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MICHAEL EHLERS

RHETORIK

Die Kunst der Rede
im digitalen Zeitalter

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Alesja Ehlers

Ellis Ehlers

Liv Freya Ehlers

In dankbarer Erinnerung
meinem größten Vorbild:

Klaus Ehlers

Copyright der deutschen Ausgabe 2018:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Covergestaltung: Holger Schiffelholz

Gestaltung und Satz: Bernd Sabat, VBS-Verlagsservice

Herstellung: Daniela Freitag

Redaktionelle Mitarbeiter: Thomas Meyer und André Held

Lektorat: Claus Rosenkranz

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-569-4
eISBN 978-3-86470-570-0

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

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INHALT

Vorwort von Rolf H. Ruhleder

TEIL 1

WER ETWAS ZU SAGEN HAT,
SOLLTE REDEN KÖNNEN

KAPITEL 1: Rhetorik. Die Kunst der guten Rede

KAPITEL 2: Was ist Kommunikation? – Kommunikationsmodelle im Vergleich

Friedemann Schulz von Thun – Vier Seiten einer Aussage

Paul Watzlawick – Fünf Axiome

Paul Grice – Maximen der Kommunikation, oder auch: Lesen Sie zwischen den Zeilen

Das Eisbergmodell

KAPITEL 3: Die Rolle der Rede in Zeiten der Überinformation

KAPITEL 4: Der rhetorische Werkzeugkoffer

TEIL 2

PROFESSIONELLER AUFTRITT
UND SICHER REDEN

KAPITEL 1: Wie Joschka Fischers Rhetorik eine Friedenspartei
vom Kriegseintritt überzeugte

KAPITEL 2: Die Grundlagen der Rhetorik:
Das macht einen guten Redner aus

Vorbereitung (Technikcheck, Publikum und Thema, Veranstalter)

Lampenfieber

Auftreten

Standort einnehmen

Der Einstieg

Einleitungen für eine Rede

Nutzbarer Inhalt („What’s in it for me?“)

Einbeziehen der Zuhörer

Einfühlungsvermögen

Blickkontakt

Gestik und Mimik

Mundart

Atem-, Stimm- und Sprechtechnik

Lautstärke und Modulation

Pausentechnik

Hilfs- und Präsentationsmittel zum freien Reden

Das Ende: Der letzte Eindruck bleibt

TEIL 3

STEUERUNG UND FÜHRUNG
DURCH ANGEWANDTE RHETORIK

KAPITEL 1: Mit Worten führen

KAPITEL 2: Führungsmodelle im Vergleich

Das Harzburger Modell

Das St. Galler Management-Modell

KAPITEL 3: Eine Führungskraft muss führen – aber wie?

Motivation durch zielführende Kommunikation

Mit den fünf Motivationstypen nach Prof. Dr. Werner Correll Menschen richtig einschätzen

Delegieren will gelernt sein

Das Verhältnis von Stressstabilität und Einfühlungsvermögen

Professionell Feedback geben und nehmen

Das Mitarbeitergespräch

Regeln für die Konferenz mit Führung und Ergebnis

Führen mit Fragetechniken

TEIL 4

RHETORIK IM ZEITALTER DER LÜGEN

KAPITEL 1: Ist das „Comet Ping Pong“ Zentrum eines Kinderpornorings?

Die größten Lügen aller Zeiten

Arten von Fake News

Wie subjektive Wahrheiten entstehen

So erkennen Sie Fake News

KAPITEL 2: Alles erstunken und erlogen?

Warum wir so oft lügen

Sind gute Lügner erfolgreicher?

Methoden, um einen Lügner zu entlarven

Hat das Internet uns zu einer Pinocchio-Gesellschaft verkommen lassen?

Die Rolle der Lüge in einer Geschichte

TEIL 5

KOMPETENZ UND MACHT DURCH SPRACHE

KAPITEL 1: Politische Kommunikation

KAPITEL 2: Rhetorik aus dem Weißen Haus

KAPITEL 3: Framing – Wie Sprache unser Denken beeinflusst

KAPITEL 4: Faire vs. unfaire Dialektik

Auszüge aus Schopenhauers Kunstgriffen der Eristischen Dialektik

Der schlechte Ruf der Rhetorik

Lernen Sie unfaire Angriffe abzuwehren

KAPITEL 5: Methoden für die erfolgreiche Debatte

KAPITEL 6: Regeln für das Interview

TEIL 6

DER ÄSTHETISCHE ASPEKT DER RHETORIK

KAPITEL 1: Wie die Rhetorik verschwand (und trotzdem immer da war)

KAPITEL 2: So sieht der ideale Satz aus

KAPITEL 3: Rhetorische Stilmittel

KAPITEL 4: Humor: Interview mit Eva Ullmann

KAPITEL 5: Semiotik – Die geheime Welt der Zeichensysteme

Interview mit der Semiotikerin Charlotte Hager

TEIL 7

DIE ZUKUNFT DER KOMMUNIKATION –
VIRTUELLE RHETORIK

KAPITEL 1: Wie die Digitalisierung unsere Kommunikation verändert hat

KAPITEL 2: Die Cambridge Analytica-Debatte

KAPITEL 3: Maschinensprache:
Wie Social Bots uns beeinflussen

KAPITEL 4: Der Wunsch nach Authentizität:
Immersiver Journalismus

KAPITEL 5: Virtual Reality:
Neue Ethik für neue Welten?

KAPITEL 6: Instant-Messenger, Calls und Co – So gehen Sie mit modernen Kommunikationsmitteln um

TEIL 8

VERHANDELN UND VERSTEHEN
AUF HÖCHSTEM NIVEAU

KAPITEL 1: Der Verkäufer im Wandel der Zeit

KAPITEL 2: Im Internet ist alles billiger – Verkaufen im digitalen Zeitalter

KAPITEL 3: Wie Verhandlungen funktionieren

Welcher Verhandlungstyp sind Sie?

Das Harvard-Verhandlungskonzept

Die drei Phasen der Verhandlung

Reizformulierungen

KAPITEL 4: Überzeugungstechniken: Verhandlungsgeschick durch anwendbare Psychologie

KAPITEL 5: Ein Einwand ist kein Vorwand

KAPITEL 6: Der Pitch – Die Sonderform der Überzeugungsrede

TEIL 9

MENSCHEN LESEN – MENSCHEN GEWINNEN

KAPITEL 1: Die faszinierende Welt der Körpersprache

KAPITEL 2: Mikroexpressionen

KAPITEL 3: Wahrnehmen und Steuern von Körpersprache

KAPITEL 4: Distanzzonen

KAPITEL 5: Was der Händedruck über uns aussagt

TEIL 10

HELDENGESCHICHTEN –
DIE WELT DES STORYTELLINGS

KAPITEL 1: Warum wir Geschichten lieben

KAPITEL 2: So funktionieren Geschichten

Das macht eine gute Geschichte aus

Die Heldenreise

Archetypen

KAPITEL 3: Corporate Storytelling

KAPITEL 4: Multimediales Storytelling

TEIL 11

DER WIRTSCHAFTSFAKTOR RHETORIK

DANK

ANHANG: FUSSNOTEN

VORWORT VON ROLF H. RUHLEDER

Im Jahr 1989 – ich war damals Marketingleiter der Harzburger Akademie für Führungskräfte – fasste ich einen für mich bedeutsamen Entschluss: Ich gründete mein eigenes Management Institut in Bad Harzburg. Seit über 30 Jahren bin ich nun schon als Keynote-Speaker sowie Rhetorik- und Verkaufsdozent tätig. In dieser Zeit schulte ich über 500.000 Teilnehmer in mehr als 3.500 Seminaren und Großveranstaltungen. Jahrzehnte, in denen sich viel verändert hat. Doch etwas ist stets gleich geblieben: die Regeln der Rhetorik und insbesondere wie man eine gute Rede hält. Sie haben sich seit Jahrhunderten kaum verändert. Noch immer ist es wichtig, vor dem Publikum Sicherheit auszustrahlen, Begeisterung zu entfachen und Spannungsbögen zu kreieren. „Ein Dichter wird geboren, ein Redner wird gemacht.“ Schon Cicero hatte diese altrömische Weisheit erkannt. Anders verhält es sich hingegen bei der Verhandlungskunst. Hier haben wissenschaftliche Forschung und Veröffentlichungen von Experten dazu geführt, dass wir heute über eine Vielzahl von intelligenten und rhetorisch klugen Verhandlungsmöglichkeiten verfügen.

Wir leben heute im Zeitalter der Kommunikation. Die Digitalisierung ist eine der weitreichendsten Veränderungen, die die Menschheit je erlebt hat. Die rhetorischen Methoden für einen souveränen und sicheren Auftritt mögen zwar unverändert geblieben sein, doch die Zeit blieb währenddessen nicht stehen. Die Techniken der Rhetorik können wir nicht neu erfinden. Wir können sie aber an unsere Zeit anpassen. Mein langjähriger Schüler Michael Ehlers ist der erste Trainer, dem dies auf beeindruckende Weise gelungen ist. Er hat es gewagt, die Rhetorik und die Besonderheiten der Kommunikation in diesem Zeitalter auf gleicher Ebene zu betrachten. Dass er die richtige Person dazu ist, beweist ein Blick auf seine bisherigen Veröffentlichungen, mit denen er sich als hervorragender Experte zur digitalen Kommunikation positioniert hat. Nur wenn wir in der Lage sind, unsere schnelllebige Umwelt zu verstehen, können wir auch zielgerichtet kommunizieren. Beide Themen – das Verständnis und die Anwendung – gehen in diesem Buch Hand in Hand. Besonders lesenswert ist es durch seine Abstimmung auf die tägliche Praxis. So fungiert es mit seinen zahlreichen Ratschlägen aus der angewandten Rhetorik einerseits als Nachschlagewerk, das in keinem Bücherregal fehlen sollte, und andererseits ist es mit seinen vielen kurzweiligen Geschichten, aber auch intensiven Analysen ein sehr unterhaltsames Buch. Die Aussagen zur Körpersprache sind hochinteressant und lassen sich sofort umsetzen. Alles in allem: ein Buch, das Ihnen als Leser sofort einen großen Nutzen bringt.

Mittlerweile habe ich einen unzählbaren Fundus von Rhetorikbüchern im Regal stehen. Dieses Buch von Michael Ehlers wird darin einen besonderen Platz einnehmen. Er ist ein fantastischer Trainer. Ich durfte in den letzten 30 Jahren mehr als 100 Trainer kennenlernen und ausbilden. Keiner von ihnen konnte sich so gut präsentieren und überzeugen wie Michael! Dies zeigt sich besonders durch die Rolle, die er inzwischen auf dem Aus- und Fortbildungsmarkt eingenommen hat. Sein Engagement, seine herzliche Art und sein fachliches Wissen haben ihn zu einem der Startrainer Deutschlands gemacht. Ganz herzlich gratuliere ich ihm zu dieser Leistung, denn immerhin sind mehr als 50.000 Trainer auf dem deutschen Markt im Einsatz. Sein Einfühlungsvermögen und besonders die humorvolle Art, wie er sich in jedes Seminar einbringt, sind einmalig. Lieber Michael Ehlers: Machen Sie weiter so!

TEIL 1

WER ETWAS ZU SAGEN HAT, SOLLTE REDEN KÖNNEN

KAPITEL 1

Rhetorik. Die Kunst der guten Rede

Timmendorfer Strand, 2001

Nervös stand ich mit meiner Frau (wir waren frisch verheiratet) im Fahrstuhl des Maritim Hotels. Plötzlich betrat er den Fahrstuhl: mein Rhetoriktrainer. Mein Herz schlug sofort bis zum Hals. Aber ich merkte sofort, dass mein Trainer für die nächsten drei Tage nicht nur einer der besten Startrainer seiner Zeit, sondern auch ein großartiger Gastgeber war. Er begrüßte uns beide auf herzlichste Art und vermittelte dabei ein besonderes Willkommensgefühl. In diesem Moment bekam ich eine erste Vorstellung davon, dass Rhetorik vermutlich mehr ist als Fragetechniken, Redestruktur und Einwandbehandlung …

Schleswig-Holstein, Kreis Plön, 1987 und Folgende …

Ich komme aus einem politischen Haushalt und habe bereits mit 15 Jahren begonnen, mich politisch zu engagieren. Mein Vater und meine Mutter haben sich von Anfang an auch vor uns drei Kindern – von denen ich das jüngste bin – viel über Politik unterhalten. Meine Neugier war schnell geweckt. Und so war es auch klar, dass ich eher früher als später der Jugendorganisation der von mir und meinen Eltern favorisierten Partei beitreten würde.

Ich war schon immer jemand, der sich mit Worten durchsetzen musste. Mein Vater arbeitete als ehemaliger Bauer nach der Pleite des eigenen Hofes im öffentlichen Dienst. Meine Schulkameraden waren oft noch in der elterlichen Landwirtschaft aktiv, was bei ihnen in einer entsprechenden körperlichen Stärke resultierte. Ich dagegen war – wer mich heute kennt, braucht jetzt Phantasie – eher drahtig und schmächtig. Was mir an Muskelmasse fehlte, musste ich mit großer Klappe und Humor wettmachen, was so weit gut funktionierte. Ich war nahezu jedes Jahr Klassensprecher und im letzten Jahr sogar Schulsprecher. In dieser Funktion durfte ich am Ende der Schulzeit meine erste Rede halten. Vorher stand allerdings noch der obligatorische Schulstreich auf dem Programm. Der fiel entsprechend unserer ländlichen Prägung etwas derber aus. Tatsächlich ließen wir es wirklich krachen. Um vier Uhr morgens trafen wir uns an der Schule. Gleich vier Traktoren standen auf dem Schulhof. Drei davon luden ganze Hänger voller Mist vor dem Haupteingang der Schule in Schönberg/Holstein ab. Auf dem Gipfel des ansehnlichen Misthaufens befestigten wir ein Schild: „Das habt ihr uns in all den Jahren beigebracht!“ Der vierte Traktor platzierte mithilfe eines mächtigen Frontladers ein paar ebenso mächtige Findlinge in der Einfahrt des Lehrerparkplatzes. Vielleicht können Sie sich vorstellen, was los ist, wenn man deutsche Schulmeister dazu zwingt, ihre Morgenroutine zu ändern, und sie dazu noch mit einem Berg stinkenden Kuhmists begrüßt.

Wir waren recht stolz auf uns und begossen den Erfolg mit einigen Frühstücksbieren. Selbst in diesem Zustand fiel uns allerdings auf, dass nicht alle Lehrer gleich auf die Provokation reagierten. Die eine Hälfte der Lehrkräfte nahm unseren Streich ziemlich gelassen. Die andere Hälfte reagierte deutlich emotionaler. Meine Deutschlehrerin brach sogar in Tränen aus. Sie war erschüttert ob der Frechheit der jungen Leute. Unser Hausmeister, der den ganzen Tag damit beschäftigt war, den Mist aus den Fluren zu wischen, erst recht. An die Konsequenzen unseres Streichs für den armen Mann hatten wir natürlich nicht gedacht. An dieser Stelle also eine späte, aber ehrlich gemeinte Entschuldigung.

Wir fanden uns am nächsten Morgen mit unserer Heldentat in der örtlichen Zeitung auf der Titelseite wieder. Dann kam die Abschlussveranstaltung und meine Aufgabe als Schulsprecher war es, die Abschlussrede zu halten. Es war ein Horrorszenario für mich. Jetzt musste ich vor die gesamte Lehrerschaft und die Schulfreunde treten. Einige Lehrer und besonders meine Deutschlehrerin Frau Cordt zeigten mir überdeutlich ihre Abneigung. Der Misthaufen war gar nicht gut angekommen. Ich legte mit meiner Rede nach: „Sie haben alle studiert und leider wenig Einblicke in das wahre Leben Ihrer Schüler. Denn wenn Sie sich mit unserem Alltag beschäftigen würden, dann hätten Sie auch unseren Schulstreich richtig verstanden. Ein größeres Dankeschön können Ihnen die drei Klassen mit den vielen Bauernkindern gar nicht machen. Jeder Landwirt weiß, dass es den Mist als Dünger braucht, damit es anschließend eine ordentliche Ernte gibt. Wenn Sie sich über den Gestank aufregen, vergessen Sie nicht, dass der gute Dünger dabei hilft, dass Sie für Ihr leckeres Frühstücksbrötchen nur wenige Pfennige zahlen müssen. Wir wollten mit dem Schulstreich einfach zeigen, dass wir dankbar sind. Dankbar dafür, hier an dieser Schule die Düngemittel für unsere berufliche Zukunft von Ihnen erhalten zu haben. Wir waren nicht immer die leichtesten Schülerinnen und Schüler. Sie waren nicht immer die leichtesten Lehrkräfte. Aber heute stehen wir hier. Wir mit unseren Abschlüssen und Sie mit der Genugtuung, wieder ein paar junge Menschen auf das Leben da draußen vorbereitet zu haben.“ Meine Deutschlehrerin weinte wieder. Diesmal vor Rührung. Anschließend drückte sie mich etwas zu lange und etwas zu herzlich.

Auch wenn der Text, den ich mithilfe meines schlauen Vaters in weiser Voraussicht auf die Folgen unseres Streichs geschrieben und dann abgelesen habe, sicher gut war, konnte ich keine Sekunde am Rednerpult genießen. Noch schlimmer wurde es später in meiner politischen Jugendorganisation. Inzwischen im Beruf angekommen, hatte ich viel Freude daran, mit meinen Genossen ordentlich Rambazamba zu machen. Wir veranstalteten zahlreiche Partys und mieteten zu Silvester sogar ein ganzes Schloss, um mit zwei Livebands der Landbevölkerung in Abendkleid und Smoking ein gutes Fest zu liefern. Der Erfolg blieb nicht aus: Partys & Politics hat funktioniert und wir gewannen enorm viele neue Mitglieder. Unser Ortsverband wurde der größte im Landkreis und wir gründeten weitere. Daraus wuchsen auch Ambitionen, für den Kreisvorstand zu kandidieren. Raten Sie mal, wem diese Idee so gar nicht gefiel? Richtig – den damaligen Amtsinhabern. Es kam zum Showdown. In der Kreisversammlung wurden alle Karteileichen ausgegraben, die irgendwie noch stimmberechtigt waren. Mein Kumpel Stefan und ich waren dagegen strategisch ziemlich unbewaffnet. Alle sprachen in den Bewerbungsreden mehr oder weniger frei. Selbstbewusst notierte ich mir also ein paar Stichworte und dachte: „Das mache ich schon.“ Weit gefehlt. Die über 100 Zuschauer, Kameras und besonders die Scheinwerfer holten mich komplett aus meiner Mitte. Ich stammelte irgendetwas Sinnbefreites vor mich hin und wir verloren die Abstimmung trotz der guten Arbeit, die wir geleistet hatten. Das sollte uns eine Lehre gewesen sein. Zwei Jahre später waren wir sowohl rhetorisch als auch strategisch bereits so hochgerüstet wie die UdSSR im Kalten Krieg und wir nahmen den Kreisvorstand im Handstreich. In der Zwischenzeit hatte ich mein erstes Rhetorikseminar an der Hermann-Ehlers-Akademie in Kiel besucht. Ein junger Student zeigte uns dort, wie man eine freie Rede hält. „SO EINFACH IST DAS ZU ERLERNEN?“, war meine Erkenntnis am Ende des Trainings. Ich bin mir sicher, hier wurde der Samen für meine spätere Zukunft als professioneller Redner und Rhetoriktrainer gesät.

Während meiner vierjährigen Bundeswehrzeit absolvierte ich zudem eine neunmonatige Ausbildung in Methodik und Didaktik. Die Ausbildung zum Ausbilder bei der Bundeswehr war großartig. Ich hatte viele Vorbilder, die sich Mühe gaben, den Unterricht und die praktischen Unterweisungen für die Soldaten spannend zu gestalten. Unterhaltsam. Das war meine Welt. Vor allem die Ausbildung zur Führungskraft, die ich in Münster und am Starnberger See erhielt, sorgte dafür, dass mich das Thema Rhetorik in seinen Bann zog. Als ich nebenberuflich in den Vertrieb einstieg, konnte ich mit diesen Fähigkeiten sofort punkten. Später in der freien Wirtschaft lernte ich sehr schnell etwas, das zu meinem Grundsatz wurde, der heute immer noch gilt: „Mache deine Mitarbeiter stark! Sie dürfen dich in jeder Hinsicht übertreffen. Arbeite mit klugen, wissbegierigen und fleißigen Menschen zusammen und lass dich selbst nur von den Besten ausbilden.“

So kam ich also schließlich 2001 zu Rolf H. Ruhleder. Er war schon damals der „Rhetorik-Papst“, hoch angesehen, der Grandseigneur der aufkeimenden Trainerszene, Dauergast in den TV-Talkshows. Er war außerdem der teuerste Trainer Deutschlands! Und jeden Betrag wert. Sein Seminar und der Trainingsansatz überzeugten mich von der ersten Sekunde an. Alles, was ich bis dahin über Methodik und Trainingsdidaktik gelernt und erlebt hatte, wurde übertroffen. Stil- und humorvoll leitete er seine Teilnehmerinnen und Teilnehmer an. Jeder bekam individuell Feedback. Für mich war klar, ich muss sofort viel Geld verdienen, denn dieser Mann sollte mich ausbilden. Bereits in der ersten Seminarpause nahm er mich zur Seite und fragte mit strengem Blick, was ich denn auf dem Seminar wolle? Meine Antwort „Rhetorik lernen“ überzeugte ihn nicht. „Weshalb sind Sie hier? Reden können Sie auf jeden Fall schon.“ Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich gehört hätte, dass er der Beste sei, und ich von ihm lernen möchte. Ein sanftes Lächeln glitt über sein Gesicht und er sagte einfach nur: „Gute Entscheidung. Aber passen Sie auf, dass Sie die anderen im Seminar nicht gleich in Grund und Boden reden.“ Und dann traf mich eines seiner berühmten Zitate, welche heute zwei ganze Generationen von Trainern gerne rezitieren (mich eingeschlossen): „Denken Sie immer daran: Perfektion weckt Aggression.“ Ich habe mir das und vieles Weitere in den zahlreichen Seminaren hinter die Ohren geschrieben. Rolf H. Ruhleders Buch Rhetorik & Dialektik habe ich stets in meinen Seminaren empfohlen und werde es auch weiterhin tun. Es ist inzwischen in der 17. Auflage erschienen. Da es meine Zeit als professioneller Trainer begleitete, werden Sie es als Quellenangabe häufig in diesem Buch finden. Bereits 2006 kam der Leiter eines großen Verlages auf mich zu und fragte, ob ich nicht selbst ein Buch über Rhetorik schreiben möchte. Ich lehnte ab. Ich hatte einfach keine Lust, ein Buch zu schreiben und dieselben Tipps zu geben, wie sie schon zahlreiche andere vor mir gegeben haben. „Wenn ich ein Buch über Rhetorik schreibe, dann will ich, dass es etwas wirklich Neues ist“, war lange Zeit meine Antwort.

Heute halten Sie ein solches Buch in Ihren Händen. Über Rhetorik. Von mir. Was ist passiert? Zwischen 2012 und heute habe ich vier Bücher veröffentlicht. Neben dem Gemeinschaftsprojekt SALES CODE 55 des Club 55 – European Community of Experts in Marketing & Sales, dessen Präsident ich heute sein darf, war es der Topbestseller Der Fisch stinkt vom Kopf, den ich unter meinem „Speaker-Pseudonym“ Hein Hansen geschrieben habe und den es jetzt bereits in der sechsten Auflage gibt. Ein Buch über Motivation und Führung aus der Sicht eines Fischverkäufers. Ferner mein Erstlingswerk Kommunikationsrevolution Social Media, worin ich als erfahrener Anwender einen Blick auf die digitale Revolution werfe, sowie zuletzt Herzlich willkommen im Datengefängnis. Die Tageszeitung Frankenpost betitelte mich nach einem Vortrag in einem Artikel als „Der Big-Data-Dolmetscher“. Das gefiel mir gut. Denn genau das war der Zweck dieses Buches: unser hochkomplexes Zeitalter auch denjenigen Menschen nahezubringen, die sich nicht jeden Tag mit der Thematik beschäftigen können. Als ich mit diesem Buch fertig war, saßen der Content Manager meines Unternehmens, André Held, und ich zusammen und unterhielten uns, worüber wir noch alles hätten schreiben können. Trump wieselte bereits durch die Medien und wir regten uns über die Rhetorik der Populisten in Europa auf. „Es hat sich wirklich etwas verändert in der Kommunikation, schon weil sich die Wahrnehmung der Menschen verändert.“ Mit diesem Satz war die Idee für dieses Buch in der Welt. Die logische Konsequenz aus meinem bisherigen Leben als Trainer, Berater und Autor ist, dass wir ein großes Buch schreiben und die Rhetorik ins digitale Zeitalter transportieren. An den alten Techniken hat sich wenig bis gar nichts verändert. Eines allerdings hat sich dank des „Information Overload“ ganz sicher verändert: Menschen in Führungspositionen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und alle, die eine Botschaft transportieren wollen, müssen sich wieder mehr mit Rhetorik auseinandersetzen, um zu verstehen, wie sie unter diesen Umständen ihre Botschaften formulieren können. Um diese Zusammenhänge aufzuzeigen und erste Tipps für die Anwendung zu geben, ist dieses Buch entstanden!

Vielen lieben Dank an alle, die dieses Projekt möglich gemacht haben. Ich habe im Schlussteil dieses Buches noch eine Extraseite für die Danksagungen reserviert. Aber bereits an dieser Stelle und ganz besonders aber möchte ich Ihnen danken, Rolf H. Ruhleder! Es ist mir eine große Ehre, dass Sie das Vorwort für dieses Buch geschrieben haben. Es bedeutet mir sehr viel.

Ihnen, liebe Leser, danke ich natürlich auch. Ich wünsche Ihnen viel Spaß auf der Reise durch die Rhetorik im digitalen Zeitalter. Wenn Sie nur halb so viel Spaß beim Lesen haben wie ich und mein Team beim Schreiben, Interviewen und Recherchieren, dann werden Sie das Buch, genau wie wir, sicher lieben lernen.

Ihr

MICHAEL EHLERS

KAPITEL 2

Was ist Kommunikation? – Kommunikationsmodelle im Vergleich

„Der Mensch ist die Krone der Schöpfung. Intelligent. Beweglich. Emotional. Liebend. Schaffend. Kreativ. Was für ein wunderbares Wesen. Leider kann er sprechen …“

Michael Ehlers

Sämtliche Lebewesen auf diesem Planeten tragen ein geniales Kommunikationssystem in sich. Auch der Mensch. Oft ist es jedoch beim Menschen so, dass Umstände wie familiäre Prägung, Umwelt, Schule, Ausbildung oder Studium dieses intuitiv funktionierende System irgendwie angreifen. Wie gut diese Systeme in der Natur funktionieren, möchte ich Ihnen anhand des „Wood Wide Web“ zeigen.

In kaum einem anderen Land dieser Welt haben Wälder einen tieferen Einfluss auf Kultur und Leben seiner Bewohner als in Deutschland. Die mythische Verehrung des alten deutschen Waldes mit seinen Buchen- und Eichenbeständen findet sich in zahlreichen Werken aus Literatur und Kunst wieder. Und die Verehrung des Waldes ist aktuell wie nie. Wir lieben den Ausflug ins Grüne und genießen an warmen Sommertagen den Aufenthalt im Schatten der Baumkronen. „Waldbaden“ oder, ganz modern, Shinrin-Yoku ist auf dem Weg, der neueste Trend zu werden. Bäume produzieren Sauerstoff, sind die grünen Lungen unserer Erde. Wälder liefern uns Baustoff und Feuerholz und dienen uns gleichzeitig zur Erholung. Angesichts dieser großen Bedeutung, die der Wald für uns hat, wissen wir noch ziemlich wenig über das Leben der Wälder und der Bäume. Obwohl der Wald seit Jahrtausenden die deutsche Landschaft und Kulturgeschichte prägt, haben wir bislang nur rudimentäre Erkenntnisse von dem komplizierten Zusammenspiel in seinem Inneren und von seiner Funktionsweise. Wussten Sie beispielsweise, dass Bäume miteinander kommunizieren können?

Vom „Wood Wide Web“ zum brillanten Redner

Erst um das Jahr 2010 herum setzte sich unter Wissenschaftlern im Zusammenhang mit pflanzlichem Verhalten mehr und mehr die Sichtweise durch, dass die Bäume im Wald ein intelligentes und lebendiges System bilden und in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren. Einer breiten Öffentlichkeit wurde diese ganz neue Sichtweise durch das Buch von Peter Wohlleben, Das geheime Leben der Bäume, bekannt. Ganze Wälder verfügen über ein weitverzweigtes, unterirdisches System von Wurzel- und Pilzgeflechten, die auch als „Wood Wide Web“1 bezeichnet werden. In regelmäßigem Austausch liefern Pilze dem Baum Stickstoff und Phosphor, wofür dieser Zucker aus der Fotosynthese abgibt. Durch diesen faszinierenden Austausch sind Bäume in der Lage, sich gegenseitig zu unterstützen und sogar Familien- und Freundschaftsbeziehungen einzugehen. Ein unterirdisches Netz aus Wurzeln und Fäden, das den kompletten Waldboden durchzieht, ermöglicht den Bäumen, Informationen über den Zustand anderer Bäume aufzunehmen. Wie geht es den Nachbarn? Sind sie gesund oder krank? Ist ihre Baumkrone ordentlich ausgebildet oder kämpfen sie noch immer mit dem wasserarmen letzten Sommer? Wer gesund ist und viel Energie hat, versorgt damit die schwächeren Artverwandten in seiner Umgebung. Eigentlich ist es verwunderlich, dass uns diese Entdeckung so sensationell vorkommt. Denn schließlich sind Bäume Lebewesen. Und alle Lebewesen kommunizieren.

Wale übertragen ihre Gesänge per Schallwellen, wobei jede Art andere Frequenzen zu nutzen scheint. Vögel zwitschern und Menschen reden miteinander. Das biologische System auf der Erde ist ein Wunderwerk der Kommunikation. Sie ist wahrhaftig überall und überall ist Kommunikation. Jedes Lebewesen ist von Anfang an dazu in der Lage – nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch Pflanzen und Bakterien. Sogar Viren, die noch nicht einmal als Lebewesen gelten, können kommunizieren.2 Neuerdings bringen wir selbst Maschinen bei, ganz ohne unsere Beteiligung miteinander zu kommunizieren. Noch aber ist der Mensch zweifelsohne die Spitze der Kommunikationsevolution.

Aus diesen wenigen Beispielen können Sie bereits ersehen, dass die Natur über großartige Kommunikationsmodelle verfügt. Auch der Mensch, als Teil der Natur, verfügt über große, leider oft verborgene Fähigkeiten auf dem Feld der Kommunikation. Menschliche Kommunikation entwickelte sich seit den ersten Anfängen immer weiter. Und sie wird sich im weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte immer weiter entwickeln. Das ist das Großartige. Leider entwickeln sich die Menschen nicht immer genauso großartig weiter. Nicht von alleine zumindest. Beispiele dafür erlebe ich in meinen Coachings und Trainings immer wieder. Aber ich erlebe auch, wie sich diese Entwicklung in jedem Menschen wieder anschieben lässt.

Die Natur hat jedem von uns die Fähigkeiten mitgegeben, die wir als guter Kommunikator benötigen. Was uns daran hindert, diese Fähigkeiten auszuspielen, sind oft unsere inneren oder die äußeren Rahmenbedingungen. Faktoren wie familiäre Prägung oder das Publikum, das uns einschüchtert, können uns daran hindern, unsere Redekunst zu entfalten. Aber genau dafür gibt es die Lehre der angewandten Rhetorik. Sie werden beim Lesen dieses Buches Werkzeuge kennenlernen, die Ihnen helfen, diesen Herausforderungen zu begegnen. Dabei ist es egal, wie Ihre individuellen Voraussetzungen sind. Ob Sie Talent haben. Oder ob Sie ein Trauma aus Ihrer längst vergangenen Schulzeit mit sich tragen. Mit den Werkzeugen, die ich Ihnen in diesem Buch an die Hand gebe, werden Sie unabhängig von „Talent“ und „Prägung“ zu einem brillanten Kommunikator und Redner.

Es ist mir zunächst ein wichtiges Anliegen, mich zum Beginn einem Thema zu widmen, ohne das es keine Rhetorik geben würde. So wie wir seit Jahrhunderten die Welt erforschen und vermessen, um sie besser zu verstehen, beschäftigen wir uns auch mit der Erforschung der zwischenmenschlichen Kommunikation.

Aber was ist Kommunikation? Nehmen Sie sich an dieser Stelle gerne etwas Zeit und überlegen Sie für sich: Wie definiert sich Kommunikation?

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Gar nicht so einfach, oder?

Wir könnten beispielsweise sagen: „Wenn wir uns unterhalten, dann kommunizieren wir!“ Aber natürlich wäre das zu kurz gegriffen. Kommunikation ist ein höchst komplexes Konstrukt, das aus verschiedensten Blickwinkeln betrachtet werden kann. So legt ein Kommunikationswissenschaftler völlig andere Maßstäbe an als ein Psychologe – und ein Medienwissenschaftler nähert sich dem Thema verständlicherweise mit anderen Methoden als ein Neurophysiologe.

Gerade weil unser Alltag von Kommunikation bestimmt ist, fällt es der Wissenschaft schwer, eine eindeutige Definition zu finden. Was unter Kommunikation zu verstehen ist, kommt auf unseren Zugang zum Thema an. Kommunikation ist beispielsweise einerseits die Unterhaltung mit einem anderen Menschen, meint aber andererseits auch „das einseitige Rezipieren von Werbeinhalten über Massenmedien“.3 Kommunikation findet also sowohl face to face mit anderen Personen statt als auch ganz alleine vor dem Fernseher. Durch diese verschiedensten Zugänge sind im Laufe der Kommunikationsforschung zahlreiche Methoden, Begriffe und Modelle entstanden. So viele, dass wir uns zwangsläufig beschränken müssen. In diesem Buch konzentriere ich mich auf zwischenmenschliche Kommunikation, die auf Produktion und Rezeption von Sprache und/oder Mimik und Gestik ausgelegt ist. Auch dieser Teilbereich eröffnet unterschiedlichste Betrachtungs- und Herangehensweisen.

Kommunikation, in unserem Sinne, bedeutet den Austausch und die Übertragung von Information und ist durch verschiedene Eigenschaften definiert. Sie ist gleichzeitig intentional, partnerorientiert und symbolisch. Dass es kompliziert sein kann, erkennen Sie daran, dass es auch nicht-intentionale Kommunikation gibt. Dazu gehört beispielsweise unwillkürliche Mimik oder Gestik. Wir lernen diese Mikroexpressionen später kennen. Aber unser erstes Begriffstrio entwirren wir am sichersten anhand von Beispielen. Bitte folgen Sie mir in die Welt der Rhetorik:

Beschimpfen wir – wild mit dem Mittelfinger gestikulierend – über den Gartenzaun hinweg unseren Nachbarn, weil er während der Mittagsruhe Rasen mäht, so ist dies eine intentionale, partnerorientierte und symbolische Handlung.

Intentional bedeutet, dass das Verhalten mit einer Absicht (Intention), einer Erwartung und einem Ziel verbunden ist. Würden wir, anstatt zu meckern, wutentbrannt Dinge durch unsere Wohnung werfen, wäre dies bezogen auf unser Lärmproblem zwar intentional, weil wir uns davon versprächen, dass es uns danach besser ginge. Es entstünde aber keine Kommunikation mit dem Nachbarn.

Partnerorientiert heißt, dass wir mit einem Gegenüber interagieren. Dieses Gegenüber ist natürlich der Nachbar. Ein nicht-partnerorientiertes Handeln wäre also, den röhrenden Rasenmäher entspannt seine Arbeit machen zu lassen, während man selbst intentional vor Zorn in sein Kissen bisse. Die Folge: Es entstünde keine Kommunikation.

Symbolisch meint, unter Verwendung eines bestimmten Zeichensystems zu kommunizieren. Diese Zeichen bilden bereits eine gemeinsame Sprache, die wir uns mit dem Nachbarn teilen. Beleidigen wir ihn, versteht er uns. Die Beleidigung lässt sich weiter in verbale (Sprache) und nonverbale (Mimik, Gestik) Kommunication einteilen. Selbst wenn wir nicht schreien und ihm nur schmähend mit dem Mittelfinger winken: Der lästige Nachbar wird unsere Intention – nämlich auszudrücken, dass wir mit der Wahl seines Zeitvertreibs gerade gar nicht einverstanden sind – mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verstehen.

Kommunikation ist natürlich komplizierter, als in diesem sehr vereinfachten Beispiel dargestellt. Tatsächlich ist sie hochkomplex und bietet deshalb zahlreiche Gelegenheiten für Missverständnisse. Um sie besser zu verstehen, versucht die Wissenschaft, Kommunikation in bestimmten Regelsystemen festzuhalten. Indem sie unterschiedlichste Kommunikationsvorgänge analysiert und diese in Modelle einordnet, macht sie Zusammenhänge sichtbar.

Um in der Praxis zu bestehen, benötigen wir zunächst eine theoretische Basis, die wir zu Beginn des Buches erarbeiten werden. Keine Sorge. Sie müssen das Kapitel nicht auswendig lernen. Es einmal zu lesen reicht völlig aus, um anschließend alle Inhalte des Buches deuten zu können. Mit den folgenden Modellen werden Sie einen ganz neuen Blick auf Kommunikation bekommen und am Ende über eine deutlich größere Vielfalt an rhetorischen Werkzeugen verfügen.

Friedemann Schulz von Thun – Vier Seiten einer Aussage

Zum absoluten Grundlagenwissen gehört heute das Kommunikationsmodell von Friedemann Schulz von Thun. Es ist zugleich das jüngste Modell, das ich Ihnen vorstelle. Es stammt aus dem Jahr 2002 und besticht durch seinen ausgesprochen praktischen Ansatz. Schulz von Thun ist ein bekannter deutscher Kommunikationswissenschaftler, der sich mit seinem Modell unter anderem auf Paul Watzlawick bezieht. Auch dessen Dialog-Modell wird Ihnen im Laufe des Kapitels noch begegnen.

Das Modell von Schulz von Thun ist ein sogenanntes „Encoder-/Decoder-Modell“. Die Grundannahme ist, dass wir in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine Nachricht auf vier verschiedenen Ebenen senden und wahrnehmen. Der Sender spricht mit „vier Schnäbeln“ und der Empfänger hört analog mit vier Ohren. Schulz von Thun erstellt in seinem Modell ein Kommunikationsquadrat. Jede Seite des Quadrats steht für eine unterschiedliche Kommunikationsebene.

Um diese vier Seiten zu veranschaulichen, kommen wir wieder zurück zu unserem geschätzten Nachbarn, den wir zufällig auf der Straße treffen. Er erzählt uns, dass er zuletzt immer wieder Schwierigkeiten hatte, am Abend einen geeigneten Parkplatz zu finden. Daraufhin bieten wir ihm an, dass er gerne nach Absprache den freien Platz in unserem Hof benutzen kann.

Einige Tage später rufen wir ihm zu: „Dein Auto steht hier!“ Wie lässt sich diese Aussage nach dem Modell von Schulz von Thun nun interpretieren?

Sachinhalt

Eine Sachinformation wird ausgetauscht. Der Sender teilt Daten und Fakten.

imageWir teilen dem Nachbarn mit, dass sein Auto auf unserem Hof steht.

Selbstoffenbarung

In einer Aussage geben wir auch immer etwas von uns selbst preis. Dies kann sowohl bewusst als auch unbewusst geschehen.

imageWir freuen uns, dass der Nachbar zum ersten Mal unser Angebot, im Hof zu parken, angenommen hat. Je nach Tonfall kann auf dieser Ebene aber auch das genaue Gegenteil gemeint sein.

Beziehungsaussage

Wie stehen Sender und Empfänger zueinander? Wie jemand angesprochen wird, spiegelt die Beziehung der beiden wider. Handelt es sich um eine höher gestellte Respektsperson oder kommunizieren wir auf Augenhöhe? Sind wir gut oder schlecht miteinander gestellt?

imageDer Verzicht auf eine Anrede und die Benutzung von „Dein“ weisen darauf hin, dass wir auf Augenhöhe kommunizieren, den Bundespräsidenten hätten wir vermutlich anders angesprochen.

Appell

Im Normalfall wollen Sender mit ihrer Aussage den Empfänger beeinflussen. Sie wollen ihn dazu bringen, etwas zu tun oder nicht zu tun, zu denken oder zu fühlen.

imageWir können mit dieser Aussage also auch meinen: „Fahr deine Karre weg oder ich mach das selbst!“

Jede „Sendung“ besteht aus diesen vier Ebenen. Passen sie widerspruchslos zusammen, könnte man doch annehmen, die Kommunikation sei gelungen. Doch unerfreulicherweise gibt es nicht nur vier Möglichkeiten, eine Aussage zu tätigen, sondern auch vier Möglichkeiten, diese aufzunehmen. Der Kommunikationswissenschaftler Schulz von Thun beschreibt dies mit den „vier Ohren“ (Sachohr, Selbstoffenbarungsohr, Beziehungsohr, Appellohr). Dass die Intention des Senders nicht der Wahrnehmung des Empfängers entspricht, erleben wir jeden Tag. Die Interpretationsmöglichkeiten einer Nachricht sind die Grundlagen zahlreicher kommunikativer Missverständnisse. Was, wenn wir den Nachbarn eigentlich loben wollten, er aber Kritik wahrnimmt? Die Folge wäre eventuell ein kleiner oder größerer Nachbarschaftsstreit. Ärgerlich, aber meist nicht wirklich schlimm. Störungen in der Kommunikation sind aber auch Auslöser unendlich vieler größerer und großer Probleme auf unserer Welt. Doch professionelle Kommunikation kann erlernt werden. Hilfsmittel, um unsere Aussage mit der gewünschten Intention an den Mann zu bringen, gibt es viele. Sie werden sie in diesem Buch lernen.

Paul Watzlawick – Fünf Axiome

Das zweite Kommunikationsmodell, das sich mit der Theorie unserer Verständigung beschäftigt, ist Paul Watzlawicks Modell der fünf Axiome. Der Österreicher war Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Soziologe, Philosoph und Autor. Kein Wunder, dass er bei dieser Bandbreite nach Lösungsansätzen für Kommunikation suchte. Ähnlich wie Schulz von Thun ging es Paul Watzlawick um die Ursachenforschung von kommunikativen Störungen, die er in seinem Hauptwerk niederschrieb.4 Der Begriff Axiom meint dabei schlichtweg einen Grundsatz. Diese fünf Grundsätze sollen menschliche Kommunikation bestimmen und zugleich erklären, wie eng verbale Kommunikation mit Emotionen und Beziehungen verknüpft ist.

1. Axiom

Man kann nicht nicht kommunizieren, denn jede

Kommunikation (nicht nur mit Worten) ist Verhalten.

Und genauso wie man sich nicht nicht verhalten kann,

kann man nicht nicht kommunizieren.

Kommunikation ist immer ein Verhalten. Verdeutlichen wir dies an unserem Nachbarn: Auf dem Heimweg von einem Fußballspiel sitzen wir im Bus und sind angefressen, da unser geliebter Verein mal wieder verloren hat und der baldige Abstieg droht. In diesem Moment sehen wir unseren Nachbarn einsteigen und merken schon von Weitem, dass dieser maßlos gut gelaunt ist. Das Allerletzte, was wir in diesem Moment wollen, ist eine Unterhaltung mit diesem Kerl! Also drehen wir unseren Kopf zur Scheibe und blicken starr hinaus mit dem festen Plan der Kommunikationsvermeidung. Aber natürlich kommunizieren wir dadurch bereits. Schließlich offenbaren wir mit unserem Verhalten – indem wir die Arme verschränken und uns mit gesenktem, wütendem Blick wegdrehen, dass wir sauer sind und kein Interesse an einem Gespräch haben. Würde unser Nachbar diese Signale richtig wahrnehmen, hätte er uns im Folgenden sicherlich nicht angesprochen.

2. Axiom

Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen

Beziehungsaspekt, wobei Letzterer den ersten bestimmt.

Das zweite Axiom von Watzlawick beschreibt den Zusammenhang von Inhalt und Beziehung einer Aussage zwischen Kommunikationspartnern. Es legt dar, dass jede Mitteilung des Senders zunächst eine inhaltliche Ebene aufweist, aber zugleich Ausdruck der emotionalen Verbindung von Sender und Empfänger ist. Diese beiden Aspekte hat Schulz von Thun ebenfalls dargestellt. Während wir unsere Hecke schneiden, sehen wir den Nachbarn, wie dieser seine Fensterläden streicht. Wir sagen zu ihm: „Das ist eine neue Farbe. Ist das Grün?“

Diese Aussage vermittelt auf der einen Seite eine Information: Wir stellen fest, dass die Farbe an den Fensterläden unseres Nachbarn neu ist. Mit unserer Nachfrage sprechen wir aber auch den Beziehungsaspekt an. Dazu nehmen wir verschiedenste Mittel wie Mimik, Gestik oder Tonfall zu Hilfe. Zum Beispiel können wir die Frage belustigt stellen, um zu verdeutlichen, dass wir die neue Farbe gar nicht schön finden. Wir können aber auch Erstaunen ausdrücken, weil die grüne Farbe wunderbar mit den Geranien auf der Fensterbank harmoniert.

3. Axiom

Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der

Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt.

Das dritte Axiom von Paul Watzlawick klingt zunächst kompliziert. Der Satz bedeutet jedoch lediglich, dass jede Kommunikation aus einer Ursache (Reiz) und einer Wirkung (Reaktion) besteht. Jemand zeigt ein Verhalten und ein anderer reagiert darauf. Watzlawick stellte diesen Vorgang in einer Verhaltenskette, einem Kreislauf dar, der keinen Anfangspunkt hat.

Wir sind beim Nachbarn zum Abendessen eingeladen und diskutieren nach einiger Zeit. Er sagt: „Du hörst mir ja gar nicht zu!“

Wir antworten: „Ich höre nur nicht mehr zu, weil du immer so laut redest!“

Er sagt: „Aber ich rede nur so laut, weil du mir nicht mehr zuhörst.“

Diese Diskussion dreht sich im Kreis. Vor allem in partnerschaftlichen Beziehungen ist dieses Phänomen keine Seltenheit. Watzlawick spricht in diesem Zusammenhang von konstruierten Wirklichkeiten, die wir uns schaffen. In der Kommunikation mit unserem Gegenüber „legen [wir] beispielsweise auf bestimmte Ereignisse besonderen Wert und betrachten diese gewissermaßen als Ursache und Auslöser für weitere Ereignisse, die für uns darauf folgen. Wenn wir nun eigenes Verhalten mit dem Verhalten anderer entschuldigen oder erklären, können hieraus Interpunktionsstörungen entstehen. Unser Gesprächspartner beziehungsweise unsere Gesprächspartnerin sieht aber umgekehrt eeventuell sein oder ihr Verhalten nur als Folge unseres Handelns.“5

Paul Watzlawick beschrieb dieses Axiom besonders schön in seinem paradoxen Sachbuch Anleitung zum Unglücklichsein durch die Geschichte mit dem Hammer: „Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar ihm den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er ihn nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen ihn. Und was? Er hat ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von ihm ein Werkzeug borgen wollte, er gäbe es ihm sofort. Und warum sein Nachbar nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen ausschlagen? Leute wie der Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet der Nachbar sich noch ein, er sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s ihm aber wirklich. Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er ‚Guten Morgen‘ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: ‚Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!‘“6

4. Axiom

Menschliche Kommunikation bedient sich analoger und digitaler Modalitäten.

„Analog“ und „Digital“ meint in diesem Fall nicht die Begriffe, wie wir sie heute in Bezug auf Mediennutzung verstehen. Mit Analog bezeichnet Watzlawick nonverbale Kommunikation wie Mimik, Gestik oder Blickkontakt. Digitale Kommunikation beschreibt dagegen alle sprachlichen Elemente. Diese müssen entschlüsselt werden, zum Beispiel dadurch, dass wir dieselbe Sprache sprechen. Während analoge Körpersprache international entschlüsselbar ist, braucht digitale Sprache denselben, gelernten Code. Während die Beziehungsebene oftmals durch analoge Verständigung ausgedrückt wird, sprechen digitale Elemente vor allem den Inhaltsaspekt an. Auch hier können Kommunikationsprobleme entstehen. Eines schönen Samstagvormittags bringen wir den Müll hinaus und rufen unserem Nachbarn im Vorbeigehen zu: „Du hast heute aber eine super Laune!“ Betrachten wir ausschließlich den Inhalt, also die digitale Komponente unserer Aussage, haben wir es hier mit einer positiven Feststellung zu tun. Wir attestieren dem Nachbarn keinen schlechten Gemütszustand. Nehmen wir nun die analoge Modalität, können wir diese Aussage verstärken, abschwächen oder sogar ins Gegenteil kehren. Das geschieht, wenn wir den Satz in einem sarkastischen, zynischen oder höhnischen Tonfall sagen und dies gestisch sowie mimisch unterstreichen. Nur im Zusammenspiel aller Faktoren sind wir in der Lage, zu erkennen, wie eine Aussage beabsichtigt ist.

5. Axiom

Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind

entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem,

ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichgewicht

oder Unterschiedlichkeit beruht.

Beim Kommunikationsprozess kommt es immer darauf an, mit wem wir sprechen. Es gelten hierarchische Strukturen, die großen Einfluss auf die Kommunikation haben. In der Regel sprechen wir nämlich mit unserem Nachbarn, unserer Familie und Freunden anders als mit unserem Vorgesetzten. Kommunikation auf Augenhöhe ist symmetrisch, während komplementär eine unterschiedliche hierarchische Ordnung zwischen den Kommunikationspartnern bedeutet.

Paul Grice – Maximen der Kommunikation, oder auch: Lesen Sie zwischen den Zeilen