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BLITZ-Vorschau


Band 21


Sherlock Holmes

und der stumme

Klavierspieler


von

Klaus-Peter Walter



Originalveröffentlichung

DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS
SHERLOCK HOLMES


In dieser Reihe bisher erschienen:


3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi

3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick

3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler

3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer

3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer

3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt

3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson

3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson

3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt

3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle

3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn

3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler


Michael Buttler


SHERLOCK HOLMES
und das Geheimnis von Rosie‘s Hall


Basierend auf den Charakteren von
Sir Arthur Conan Doyle




Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag, www.blitz-verlag.de, in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt bis zu einer Höhe von 23 %.


© 2017 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-95719-219-6


Michael Buttler wohnt mit seiner Familie und zwei Katzen im Rhein-Main-Gebiet. Er arbeitet als Bankkaufmann bei einem Kreditinstitut.

Anthologien, an denen der Autor beteiligt war, wurden verschiedentlich für den Deutschen Phantastik-Preis nominiert. Im Jahr 2012 war er mit einer Geschichte in dem Buch vertreten, das den ersten Preis gewann.

Zwei seiner historischen Kriminalromane spielen zur Zeit Johann Wolfgang von Goethes in Weimar, weshalb Buttler sie seine ­Goethe-Krimis nennt: Die Bestie von Weimar und Der Teufelsvers.

Im BLITZ-Verlag erschien bisher Sherlock Holmes und die indische Kette.

Auf Anfrage steht der Autor gern für Lesungen zur Verfügung.

www.michael-buttler.de



Kapitel 14


Auch der nächste Tag wurde von der Sorge um Sherlock Holmes bestimmt. Ich wusste nicht mehr weiter. Während Clifford den Kamin im Salon säuberte, lief ich in der Diele auf und ab und wusste nichts Rechtes mit mir anzufangen. Es verlangte mich nach dem hervorragenden Brandy, der in der Bibliothek stand, doch es war noch zu früh.

Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor zwölf am Mittag. Beim nächsten Mal war es zwei Minuten später. Dann noch einmal drei Minuten. So ging das heute schon seit dem Aufstehen. Gestern war wenigstens noch viel zu tun gewesen: die Polizei, die Kinder, die ganze Aufregung.

Nach geschätzten fünfzig weiteren Blicken auf die Uhr, was bedeutete, es war zwei Uhr am Nachmittag, spielte ich mit dem Gedanken, Skinny und seine Frau zu besuchen. Sicherlich waren die Geschehnisse um Rosie’s Hall bis nach Brixford getragen worden. Ein anregendes Gespräch, bei dem ich sicherlich zahlreiche Fragen zu beantworten hätte, was den Ablauf der Geschehnisse betraf, war sehr verlockend.

Auf dem Weg zu meinem Zimmer, in dem ich mich für den Spaziergang nach Brixford fertig machen wollte, lief mir Clifford in die Arme.

„Ich glaube, die Kamine waren seit dem Bau des Hauses nicht mehr so blank gewienert wie heute“, begrüßte er mich. Er hatte im ganzen Haus mit Besen und Putzzeug gewütet und sich von seinen Sorgen abgelenkt. Diese Tätigkeit widerstrebte mir dermaßen, dass ich dieses Territorium sehr gern meinem Freund überließ. „Leider bin ich nun fertig.“

„Was hast du vor?“, fragte ich.

„Dieser Mensch vom Ministerium“, begann er und ich wusste genau, wen er meinte. Mr Degenhardt, ein Mann mit deutschen Urgroßeltern, wie ich auf Nachfrage von einem seiner Kollegen erfuhr, war der Leiter der kleinen Kommission, die Rosie’s Hall und seine Umgebung praktisch umgekrempelt hatten. Er war groß und schmal, hatte dunkle Augen und eine Stimme wie ein Kontrabass.

„Er hat alle Akten mitgenommen“, fuhr Clifford fort.

Ich nickte, denn das wusste ich. Er hatte jedes einzelne Blatt Papier einpacken und auf einen Möbeltransporter schaffen lassen, der dem von Cordmütze nicht unähnlich war. Selbst die Bibliothek war von allem Papier befreit. Als nächstes waren sie zu dem Haus der Birds gefahren, um dort wahrscheinlich genau dasselbe zu tun. Ich dachte an Mr Bird und fragte mich, ob sie auch ihn gleich eingepackt hatten, um ihn in London einer eingehenden Befragung zu unterziehen.

„Meine Existenz“, murmelte er.

„Du bekommst die Sachen wieder, die für die Untersuchung uninteressant sind. Dann kannst du die Geschäfte wieder aufnehmen.“

„Ich mache mir nichts mehr vor. Die Geschäfte haben sich nicht gelohnt. Es wäre nötig zu expandieren. Doch spätestens, wenn in der Zeitung steht, was hier passiert ist, wird keiner mehr mit mir Geschäfte machen wollen.“

Ich nickte. Was auch immer die Kommission herausfinden würde, eines war klar: Die Firma von Cliffords Onkels diente lediglich dazu, um das illegal erwirtschaftete Geld in irgendeiner buchhalterischen Form legal zu machen. Da weder Clifford noch ich Buchhalter waren, hatten wir beide keine Ahnung davon, wie das vonstattengegangen war.

„Was willst du stattdessen tun?“

Er zuckte mit den Schultern. „Irgendwie muss ich meinen Lebensunterhalt verdienen.“

„Du bist doch Arzt. Und wenn ich wieder in London zurück bin, bist du sogar der einzige in dieser Gegend. Warum praktizierst du nicht hier?“

Clifford hob die Arme. „Wegen dem hier. Zuerst glaubten sie, ich sei am Verschwinden der Kinder schuld, jetzt bin ich der weltgrößte Schmuggler.“

„Das glaubt keiner hier.“

„Ich bin der Neue. Ein kleiner Verdacht wird immer bleiben.“

„Hilf diesen Menschen. Erobere einen nach dem anderen für dich und du wirst sehen, bald werden sie dir vertrauen.“

„Ich denke, ich werde zurückgehen.“

„Wohin? Nach Afghanistan?“

Er zuckte mit den Schultern. „In die weite Welt.“

Nun hatten wir einen Grund, uns gemeinsam über den Brandy herzumachen. Wir tranken auf uns, auf unsere Freundschaft und die Zukunft. Und wir tranken auf Holmes.

Als die Welt draußen langsam begann, dunkler zu werden, betätigte jemand die Klingel. Wir sprangen sofort auf und liefen zur Tür, behinderten uns dabei gegenseitig.

Holmes!, dachte ich. Das ist Holmes!

Er war es nicht, sondern ein Postbote.

„Ja bitte?“, fragte Clifford.

Der Mann draußen hielt ihm eine zusammengefaltete Zeitung hin.

„Ich habe nicht abonniert.“

„Ich soll das nur vorbei bringen“, erwiderte der Mann.

„Aber ich kann doch nicht ...“, begann Clifford, doch ich kam ihm zuvor, nahm dem Postboten die Zeitung ab und gab dem Mann ein Trinkgeld. Der tippte mit zwei Fingern gegen den Rand seiner Mütze, nickte uns zu und wandte sich um. Ich schloss die Tür.

„Warum hast du das gemacht? Es handelt sich bestimmt um eine Verwechslung.“

„Geh ans Fenster und beobachte den Burschen“, wies ich Clifford an.

„Warum?“

„Ist in den letzten Tagen nicht genug Seltsames geschehen? Das steht vielleicht in einem Zusammenhang mit den Schmuggelgeschäften deines Onkels. Ich ziehe meine Schuhe an, um ihn zu verfolgen.“

„Also gut.“

Clifford stellte sich ans Fenster. Ich rannte die Treppe nach oben.

„John!“

„Ja?“ Ich hielt inne.

„Er ist weg.“

„Bitte?“

„Nicht mehr zu sehen. Weg.“

Ich rannte wieder hinunter, stellte mich neben Clifford und schaute auf die leere Wiese.

„Das kann nicht sein“, murmelte ich.

„Es ist aber so.“

„Die anderen Fenster“, rief ich. Wir verteilten uns. Schauten in alle Himmelsrichtungen, doch der Postbote blieb verschwunden.

In der Küche legte ich die Zeitung auf den Tisch und entfaltete sie. „Schauen wir mal, was er uns gebracht hat“, kommentierte ich mein Vorgehen.

Es handelte sich um die Morgenzeitung. Aus London!

MITGLIEDER DES HOUSE OF LORDS FESTGENOMMEN, stand in großen Lettern auf der ersten Seite. Ich fragte mich, was wohl dahinter steckte, blätterte aber weiter. Was würde ich wohl finden? Vielleicht einen Hinweis auf Holmes Verbleib?

GROSSER COUP DER ROYAL NAVY prangte mir die Überschrift eines Kommentars auf Seite drei entgegen. Ich legte die Zeitung wieder zusammen und blätterte sie von hinten auf. Die kleinen Details beachten, das hatte Holmes mir beigebracht.

„Was suchst du?“, fragte Clifford.

„Den Anzeigenteil. Dort verstecken sich oft die aufschlussreichsten Hinweise. So manche zwielichtige Gestalt verschlüsselt seine Botschaft in Form eines einfachen Inserates. Man muss nur wissen, wonach man sucht.“

„Warum sollte uns jemand einen Hinweis in einer Zeitung drucken, die wir nicht abonniert haben?“, fragte Clifford.

„Vielleicht ist die Nachricht gar nicht für uns gedacht. Jemand ist aber der Meinung, sie könnte uns interessieren“, antwortete ich.

„Wenn dieser Jemand glaubt, uns informieren zu müssen, dann wäre es doch einfacher, uns einen Brief zu schreiben, nicht wahr?“

Diesmal erwiderte ich nichts. Ich musste mich ganz auf die Inserate konzentrieren. Hier: Repariere Kutschen jeder Art, damit Sie schnell sind wie der Wind. Es folgte eine Adresse in Stratham. War dies das Zeichen einer Bande, dass alle Mitglieder möglichst bald das Weite suchen sollten?

Kleinaufträge aller Art werden angenommen. Dahinter stand ein Chiffre. Welche Kleinaufträge? Illegale Machenschaften vielleicht?

„Sie haben vollkommen Recht, Doktor Watson.“

So, so, illegale Machenschaften also.

„Mister Holmes!“, rief Clifford.

Ich schaute hoch, sah meinen Freund, der mit verschränkten Armen am Türstock lehnte und grinste. Er grüßte mich, indem er mit einer Hand an seine Mütze tippte. Die Mütze eines Postboten! In der anderen hielt er einen falschen Bart und eine Perücke.

„Holmes!“, rief ich. „Geht es Ihnen gut?“

„Ausgezeichnet, meine Herren.“

„Warum diese Maskerade, Holmes? Wollen Sie uns zum Besten halten?“

„Ich gebe zu, mein lieber Watson, dass ich zurzeit ein besonderes Hochgefühl verspüre, wie selten zuvor. Das hat mich möglicherweise ein wenig übermütig werden lassen.“ Er neigte den Kopf. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung.“

Ich winkte ab. „Ach was! Ich bin froh, Sie so munter vor mir zu sehen. Wo haben Sie nur so lange gesteckt?“

„Die Morgenzeitung berichtet bereits darüber. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis alle anderen nachziehen.“

Ich hielt die bedruckten Blätter hoch. „Aber wo?“

„Schauen Sie auf die Titelseite.“

„Was? Nicht in die Inserate?“

Holmes schüttelte den Kopf. „Keine versteckten Botschaften, mein lieber Watson. Diesmal nicht. Deshalb muss ich unserem Gastgeber recht geben.“

„Bitte?“

„Ich komme auf Ihre Unterhaltung mit Dr. Smith zurück. Es wäre einfacher, einen Brief zu schreiben, anstatt Ihnen eine ganze Zeitung zukommen zu lassen, mit der Sie nichts anzufangen wissen.“

„Holmes!“

„Sie müssen also nicht den Beleidigten mimen, mein lieber Watson.“

Ein wenig gekränkt gab ich keine Antwort. Stattdessen fragte ich: „Wie konnten Sie so schnell vom Erdboden verschwinden?“

„Das bin ich gar nicht. Ich stand direkt hinter der Tür. Sie haben angenommen, ich sei schon wieder auf dem Rückweg. So, wie Sie bei der Zeitung das Offensichtliche übersehen haben, nämlich die große Schlagzeile, haben Sie auch hier nur das sehen wollen, was Sie zu sehen erwarteten.“

„Ist das eine Lektion, Holmes?“

„Wenn Sie es so nennen wollen.“

„Meine Herren!“, fuhr Clifford dazwischen. „Ich schlage vor, wir begeben uns in den Salon. Dort ist es bequemer, und Sie können uns aus erster Hand alles erzählen, Mister Holmes.“

„Sehr gern.“

„Und außerdem steht dort der vorzügliche Brandy meines Onkels. Bevor die Behörden dieses Anwesen beschlagnahmen werden, um Zölle, Steuernachzahlungen, die Ermittlungskosten und eventuelle Strafgelder einzuziehen, sollten wir uns den guten Tropfen lieber selbst schmecken lassen.“

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und gingen nach oben.

„Nun, Holmes?“, fragte ich, als jeder von uns mit einem bequemen Sitzplatz und einem Glas Brandy versorgt war. „Wo waren Sie die ganze Zeit?“

„Würden Sie die Zeitung lesen, so wären Sie recht bald im Bilde.“

„Ein Bericht aus Ihrem Munde wäre mir lieber. Dir sicherlich auch, nicht wahr, Cliff?“

„Selbstverständlich ist eine persönliche Erzählung immer der nüchternen Kolportage eines Journalisten vorzuziehen“, sagte Clifford.

„Also gut.“ Holmes stopfte sich die Pfeife. „Da ich weiß, dass alle an diesem Fall kriminell Beteiligten hinter Schloss und Riegel sitzen, habe ich tatsächlich Muße, Ihnen persönlich meine Erlebnisse zu berichten. Misses Bird und Fool Mick haben Sie dem Constable übergeben, wie ich erfahren habe“, erklärte Holmes.

Natürlich wusste er immer über alle relevanten Details eines Falles Bescheid. Wahrscheinlich hatte er Kontakt mit der Polizei aufgenommen, um sich zu informieren. Und wie um meine Vermutung zu bestätigen, sagte er: „Beide sind mittlerweile nach London überführt worden. Fool Mick hat gestanden, Ihren Onkel getötet zu haben.“ Holmes schaute zu Clifford. „Ich habe das schon lange vermutet, denn dass jemand mit seiner Statur Ihren Onkel nach oben trägt, ist schlicht unmöglich. Dazu muss ich nicht einmal dessen Körpergewicht kennen. Aber das hätte die hiesige Grafschaftspolizei selbst herausfinden können. Eine Wunde am Hinterkopf, nach einem Sturz von den Klippen auf ein Riff“, Holmes schüttelte den Kopf. „Er hat ihn mit einer Schaufel erschlagen, als sie in einem Streit über die Verteilung der Beute gerieten.“

„An dem Abend, als ich ankam und in der Kapelle übernachtete, da hörte ich ein Geräusch. Es war Fool Mick, das ist sicher. Er hielt sich im hinteren Bereich der Kapelle auf, dort wo die Kisten hinaufgezogen wurden, während ich mich zur Nachtruhe legte.“

„Er verbrachte selbst häufig die Nacht dort, denn er ist obdachlos. Zwischendurch nutzte er die Gelegenheit, ein Fenster einzuwerfen, um Mister Smith einzuschüchtern. Als er auf Sie stieß, Watson, da machte er sich aus dem Staub.“

„Und Pete Palmer hat tatsächlich seine Tochter vermisst.“

„In der Tat, Watson. In diesem Fall hat er es ehrlich gemeint.“

„Auch wenn er ein bisschen Geld nebenbei mit seiner Sorge verdient hat“, sagte Clifford und berichtete von der Vereinbarung, die er gegen Geld mit Pete Palmer getroffen hatte.

Ich dachte an die Auseinandersetzung in Skinnys Pub und zog gedanklich meinen Hut vor diesem Kerl. Er hatte damals sehr berechnend mit mir den Streit angefangen.

„Mister Bird hat von den Machenschaften seiner Frau nichts mitbekommen“, murmelte ich.

„So ist es, mein lieber Watson. Er war ahnungslos, hat bis zum Verschwinden der Jungen hart gearbeitet und wenig verdient, während seine Frau mehr wollte. Erinnern Sie sich, als wir das Telegramm nach Scotland Yard aufgegeben haben?“

Ich nickte.

„Misses Bird war vor uns dran. Ich konnte die Nachrichten, die der gute Mann in Morsezeichen nach London übertrug, mithören. Sie gab eine Bestellung für Möbel auf.“

„Möbel, Holmes?“

„Ja, sie wollte weg aus Brixford. Sie wollte in eine große Stadt. Die zweite Nachricht betraf eine Bestätigung für einen Makler. Sie bezog sich auf einen Hauskauf in London.“

„Aber die Schmuggler und Cordmütze sind bislang davongekommen“, entfuhr es mir. „Vor allem die Seeleute können wir wohl abschreiben.“

„Da irren Sie, mein lieber Watson.“

„Ach?“

„John!“, ermahnte Clifford mich. „Lass Mister Holmes doch reden.“

Ich war zu ungeduldig, das wusste ich. Und genau diese Ungeduld verzögerte Holmes’ Erläuterungen. Also erwiderte ich nichts und nippte nur leicht beschämt an meinem Brandy.

„Die Royal Navy folgte meinem Rat und kreuzte vor der Küste. Ich bat sie, jedes Schiff und jedes Boot an die Küste durchzulassen, es aber bei der Rückfahrt streng zu untersuchen. Das Schiff eines Kapitäns, der sich selbst Javed Redhead nennt, wurde dabei aufgebracht.“ Holmes erzählte das so beiläufig, als erklärte er, wie man am besten einen Apfel schälte. „Dieser Javed Redhead ist übrigens ein Bewunderer des Erbauers von Rosie’s Hall. Aus diesem Grund imitierte er ihn. Sie haben ihn gesehen, Watson?“

Ich nickte.

„Ist Ihnen an ihm etwas aufgefallen?“

„Es handelt sich bei ihm um den Pygmäen“, erwiderte ich. „Mister Smith’s ehemaliger Diener, der eine neue Berufung gefunden hatte. Er war derjenige, der die Jahre zuvor geholfen hat, den Kisten auf der Rampe, die wir beide nur zu gut kennen, auf dem Weg nach oben zu helfen.“

„So ist es. Der neue Javed Redhead hat sich vom Diener zum Schmuggler hochgearbeitet, wenn Sie mir diese bildliche Sprache verzeihen. Es hat Probleme mit seinem Vorgänger gegeben, sodass Mister Smith reagierte und seinen Vertrauten in diese Position beförderte. Weil Mister Smith nun einen Ersatz für den günstigen Transport der Kisten auf der Rampe benötigte, ist es möglich, dass die Kinder auch verschwunden wären, wenn er noch gelebt hätte.“

Nun war es Clifford, der nicht mehr an sich halten konnte und dazwischen fuhr. „Die Royal Navy hört einfach so auf Ihren Rat?“

„Ich habe Admiral Taggard vor einigen Jahren einen guten Dienst erwiesen. So war es ein Leichtes, ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, meinem Rat zu folgen“, erklärte Holmes.

„Also haben Sie gewusst, dass ein Schiff kommen würde?“, wollte ich wissen.

„Es war die einzig logische Schlussfolgerung, nachdem wir die Höhle besucht hatten. Und so habe ich, als Sie sich auskurierten, ein Telegramm an den Admiral geschickt.“

„Jetzt würde ich aber doch gern wissen, wo Sie die ganze Zeit gesteckt haben“, meinte ich.

„Ah ja“, Holmes zog an seiner Pfeife. Der beißende Rauch seines Tabaks, der in jeder Seefahrerspelunke mithalten konnte, erfüllte den Raum. Ein wohliges Gefühl machte sich in mir breit. Ich fühlte mich fast wie zu Hause.

„Um auf den Mann, den Sie Cordmütze nennen, zurückzukommen“, fuhr Holmes fort, „kann ich Sie beruhigen. Auch er konnte dingfest gemacht werden.“

Das überraschte mich mittlerweile überhaupt nicht mehr.

„In einem günstigen Moment, als Doktor Smith“, er nickte Clifford zu, „damit beschäftigt war, die ersten Kisten nach oben zu ziehen, und ein gewisser Cordmütze mit seinen Leuten noch die Rampe, die das Verladen auf dem Fuhrwerk erleichtern sollte, aufstellte, schaute ich unbemerkt in die ersten beiden Kisten, die zum Verladen bereitstanden.“

„Ein schlimmer Anblick, nicht wahr?“, entfuhr es mir.

„Es handelte sich um Mädchen, die unter Drogen standen“, erwiderte er sachlich. „Aber das wissen Sie bestimmt selbst. Ich nahm unbemerkt eine leere Kiste vom Stapel und platzierte sie so, dass Cordmützes Helfer denken mussten, sie sei gefüllt. Dann stieg ich selbst hinein.“

„Du lieber Himmel!“, rief ich aus. „Damit haben Sie sich einer großen Gefahr ausgesetzt!“

„Habe ich das? Ich glaube nicht.“

„Sie hätten zu diesem Zeitpunkt doch einfach den Constable holen können.“

„Dann hätten wir nur die Laufburschen erwischt, nicht aber die Hintermänner. Leute wie Cordmütze sind nur, um im entsprechenden Jargon zu sprechen kleine Fische. Mich interessierten die Leute, die hinter alldem steckten. Wir wurden in Kingsbridge in einen Zug geladen. Ich hörte, wie Cordmütze uns als Kunstgegenstände deklarierte. Der Bahnhofsvorsteher und er waren sich natürlich aus vergangenen Gelegenheiten bekannt. So wurden wir nach London verfrachtet. Jemand nahm uns dort in Empfang und brachte uns in ein Lagerhaus. Leider konnte ich mich dort nicht umsehen. Wenigstens zwei weitere Kisten wurden auf meine gelegt. Ich war also gefangen, bis sich wieder etwas tun würde.“

„Und die ganze Zeit mussten Sie steif wie ein Brett in dieser Kiste ausharren.“ Ich überschlug die Größe der Kisten und die Länge meines Freundes. „Mit angezogenen Beinen“, ergänzte ich.

„Sie müssen doch Angst bekommen haben“, warf Clifford ein.

„Aber nein, Doktor Smith. Aufgrund der Luftschlitze konnte ich nicht ersticken. Hunger, Durst und anderweitige Bedürfnisse kann ich verdrängen, wenn es die Situation erfordert.“

„Beeindruckend“, lautete Cliffords Urteil. Und das war es in der Tat.

„Außerdem war zu erwarten, dass es nicht lange dauern konnte, bis die Reise weiter ging. Auch wenn die Menschen, die transportiert wurden, unter Drogen standen, damit sie alles friedlich über sich ergehen ließen, würde die Wirkung irgendwann nachlassen. Und letztendlich handelte es sich schließlich um verderbliche Ware.“

Holmes machte eine Pause. So konnten wir diesen Begriff einen Moment auf uns wirken lassen. Er hob noch einmal die Ungeheuerlichkeit hervor, mit der wir es zu tun hatten.

„Tatsächlich dauerte es knapp zwei Stunden, bis es weiter ging.“

Clifford war sichtlich überrascht. „Sie konnten Ihre Uhr erreichen und sie vor den Luftschlitz halten, um die Zeit zu erkennen?“

„Aber nein, Doktor Smith. Ich zählte die Sekunden.“

Clifford nickte mit offenem Mund.

„Die Packer, die uns nun verluden, hatten offensichtlich keine Ahnung, was sie in Wirklichkeit transportierten. Man hatte uns erneut umdeklariert, um die Spur endgültig zu verwischen. Die Männer dachten, sie lieferten schwere Stoffe und Teppiche aus Indien. Eine geniale Idee, denn das erklärte auch die Luftschlitze. Sie sollten verhindern, dass die Stoffe nach der langen Überfahrt muffig rochen.“

„Wo wurden Sie hingebracht?“, wollte ich wissen. Meine Ungeduld war kaum zu kontrollieren, während sich Holmes über die Vorteile einer ausreichenden Belüftung für Stofflieferungen ausließ!

„Ich wurde an Lord Botton geliefert.“

„Lord Botton? Der Lord Botton?“

„Ja, Lord Botton aus dem Oberhaus, dem House of Lords. Er hat einen hübschen Landsitz außerhalb Londons, der ...“

„Holmes! Was geschah weiter?“

Mein Freund machte ein sauertöpfisches Gesicht, kam aber meiner Bitte nach.

„Lord Botton ließ mich in der Kiste in den Keller seines Hauses schaffen. Ich hörte einige Stimmen, Frauen und Männer. Um mich herum herrschte eine große Anspannung und Vorfreude. Es folgte eine Ansprache Lord Bottons, deren Inhalt ich nicht wiedergeben möchte. Es war zu ekelerregend. Man stieß mit Gläsern an. Es wurde getrunken. Es wurde geklatscht. Ich befand mich mitten in einer Feier. Und die Kiste, respektive deren Inhalt, wurde genau zu dieser Stunde erwartet. Schließlich hob man den Deckel und spähte hinein.“

Holmes verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln.

„Sie hätten die Gesichter sehen sollen, meine Herren. Noch etwas steif in den Knochen erhob ich mich langsam und schaute in die Runde. Es waren drei Paare anwesend, alle auf eine skandalöse Art und Weise leicht bekleidet. In der Mitte des Raumes stand ein mit Wasser gefüllter Badezuber. Ich nehme an, das arme Geschöpf, dass man der Kiste entnommen hätte, wäre zuerst gebadet worden, bevor man ...“

Holmes’ Stimme versagte während der Erzählung. Es war das erste Mal, dass ich so etwas erlebte. Nach einer kurzen Pause und einem Schluck Brandy konnte er weiter reden.

„Während die Damen zu kreischen begannen, knöpfte ich mir die Herren vor. Mit gezielten Schlägen setzte ich sie außer Gefecht. Nur Lord Botton verschonte ich vor der Ohnmacht. Ich schnappte ihn beim Schlafittchen und zog ihn, so wie er angezogen war, nach oben und hinaus auf die Straße bis zum nächsten Polizeirevier. Seine Diener trauten sich nicht, einzugreifen. Ich schätze, man sah meinem Gesicht an, dass ich zu allem entschlossen war.“

„Lord Botton“, sagte ich fassungslos.

Holmes deutete auf die Zeitung. „Dieser Artikel ist nur der Anfang. Hätte ich Ihren Mister Cordmütze gleich festgesetzt, dann wären die Herren, von denen wir in den nächsten Tagen noch hören werden, fein aus der Sache heraus gewesen. So aber konnten sie mir nicht entkommen. Scotland Yard ermittelt nun weiter, nimmt die Hierarchie der Organisation auseinander. Die Reporter der Tagespresse werden ihr Übriges dazu beitragen.“

„Wer konnte neben Lord Botton bis jetzt entlarvt werden?“, fragte ich mit kratziger Stimme.

Holmes nannte ein paar Namen. Jeder ließ, glaube ich, meinen Unterkiefer noch weiter hinab fallen, meine Augen noch größer werden.

„Auch Ihr Mister Cordmütze wurde bereits aufgespürt. Es handelt sich bei ihm um den Butler von Lady Regina.“

Nun wäre ich fast von meinem Sitz gerutscht. Lady Regina war bekannt dafür, dass sie sich gegen die Unterdrückung der Ureinwohner in den Kolonien hervortat.

„Sie hat doch hoffentlich nichts von der Nebentätigkeit Ihres Butlers gewusst?“ Eigentlich kannte ich die Antwort selbst. Niemand konnte sich so verstellen, dass er an einem Tag ein Butler aus feinem Hause war und am anderen der Handlanger in finsteren Geschäften.

„So, wie es momentan aussieht, ist Lady Regina möglicherweise der Kopf der Organisation.“ Holmes hob die Hand. „Aber Sie wissen ja, wie ich zu voreiligen Schlüssen stehe. Die letzte Gewissheit fehlt, doch ich bin sicher, selbst Scotland Yard wird den Rest der Angelegenheit aufdecken können. Und wenn nicht, nun, dann haben wir immer noch unsere tüchtige Presse, nicht wahr?“

Eine Weile herrschte Schweigen. Ich war so voller Entsetzen über die Informationen, von denen Holmes uns berichtet hatte, dass mein Denken gelähmt war. Clifford erging es ähnlich. Seine Gesichtsfarbe war aschfahl.

„Die ...“, Clifford brach ab und begann von neuem. „Ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll, aber wurden denn alle Menschen, die auf diese Weise eingeschmuggelt wurden, gerettet?“

„Menschen, Doktor Smith, so könnte man sie bezeichnen. Aber bis vor kurzen waren sie für einige Damen und Herren der britischen Gesellschaft nicht mehr als Sklaven. Ja, wir haben sie alle gefunden und noch einige mehr, die schon eine Weile in England in Kellern ausharren mussten. Leider gab es auch Leichenfunde.“

„Ich fürchte um die Leben derer, die bei den Mitgliedern der feinen Gesellschaft ihr Dasein fristen, die noch nicht überführt wurden. Es liegt nahe, dass jemand versuchen wird, Beweise verschwinden zu lassen“, schlussfolgerte Clifford.

„Watson, bitte lesen Sie den letzten Satz des Artikels auf Seite eins der Morgenzeitung“, bat Holmes.

Ich nahm die Zeitung und fand den Satz. Er war fett gedruckt.

„Jeder, der sich an den armen Kreaturen vergreift, insbesondere Ihnen das Leben raubt, um die eigene Haut zu retten, dem ist der Galgen sicher“, zitierte ich und nickte. Mehr konnte man fürs Erste nicht tun.

„Hoffen wir, dass das ausreicht“, meinte Clifford.

„Für mich gehören alle Beteiligten dieser Organisation an den Galgen“, sagte Holmes. In seiner Stimme war nichts mehr von dem Hochgefühl zu spüren, von dem er uns vor ein paar Minuten erzählt hatte. „Denn sie haben die Leben von Menschen zerstört, um ihre niedere Lust zu befriedigen.“



Epilog


Wir blieben noch drei Tage bei Clifford, statteten Skinny und seiner Frau noch einen Besuch ab und gingen viel spazieren. Das brauchten wir, um letztendlich mit der Ungeheuerlichkeit, mit der wir es zu tun hatten, fertig zu werden.

Die befreiten Sklaven wurden als Zeugen vernommen und anschließend auf Kosten ihrer Peiniger wieder nach Hause gebracht. Es handelte sich bei Ihnen um Jugendliche und Kinder aus Ägypten und Aden.6

Die Finger der Organisation reichten bis in die britische Verwaltung dieser beiden Standorte. Einflussreiche Männer sorgten allerdings dafür, dass die Zerschlagung der Organisation keine weitere Presse erhielt. Der Beitrag, den mein Freund Sherlock Holmes hierzu leistete, blieb der Öffentlichkeit unbekannt, wieder einmal.

Dass ich außer den Namen, die bereits in der Presse standen, keine weiteren aufführe, ist kein Zufall. Ich wurde von höchster Stelle eindringlich gebeten, sie nicht zu nennen.

Wie Sie bemerkt haben, lieber Leser, liegen diese Ereignisse schon einige Jahre zurück. Auf eine konkrete Jahreszahl habe ich explizit verzichtet, doch wer die genannten Namen zuordnen kann, der wird herausfinden, dass die Geschehnisse nicht weniger als fünfundzwanzig Jahre in der Vergangenheit liegen.

Das Zurückhalten meiner Berichterstattung über so viele Jahre hinweg war eine Bedingung, der ich mich zu beugen hatte.

Clifford sah ich nach unserem Abschied von Rosie’s Hall nicht wieder. Er begleitete die befreiten Sklaven in ihre Heimat und wollte dort als Arzt für die Armen praktizieren. Es war eine Art Schuld, die er begleichen wollte, weil ein Mitglied seiner Familie so viel Unheil über diese Menschen gebracht hatte.

Rosie’s Hall wurde dem Familienbesitz entzogen. Der Verkaufserlös diente zusammen mit dem Vermögen der anderen beteiligten Personen nach Abzug aller Kosten dazu, den befreiten Sklaven und deren Familien, soweit sie aufzuspüren waren, eine Entschädigung zu zahlen. Holmes nannte es ein Schweigegeld. Es bleibt mir nicht mehr, als meinem Freund zuzustimmen.



Schlusswort des Autors


Als ich mich während eines Urlaubs auf Jamaika mit dessen Geschichte beschäftigte, da stieß ich unweigerlich auf das Thema Sklaverei. Das Britische Empire trägt hier, wie andere Staaten übrigens auch, ein hohes Maß an Schuld und Verantwortung.

Im Britischen Empire wurde der Sklavenhandel 1807 verboten. Es dauerte bis 1834, bis die Sklaverei selbst verboten wurde. Obwohl dieser Zeitpunkt (glücklicherweise) deutlich vor dem Wirken des Meisterdetektivs Sherlock Holmes lag, wollte ich die Sklaverei in einem sherlockianischen Abenteuer verarbeiten. Und wir alle wissen ja: Nur weil etwas verboten ist, heißt das nicht, dass es aus der Welt geschafft wurde.

Der vorliegende Fall ist frei erfunden. Die Organisation, von der die Rede ist, Javed Redhead und alles, was den thematischen Inhalt dieser Geschichte ausmacht, hat es nie gegeben.

Aber mal ehrlich – möglich wäre es gewesen, nicht wahr?



Fußnoten


1 auch Karnataka, Landschaft im Süden Indiens

2 eine pakistanische Provinz

3 Apfelbrand

4 gemeint ist Irene Norton, geborene Adler

5 gemeint ist das Ü, Anm. des deutschen Herausgebers

6 große Stadt im Jemen