessen Erfüllung er sich so gesehnt hatte. Bevor er sich umwandte, um wieder in die Wohnung zu gehen, warf er noch, mit dem Gefühl, als würde er sich an ein Leben erinnern, das er nie gelebt hatte, einen letzten Blick über die Stadt, die wirkte, als läge sie am Meer.

Im Wohnzimmer stellte er wieder einmal fest, wie sehr er seine Wohnung mochte, das Fischgrätparkett, die rohen Wände und natürlich die Flügeltüren, die den Räumen eine Weite gaben, die ihn immer noch beeindruckte, obwohl er schon vor vier Jahren eingezogen war. Er bewegte sich immer noch sehr bewusst durch die Zimmer. So hatte er es sich immer vorgestellt. Die Kulisse für sein Leben. Ein richtiges Leben. Ein Leben, in dem irgendwann eine Frau und Kinder vorkamen.

Er ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Die geöffnete Kühlschranktür gab den Blick auf einen Obstsalat, eine Flasche Eistee und drei Packungen Milch frei. Der Kühlschrank war von Bosch und hatte ihn 1 600 Euro gekostet. Er dachte an den Eames Lounge Chair in seinem Wohnzimmer, der ihn 6 900 Euro gekostet hatte, eine Castiglioni-Bogenleuchte für 1 700 Euro, deren schweren Marmorfuß er manchmal behutsam berührte wie einen Schatz. Er besaß teure Möbel und lebte in einer Wohnung, die seine gelegentlichen Gäste beeindruckte. Wenn ihn seine Eltern besuchten und wieder einmal feststellten, dass es hier aussah wie in einem dieser Möbelkataloge, deren Preise sie nicht verstanden, hatte er das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Die Kulisse stimmte. Da übersah man schnell, dass er eigentlich ein asoziales Leben führte, dachte er. Dass sein Kühlschrank immer leer war und dass er manche Küchengeräte nur gekauft hatte, weil sie gut aussahen, obwohl er keine Ahnung hatte, wie man sie benutzte. Aber teure Möbel und schöne Wohnungen waren wie beruflicher Erfolg ein guter Halt, ein Argument, um sich der Illusion hinzugeben, im Leben alles richtig gemacht zu haben.

Er nahm die angebrochene Packung Milch aus dem Kühlschrank und leerte sie in die gleiche Kaffeetasse, aus der auch Kiefer Sutherland in der Serie 24 seinen Kaffee trinkt. Er nahm einen Schluck, bevor er durch seine Wohnung ging, als würde er sie besichtigen. Es waren diese Momente, in denen er spürte, dass etwas fehlte, dass sein Leben unvollständig war. Eine Unvollständigkeit, die sich nicht mit Dingen füllen ließ, die man kaufen konnte. Vielleicht hatte Stephan recht, dachte er. Vielleicht war eine Frau die Antwort. Vielleicht war die Liebe zu einer Frau die Chance, auszubrechen, seinem Leben endlich wieder einen neuen Impuls zu geben.

Im Badezimmer blickte er in den Spiegel und betrachtete sein Gesicht. Der Mann, den er sah, gefiel ihm. Er passte ins Bild. Er passte zu dem Menschen, für den ihn die anderen halten wollten. Sie setzten praktisch voraus, dass jede seiner Lesungen mit einer Orgie im Hotelzimmer endete. Ein Leben, das von maßlosem, unverbindlichem Sex bestimmt und mit einer nicht unsympathischen Tragik gewürzt war. Dass es auf Tour vor allem darum ging, genug Schlaf zu bekommen und mit dem Alkohol aufzupassen, gehörte nicht in das Bild. Ihre Klischees hatten nichts mit ihm zu tun, das wusste er natürlich, aber er hatte auch festgestellt, dass er dieser vorgefertigten Figur immer ähnlicher wurde. Dass er immer mehr dem Bild entsprach, das die anderen von ihm entworfen hatten. Dass er inzwischen das Schriftstellerleben einer amerikanischen Serie führte. Er war zu einer Art Hank Moody geworden, dem Protagonisten der Serie Californication, der in jeder der zwanzigminütigen Folgen mit mindestens drei Frauen schlief, er war die Hauptfigur von Berlinication, wie sein Freund Mirko Schaffer sein Leben einmal zusammengefasst hatte.

»Berlinication«, sagte er in das leere Bad. Das Wort war verführerisch und schmeichelnd. Ein Wort, in dem er sich wohl fühlte.

Er dachte an die Momente, in denen sein flüchtiger Blick unvorbereitet auf sein Spiegelbild fiel, in einem Schaufenster zum Beispiel, und für einen kurzen Moment jemanden sichtbar machte, der seinem Bild nicht gerecht wurde, bevor er wieder den Blick aufsetzte, mit dem er immer in den Spiegel sah, den Ausdruck, der ihn so aussehen ließ, wie er sich gern sah und wie er gesehen werden wollte.

Er betrachtete sein Spiegelbild, sein Gesicht, seine Augen, und empfand nichts. Als würde er einen Fremden ansehen. Einen Fremden, den er nicht einschätzen konnte. Schnell verließ er das Bad, um sich von diesem Gefühl abzulenken.

Auf dem Balkon nahm er sich Zeit für zwei Zigaretten. Danach sah er auf sein Handy, die Uhr zeigte zehn nach zwölf. Er drückte hastig die Zigarette aus. In zwanzig Minuten war er mit Stephan verabredet, mit dem er gelegentlich zu Mittag aß. Er musste in fünf Minuten los, wenn er nicht zu spät kommen wollte. Als er die Balkontür hinter sich schloss, war er in Gedanken bereits damit beschäftigt, welches Jackett zu diesem Tag und zu seiner Stimmung passte.

Es war der neunte April, ein Freitag, kurz vor vierzehn Uhr, und Berlin leuchtete unter einem weiten, wolkenlosen Himmel, als wäre es eine andere Stadt.

DIE VERSION EINES LEBENS

Am späten Nachmittag dieses strahlenden Tages saß Christoph zurückgelehnt an seinem Schreibtisch in der siebzehnten Etage eines fünfundzwanziggeschossigen Plattenbaus in der Leipziger Straße. Die Aussicht war atemberaubend, man fühlte sich privilegiert, wenn man durch die hohen Fenster über die Stadt blickte. Er ließ den Ausblick noch einen Moment lang auf sich wirken, bevor sein Blick wieder auf den Tiefpunkt seiner Karriere fiel, der auf dem Bildschirm des iMac schimmerte; harmlos aussehende Entwürfe, die vor seinen Augen verschwammen, als würden sie ihm die Nutzlosigkeit, Tragik und Bedeutungslosigkeit seines neunjährigen Arbeitslebens vorwerfen. Seine eigene Arbeit lachte ihn aus, dachte er, wie ein Kind, das den Respekt vor seinen Eltern verloren hatte.

Er hob den Blick erneut zum Fenster und dachte daran, wie groß seine Pläne einmal gewesen waren, damals, während des Studiums, als ihm die Zukunft wie ein Abenteuer erschien, das sich aus Kampagnen für Adidas, Apple oder Universal zusammensetzte. Es hatte sich mit den Jahren in Kampagnen für Einkaufscenter, Broschüren für Autohäuser und Websites für Immobilienmakler aufgelöst, in viele kleine Kompromisse, die seinen Alltag zu einem großen Kompromiss gemacht hatten.

Mit diesem bedrückenden Gedanken tauchte er wieder in das Gespräch mit Karnowski ein, der seit zwanzig Minuten auf ihn einredete. Seitdem Karnowski das Büro betreten hatte, hatte Christoph nur drei Worte gesagt, inklusive Begrüßung. Seitdem umspülte ihn Karnowskis Redestrom, ohne ihn zu berühren, es hatte etwas Einschläferndes. Freitag war der Tag, an dem Karnowski seine Rolle als Geschäftsführer verließ, um seinen Mitarbeitern als Mensch zu begegnen, auch wenn er sie gestern noch zusammengeschrien hatte. Sein sozialer Tag gewissermaßen, vielleicht die Idee seines Analytikers. Er suchte Karnowskis Blick, doch der hatte die Angewohnheit, seinem Gegenüber nicht in die Augen zu sehen, weder in Gesprächen noch wenn er ihm die Hand gab.

Er atmete den süßlich stechenden Geruch ein, der Karnowski umgab. Der Mann benutzte so viel Parfum, dass sich ein Raum praktisch in eine andere Klimazone verwandelte, wenn er ihn betrat. In eine, in der schnell mit Kopfschmerzen zu rechnen ist. Er spürte bereits einen leichten Druck hinter den Augen, als Karnowski noch in der Tür stand. Heute trug er Boss Bottled. Christoph verstand nicht, wie man einen Duft tragen konnte, der sich schon seit zehn Jahren auf den oberen Plätzen der Herrenparfum-Verkaufscharts befand, und dann fragte er sich, wie es dazu kommen konnte, dass er sich in den oberen Plätzen der deutschen Herrenparfum-Verkaufscharts so gut auskannte. Es lag wohl daran, dass er das verhängnisvolle Talent hatte, sich überflüssige Dinge zu merken. Es überraschte ihn manchmal selbst, was er sich gelegentlich so erzählen hörte, als hätte er die Rubrik »Unnützes Wissen« aus der Neon auswendig gelernt. Manchmal dachte er, er sei wie diese Rubrik, wahrscheinlich beschrieb sie ihn am besten.

Während Karnowski sprach, fiel Christoph auf, dass er sich in einer ungewohnt melancholischen Stimmung befand, was vielleicht an diesem gerade heute so überwältigendem Ausblick lag oder daran, dass er morgen dreiunddreißig Jahre alt wurde.

Plötzlich stellte Karnowski die erste Frage der Unterhaltung. Es war der erste Satz, der Christoph einbezog, und er war vollkommen ahnungslos, worum es ging. Er hatte ja schon vor Minuten den Faden verloren, einem Zeitraum, in dem das Gespräch in ganz andere Zusammenhänge geglitten sein konnte.

»Klar«, sagte er schnell und nickte mit einem zustimmenden Lächeln, bevor er begriff, dass das Wort »Führerprinzip« in der Frage vorgekommen war.

Scheiße, dachte er. Er hatte keine Ahnung, was er da gerade bestätigt hatte. Er hoffte, dass es nicht um Politik ging, vielleicht hatte Karnowski gefragt, ob er bei den letzten Wahlen rechts gewählt hatte. Er musste die Situation retten, er musste herausfinden, worum es ging.

»Das darf man jetzt natürlich nicht falsch verstehen«, sagte Karnowski. »Ich will die Company hier ja nicht mit dem Hitlerregime vergleichen. Wär jetzt auch zu weit hergeholt. Eine – ich sag mal – zu brachiale Assoziation.«

Die Frage, dachte Christoph verzweifelt, verdammt noch mal, was war die Frage.

»Also was ich eigentlich meine«, fuhr Karnowski fort, »Agenturen – oder Unternehmen im Allgemeinen – funktionieren ja schon wie Diktaturen. Nach dem Führerprinzip, sozusagen. Ich meine, wenn Unternehmen wie Demokratien funktionieren würden, dann könnten sie einpacken. Dann würden sie nicht aus dem Arsch kommen. Sieht man ja auch an den aktuellen politischen Entwicklungen.«

Christoph machte erleichtert eine Geste, die alles bedeuten konnte, auch eine abschließende Geste, weil er das Gefühl hatte, dass ihr Gespräch gerade in eine falsche Richtung lief.

»Aber wenn man das jetzt mal weiterspinnt«, fuhr Karnowski fort, »wären Sie auf der Gottbegnadetenliste der Company«, und brach in ein dröhnendes Lachen aus, das Christoph zusammenzucken ließ, bevor er sich zu einem Lächeln zwang. Christoph fragte sich, was Karnowski wohl wählte, aber eigentlich wollte er es gar nicht wissen. »Sie sind doch unser bester Mann«, dröhnte es.

Christoph wiederholte die Geste, die alles bedeuten konnte, und fügte der Liste von Menschen, mit denen er auf keinen Fall über Politik reden wollte, eine weitere Person hinzu. Jetzt gab es drei: Berliner Taxifahrer, Erik und Karnowski.

»So«, sagte Karnowski nach einem Blick auf die schwere, goldglänzende Uhr an seinem Handgelenk, die wahrscheinlich so viel gekostet hatte wie ein Kleinwagen, »ich muss dann mal, ich hab gleich noch ein Essen. Im Borchardt.«

»Wo sonst«, lachte Christoph, dem sein eigenes Lachen gerade viel zu meckernd und anbiedernd erschien.

Bevor er das Büro verließ, nickte ihm Karnowski zu und hob seine Faust – mit erhobenen Daumen. Die Schlagersängerautogrammkartengeste. Christoph erwiderte sie ungeschickt und kam sich jetzt wirklich wie der Arschkriecher der Agentur vor. Es brauchte eine Weile dieses Gefühl mit Karnowskis Parfum in der Nase, – dem Nachhall seiner Präsenz sozusagen, wieder loszuwerden.

Sein Blick fiel noch einmal auf das Projekt, das so harmlos auf seinem Monitor leuchtete und mit dem er endgültig das Gefühl verband, eine Grenze überschritten zu haben. Er entwarf die Kampagne für ein Altenheim, das im Umland von Berlin gebaut wurde. Ein Umstand, der an sich schon deprimierend genug war, noch deprimierender war allerdings, dass es bereits seine achte war.

Es war ein wachsender Markt. »Alt geworden wird immer«, vergaß Karnowski in den Montagsmeetings nie zu erwähnen. Er dachte an die Artikel, die schon lange vor der Überalterung warnten, in die die Gesellschaft hineintaumelte. In einigen Jahren würde die Hälfte der Berliner über fünfzig sein. So gesehen gab es für ihn noch viel zu tun.

Fünfzig, dachte er. Bis dahin hatte er noch 17 Jahre und – er warf einen Blick auf die Uhr – gute sechs Stunden Zeit. Die Hälfte hatte er schon seit acht Jahren hinter sich. Vielleicht sollte er mit diesen Zahlenspielen aufhören.

Acht Altenheime, dachte er. Das klang wie der Titel einer Til-Schweiger-Komödie, in der Dieter Hallervorden vorkam. The Hateful Eight hätte besser gepasst. Es war das bisher zynischste Projekt seiner Karriere. Das Grundstück, auf dem das Gebäude entstand, grenzte direkt an einen Friedhof. Im Erdgeschoss gab es eine Blumenhandlung und ein Bestattungsinstitut. Man wartete praktisch auf die zukünftige Kundschaft, die in den oberen Etagen untergebracht wurde. Die Balkone der Appartements befanden sich an der Rückseite des Gebäudes, der Ausblick der alten Menschen bestand nur aus Gräbern. Ein Blick in die unmittelbare Zukunft gewissermaßen. Man könne auf den Balkonen die Ruhe genießen, so würde es in der Werbebroschüre zu lesen sein, die offensichtlich von Leuten geschrieben wurde, denen Menschen egal waren. Dann fiel ihm ein, dass es ja seine Firma war. Dass er einer dieser Leute war.

Als er aufsah, lehnte Malte im Türrahmen.

»Na, wie war’s?«, grinste Malte.

»Na ja.« Christoph zuckte mit den Schultern. »Er hatte leider keine Zeit, mir die ganze Welt zu erklären.«

»Verstehe«, lachte Malte.

Malte verstand sich als ironischer Spötter der Agentur und nutzte jede Gelegenheit, das auch zu beweisen. Einer dieser Beweise war seine WhatsApp-Gruppe, in die er auch Christoph aufgenommen hatte und über die er nahezu täglich Bilder oder Videos verschickte, die einen zum Lachen bringen sollten, die aber teilweise so sexuell grenz­wertig waren, teilweise ekelhaft sexuell grenzwertig, dass Christoph bei einigen den Impuls spürte, das Display seines Handys mit Sterilium zu säubern, von dem Julia immer ein Fläschchen in der Tasche hatte, bevor er sie schnell löschte.

»Alter«, hörte er Malte sagen, »was ist denn hier für eine Luft. Ich mach mal das Fenster auf.«

Er mochte Malte, aber er musste mal mit ihm reden, ihm auf behutsame Weise beibringen, dass er nicht unbedingt seine Zielgruppe war, wenn man das so sagen konnte. »Und, was geht am Wochenende?«, fragte Malte.

»Ach, das ist schnell erzählt«, erwiderte er. »Nichts.«

Im Büro wusste niemand von seinem Geburtstag, und ihm wäre es lieber gewesen, wenn auch außerhalb des Büros niemand davon gewusst hätte. Am liebsten hätte er den Abend nur mit Julia verbracht. Wenn sich das Wetter bis zum Abend hielt, vielleicht sogar schon auf der Terrasse. Ein harmonischer Abend, gefüllt mit Gesprächen und ein paar Gläsern Wein, der unaufgeregt in seinen Geburtstag mündete. Ein Abend, der ihnen gutgetan hätte. Aber Julia hatte eine Party geplant, die er so gern bereits hinter sich gehabt hätte. Es war schon merkwürdig, er dachte an seine Geburtstagsparty wie an eine Verpflichtung, als würde er Carina und Erik, Hauke und Melanie und natürlich Julia mit seiner Anwesenheit einen Gefallen tun, und genau genommen tat er das ja auch. Die Party, die Gäste und das Essen passten eher zu ihr als zu ihm. Zumindest war es so in den letzten Jahren gewesen, und es sah nicht unbedingt danach aus, als würde diesmal mit überraschenden Wendungen zu rechnen sein. Ganz kurz stellte er sich vor, Karnowski und Malte würden auch kommen, aber das hätte es auch nicht unbedingt besser gemacht. Eher schlimmer.

Vorsichtshalber hatte er schon vergangene Woche eine Kiste Rotwein gekauft, im La Tienda del Toro, dem kleinen spanischen Weinladen, der nur wenige Meter von ihrer Wohnung entfernt lag. Der Wein würde ihm helfen, den Abend durchzustehen, zumindest hoffte er das.

Ihm kam der Gedanke, dass er seinen Geburtstag nur ungern feierte, weil es ja eigentlich nichts zu feiern gab. Jahrelang hatte er sich vorgestellt, an welcher Stelle im Leben er an seinem nächsten Geburtstag stehen würde, wie viel sich im zurückliegenden Jahr verändert hätte. Allerdings war er immer wieder enttäuscht, denn nichts veränderte sich, alles blieb, wie es war. Es gab keine erwähnenswerten Brüche. Sogar den Umzug in die Wohnung in der Bänschstraße, nach der sie ein Jahr lang gesucht hatten, hatte er nur kurz mit dem Gefühl verbunden, das er erwartet hatte.

Sein Blick fiel auf seinen Bauch, der sich an der Tischplatte staute.
Er musste gerade sitzen, auf seine Haltung achten, und er musste unbedingt etwas für seinen Körper tun. Vielleicht sollte er wieder anfangen zu joggen, das nahm er sich inzwischen schon seit ihrem Einzug vor. Mittlerweile war das ein Jahr her. Ein langer Anlauf für eine kleine Änderung in seinem Leben. Und Christoph brauchte eigentlich eine große Veränderung, das spürte er. Er musste eine radikale Entscheidung treffen, oder zumindest einen spontanen Entschluss. Mit einer energischen Bewegung schloss er das Dokument auf seinem Bildschirm, dachte einen kurzen Moment lang ernsthaft darüber nach zu kündigen, verwarf den Gedanken erst einmal, bevor sein Blick auf die Uhr am rechten, oberen Rand des Bildschirms fiel. Es war 16:37 Uhr. Knappe zwei Stunden musste er noch durchhalten, bis er nach Hause fahren konnte, um dort dann weitere fünf oder sechs Stunden durchzuhalten. Aber nachher konnte er sich zumindest an den Rotwein halten.

»Na dann«, sagte Malte. »Ein geruhsames Wochenende. Ich geh heute ins King Size.«

»Ja, danke, und viel Spaß«, sagte Christoph.

»Den werd ich haben«, sagte Malte bedeutungsschwanger und zog die Tür hinter sich zu.

»Danke«, flüsterte Christoph und betrachtete dankbar die geschlossene Tür, bevor er das Wort »Gottbegnadetenliste« in die Suchmaske eingab. Bei Wikipedia las er, dass die Liste die wichtigsten Künstler des »Dritten Reichs« umfasste, von Hitler und Goebbels persönlich zusammengestellt. Personen, an die er in seiner empfindlichen Stimmungslage eigentlich nicht denken wollte. Zumindest war es wieder eine Information, die sein unnützes Wissen vollständiger machte. Vielleicht sollte er sich bei einer dieser Quizshows bewerben, die im Vorabendprogramm liefen und die seine Mutter so gern sah, oder bei Wer wird Millionär?.

Er erhob sich und trat an das geöffnete Fenster. Sein Blick zog über das Häusermeer, das weit hinten in einem Dunstschleier versank. Ein Moloch, wäre ihm normalerweise in den Sinn gekommen, aber jetzt dachte er, dass der Verkehr tief unten auf der sechsspurigen Straße mit nur etwas Fantasie wie eine Brandung klingen könnte. Er schloss die Augen, lauschte und wartete ab. Nach einer knappen Minute gab er es auf. Es funktionierte nicht, die Verkehrsgeräusche der Leipziger Straße wurden einfach kein Meeresrauschen.

DATING GAMES

Während Leonies Blick auf dem unberührten Glas ruhte, dessen Inhalt das gedämpfte Licht der Odessa Bar reflektierte, entfernte sich seine Stimme immer weiter von ihr. Eine Stimme, die Dinge erzählte, die sie bereits unzählige Male gehört zu haben schien. Sie dachte an das abwesende Lächeln der attraktiven, blonden Kellnerin, die ausschließlich Englisch sprach, kein Wort Deutsch verstand und ihnen gerade ihr zweites und sein drittes Glas Moscow Mule serviert hatte, um dann doch noch an den Mann zu denken, der ihr gegenübersaß.

Ihre Leben hatten sich vor einer knappen Stunde berührt, es war ihr erstes Date, und so wie es aussah, auch ihr letztes. Schon nach den ersten Minuten war für sie klar, dass es nie zu einem zweiten Date kommen würde. Vielleicht redete er deshalb so viel, weil er ihre Begegnung mit möglichst viel Inhalt füllen wollte, in der verzweifelten Hoffnung, in ihrem Leben zumindest irgendeine Spur zu hinterlassen, bevor sie aus seinem verschwand. Ihm selbst fiel es aber wahrscheinlich nicht einmal auf, es war wohl eher eine Verzweiflungstat seines Unterbewusstseins, Leonie hatte ihm schließlich seit Minuten nicht mehr in die Augen gesehen.

Sie wünschte sich, hier jetzt mit dem Mann zu sitzen, der sich in den vergangenen Wochen aus seinen Fotos auf Instagram, seinen Nachrichten auf Facebook und den Google-Suchen nach seinem Namen in ihrem Kopf zusammengefügt hatte. Leider hatte das nichts mit dem Menschen zu tun, der ihr gerade gegenübersaß.

Leonie dachte an verschiedene Dinge auf einmal. Sie dachte daran, dass er sie vor zwei Wochen auf Instagram entdeckt und sofort begeistert hatte, und daran, wie sie sich jeden Abend stundenlang Nachrichten geschrieben hatten. Sie dachte an die Vertrautheit, die da war, bevor sie überhaupt ihre Stimmen kannten. Sie dachte daran, wie sie gegenseitig ihre Fotos geliket und kommentiert hatten, um dem anderen zu zeigen, dass sie gerade aneinander dachten. Sie dachte an ihr Lächeln, wenn sie einen Blick auf ihr Handy geworfen und eine Nachricht von ihm auf dem Display geleuchtet hatte, und sie dachte daran, dass er Teil ihres Leben geworden war, bevor sie sich überhaupt begegnet waren, und dann dachte sie noch, dass das alles eine Illusion war, dass diese makellose Version eines Mannes in ihren Gedanken viel mehr mit ihr zu tun hatte als mit ihm selbst. Das waren die Liebesgeschichten unserer Zeit, dachte sie, sie fanden in den Köpfen statt, aus der Ferne einer virtuellen Distanz, und sie endeten, wenn man sich in der Wirklichkeit begegnete, sie endeten, bevor sie überhaupt beginnen konnten.

Es lag wohl daran, dachte sie, dass man bei jedem Date aus der leuchtenden Projektion heraustrat, aus diesem künstlichen Zauber, den man so sorgfältig um sich selbst entworfen hatte. Wenn sie ihr morgendliches Spiegelbild mit den vorteilhaft fotografierten Porträtbildern verglich, die sie selbst auch postete, fragte sie sich, ob einen das Leuchten noch umgab, wenn man sich traf, ob es für den anderen überhaupt noch wahrnehmbar war oder ob derjenige sich plötzlich in der Gegenwart eines farblosen Menschen wiederfand, der nur noch aus blassen Resten dieser strahlenden Figur bestand. Wenn man sich zum ersten Mal in der Wirklichkeit begegnete, war das immer ein Kampf gegen das Bild, das man von sich gezeichnet hatte. Der Mann ihr gegenüber hatte diesen Kampf verloren, dachte Leonie.

Vielleicht lag es ja an der Odessa Bar, in der sie sich immer mit ihren Dates traf, dachte Leonie, oder an den Moscow Mules, die sie immer tranken, als wäre es ein ungeschriebenes Gesetz, bei Dates in der Odessa Bar Moscow Mule zu trinken.

Er hieß Paul und sah aus, wie sie gerade alle aussahen. Ein hübsches, unrasiertes Gesicht, dazu ein ausgewaschenes T-Shirt, dessen weiter Kragen eine unbehaarte Brust freilegte und auf dem das Cover des Joy-Division-Albums Unknown Pleasures abgebildet war, von dem Paul wahrscheinlich noch nie etwas gehört hatte; dazu Converse-Schuhe und diese unvorteilhaft geschnittenen Jeans, die jetzt alle trugen. Sein volles Haar wirkte störrisch und ungepflegt, aber so oft, wie er sich ein wenig zu bewusst durch sein Haar fuhr, war offenbar auch diese vermeintliche Nachlässigkeit Teil eines ästhetischen Gesamtkonzepts.

Paul fand alles »mega«, und er war in der Lage, das Wort in jedem zweiten Satz unterzubringen, was in seiner Konsequenz schon beeindruckend war. Das Wort wirbelte in Leonies Kopf, während Paul von Bars, Clubs und Partys erzählte und davon, auf welchen Gästelisten er stand. Es klang alles so bekannt, so austauschbar, als hätte er sich mit ihren Dates der letzten Wochen und Monate abgesprochen. So gesehen hätte Paul auch Frederick, Jakob oder Raphael heißen können, so hießen die Männer, mit denen sie sich vor ihm getroffen hatte. Sie wurden sich immer ähnlicher, ihr Aussehen, die Dinge, die sie erzählten, als wären sie geklont. Variationen desselben Themas. Abziehbilder. Sie musste an ihre Freundin Alena denken, die auf Facebook ihre Dates der letzten Zeit mit dem Post »tired of meeting the same people in different bodies« zusammengefasst hatte.

Sie hörte Pauls Gerede zu, wie man einem belanglosen Popsong im Radio zuhört. Ein harmloses Plätschern, dem man keine Aufmerksamkeit schenken musste, konturlos und nichtssagend – ein Hintergrund­rauschen, um das anhaltende Gefühl des Alleinseins zu betäuben. Da saß sie nun vor Pauls hübschem, leerem Gesicht Paul und stellte sich vor, jemand würde ihn einfach austauschen, während sie auf der Toi­lette war. Man nahm den einen einfach weg und setzte einen anderen dafür hin. Wahrscheinlich würde sie es nach ihrer Rückkehr nicht einmal bemerken, sie würde weiterhin an den richtigen Stellen nicken und weiterhin interessiert wirken.

»Alles gut?«, hörte sie Paul fragen, der auch Frederick, Jakob oder Raphael heißen konnte.

Alles gut! Eine Floskel, die sie hasste, vielleicht weil sie gerade alle benutzten, als hätten sie sich abgesprochen. Die neue deutsche Floskel, auf die sich alle einigen konnten. Eine Floskel, die oft in einem hastigen, abwesenden Tonfall ausgesprochen wurde, der erzählte, dass gar nichts gut war, und dass es auch nicht unbedingt so aussah, als würde sich das in nächster Zeit ändern, eher, dass es schlimmer werden würde. So gesehen war »Alles gut« die passende Metapher, sie fasste alles zusammen.

»Alles gut, alles gut«, sagte sie schnell und zwang sich zu einem Lächeln. Paul zündete sich eine Parisienne an, die Zigarettenmarke, die in Berlin jeder rauchte, der sich für kreativ oder intellektuell hielt. Sie war von Klischees umgeben, dachte sie, griff nach dem Glas und nahm einen großen Schluck, während Paul so bewusst an seiner Zigarette zog, wie er sich durchs Haar fuhr, und einen kurzen Moment lang war Leonie sich wirklich nicht sicher, ob er nicht doch Frederick, Jakob oder Raphael hieß. Alles gut, dachte sie dann noch einmal. Es war niemals alles gut. Leute wie dieser Paul waren das beste Beispiel.

Seine Geschichte hatte in seinen Nachrichten so schön geklungen, aber jetzt klang sie einfach nur belanglos und austauschbar. Er war ausgebrochen, aus der Enge eines vernünftigen Lebens, in dem man tat, was von einem erwartet wurde. Er war hierhergekommen, um sich neu zu erfinden und ein Leben auszuprobieren, das ihm näher war. Das war ein Gedanke, der ihr gefallen hatte, vielleicht weil sie Berlin ebenfalls mit diesem Gefühl verband, zumindest damals, ganz am Anfang. Auf den Rat seiner Eltern hin hatte er, weil er so gut mit Zahlen umgehen konnte, zuvor eine Ausbildung zum Bankkaufmann begonnen und auch abgeschlossen. Dann aber war er gegen den Willen der Eltern nach Berlin gezogen, um sich seiner Musik zu widmen. Dass das alles zum Klischee verkommt, könnte natürlich an Paul liegen, dachte sie, dem Einzelkind, und daran, dass ihm seine Eltern trotz ihrer Vorbehalte viel Geld überwiesen, damit er seinen Traum verwirklichen konnte, und sicherlich auch daran, wofür er ihr Geld ausgab, seitdem er sich in der Berliner Feierszene verfangen hatte. Ihm ging es wie vielen, die von dem hedonistischen Sog des Berliner Nachtlebens erfasst worden waren, die Ziele verschoben sich, reduzierten sich. Der Tag wurde zu der unbedeutenden Zeit zwischen den Nächten. Sie nahmen Speed, Ketamin oder Liquid Ecstasy, diesen ganzen Dreck, für jedes Jahr eines solchen Lebenswandels konnte man wohl gut fünf Jahre Lebenszeit abziehen. So gesehen würde ihre Generation nicht alt werden. Sie trugen das Geld ihrer Eltern in die Stadt, die keine Ahnung hatten, was für ein Leben sie da finanzierten. Die meisten wurden DJs, die nie auflegten, oder sie arbeiteten an den Bars, Kassen oder Garderoben irgendwelcher Clubs, um das Gefühl zu haben, irgendwie mitzumachen. Paul war einer dieser DJs.

Leute wie er gingen am Freitagabend in irgendwelche Clubs, die sie am Dienstagmorgen wieder verließen. Sie hatte das nie verstanden. Keine zwei Nächte hielt sie durch, nicht mal in ihrem Alter, obwohl sie im Kater Blau schon eine Nacht erlebt hatte, in der sie beinahe in eine andere Zeitebene geglitten war. Am Sonntagnachmittag, der für sie gefühlt ja noch ein Samstagabend gewesen war, hatte sie das Gelände dann schnell verlassen. Grund war ein Mann, der sie mit weit aufgerissenen Augen gefragt hatte, ob heute Freitag sei. Auf ihre Antwort hin, dass es Sonntagnachmittag war, hatte er verzweifelt gelacht und war Richtung Spreeufer gerannt, hoffentlich nicht, um Selbstmord zu begehen, ein Gedanke, der gar nicht so abwegig war, wenn man seinen Zustand berücksichtigte.

Das war das Gefährliche an dieser Stadt, dachte sie dann. Man konnte jeden Tag ausgehen, jeden Tag feiern und seine Ziele aus den Augen verlieren. Sie alle kamen in die Stadt mit dem Gefühl, sie zu erobern, und irgendwann stellten sie fest, dass die Stadt sie erobert hatte.

»So«, sagte Paul und leerte sein Glas, bevor er aufstand. »Bin gleich wieder da. Wo ist denn hier die Toilette?«

»Ich glaub, in die Richtung«, sagte sie, obwohl sie es wusste.

»Okay, bis gleich.«

Leonie nickte lächelnd. Als er verschwunden war, hatte sie das Gefühl, endlich wieder frei atmen zu können. Sie griff nach ihrem Handy und wünschte sich mit einer Flasche Rotwein zu Annelie auf ihren gemeinsamen Balkon, von dem man diesen atemberaubenden Blick über den Helmholtzplatz hatte.