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Julian Hawthorne

Der große Bankdiebstahl

Kriminalroman

Julian Hawthorne

Der große Bankdiebstahl

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Margarete Jacobi
EV: Robert Lutz, Stuttgart, 1916 (206 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962813-89-5

null-papier.de/591

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

1. Ka­pi­tel.

2. Ka­pi­tel.

3. Ka­pi­tel.

4. Ka­pi­tel.

5. Ka­pi­tel.

6. Ka­pi­tel.

7. Ka­pi­tel.

8. Ka­pi­tel.

9. Ka­pi­tel.

10. Ka­pi­tel.

11. Ka­pi­tel.

12. Ka­pi­tel.

13. Ka­pi­tel.

14. Ka­pi­tel.

15. Ka­pi­tel.

16. Ka­pi­tel.

17. Ka­pi­tel.

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1. Kapitel.

Als ich ver­gan­ge­nen Herbst an ei­nem Ok­to­ber­nach­mit­tag die Fünf­te Ave­nue in New York hin­un­ter­ging, traf ich zu­fäl­lig auf einen mir be­kann­ten Zei­tungs­re­dak­teur. Die Be­geg­nung kam mir höchst er­wünscht, denn der Um­gang mit ihm war im­mer an­re­gend. Durch lang­jäh­ri­ge Er­fah­rung in sei­nem Be­ruf, große Beo­b­ach­tungs­ga­be und ein treff­li­ches Ge­dächt­nis hat­te er sich eine um­fas­sen­de Ge­schäfts­kennt­nis er­wor­ben. Auch ver­kehr­te er viel in Ge­sell­schaft und kann­te nicht nur die gan­ze vor­neh­me Welt von New York, son­dern auch vie­le Per­sön­lich­kei­ten, die zwar nicht in jene aus­er­wähl­ten Krei­se ge­hör­ten, aber des­halb nicht min­der in­ter­essant wa­ren. Da er zu­dem eine mit­teil­sa­me Na­tur war, ließ sich man­che Stun­de aufs an­ge­nehms­te mit ihm ver­plau­dern.

Die Son­ne stand schon tief am Him­mel; sie leuch­te­te den Leu­ten, die uns be­geg­ne­ten, ge­ra­de ins Ge­sicht, und lan­ge Schat­ten fie­len auf das Pflas­ter. Es war Sonn­abend; eine große Men­schen­men­ge wog­te in den Stra­ßen hin und her; auf dem Fahr­weg ras­sel­ten zahl­lo­se Drosch­ken und Equi­pa­gen, da­zwi­schen der schwer­fäl­li­ge Om­ni­bus und das leich­te Ka­brio­lett. Die vor­neh­me Welt war vom See­stran­de, der Som­mer­fri­sche im Ge­bir­ge oder von der eu­ro­päi­schen Tour zu­rück­ge­kehrt und be­nutz­te den schö­nen Herbst­tag, um sich von neu­em in das ru­he­lo­se Ge­trie­be der Groß­stadt zu stür­zen, in der es nie an Auf­re­gung und An­re­gung zu feh­len scheint. Auch mir mach­te das Has­ten und Ja­gen heu­te be­son­ders viel Ein­druck – es war mein ers­ter Tag in der Stadt, nach län­ge­rem Auf­ent­halt in ei­nem ab­ge­le­ge­nen See­ba­de.

So, da bist du wie­der und siehst wohl und mun­ter aus, sag­te mein Freund von der Pres­se, mir die Hand schüt­telnd. Weißt du was, wenn du nichts Bes­se­res vor­hast, so kom­me um sechs Uhr nach dem St. Ja­mes-Ho­tel; wir spei­sen zu­sam­men und se­hen dann, was es heu­te Abend im Thea­ter gibt. Wie ge­fällt dir mein Vor­schlag?

Das Mit­ta­ges­sen las­se ich mir ge­fal­len, aber zum Thea­ter habe ich kei­ne be­son­de­re Lust.

Aha, du willst wohl nicht erst Toi­let­te ma­chen! Da weiß ich noch an­de­ren Rat: letz­te Wo­che bin ich im Zir­kus ge­we­sen, wo ein aus­ge­zeich­ne­ter Pfer­de­bän­di­ger Vor­stel­lung gibt. Es ist ein sehr an­stän­di­ges Lo­kal; man fin­det Leu­te aus der bes­ten Ge­sell­schaft, auch Da­men, und braucht sich nicht erst um­zu­klei­den. Nun, was meinst du dazu?

Ein­ver­stan­den! ent­geg­ne­te ich; als Kna­be habe ich den be­rühm­ten Ra­rey ge­se­hen und wäre be­gie­rig, ob dein Mann sich mit ihm ver­glei­chen lässt.

Schön, sag­te der Jour­na­list, also um sechs Uhr! Oder kommst du gleich mit in mei­ne Woh­nung und rauchst eine Zi­gar­re, wäh­rend ich einen Brief er­le­di­ge?

Dan­ke, ich will erst noch einen klei­nen Gang durch den Park ma­chen, um mir Ap­pe­tit zu ho­len. Wir stan­den ge­ra­de an der Ecke, wo die Ave­nue in den Broad­way, die glän­zends­te Stra­ße von New York, mün­det, im Be­griff, quer­über nach der an­de­ren Stra­ßen­sei­te zu ge­hen. Hier herrsch­te großes Wa­gen­ge­drän­ge – doch kaum hob der rie­si­ge Ord­nungs­wäch­ter, der an die­ser ge­fähr­li­chen Stel­le un­um­schränkt ge­bie­tet, den Arm in die Höhe, als wie mit Zau­ber­schlag der Ver­kehr stock­te, die Wa­gen­rei­he hielt und der Trupp Fuß­gän­ger schnel­len Schrit­tes hin­über­eil­te – wir mit ih­nen. Mein Freund ging dicht vor mir, und als er an ei­nem klei­nen ele­gan­ten Ka­brio­lett vor­über­kam, auf des­sen Bock der Kut­scher wür­de­voll thron­te, sah ich, wie er einen Blick auf die In­sas­sin warf und grü­ßend den Hut lüf­te­te. Die Dame im Wa­gen er­wi­der­te den Gruß lä­chelnd und mit leich­ter Ver­nei­gung; ich be­fand mich in ih­rer un­mit­tel­ba­ren Nähe, so­dass ich sie mit Muße be­trach­ten konn­te. Sie moch­te etwa drei­ßig Jah­re zäh­len und war noch eine auf­fal­len­de Schön­heit. Zu ih­rem dun­kel­far­be­nen An­zug trug sie einen Hut aus glei­chem Stoff; ihr Ge­sicht war bleich, der Aus­druck ih­rer fei­nen Züge starr und kalt, und doch war mir, als sei dies schö­ne vor­neh­me Ant­litz wohl im­stan­de, star­ke Lei­den­schaf­ten wie­der­zu­spie­geln. Die lei­den­schaft­li­che Na­tur war aber ent­we­der nie zum Aus­bruch ge­kom­men und ihre Flam­men lo­der­ten und sprüh­ten nur im In­nern, oder sie wa­ren in ei­nem ent­schei­den­den Le­bens­mo­ment ein­mal hoch auf­ge­fla­ckert und hat­ten sich in ih­rer ei­ge­nen Glut ver­zehrt. Je­den­falls war es ein Ge­sicht, das man nicht wie­der ver­gisst; auch in der leich­ten, an­mu­ti­gen Ver­beu­gung, mit der sie den Gruß mei­nes Freun­des er­wi­der­te, lag ein be­stri­cken­der Reiz. Of­fen­bar ge­hör­te die Dame den vor­nehms­ten, reichs­ten Krei­sen an und hat­te schon ihr Teil er­lebt! Als ich drü­ben auf der Stra­ße wie­der mit mei­nem Ge­fähr­ten zu­sam­men­kam, warf ich wie von un­ge­fähr eine Be­mer­kung über sei­ne in­ter­essan­te Be­kannt­schaft hin.

Du meinst die Dame im Ka­brio­lett? Ja­wohl, die ken­ne ich ober­fläch­lich. Bist du ihr nie be­geg­net? Da hast du et­was ver­lo­ren!

Das kommt da­von, wenn man sich, wie ich, zwölf Jah­re im Aus­land her­um­treibt.

Im Jah­re 1878, fuhr mein Freund fort, traf ich sie zum ers­ten Mal. Ich könn­te dir Din­ge über sie er­zäh­len, von de­nen kei­ne fünf le­ben­den Men­schen et­was wis­sen. Aber du bist Ro­man­schrei­ber, und ich traue dir nicht!

Wenn sie sich dir an­ver­traut hat, kannst du mir wohl auch ver­trau­en! ent­geg­ne­te ich.

Wer sagt denn, dass ich’s von ihr weiß? Sie hat ein­fach nicht hin­dern kön­nen, dass ich’s er­fuhr! – Also, wenn du dir durch­aus erst noch Be­we­gung ma­chen musst – auf Wie­der­se­hen – aber sei ja recht pünkt­lich.

Er ver­schwand in der Tür sei­ner Woh­nung, und ich ging wei­ter die Ave­nue hin­un­ter. Das blei­che Ge­sicht der Dame im Ka­brio­lett ver­folg­te mich förm­lich. Wer konn­te sie sein? was moch­te sie er­lebt ha­ben? wie hat­te mein Freund ihre Be­kannt­schaft ge­macht? wie die selt­sa­men Din­ge er­fah­ren, die so we­ni­ge au­ßer ihm wuss­ten, und mit de­ren Mit­tei­lung er, ganz ge­gen sei­ne sons­ti­ge Ge­wohn­heit, so zu­rück­hal­tend war? Han­del­te es sich um eine Ent­füh­rung, eine Ehe­schei­dung, oder was sonst? Ich ließ mei­ner Ein­bil­dung frei­en Lauf, na­tür­lich ohne zu ei­nem be­frie­di­gen­den Re­sul­tat zu ge­lan­gen. Ich nahm mir vor, wei­te­re Er­kun­di­gun­gen ein­zu­zie­hen, wo­bei ich mir nicht ver­hehl­te, dass die Wirk­lich­keit höchst wahr­schein­lich den ro­man­ti­schen Schlei­er zer­rei­ßen wür­de, den ich um die Un­be­kann­te ge­wo­ben. Ver­ge­bens mus­ter­te ich die vor­über­ei­len­den Wa­gen, in der Hoff­nung, ih­rer noch ein­mal an­sich­tig zu wer­den. Aber ob­wohl meh­re­re dem ih­ri­gen gli­chen, ent­deck­te ich ihn nicht; ver­mut­lich wohn­te sie im un­te­ren Teil der Ave­nue, wo noch im­mer ei­ni­ge der an­ge­se­he­nen äl­te­ren Fa­mi­li­en zu fin­den sind, trotz­dem Han­del und Ge­wer­be dort täg­lich mehr Bo­den ge­win­nen. Am bes­ten, ich schlug mir die gan­ze Sa­che gleich aus dem Sinn, denn, da ich so sel­ten in der New Yor­ker Ge­sell­schaft ver­kehr­te, war zehn ge­gen eins zu wet­ten, dass ich die ge­heim­nis­vol­le Schön­heit nie wie­der­se­hen wür­de.

Un­ter sol­chen Ge­dan­ken war ich bis ans Ende des Parks ge­langt; nun mach­te ich kehrt und be­gab mich auf den Rück­weg. Der Wes­ten war jetzt ein Glut­meer; die Ge­stal­ten, die an mir vor­über­eil­ten, er­schie­nen ganz dun­kel in dem grel­len Licht. Es war nun die Stun­de, wo die rei­che und vor­neh­me Ge­sell­schaft New Yorks zum Mit­ta­ges­sen nach Hau­se eil­te. Wie glück­lich und glän­zend sie zu sein schie­nen, die­se rei­chen Leu­te! Und doch be­gann um die­sel­be Zeit in ei­nem an­de­ren Vier­tel der Stadt eine an­de­re Men­schen­klas­se ihre rast­lo­se Tä­tig­keit, ih­ren nie en­den­den ge­hei­men Krieg ge­gen die Günst­lin­ge des Glücks. Seit Be­ginn der Welt­ge­schich­te ist die­ser Krieg ent­brannt und wird noch heu­te mit größ­ter Er­bit­te­rung fort­ge­führt. Zu­wei­len ge­lingt es et­li­chen der An­grei­fer, sich in die Rei­hen ih­rer Geg­ner zu drän­gen und, äu­ßer­lich we­nigs­tens, sich ih­nen gleich­zu­stel­len; manch­mal auch sin­ken die in An­se­hen und Wohl­le­ben Ge­bo­re­nen zu Ge­nos­sen der Kin­der der Nacht her­ab; denn die Grenz­li­nie zwi­schen bei­den ist nicht be­stimmt und dau­ernd.

In­des­sen war es Zeit ge­wor­den, an die Verab­re­dung mit mei­nem Freun­de zu den­ken und ihn ab­zu­ho­len.

2. Kapitel.

Kurz vor sie­ben Uhr ka­men wir am Bil­let­schal­ter in der Vor­hal­le des Zir­kus an. Vie­le Per­so­nen dräng­ten sich mit uns durch einen schma­len Gang, von dem aus wir in einen großen, halb­kreis­för­mi­gen Saal ge­lang­ten, des­sen etwa hun­dert Fuß lan­ger und acht­zig Fuß brei­ter in­ne­rer Raum mit Sand und Sä­ge­mehl be­deckt und auf drei Sei­ten von am­phi­thea­tra­lisch an­stei­gen­den Sit­zen um­ge­ben war. Ein leich­tes, höl­zer­nes Ge­län­der trenn­te die Are­na von den un­ters­ten Bän­ken, hät­te aber schwer­lich den dort Sit­zen­den wirk­li­chen Schutz ge­währt, wenn etwa ein wi­der­spens­ti­ges Pferd sich ein­fal­len ließ, zwi­schen die Zuschau­er hin­ein­zu­spren­gen. Doch wa­ren die­se Plät­ze eben­so gut be­setzt wie die obe­ren Rei­hen. Das Pub­li­kum be­stand zwar größ­ten­teils aus Ken­nern und Lieb­ha­bern von Pfer­den, doch fehl­te es auch nicht an an­de­ren Zuschau­ern, und die so­ge­nann­te gute Ge­sell­schaft war zahl­reich ver­tre­ten.

Un­se­re Plät­ze be­fan­den sich auf ei­ner der obe­ren Sitz­rei­hen; wir hat­ten sie kaum ein­ge­nom­men, als der Di­rek­tor mit der Peit­sche in der Hand in die Mit­te der Are­na trat und sich ge­gen die An­we­sen­den ver­neig­te. Er war groß, breit­schul­te­rig, von star­kem Mus­kel­bau, je­doch in sei­nen Be­we­gun­gen leicht und be­hän­de, den ziem­lich klei­nen Kopf um­gab blon­des, lo­cki­ges Haar, er hat­te hüb­sche Ge­sichts­zü­ge, scharf­bli­cken­de Au­gen, eine et­was ge­bo­ge­ne Nase und einen lan­gen Schnurr­bart. Nach kur­z­er An­spra­che, in wel­cher er sich über die Kunst des Bän­di­gens und Zu­rei­tens der Pfer­de ver­brei­te­te, gab er dem Stall­meis­ter einen Wink, mit der Vor­stel­lung zu be­gin­nen.

In die­sem Au­gen­blick ent­stand ein Geräusch auf der lin­ken Sei­te der Hal­le. Eine Dame in dun­kel­far­bi­ger Klei­dung kam den Gang her­un­ter, ihr folg­te ein jun­ger Mann in ta­del­lo­sem Ge­sell­schafts­an­zug, und bei­de nah­men in der vor­ders­ten Rei­he nahe am Ge­län­der Platz. Die Dame war ver­schlei­ert, ich er­kann­te sie je­doch so­fort, es war die ge­heim­nis­vol­le Un­be­kann­te, die wir am Nach­mit­tag im Ka­brio­lett ge­se­hen. Mein Ge­fähr­te, der sie zu glei­cher Zeit be­merk­te, zog die Au­gen­brau­en in die Höhe.

Wahr­haf­tig, ein Wink des Schick­sals, sag­te ich, dass du mir mit­tei­len sollst, wer sie ist und was du von ihr weißt! Also nur her­aus da­mit, ich bin ganz Ohr.

Ei­nes nach dem an­de­ren, er­wi­der­te der Jour­na­list, oder noch bes­ser, ich las­se dich wäh­len. Willst du wis­sen, wer sie ist, so stel­le ich dich ihr vor und über­las­se dich dann dei­nem ei­ge­nen gu­ten Glück. Willst du aber von mir Nä­he­res über sie er­fah­ren, so kann das nur un­ter ei­ner Be­din­gung ge­sche­hen.

Und die wäre?

Dass du dich ver­pflich­test, we­der nach ih­rem wah­ren Na­men zu fra­gen, noch ihre per­sön­li­che Be­kannt­schaft zu ma­chen. Nur dann kann ich’s vor mei­nem Ge­wis­sen ver­ant­wor­ten. Bis zur Pau­se hast du Zeit, dich zu ent­schlie­ßen – aber jetzt lass mich in Ruhe, ich will se­hen, wie er mit der Stu­te dort fer­tig wird.

Die Stu­te war ein schö­nes Tier, aber, wie ihr Ei­gen­tü­mer be­haup­te­te, voll­kom­men un­brauch­bar, weil sie die Un­sit­te hat­te, bei der ge­rings­ten Ver­an­las­sung scheu zu wer­den. Der Pfer­de­bän­di­ger, wel­cher voll­stän­dig ru­hig und ge­las­sen blieb, ja eine un­er­schüt­ter­li­che Fes­tig­keit zeig­te, trat dicht vor die Stu­te hin und blick­te ihr starr in die Au­gen. Nach we­ni­gen Se­kun­den trat er einen Schritt rück­wärts, ohne den Blick von ihr ab­zu­wen­den, und sie folg­te ihm wie ein Hund, wo­hin er ging. Nun brach­te man einen Sat­tel­gurt und eine Lei­ne her­bei; das rech­te Vor­der­bein des Tie­res wur­de fest­ge­bun­den, und nach kur­z­em Kamp­fe ge­lang es dem Tier­bän­di­ger, das Pferd zu Bo­den zu wer­fen. Auf der Wei­che der Stu­te sit­zend er­klär­te er nun sei­ner Zu­hö­rer­schaft Grund und Zweck die­ses Ver­fah­rens. Dann ließ er das Tier wie­der auf­ste­hen und trieb es in der Are­na im Krei­se her­um; er selbst ging hin­ter­drein, in ei­ner Hand die Zü­gel, in der an­de­ren Lei­ne und Peit­sche hal­tend, wäh­rend die Die­ner, um die Stu­te zu er­schre­cken, al­ler­lei Pa­pier­strei­fen und an­de­re Ge­gen­stän­de in der Luft schwenk­ten; so­bald sie aber Mie­ne mach­te, scheu zu wer­den, brach­te ein plötz­li­ches An­zie­hen der Lei­ne sie zit­ternd auf die Knie nie­der. Zu­letzt er­tön­ten Trom­meln und Trom­pe­ten vor den Ohren des ge­ängs­tig­ten Tie­res, Blech­pfan­nen klap­per­ten, Pis­to­len knall­ten auf al­len Sei­ten, bis die Stu­te nach kur­z­em aber hef­ti­gem Kamp­fe al­len Wi­der­stand auf­gab und ihre Furcht über­wand. Nun schirr­te man die Be­sieg­te an einen Wa­gen; von rechts und links er­hob sich ein wah­rer Höl­len­lärm, auf jede Wei­se ver­such­te man sie in Schre­cken zu set­zen. Sie aber ging ru­hig und un­be­irrt ih­res We­ges und wur­de un­ter dem don­nern­den Bei­fall der Zuschau­er aus der Are­na ge­führt.

Ich muss ge­ste­hen, dass ich der Vor­stel­lung nur mit ge­teil­ter Auf­merk­sam­keit ge­folgt war; mei­ne Bli­cke kehr­ten im­mer wie­der zu der Dame im dunklen Klei­de zu­rück. Sie saß un­be­weg­lich da, die Hän­de ruh­ten läs­sig in ih­rem Schoß; sie schi­en den Vor­gän­gen in der Are­na kein grö­ße­res In­ter­es­se zu schen­ken als dem un­aus­ge­setz­ten aber ge­wiss ganz ober­fläch­li­chen Ge­plau­der ih­res ge­schnie­gel­ten Beglei­ters. Es moch­te wohl nicht leicht sein, die­se Frau aus ih­rer Teil­nahm­lo­sig­keit auf­zu­rüt­teln; sie sah aus, als gäbe es für sie nichts Neu­es un­ter der Son­ne, als habe sie alle Il­lu­sio­nen hin­ter sich und su­che nur nach ir­gend et­was, das ihr eine Emp­fin­dung ent­lo­cken, sie in Auf­re­gung ver­set­zen kön­ne. Wenn sie zu letz­te­rem Zweck hier­her­ge­kom­men war, hat­te sie sich – das sah man ihr an – ent­schie­den ver­rech­net. Schon war sie im Be­griff, den Ort wie­der zu ver­las­sen, gab je­doch auf Zu­re­den ih­res Beglei­ters, der ihr viel­leicht noch et­was Be­son­de­res in Aus­sicht stell­te, den Ent­schluss wie­der auf und ver­harr­te auf ih­rem Sitz, wie je­mand, der sich in das Un­ver­meid­li­che fügt.

Das nächs­te Tier, das den Zuschau­ern vor­ge­führt wur­de, war ein klei­nes Berg­pferd, das die Ei­gen­heit hat­te, nach rück­wärts ge­hen zu wol­len. Sein Be­sit­zer be­rich­te­te, er sei ein­mal auf dem Lan­de zur Kir­che ge­fah­ren und habe das Pferd in ei­nem na­hen Wa­gen­schup­pen ein­ge­stellt. Nach be­en­de­tem Got­tes­dienst woll­te er es wie­der her­aus­ho­len, konn­te es aber in dem en­gen Raum nicht wen­den; nun sei es durch nichts in der Welt dazu zu brin­gen ge­we­sen, rück­wärts her­aus­zu­kom­men. Schließ­lich habe man die Rück­wand des Schup­pens ab­bre­chen müs­sen, um es durch die Öff­nung hin­aus­zu­füh­ren. An die­sem Pro­blem muss­te sich der Pfer­de­bän­di­ger wohl zwan­zig Mi­nu­ten lang ab­ar­bei­ten. Als es ihm nach un­glaub­li­cher An­stren­gung end­lich ge­lun­gen war, das Tier zum Rück­wärts­ge­hen zu be­we­gen, woll­te es durch­aus kei­nen Schritt mehr vor­wärts tun. Dem Mann perl­te der hel­le Schweiß auf der Stirn. Soll­te man es für mög­lich hal­ten, rief er mit ko­mi­schem Pa­thos und vor­wurfs­vol­lem Blick auf das stör­ri­ge Tier, dass der Be­sit­zer die­ses Pfer­des über­haupt je­mals zur Kir­che ge­lan­gen konn­te?

Der Spaß brach­te das Pub­li­kum zum La­chen, und mir schi­en, als zei­ge sich selbst in den Zü­gen der Dame zum ers­ten Mal ein schwa­cher Schim­mer von In­ter­es­se. Zehn Mi­nu­ten spä­ter war der Wi­der­stand des Tie­res ge­bro­chen, und nun kam der Haupt­ef­fekt des Abends an die Rei­he.

Ein kohl­schwar­zer Rap­pe wur­de her­ein­ge­führt, bei des­sen Er­schei­nen ein Mur­meln der Be­wun­de­rung durch die Zuschau­er­bän­ke lief. Er war nicht groß, schi­en aber voll­kom­men ohne Ma­kel; Mäh­ne und Schen­kel glänz­ten wie At­las; in je­der Be­we­gung, be­son­ders in der Art, wie er den Kopf hielt, trug er eine ge­wis­se Selbst­ge­fäl­lig­keit zur Schau, als sei er sich der ei­ge­nen Schön­heit be­wusst. Kein Zei­chen von Bös­ar­tig­keit war an ihm wahr­zu­neh­men; im Ge­gen­teil, er be­nahm sich edel und gut­mü­tig, wäh­rend er im Ring her­um­ge­führt wur­de – und doch soll­te die­ses Pferd die Un­tu­gend ha­ben, un­wi­der­ruf­lich und un­auf­halt­sam mit sei­nem Rei­ter durch­zu­ge­hen.

Als der Pfer­de­bän­di­ger schließ­lich mit­ten in der Are­na mit dem Rap­pen zu­sam­men­traf und ihm ins Auge schau­te, er­wi­der­te die­ser den Blick mit ei­ner Art höf­li­chen In­ter­es­ses, als woll­te er sa­gen, er freue sich, die Be­kannt­schaft des Herrn zu ma­chen und hof­fe, ihre ge­gen­sei­ti­gen Be­zie­hun­gen wür­den freund­li­cher Na­tur sein.

Wäh­rend ihm Zaum und Zü­gel an­ge­legt wur­den, stand er still wie ein Lamm, hielt den Kopf in die Höhe und schau­te das Pub­li­kum ver­ständ­nis­voll an, als schmeich­le es ihm, der Ziel­punkt der all­ge­mei­nen Auf­merk­sam­keit zu sein. Was von sei­ner un­be­zähm­ba­ren Wild­heit ver­lau­tet war, muss­te wohl stark über­trie­ben sein, er schi­en die Sanft­mut selbst, und wir ver­spra­chen uns we­nig Kurzweil von ihm.

Der Ver­such, das Tier zu Bo­den zu wer­fen, stieß je­doch schon auf Hin­der­nis­se; es zeig­te da­bei viel Feu­er und wi­der­setz­te sich so mut­voll, als gel­te es einen rich­ti­gen Zwei­kampf. Wie­der und im­mer wie­der warf sich der Pfer­de­bän­di­ger mit sei­ner gan­zen Kör­per­last ihm ent­ge­gen, je­des Mal aber mach­te der Rap­pe eine ge­schick­te Wen­dung und wehr­te den An­griff ab. Es war in­des nur eine Fra­ge der Zeit: schließ­lich ward das Tier doch be­zwun­gen und lag ru­hig am Bo­den.

Ich weiß nun, was ich tue! sag­te ich zu mei­nem Ge­fähr­ten.

So war­te doch! ent­geg­ne­te die­ser, der mich of­fen­bar miss­ver­stan­den – war­te nur, der Bur­sche wird schon noch sei­ne Tücken los­las­sen!

Ich spre­che ja nicht von dem Pfer­de, son­dern von der Dame im dunklen Hut.

Was ist mit ihr?

Sei so gut und er­zäh­le mir ihre Ge­schich­te; – ich ver­zich­te aufs Vor­stel­len.

Ja, so! Dei­ne Neu­gier ist also grö­ßer als dei­ne Galan­te­rie! Aber du musst war­ten, bis dies hier vor­bei ist. Der Mann soll nur auf sei­ner Hut sein! – Ha! ich hab’s doch ge­dacht! –

Wäh­rend wir spra­chen, hat­te man dem Pfer­de einen star­ken Lei­trie­men an­ge­legt und ließ es lang­sam in der Are­na die Run­de ma­chen. An sei­nen rech­ten Vor­der­fuß war eine Lei­ne ge­bun­den, die durch den Ring am un­tern Sat­tel­gurt lief und vom Pfer­de­bän­di­ger fest­ge­hal­ten wur­de. Als er den Kreis etwa zur Hälf­te durch­lau­fen und in un­se­rer Nähe an­ge­langt war, blieb die Peit­schen­schnur in ei­nem Spalt des Ge­län­ders hän­gen, und der Griff flog dem Man­ne aus der Hand. Bei dem Ver­such, die Peit­sche wie­der auf­zu­he­ben, ließ er die Lei­ne fal­len.

So­fort, als hät­te der Rap­pe nur auf die­sen Au­gen­blick ge­war­tet, tat er einen Sei­ten­sprung. Sein Füh­rer stemm­te sich mit al­ler Ge­walt rück­wärts, bohr­te die Fer­sen in den Sand und zog mit An­stren­gung sei­ner gan­zen Mus­kel­kraft den Lei­trie­men straff. Trotz sei­ner Lö­wen­stär­ke war es ihm je­doch völ­lig un­mög­lich, das Tier al­lein mit Hil­fe des Zü­gels zu be­zwin­gen. Es tat einen zwei­ten Sprung in die Que­re und zwar so plötz­lich, dass der Pfer­de­bän­di­ger das Gleich­ge­wicht ver­lor und auf sei­ne rech­te Schul­ter nie­der­stürz­te. Er hat­te je­doch die Zü­gel fest um die Hand ge­wi­ckelt und ließ sie nicht fah­ren. Das Pferd schleif­te ihn auf dem Bo­den hin, schlug nach vorn und hin­ten aus und ver­such­te, ganz ra­send vor Wut, ihn ab­zu­schüt­teln.

Die Zuschau­er hat­ten an­fäng­lich den Ernst der Lage kaum be­grif­fen; als sie aber jetzt den Mann hilf­los un­ter den Hu­fen des Pfer­des lie­gen sa­hen, er­tön­te ein all­ge­mei­ner Schre­ckens­ruf; man sprang von den Sit­zen, wo­bei eine Rei­he von Bän­ken pol­ternd um­fie­len. Der Lärm und die Ver­wir­rung schie­nen das Tier noch ra­sen­der zu ma­chen.

In­zwi­schen wa­ren die bei­den Ge­hil­fen her­zu­ge­eilt und ver­such­ten den Rap­pen beim Kop­fe zu fas­sen; aber er warf den einen zu Bo­den und ver­setz­te dem an­de­ren mit dem Huf einen Schlag in die Sei­te. Nur wenn es ge­lang, die Lei­ne wie­der zu fas­sen, war ir­gend­wel­che Aus­sicht vor­han­den, das Pferd zu bän­di­gen. Der Mann, der durch die Are­na ge­schleift wur­de, hat­te sei­ne Geis­tes­ge­gen­wart nicht ver­lo­ren – er wuss­te voll­kom­men, wor­auf es an­kam, aber er konn­te die Lei­ne nicht er­grei­fen, ohne die Zü­gel fah­ren zu las­sen, und das schi­en ihm zu ge­fähr­lich.

Der gan­ze Vor­gang hat­te kaum eine Mi­nu­te ge­dau­ert, aber es wur­de im­mer kla­rer, dass es bald zu ei­ner Ka­ta­stro­phe kom­men müs­se. Wenn die schwa­che Schran­ke, wel­che das Pferd von den Zuschau­ern trenn­te, zer­brach, konn­te nichts mehr das dro­hen­de Un­heil ab­wen­den. – Schon durch das Drän­gen und Sto­ßen über die um­ge­fal­le­nen Bän­ke hat­te sich das Pub­li­kum man­che Ver­let­zung zu­ge­zo­gen. Na­tür­lich hät­ten die Zuschau­er nichts Klü­ge­res tun kön­nen, als den Saal zu ver­las­sen, wer das aber woll­te, fand den Aus­gang ver­sperrt, weil die Neu­gier die meis­ten an Ort und Stel­le fes­sel­te, so sehr auch die Furcht sie von dan­nen trieb.

Der Rap­pe be­fand sich jetzt rech­ter Hand an der Ecke der Are­na. Plötz­lich rich­te­te er sich auf den Hin­ter­bei­nen in die Höhe, sprang über den Mann am Bo­den hin­weg, ohne ihn je­doch mit den Hu­fen zu be­rüh­ren, und tat einen Satz nach der lin­ken Sei­te des Rau­mes hin. Al­ler Bli­cke wand­ten sich nach die­ser Rich­tung; mir und mei­nem Ge­fähr­ten wur­de so­fort klar, dass die schö­ne Frau dort auf dem vor­ders­ten Platz aufs höchs­te ge­fähr­det war. Wir sa­hen sie sich er­he­ben, sich ker­zen­ge­ra­de in die Höhe rich­ten, ih­ren Schlei­er zu­rück­wer­fen. In töd­li­chem Schreck war ihr Beglei­ter auf­ge­sprun­gen, er woll­te flie­hen, strau­chel­te aber und fiel der Län­ge nach zur Erde. Wie ver­hal­te­ne Angst lief ein selt­sam zi­schen­der Laut durch das gan­ze Haus, als das ra­sen­de Tier jetzt auf das Ge­län­der zu­stürz­te. Um das Le­ben der Dame schi­en es ge­sche­hen.

Wa­rum ret­te­te sie sich nicht durch schnel­le Flucht? Hat­te der Schre­cken ihre Glie­der ge­lähmt? – Kei­nes­wegs. Ich sah, wie es in ih­ren großen, mü­den Au­gen auf­flamm­te, wie ihre blei­chen Wan­gen sich bis an die Schlä­fen mit Glut über­zo­gen. Sie sprüh­te von Feu­er und Le­ben, es schi­en, als ob ihr die Ge­fahr und Auf­re­gung einen wah­ren Ge­nuss ver­schaff­te.

Wie es zu­ging, dass die­ser Au­gen­blick des wil­den Ent­zückens nicht zu­gleich ihr letz­ter war, blieb uns zu­erst un­er­klär­lich. Schon be­rühr­te der Rap­pe mit den Vor­der­fü­ßen die schlan­ke Ge­stalt, die nicht vor ihm zu­rück­wich, schon setz­te er zum Sprung an über das Ge­län­der – da schwank­te er plötz­lich und stürz­te nie­der, im Fall die Schran­ke mit sich rei­ßend. Bald be­grif­fen wir den Sach­ver­halt: es war dem Man­ne, der noch im­mer die Zü­gel hielt, end­lich ge­lun­gen, sich der Lei­ne wie­der zu be­mäch­ti­gen; mit der Kraft der Verzweif­lung hat­te er sie an­ge­zo­gen und das Pferd zu Fall ge­bracht. Jetzt stand er zum ers­ten Mal wie­der auf den Fü­ßen, keu­chend, mit Staub be­deckt, aber, wie es schi­en, mit hei­len Glie­dern. Die Men­ge ju­bel­te ihm ent­ge­gen; er ach­te­te je­doch nicht auf den Bei­falls­sturm, son­dern sag­te, zu der Dame ge­wandt:

Mir war’s zu­letzt recht ban­ge um Sie, gnä­di­ge Frau! Es wird Ih­nen doch nichts ge­scha­det ha­ben?

Wir stan­den jetzt in ih­rer un­mit­tel­ba­ren Nähe. – Im Ge­gen­teil, hör­te ich sie er­wi­dern, es hat mir großes Ver­gnü­gen ge­macht.

Der baum­star­ke Mann warf ihr einen schnel­len Blick der Be­wun­de­rung zu, dann ver­zog er den Mund, gut­mü­tig la­chend: Das muss ich sa­gen, mein­te er, Sie sind leicht zu be­frie­di­gen, gnä­di­ge Frau, so et­was wäre nicht je­der­manns Ge­schmack.

Nun sprach er in rau­em Ton zu dem Rap­pen, der mit zit­tern­den Flan­ken und weit ge­öff­ne­ten Nüs­tern am Bo­den lag: »Mach’ dass du auf­stehst! Dein Spiel ist nun aus, jetzt geht’s wie­der an die Ar­beit! – Neh­men Sie, bit­te, Ihre Plät­ze wie­der ein, mei­ne Da­men und Her­ren, wand­te er sich an das Pub­li­kum, in fünf Mi­nu­ten wird das Tier so zahm sein, dass ein Kind es lei­ten kann!« –

Bei­fall­ge­mur­mel durch­lief die Zuschau­er­rei­hen; die meis­ten ent­schlos­sen sich wirk­lich, da­zu­blei­ben. Un­ter­des­sen hat­te sich der ge­schnie­gel­te jun­ge Herr zwi­schen den Bän­ken wie­der em­por­ge­ar­bei­tet, eine di­cke Beu­le auf der Stirn, lei­chen­blass und völ­lig ver­wirrt starr­te er um­her. Er al­lein un­ter al­len An­we­sen­den wuss­te nicht, was sich zu­ge­tra­gen. Ein kal­tes Lä­cheln spiel­te um die schö­nen Lip­pen der Un­be­kann­ten; sie zog den Schlei­er wie­der her­ab, nahm den Arm ih­res noch ganz be­stürz­ten Beglei­ters und ver­ließ mit ihm die Hal­le. Wir folg­ten ihr auf dem Fuße, der Jour­na­list und ich. Im Gang hob ich einen Hand­schuh auf, den sie fal­len ge­las­sen, und habe ihn seit­dem als An­den­ken be­wahrt.

3. Kapitel.

Als mein Freund und ich ins Freie ge­langt wa­ren, gin­gen wir erst eine Wei­le schwei­gend ne­ben­ein­an­der her. End­lich sag­te ich: Es sah aus, als su­che sie den Tod; – ein rät­sel­haf­tes Weib!

Ja, ent­geg­ne­te mein Ge­fähr­te, es hat­te ganz den An­schein. Da wer­de ei­ner klug dar­aus! Wenn eine Frau zum ers­ten Male in die Welt tritt, bringt ein Stroh­halm sie au­ßer Fas­sung; kaum aber sind ein paar Jah­re vor­über, so ist ihr al­les zum Über­druss; sie hat für nichts mehr Ge­fühl, greift nach Gift und Dolch und zuckt nicht ein­mal mit der Wim­per! – So ab­ge­brüht wer­den doch die Män­ner nie.

Dann muss sie sich sehr un­glück­lich füh­len.

O, das nicht ge­ra­de – we­nigs­tens nicht im ge­wöhn­li­chen Sin­ne. Sie ist nur völ­lig bla­siert: das er­klärt al­les. Ich sage dir, es ist der rei­ne Über­druss! Nicht etwa, dass sie ihr Le­ben los sein möch­te, im Ge­gen­teil, sie brennt dar­auf, zu füh­len, dass sie wirk­lich lebt. Sie ist in­wen­dig zu Eis er­starrt, und es be­darf ei­ner wah­ren Höl­lenglut, um sie wie­der auf­zut­au­en.

Was fehlt ihr denn aber? …

Das fin­de ein­mal her­aus! – Sie hei­ra­te­te einen der bes­ten Men­schen von der Welt, aber zwan­zig Jah­re äl­ter als sie. Kin­der hat­ten sie kei­ne. Bis vor zehn Jah­ren war sie eine der ge­fei­erts­ten Schön­hei­ten New Yorks und noch heu­ti­gen Ta­ges hübsch und geist­reich ge­nug, um sich be­wun­dern zu las­sen. Das Paar war an­fäng­lich sehr reich, aber der Mann ließ sich durch sei­nen Ge­schäfts­teil­ha­ber be­trü­gen, und ver­lor etwa drei Vier­tel sei­nes Ver­mö­gens. Im­mer­hin blie­ben ih­nen noch jähr­lich drei- bis vier­tau­send Dol­lars, und für zwei klu­ge Leu­te wäre das ge­nug. Jetzt be­sitzt sie wie­der eben­so­viel wie zu­vor, ja noch mehr, so­viel ich weiß.

Hat der Mann al­les wie­der her­ein­ge­bracht?

Das nicht ge­ra­de. Im Jah­re 1882 starb sei­ne un­ver­hei­ra­te­te Schwes­ter und hin­ter­ließ ihm ihr Ver­mö­gen; ein hal­b­es Jahr spä­ter folg­te er ihr ins Grab, und das Geld ver­blieb sei­ner Wit­we.

Und sie ist noch Wit­we?

Ich habe nicht ge­hört, dass sie sich wie­der ver­hei­ra­tet hät­te.

Gibt denn ihre Le­bens­wei­se ir­gend­wie An­stoß?

Im Ge­gen­teil, sie be­ob­ach­tet alle ge­sell­schaft­li­chen For­men; sel­ten sieht man sie ir­gend­wo ohne weib­li­che Beglei­tung, der jun­ge Mensch, den sie heu­te Abend mit­brach­te, ist der Sohn ei­ner Cou­si­ne, den sie in die Welt ein­führt – er ist ihr ver­mut­lich ge­le­gent­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­