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Christoph Gottwald, geboren 1954, M.A. der Germanistik, lebt und arbeitet in seiner Heimatstadt Köln als Schriftsteller, Drehbuchautor, Dokumentarfilmer, Regisseur und Theatermacher.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: picture alliance/Westend61

Umschlaggestaltung: Franziska Emons-Hausen, nach einem

Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-372-1

Drei Köln Krimis

Überarbeitete Neuausgaben

Die drei Romane wurden aus Gründen der Authentizität in der alten Rechtschreibung belassen.

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Für Tom Maier (†2017)

»Find ich gut!«

Es gab eine Zeit ohne Regionalkrimis, da waren die Regale in den Buchhandlungen spärlich gefüllt mit Rowohlt-, Ullstein- und Goldmann-Krimis. Der deutsche Kriminalroman führte das graue Leben der Soziokrimis. Zu der Zeit kam mir die vage Idee, einen Krimi zu veröffentlichen, der in Köln spielte und auch so heißen sollte: Köln Krimi. Die Idee war da, es fehlte der Text. Ich streute die Idee im damaligen sozialen Netzwerk. Bald schon wurde mir auf einem Bierdeckel eine Telefonnummer gereicht. »Ruf mal den Christoph an, der hat was geschrieben«, hieß es. Wir trafen uns. Christoph gefiel mir auf Anhieb.

Ein Autor mitten aus dem Leben: Sohn eines Verlegers, im Norden Kölns, eben nicht in Nippes, aber knapp daneben, trinkfest, aber selten trunken, Germanistikstudent und Theatermacher an der universitären Studiobühne. Dazu gut aussehend (bis heute übrigens) und sympathisch. Wenn man so jemanden zu Beginn einer Verlegerlaufbahn trifft und der dann auch noch ein Manuskript in der Hand hat, dem man anriechen kann, dass mit ein wenig oder vielleicht ein bisschen mehr Arbeit daraus der erste deutsche Regionalkrimi werden kann, da wäre man ja bescheuert, wenn man nicht die ausgestreckte Hand ergreifen und sagen würde: »Find ich gut, Christoph, das machen wir.«

So war das damals im Chin’s, einem bald danach legendären Lokal in der Straße Im Ferkulum. »Tödlicher Klüngel« wurde ein großer Erfolg und der nächste Krimi »Lebenslänglich Pizza« ein noch größerer. Vielleicht auch wegen der Titel, die wir gemeinsam in der Sportbar am Rudolfplatz ausgeheckt hatten.

Es war halt ganz schön regional damals, das Büchermachen, und das hat nicht unerheblich zu deren Erfolg beigetragen … und es hat Spaß gemacht.

Hejo Emons

In Sachen »Lebenslänglich Pizza«

Egal, ob Kommissar Maigrets Pariser Arrondissements oder Philip Marlowes Straßen von Los Angeles: Im Kriminalroman spielten die Orte und Plätze, Cafés und Bars schon immer eine entscheidende Rolle – je akkurater gezeichnet, desto besser. Dass man auch auf dem Stadtplan der Handlung folgen konnte, war ein wichtiger Aspekt der Realitätsnähe, die besonders die amerikanischen Kriminalromane der Hardboiled-Schule auszeichnete.

Der deutsche Krimi der siebziger und frühen achtziger Jahre war dagegen seltsam ortsungebunden, wenig verwurzelt in einer Stadt und ihrer Atmosphäre – allenfalls in einem schwer lokalisierbaren sozialen Biotop beheimatet.

Als angehender Lektor hatte ich damals immer bedauert, dass die Coolness und Lakonie der amerikanischen Romane in der hiesigen Produktion so schwer zu finden war – und dann fiel mir Christoph Gottwalds »Lebenslänglich Pizza« in die Hände. Ein Roman, der so nur in Köln denkbar war, dessen chronisch geldknapper, nur selten aufs Maul gefallener Held Manni Thielen in höchst dubiosen Kneipen abhängt, in dem die Frage der Gesetzmäßigkeit äußerst großzügig ausgelegt wird und Drogen, Prostitution und Zockerrunden eine entscheidende Rolle spielen.

Als Junglektor ist die verlegerische Einflussnahme begrenzt. Man kann nur dort Tore schießen, wo man eingewechselt wird. Ich war gerade im Rahmen meiner Lektorenausbildung beim Buchclub gelandet. Auch hier wurde ein Programm – wie man heute sagt – kuratiert, um den Mitgliedern in jedem Quartal ein Buchangebot zu unterbreiten, das auf ihren Lesegeschmack abgestimmt war. Und mit dem Argument, im Familienpaket müsste auch unbedingt was für den Nachwuchs dabei sein, konnte ich in der Programmkonferenz den Knaller aus Köln durchsetzen. Es war einfach schön, in diesem Umfeld ein wenig für Randale zu sorgen. Schnell einigte ich mich mit Hejo Emons über die Konditionen. Und so kam es, dass im Jahr 1986 die an Danielle Steel und Sandra Paretti gewöhnten Club-Mitglieder einen wunderbaren Krimi zugeschickt bekamen, in dem so Dialoge standen wie:

»Jetzt halt mal die Luft an, Ragazzo. In die Sache bin ich damals durch eigene Blödheit reingeraten. Und da blieb mir gar nichts anderes übrig, um meine eigene Haut zu retten. Damals war ich am Ende, kein Geld, keine Frauen …«

»Und jetzt? Was bist du jetzt, du Penner?« fiel ihm der Südländer ins Wort. »Hast du jetzt etwa Geld?«

Manni versuchte ein Grinsen. »So ganz rosig sieht es nicht aus.«

»Und Frauen! Hast du etwa eine?«

»Eine?«

»Ja, ja, du rennst mit den Zeitungsartikeln über dich und deine Heldentaten durch die Friesenstraße, steckst sie allen Damen in den Ausschnitt und hoffst, daß dich eine für lau mitnimmt!«

»Na und?« Manni grinste noch immer. »Besser als Cannelloni zu stopfen.«

»Lebenslänglich Pizza« hat auch nach über dreißig Jahren nichts von seinem Drive eingebüßt und bestätigt so die schöne Erkenntnis, dass Köln mit den großen Orten der Kriminalliteratur mithalten kann.

Ulrich Genzler, langjähriger Verleger des Heyne Verlags

TÖDLICHER
KLÜNGEL

Wie alles begann

Neun Jahre lang stieg ich am Ebertplatz aus der Straßenbahn und eilte zum Thürmchenswall, wo das humanistische Dreikönigsgymnasium damals seine Zöglinge erwartete. Freistunden und manche Nachmittage verbrachten meine Freunde und ich im Café Eigelstein, genannt »San Trop«, in friedlicher Koexistenz mit den Jungs und Mädels aus dem Milieu, die regelmäßig aus dem gegenüberliegenden Puffgässchen Im Stavenhof herüberkamen, um sich von Änni Kaffee oder Whisky-Cola servieren zu lassen. Ihre originelle Sprache, ihre selbstbewussten Gesten und Posen, ihr Wille, sich niemals unterkriegen zu lassen, und die Aura der Zusammengehörigkeit, die sie stark und unverwundbar erscheinen ließ, beeindruckten mich nachhaltig, im Gegensatz zu der ungleich farbloseren Welt des akademischen Mittelstands, in der ich schlief, Hausaufgaben machte und die Thriller von rororo las, die meine Eltern abonniert hatten.

Vor den prägenden Jahren rund ums San Trop erschwindelte ich mir im Alter von zehn Jahren ein kulturelles Großerlebnis, das die zarte Gewebestruktur meiner kindlichen Seele brandmarkte wie ein glühendes Brenneisen den Arsch eines Jungbullen: Als frischgebackener Sextaner musste ich zusehen, wie vor dem Capitol am Friesenplatz Massen von Jugendlichen und Kindern »ab 12« zu den Kassenhäuschen drängten, um Karten für den Film »Der Schatz im Silbersee« mit Pierre Brice und Lex Barker zu erstehen. Da ich gehört hatte, dass beim Einlass Ausweiskontrollen durchgeführt würden, entfernte ich mit Tintenkiller auf meinem Schülerausweis die letzte Ziffer meines Geburtsdatums und machte mich zwei Jahre älter.

Als ich nach der Mittagsvorstellung dann wie im Rausch aus Karl Mays Welt hinaus ins blendende Licht des belebten Hohenzollernrings trat, war in mir die Wunschvorstellung erwacht, einmal der Regisseur beeindruckender Filme zu sein. Da mir nach dem Abitur aber das Selbstvertrauen fehlte, mich auf den beiden renommierten Filmschulen in München oder Berlin zu bewerben, schlug ich einen anderen Weg ein. Ich schrieb mich an der Universität Köln für verschiedene Studiengänge ein, erbrachte halbherzig die geforderten Leistungsnachweise und verfasste nachts Drehbücher, Theaterstücke, Hörspiele und Gedichte, die ich unverlangt an die maßgeblichen Entscheidungsträger schickte.

Alle Stoffe wurden abgelehnt. Trost und einen emotionalen Anker jenseits des anonymen Bildungsgeklöppels fand ich in der Studiobühne und Filmwerkstatt, wo ich mit Schwestern und Brüdern im Geiste kreative Projekte realisierte und 1980 mein Theaterstück »Hephaistos oder die Geburt der Halbgötter« inszenieren konnte. Am Tag der Premiere erschien in der Janus-Presse mein Lyrikband »Versteinerungen – Gedichte aus einer großen Stadt«.

Um finanziell unabhängig zu sein, sorgte ich während des Studiums selbst für meinen Lebensunterhalt als Fremdenführer, als Kellner, als Auslieferungsfahrer eines Pharmavertriebs und auf der Messe als Bote der Pressestelle, bis ich den Taxischein machte und mich fortan jede Donnerstag- und Freitagnacht am Steuer eines ausgelutschten Mercedes Diesel durch die Stadt treiben ließ. Ich lernte die dunkelsten Ecken Kölns kennen, und wenn ich an den Warteplätzen stand, malte ich mir aus, was hinter den noch beleuchteten Fenstern der Häuser um mich herum gerade passierte, wer wohl als Nächstes in meinen Wagen steigen und wohin die Fahrt gehen würde. Jeder Gast lud seine Geschichte mit ins Auto ein, egal, ob er sie mir erzählte oder ob ich sie mir aus seinem Äußeren, seinem Geruch, seinem Verhalten oder dem Startpunkt oder dem Ziel der Fahrt zusammenreimte.

Manche Gäste begannen sofort zu reden, einfach so und schonungslos. Von vielen Gästen kannte ich nach dreißig Minuten Fahrtzeit die ganze Geschichte. Mit Details, die so intim waren, dass ich mich schämte, sie als Fremder erfahren zu haben. Oft sagten Fahrgäste, bevor sie an ihrem Ziel ausstiegen, ich solle noch kurz vor der Haustür stehen bleiben und ihnen zuhören. Irgendwann legten sie dann ein stattliches Trinkgeld auf die Mittelkonsole und bedankten sich herzlich. Manche sagten, es sei toll gewesen, sich mal wieder so richtig gut mit einem netten Menschen unterhalten zu haben. Dabei hatte ich kein einziges Wort gesagt.

Nach solchen Erlebnissen schrieb ich meist ein paar Stichworte in mein Notizbuch, bevor ich den Diesel wieder anwarf. Wenn ich dann nach der Schicht um sieben Uhr morgens in meine schräge Dachwohnung am Hansaring zurückkehrte, war ich oft so aufgekratzt, dass ich noch lange wach lag. In diesen Stunden entstand die Idee, einen Kriminalroman zu schreiben, der in Köln spielt. Mit vielen Dialogen darin, damit ich das Werk nach dem Erscheinen den wichtigen Filmbossen zeigen könnte, und die würden sagen: »Da ist ja endlich mal einer, der weiß, wie das wahre Leben spricht, nicht wieder so einer, bei dem man bei jedem Satz das Papier rascheln und die Schreibmaschine jaulen hört.«

Da ich fasziniert war von Raymond Chandlers Held Philip Marlowe, der sich lakonisch durchs nächtliche Los Angeles der dreißiger Jahre schlug, erfand ich einen Helden, der auf ähnliche Art seinen Weg gehen muss, allerdings ohne Revolver und Handschellen in den Taschen seines Trenchcoats: Manni Thielen, achtundzwanzig Jahre alt, ein frecher Loser mit dem Herz am rechten Fleck, der sich getrieben von Geldnot und Abenteuerlust in fatale Zusammenhänge verstrickt, aus denen er sich nur befreien kann, indem er die wahren Schuldigen überführt.

Da ich nicht der geborene »Beschreiber« war (und bin), dem es mühelos gelingt, über Seiten hinweg so fesselnd in Worte zu fassen, wie die Nachbarin an einem frühen Morgen im September eine Kartoffel aus dem Keller holt, dass der Leser vor Spannung fast das Atmen einstellt, brauchte ich eine Initialzündung für die Machart meiner Prosa. Auch dabei half mir Raymond Chandler. Zum einen machte er mir dieses Problem überhaupt erst bewusst mit seiner Aussage, allein der Stil entscheide über die Qualität eines Romans, und zum anderen übergab er mir in seinem Essayband »Die simple Kunst des Mordes« den Schlüssel zur Lösung meines Dilemmas. In einem guten Kriminalroman würde nicht gedacht, sondern nur gehandelt und geredet, schrieb Chandler. Zudem dürfe der Autor niemals die Perspektive des Protagonisten verlassen. Der Leser ist immer genauso schlau oder genauso dumm wie der Held.

Warm ummantelt mit diesen Dogmen des genialen R.C. machte ich mich ans Werk und hatte nach vier Monaten den Roman in zwei große Chinakladden gekritzelt und anschließend mit zwei Durchschlägen abgetippt auf meines Vaters alter Schreibmaschine aus dem Hause Triumph. Ich gab dem Text den Titel »Es tut mir leid um Sie, Herr Thielen« und schickte das Original an Rowohlt und den ersten Durchschlag an den Ullstein Verlag. Von Rowohlt erhielt ich nach sechs Monaten eine Absage, von Ullstein habe ich bis heute nichts gehört. So verschwand das Manuskript für ein paar Jahre in meiner Schublade, bis mich eines Tages Knut Pries anrief, ein Bekannter, dem ich einst im Blue Shell, wo er als DJ tätig war, von meinem Köln-Krimi-Projekt erzählt hatte. Knut berichtete, sein Freund Hejo Emons gründe einen Verlag für anspruchsvolle, aber frisch und frech daherkommende Publikationen, die das Thema Köln zum Inhalt hätten. Auch eine Reihe mit Köln-Krimis sei geplant. Was denn aus dem Projekt geworden sei, von dem ich ihm einst erzählt hätte.

So kam es, dass Hejo Emons auf der Party, zu der ich anlässlich meines dreißigsten Geburtstags ins Filmhaus an der Luxemburger Straße eingeladen hatte, in Begleitung seines Lektors Tom Maier erschien und mir den Andruck des Covers von »Tödlicher Klüngel« überreichte. Ich war vollkommen geplättet von der Professionalität der Aufmachung und der mutigen Design-Idee, den wohl weltweit ersten Krimi in weißem Look auf den Markt zu werfen.

»Tödlicher Klüngel« erschien Ende November, und in der ersten Adventswoche präsentierten Jürgen von der Lippe, Frank Laufenberg und Marijke Amado einen witzigen Ausschnitt des Romans im damals sehr beliebten WWF Club als szenische Lesung, die ich dann per Pistolenschuss unterbrechen und das Buch weitere fünf Minuten hemmungslos bewerben durfte, während hinter der Bühne Talk Talk, eine meiner damaligen Lieblingsbands, mit der ich vorher in der Kantine Kölsch getrunken hatte, darauf wartete, ihren gerade erschienenen Hit »It’s My Life« dem deutschen Fernsehpublikum zu präsentieren. In jenem Weihnachtsgeschäft führten zwei Titel unangefochten die Verkaufscharts der Kölner Buchhandlungen an. Der andere war Günter Wallraffs »Ganz unten«.

Christoph Gottwald

I

»Gib mir noch ein Kölsch«, lallte er.

»Geh nach Hause, Manni, du bist voll«, raunzte Joe, der Wirt des Golden Hill, über den Tresen.

»Noch ein Kölsch, hab ich gesagt!« Manni kniff die Augen zusammen.

»Du kriegst nichts mehr, du hast genug, Mann.« Joe war jemand, der es nicht gewohnt war, etwas zweimal zu sagen.

Manni blickte an der Theke lang. »Jeden dummen Säufer pumpst du ins Delirium, und mich schickst du nach Hause, du blöder Hund!«

Der Wirt hielt ein Glas unter den Zapfhahn. »Halt’s Maul und verschwinde«, sagte er und stellte das Bier vor den fetten Riesen, der seine Umgebung mit endlosen Seemannsgeschichten nervte.

Die suppentellergroße Hand des redseligen Matrosen näherte sich behäbig dem Glas, aber Manni war schneller, er schnappte sich das Bier und setzte es an die Lippen. Eine schwere Pranke schloß sich um seinen Oberarm. Manni schüttete den Gerstensaft in zwei Zügen durch die Kehle und stellte das leere Glas auf den Tresen zurück. Der Druck um seinen Arm verstärkte sich.

»Nimm deine dreckige Pfote weg, du Fettsack«, sagte er angewidert.

Der Matrose sprang vom Hocker, riß Mannis Körper herum und holte aus. Manni sah in zwei schmale Säuferaugen, und er sah die Faust kommen. Er wich aus und trat zu. Er traf genau zwischen die massigen Schenkel, der feiste Kopf sackte röchelnd ab; Manni erwischte mit der Rechten das Kinn, mit der Linken die Nase. Krachend knallte der Seemann gegen den Flipperautomaten und sackte in sich zusammen wie ein kaputter Luftballon. Zwei Männer rissen Manni die Arme auf den Rücken, ein dritter schlug ihm in den Magen, auf die Ohren, in den Nacken. Joe hielt die Schwingtür auf, die Männer warfen ihn auf den Bürgersteig.

»Euch mach ich fertig«, stöhnte Manni, »einen nach dem anderen.« Er rappelte sich hoch und wankte, gegen die Häuserwand gestützt, die Straße entlang.

Jetzt gab es nur noch eins: Rita’s Saloon auf dem Friesenwall. Früher ein teurer Strip-Laden, heute ein mieses Rattenloch mit rotem Licht, vergilbten Pornobildern an den Wänden und schmutzigen Klos.

Wie jede Nacht um diese Zeit war der Laden voll und heiß wie Rio im Hochsommer.

»Wie siehst du denn aus, Kleiner?« grinste Rita und klimperte mit ihren falschen Wimpern. Ihr Gesicht sah aus, als hätte jeder ihrer Liebhaber eine Falte hineingekerbt, ihr Körper war aufgequollen – an den entscheidenden Stellen ganz besonders, ihr Gebiß nicht mehr vollzählig, aber ihr wülstiger, knallrot bemalter Mund noch immer eine Sensation. Sie machte Manni ein Bier. »Wann zahlst du deinen Deckel?« fragte sie und grinste nicht mehr.

»Morgen«, sagte Manni, »du kannst dich darauf verlassen.«

»Okay, ich verlaß mich darauf.« Sie schaute den Bierdeckel an, auf dem Mannis Alkoholkonsum registriert war. »Sechsundachtzig Mark, ganz ordentlich.«

»Scheiße!« Manni rieb sich die dröhnenden Schläfen.

»Mich geht’s zwar nichts an«, sagte Rita leise, »aber mich würde doch mal interessieren, wie du wieder aus dem Dreck rauskommen willst.«

»Arbeitsamt«, sagte Manni, »irgendwann müssen die mich vermitteln.«

»Und wie zahlst du deine Miete zur Zeit?«

»Überhaupt nicht, der Vermieter wird langsam ungeduldig.«

Ritas Stirn zeigte einige zusätzliche Falten, dann glitzerte etwas in ihren Augen. »Hör mal, mein Junge«, sagte sie, »ich kenne da einen ziemlich runtergekommenen Privatdetektiv; ich bin sicher, er könnte gut einen gebrauchen wie dich, einen, der zäh ist und nicht viel zu verlieren hat.«

»Privatdetektiv?« Manni kratzte sich am Kopf. »Schreib mir mal seine Adresse auf.«

Rita bekritzelte einen Bierdeckel, er steckte ihn ein.

»Zwei Whisky mit Eis«, sagte eine Stimme hinter ihm. Manni drehte sich um.

»Was haben sie denn mit dir gemacht?« fragte Monika.

»Nichts von Bedeutung«, erwiderte er und starrte auf das Streichholz, das er langsam zerstückelte.

»Du siehst schlimm aus, ich weiß nicht, ob …«

»Halt bloß den Mund«, fiel er ihr ins Wort. »Ich kann es nicht mehr hören.«

Rita brachte die Getränke. Manni leerte ein Glas und zerbiß das Eis. Monikas Hand streichelte seinen Nacken, ihre Zunge spielte mit seinem Ohrläppchen. Er griff nach dem zweiten Glas, trank es aus und hustete.

»Komm mit zu mir«, flüsterte Monika. Manni fummelte eine Zigarette aus der zerdrückten Packung und steckte sie an.

»Bitte, nur heute nacht. Ich brauche dich.«

Manni schaute in ihre traurigen Augen. »Mich brauchst du?« Kopfschüttelnd grinste er sie an; sein verbeultes Gesicht schmerzte. Monika nickte.

Es war bereits später Nachmittag, als Manni die Gertrudenstraße ansteuerte. An der Eingangstür zu Haus Nummer 24–28 ein verwittertes Messingschild: »Robert Wieland, Privatdetektiv, Aufträge aller Art, 3. Stock«. Manni drückte die Tür des heruntergekommenen Bürohauses auf und fand am Ende der düsteren Diele einen Fahrstuhl, der ihn ächzend in den dritten Stock beförderte. Ein langer Flur mit vielen Türen. An einer fand er das Schild, das er suchte. Die Drähte der Klingel hingen lose herunter. Er klopfte. Nichts. Er klopfte fester.

»Moment«, rief eine Stimme hinter der Tür. Glas klirrte, ein Schrank wurde geschlossen, und dann ging die Tür auf. Im Rahmen stand ein kleiner Dickwanst in verschwitztem gelbem Billighemd, auf dem eine breite knallgrüne Krawatte hin und her rutschte; er trug eine helle, fleckige Trevirahose. Die Füße mit den braungestreiften Frottee-Socken steckten in hölzernen Gesundheitslatschen. Ein Dunstschwall von Schweiß, Hochprozentigem und schlecht verdauten Röstkartoffeln schlug Manni aus dem Raum entgegen.

»Kommen Sie rein, junger Mann«, krähte der Detektiv mit der Stimme eines Eunuchen am Morgen nach einem Sängerwettstreit. Manni ging an ihm vorbei in das kleine Büro, das eingerichtet war wie das Arbeitszimmer eines Sperrmüllfahrers. Er ließ sich in das aufgeplatzte Polster eines Plastiksessels fallen; Wieland watschelte plattfüßig hinter den verkratzten Schreibtisch, brachte stöhnend seinen Hintern auf einem quietschenden Drehstuhl unter und verschränkte seine kleinen Wurstfinger über dem Bauch, der an einigen Stellen zwischen der gespannten Knopfleiste seines Hemdes herausquoll.

»Was kann ich für Sie tun, junger Mann?«

»Holen Sie den Schnaps wieder raus«, sagte Manni.

Wieland versuchte vergeblich zu grinsen. Er räusperte sich. »Wie soll ich das verstehen?«

»Sie haben ihn doch gerade erst weggestellt, oder? Los, geben Sie mir einen!«

»Du bist ganz schön dreist, mein Junge«, sagte Wieland und musterte sein Gegenüber mit scheinbar souveräner Miene.

»Ich habe Nachdurst, das ist alles«, konterte Manni.

Wieland seufzte, schloß den Schreibtisch auf, hievte eine Flasche Korn und zwei schmierige Gläser auf die bekrakelte Schreibunterlage aus grünem Hartgummi, schenkte ein.

Manni kippte den Schnaps und vergaß, seine Miene zu verziehen. »Prima Stoff, schmeckt wie abgestandener Brennspiritus.«

»Kommen wir zur Sache«, sagte Wieland nach dem zweiten Glas. Manni schlug die Beine übereinander und blickte fest in die wässrigen, von warzigen Tränensäcken umgebenen Augen des Detektivs.

»Ich werde für Sie arbeiten«, sagte er trocken.

Wieland beugte sich vor und hielt eine Hand an seine Ohrmuschel, als ob er nicht richtig verstanden hätte. »Wie bitte?«

»Ihr Laden ist ein Dreckloch, und Sie scheinen nicht mehr fit genug zu sein, ihn wieder aufzumöbeln«, legte Manni los.

Wieland griff mit zitternden Fingern nach der Schnapsflasche und machte die Gläser wieder voll. »Einen Moment …«, warf er ein.

Manni ignorierte ihn. »Ihr Schuppen braucht eine Verjüngungskur.«

Wieland schlürfte seinen Korn und rülpste. »Du hast zuviel Krimis gesehen, Freundchen, ich brauche mich nicht zu prügeln oder der Polizei ins Handwerk zu pfuschen, ich erledige nur streng vertrauliche Routinesachen für Privatkunden.«

»Und warum sitzen Sie jetzt hier, anstatt zu arbeiten?« fragte Manni unbeeindruckt.

»Zugegeben, im Moment fehlen die ganz großen Aufträge; um diese Jahreszeit ist immer Flaute, verstehst du?«

»Flaute hin, Flaute her«, sagte Manni, »ich will für Sie arbeiten. Ich glaube, es wäre nicht das Schlechteste für Sie.«

Wieland schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht bezahlen.«

»Zehn Mark pro Stunde, Spesen trage ich in der Anfangszeit selbst, ist das zuviel?« setzte Manni nach.

»Ich kann beim besten Willen zur Zeit nichts für dich tun«, sagte der Detektiv zögernd, »aber dein Stil gefällt mir. Laß deine Telefonnummer hier, vielleicht kommt was rein die nächsten Tage.«

Manni schrieb seinen Namen und seine Telefonnummer auf den Rand der alten Expressausgabe, die im Papierkorb steckte, riß den Zettel ab und reichte ihn Wieland.

»Manfred Thielen?« Der Detektiv kniff seine wässrigen Augen zusammen.

Manni nickte. »Nennen Sie mich Manni.«

»Okay, Manni.« Wieland stemmte seine geballte Masse Frischfleisch in die Höhe und reichte Manni die Hand.

»Werde sehen, was sich machen läßt, Manni. Besser du arbeitest als ich«, witzelte der Detektiv.

»Sehr komisch.«

»Spaß beiseite, hast du ein Auto?«

»Einen alten Käfer«, antwortete Manni, »für Verfolgungsjagden nicht gerade ideal geeignet.«

»Verfolgungsjagden gibt’s im Kino. Hauptsache, die Mühle läuft.«

»Wir sprechen uns.« Sie schüttelten sich die Hände.

»Wir werden sehen.«

Das Telefon schellte, Manni fuhr hoch. Es war stockdunkel, benommen tappte er nach dem Hörer. »Ja?« preßte er mit belegter Stimme in die Muschel.

»Thielen? Bist du’s?« grölte eine Stimme in sein Ohr.

»Ja, ich bin’s, aber schreien Sie nicht so, mein Gehirn fliegt mir aus den Ohren.«

»Ich bin’s, Wieland. Es hat sich was getan, ich habe einen Auftrag für dich!« Der Mann war voll wie der Präsident eines Kegelclubs am letzten Abend der Jubiläumstour.

»Um was geht’s denn?« stöhnte Manni.

»Wichtige Sache, streng vertraulich.«

»Wie spät ist es, zum Teufel?« Langsam wurde er wach.

»Ungefähr zwei«, sagte Wieland. »Spring in deinen Wagen und fahr in den Wienerwald am Friesenplatz. Ich werde mich dort mit dir in Verbindung setzen; abgemacht?«

»Ich bin in zehn Minuten dort.«

»Das lob ich mir, Thielen, echtes Pflichtbewußtsein.«

»Legen Sie Ihre blöden Witze auf die hohe Kante«, sagte Manni und legte auf. Er machte Licht, stieg träge in seine Kleidung und setzte sich in Trab.

Zum Glück sprang das Auto an, es war sogar Sprit im Tank. Er kurvte durch die leeren Straßen, parkte, zündete sich eine Zigarette an und betrat das Lokal. Alle Tische waren besetzt, alle Gäste besoffen, alle nagten an Geflügelknochen. Von Wieland keine Spur. Manni ging zur Theke und bestellte ein Bier.

Ein Kellner stritt mit einem Gast über den Rechnungsbetrag, eine Nutte schüttete ihrem Freier einen Weinbrand ins Gesicht, ein älterer Herr flößte einem Jüngling einen Likör nach dem anderen ein und legte ihm die Hand aufs Knie.

»Telefon für Herrn Thielen!« brüllte der Büffetier plötzlich.

»Schreien Sie nicht so«, sagte Manni und ging zum Apparat.

»Wieland?«

»Ja«, tönte es vom anderen Ende der Leitung, »paß gut auf, du kaufst jetzt zwei halbe Hähnchen mit Pommes und Krautsalat und vier Flaschen Bier und bringst den ganzen Ramsch zur Großen Witschgasse 12; schellen mußt du bei Rodwig, fünfter Stock. Alles klar oder soll ich noch mal wiederholen?«

»Das ist doch nicht Ihr Ernst …?« Manni kochte.

»Doch, mein Junge, ich bezahle dich dafür.«

»Nur weil Sie besoffen sind und Ihre fette Wampe gestopft haben wollen, wecken Sie mich mitten in der Nacht?«

»So ist es, meine Wampe und die von Baby!« Wieland röchelte vor Lachen, im Hintergrund kreischte eine Frauenstimme.

»Sie spinnen wohl!« schrie Manni.

»Mach keine langen Geschichten, mein Magen knurrt.«

Manni schluckte. »Sie hätten Komiker werden sollen.«

Mit seinem letzten zerknüllten Geldschein bezahlte er das in Aluminium, Styropor und Plastikbeutel verpackte Nachtmahl und fuhr los.

Das Haus in der Großen Witschgasse war ein sechsstöckiges Appartementhaus. Hinter vielen Fensterscheiben brannte noch Licht. In der langen Reihe der Klingelschilder fand er den Namen Rodwig. Er schellte und fuhr in den fünften Stock. Er ging den dunklen Flur entlang; aus einer Tür fiel trübes Licht auf das Linoleum. Manni ging darauf zu. Als erstes sah er zwei riesige Brüste, die ein schwarzer Büstenhalter nur mühsam im Zaum halten konnte, dann sah er Babies wasserstoffblonde Haarpracht, ihr von Bartstoppeln verkratztes Gesicht, ihre mächtigen Hüften, um die sich ein durchgeschwitzter Slip spannte, der fast in ihren Speckfalten verschwand.

Baby stemmte eine Hand in die Taille und wackelte leicht mit dem Unterleib, alle zwei Sekunden wischte ihre feuchte Zunge über die aufgeworfene Oberlippe.

»Komm rein, Süßer!« lächelte sie ihm durch den Nebel von Zigarettenqualm und Alkoholdunst entgegen.

Manni quetschte sich an ihrem enormen Körper vorbei, ohne vermeiden zu können, mit ihrer Brust in Berührung zu kommen; Baby schob sie ihm entgegen wie ein aufdringlicher Hausierer seinen Bauchladen.

Auf einer speckigen Couch lag Wieland in vergilbtem Unterhemd und schmuddeliger Unterhose, vor ihm auf dem Teppichboden ein Arsenal von leeren Flaschen und vollen Aschenbechern, im Fernsehen pfiff das Testbild.

»Wir haben Besuch, Schatz«, flötete Baby. Wieland öffnete die Augen – soweit ihm das gelang.

»Ihr Essen.« Manni warf die zwei Plastiktüten auf den verschmierten Beistelltisch.

»Dank dir, mein Junge«, grinste Wieland.

»Ich brauche Geld, ich hab nichts mehr«, sagte Manni.

»Baby, gib ihm einen Fünfziger.«

Sie ging in die Diele, kam mit einer Butterbrottüte wieder, grapschte hinein und brachte einen Berg zerknüllter Geldscheine zum Vorschein; einen braunen steckte sie in die Schlucht zwischen ihren Brüsten, den Rest stopfte sie in die Tüte und warf sie in die Ecke.

»Willst du nicht noch was hierbleiben, Kleiner? Wir freuen uns immer über Besuch«, sagte sie und schlenkerte ihren Busen.

Manni zog den Schein aus ihrem Büstenhalter und steckte ihn ein. Baby stöhnte leise auf.

»Leg dich auf deinen Robert, Baby, so was ist nicht mein Job.«

»Sei nicht so humorlos, Kleiner«, tönte Wieland vom Sofa.

»Ich mach’s dir wieder gut, verlaß dich drauf!«

»Wie?« Manni schaute ihn an.

»Du kannst morgen früh Telefondienst machen in meinem Büro. Ich komme sowieso nicht vor Mittag mit dem Arsch aus den Federn.« Baby kicherte.

»Ab wieviel Uhr?« fragte Manni.

»Sagen wir von neun bis zwölf. Baby, gib ihm den Schlüssel und noch einen Fuffi.«

II

Manni betrat die Detektei, riß die Fenster auf und überließ es der Morgenluft, Wielands unangenehme Gerüche in Vergessenheit geraten zu lassen.

Er machte es sich am Schreibtisch bequem und las den Express von vorn bis hinten, von hinten bis vorn. Es tat sich nichts. Gegen zehn Uhr nahm er die Verfolgung einer penetrant brummenden Schmeißfliege auf. Gegen zehn Uhr fünfundvierzig endete der Kampf mit einem leistungsgerechten Unentschieden, als das dicke schwarze Insekt durch eines der geöffneten Fenster entfloh. Und dann schellte das Telefon.

»Thielen, Detektei Wieland«, meldete sich Manni.

»Wie war der Name?« fragte eine vorsichtige Männerstimme.

»Thielen.«

»Sie sind Detektiv?«

»Was dachten Sie, wen sie in einer Detektei an die Strippe kriegen, den Papst?«

»Entschuldigung, Herr Thielen. Ich brauche Ihre Hilfe.«

Manni zögerte einen Moment. »Haben Sie schon mal mit unserer Firma zusammengearbeitet?«

»Nein«, antwortete der Anrufer, »es ist das erste Mal, daß ich einen Detektiv benötige.«

»Um was geht’s?«

»Darüber möchte ich nicht am Telefon sprechen«, sagte der Mann mit unsicherer Stimme, »hätten Sie gegen dreizehn Uhr Zeit?«

»Wenn Sie Geld haben, habe ich Zeit«, erwiderte Manni.

»Wir werden uns einig werden, Herr Thielen. Kommen Sie um dreizehn Uhr zu dem großen Parkplatz am Neumarkt, ich hole Sie ab.«

»Vor der Volkshochschule?«

»Ja, Einfahrt an der Fleischmengergasse.«

»Ich werde da sein, Herr … eh … Wie war der Name?« Manni schaute den Hörer an; der Anrufer hatte aufgelegt.

Gegen halb zwölf wankte Wieland ins Büro.

»Na, mein Junge, alles klar?«

Manni nahm die Stiefel vom Schreibtisch und stand auf.

»Alles klar, Chef«, sagte er.

»War was los heute morgen?« fragte Wieland und warf sich in den vorgewärmten Schreibtischsessel.

»Nichts«, erwiderte Manni, »kein Anruf, kein Klientenbesuch.«

»Auch gut«, seufzte Wieland, »bin heute sowieso nicht in Hochform.«

Manni nahm seine Jacke vom Haken. »Ich muß weg. Wenn Sie und Baby wieder Hunger haben, rufen Sie mich an.«

Wieland grinste feist. »Baby wird sich freuen, dich wiederzusehen.«

Um Punkt dreizehn Uhr stoppte ein silbergraues Mercedes-Coupé vor der Parkplatzeinfahrt an der Fleischmengergasse. Die Beifahrertür sprang auf. »Herr Thielen?«

Manni nickte und stieg ein.

Der Mann am Steuer setzte den Blinker und reihte den Wagen in den fließenden Verkehr ein. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt und hatte schütteres graumeliertes Haar. Eine randlose Brille saß auf der geraden, fleischlosen Nase. Über einem weißen Oberhemd und der blaugetupften Krawatte trug er einen dunkelgrauen Einreiher, der die kräftigen Schultern betonte.

»Sie haben mir am Telefon nicht Ihren Namen gesagt«, begann Manni das Gespräch.

»Kowalski, Rudolf Kowalski.«

»Zweihundertfünfzig am Tag plus Spesen«, sagte Manni.

»Einverstanden«, gab Kowalski ungerührt zurück.

»Was haben Sie auf dem Herzen?«

»Wissen Sie«, begann Kowalski stockend, »mir ist da eine peinliche Sache passiert … Ich kann doch Ihrer Diskretion sicher sein, oder?« Manni sagte nichts.

Kowalski blickte ihn an. »Zugegeben, eine dumme Frage.«

Manni holte tief Luft. »Ihnen ist also etwas Peinliches passiert; darf ich bitte erfahren, was?« fragte er mürrisch.

»Nun, Sie müssen wissen, ich bin verheiratet und habe Kinder.« Kowalski stockte.

»Das wäre mir nicht peinlich«, sagte Manni und blickte auf den kleinen Türkenjungen, der lachend auf dem Bürgersteig herumsprang und ihm die Zunge herausstreckte.

»Ich habe eine Dummheit begangen«, machte Kowalski einen neuen Anlauf.

»Reden Sie endlich. Entweder kann und will ich Ihnen helfen, oder wir lassen es. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen.«

Kowalski raffte sich auf. »Also gut, Herr Thielen. Ich werde erpreßt.«

Manni steckte sich eine Zigarette in den Mund und drückte den Zigarettenanzünder am Armaturenbrett. Nach einigen Sekunden sprang er heraus. Manni hielt ihn an die Zigarette und zog den Rauch ein. »Einmal fremd gegangen und an die Falsche geraten, und jetzt haben Sie Angst um Ihren Ruf.«

Kowalski nickte. »Sie haben recht, es ist die alte Geschichte … leider trotzdem sehr unangenehm.«

Manni blies den Rauch aus dem geöffneten Seitenfenster. Kowalski blickte nervös in der Gegend umher, brachte den Wagen unbeholfen auf die Linksabbiegerspur und bog in die Hauptschlagader des Bankenviertels ein, in die Gereonstraße. Er setzte den Blinker und fuhr in die Tiefgarageneinfahrt des vornehmen Bürohauses, in dessen Erdgeschoß die Privatbank Delbrück & Co. residierte.

Sie gingen zum Aufzug und fuhren in den sechsten Stock hoch. Der Gang war breit und mit grauem Teppichboden ausgelegt, die Wände weiß, an den Decken Neonleuchten. Vor der dritten Tür links blieben sie stehen. »T & W Handelsgesellschaft« stand in protzigen Lettern auf einem blankgewienerten Messingschild.

»Ihre Firma?« fragte Manni.

Kowalski nickte und drehte den Schlüssel im Schloß. Sie traten in ein Vorzimmer, das so aussah, als ob hier eine Sekretärin sitzen sollte. Die Schreibmaschine war mit einer Plastikhülle abgedeckt; außer einem dunkelroten Tastentelefon befand sich sonst nichts auf dem weißen Schleiflackschreibtisch. Manni tippte kurz auf die Tastatur; ein matter Staubfleck blieb auf seiner Fingerkuppe zurück.

»Kommen Sie herein«, sagte Kowalski und winkte Manni in das geräumige Büro, das sich an das Vorzimmer anschloß.

Ein massiger Eichenschreibtisch dominierte mitten im Zimmer, dahinter ein schwarzer Ledersessel. Über einem niedrigen Schrank blickte aus einem Goldrahmen Kowalski in Öl auf den Besucher herab. Vor der gläsernen Schiebetür, die zu einem Balkon hinausführte, drei schwarze Ledersessel, passend zum Chefstuhl, doch um einiges schmächtiger. Dazwischen ein Marmortisch mit Chrombeinen. Manni setzte sich auf einen der Besuchersessel.

»Meine Sekretärin hat heute frei, ich kann mit der Kaffeemaschine nicht umgehen«, sagte Kowalski »ich kann Ihnen nur einen Cognac anbieten. Ich könnte auch einen gebrauchen.«

Er öffnete die Mitteltür des niedrigen Schrankes und holte eine halbleere Flasche Hennessy und zwei Cognacschwenker hervor. Er füllte sie zweifingerhoch und stellte ein Glas vor Manni auf den Marmortisch. Kowalski ließ sich ihm gegenüber nieder und hob sein Glas. »Auf Ihr Wohl, Herr …«

»Ich will endlich wissen, um was es geht«, unterbrach ihn Manni. Kowalski rückte seine Brille zurecht und strich sich mit den Fingerspitzen über die ergrauten Schläfen.

»Es ist nun fast vier Wochen her«, begann er mit der Stimme eines Verschwörers bei der Planung der Weltrevolution. »Vor einigen Wochen hatte ich einen amerikanischen Geschäftsfreund zu Besuch, ich lud ihn bei Franz Keller zum Essen ein, wir tranken ein paar Gläser Wein, vielleicht ein paar zuviel … Plötzlich wollte Mister Harper ›Girls‹. Ich hatte natürlich keine Ahnung, wo ich Frauen auftreiben sollte und bestellte ein Taxi. Der Fahrer war sofort im Bilde und brachte uns zu einem sogenannten Saunaclub … War so weit nicht schlecht, der Tip …«

Er brach ab.

»Reden Sie weiter, Herr Kowalski!« drängte Manni.

»Ein sauberes Etablissement, eine gepflegte Dame am Eingang, in der Bar jede Menge hübscher Frauen … Es gab einen Swimmingpool und Saunakabinen … Harper war begeistert.«

»Sie nicht?«

»Nun …« Kowalski rieb seine Handflächen zwischen den Knien. »Wenn ich ehrlich bin … Carmen, so stellte sie sich mir vor, war eine bildschöne Frau … und ich bin auch nur ein Mann.«

»Sicher«, sagte Manni und steckte sich eine Zigarette an. »Sogar Geschäftsmann … Sie gehen in einen Puff, und was weiter?«

Kowalski zögerte, dann sagte er leise: »Sie kennen meine Frau nicht, sie ist so alt wie ich, zweiundfünfzig, wir haben zwei erwachsene Kinder … Ich fragte das Mädchen, ob es möglich sei, sie einmal privat zu treffen. Sie gab mir ihre Adresse. Zwei Tage später bin ich zu ihr gefahren. Es kostete mich tausend Mark, aber das spielte keine Rolle … Geld ist nichts, oder besser, es ist etwas, das jeder haben will, wenn man es aber hat …«

»Hören Sie bloß auf«, fiel Manni ihm ins Wort. »Was soll ich für Sie tun?«

»Ach ja, richtig …« Kowalski räusperte sich und nestelte an seinem Krawattenknoten. »Vor vier Tagen bekam ich die Fotos.«

»Zeigen Sie her.«

Kowalski erhob sich, ging zum Schreibtisch, schloß eine Schublade auf, zog ein hellblaues Kuvert heraus, reichte es Manni, stellte sich vor die Balkontür und wippte auf den Fersen.

In dem Briefumschlag, der weder frankiert noch adressiert war, steckten zwei Fotos: das erste zeigte ein Bett, darauf Kowalski mit halbgeöffnetem Mund; auf ihm saß eine Frau, den Kopf leicht nach vorn gebeugt; lange, dunkle Haare verdeckten ihr Gesicht. Auf dem zweiten saß Kowalski in einem Sessel, die Frau kniete vor ihm auf dem Boden, ihr Kopf lag in seinem Schoß, seine rechte Hand wühlte in ihren Haaren.

Manni steckte die Bilder in den Umschlag zurück.

»Gut getroffen«, sagte er.

Kowalskis Kopf flog herum. »Sie sind geschmacklos!« zischte er.

»Die Bilder oder ich?« Manni zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher. »Nehmen Sie wieder Platz, Herr Kowalski, Sie müssen mir einige Fragen beantworten.«

Kowalski atmete tief durch und setzte sich.

»Wieviel will man von Ihnen für die Negative haben?« begann Manni.

»Vorgestern bekam ich einen Telefonanruf, eine Männerstimme, verlangte fünftausend Mark«, sagte Kowalski. »Prinzipiell bin ich bereit zu zahlen, aber wenn man einmal mit dem Zahlen begonnen hat, wollen sie immer mehr, und an die Negative kommt man sowieso nicht heran.« Er stockte und blickte Manni in die Augen. »Das ist Ihre Aufgabe.«

»Eins nach dem anderen«, sagte Manni. »Warum erzählen Sie nicht alles Ihrer Frau, erklären ihr die Situation und vergessen die Fotos?«

Kowalski lachte gequält auf. »Das ist völlig ausgeschlossen, sie würde es weder verstehen noch verzeihen, sie ist von Nonnen erzogen worden …«

»Das heißt überhaupt nichts«, sagte Manni.

»Heute vielleicht nicht«, winkte Kowalski ab. »Glauben Sie mir, ich kenne meine Frau, und außerdem …«

»Reden Sie weiter«, sagte Manni.

»In den letzten Jahren streiten wir uns ständig, sie redet oft von Trennung.«

»Um so besser«, sagte Manni, »was haben Sie dann noch zu befürchten?«

Kowalski lächelte matt. »Eine Trennung ist für mich völlig unmöglich. Vor acht Jahren machte ich mit zwei Firmen Bankrott, alles flüssige Kapital hatte ich vorher auf meine Frau überschrieben, um es vor den Gläubigern zu retten. Mit diesem Geld, auf den Namen meiner Frau, habe ich hier das Unternehmen aufgezogen.«

Manni nickte. »Wenn Ihrer Frau ein Scheidungsgrund in die Finger fällt, kann sie Sie ohne einen Pfennig auf die Straße setzen.«

»So ist es«, seufzte Kowalski.

»Mit anderen Worten, es führt kein Weg daran vorbei, die Negative zu beschaffen«, stellte Manni fest und dachte einen Moment lang nach. »Wir müssen die Frau finden. Wenn sie in einem Club arbeitet oder gearbeitet hat, kann es nicht so schwierig sein. Wissen Sie noch den Namen der Sauna?«

Kowalski rieb sich die Stirn; bedächtig schüttelte er den Kopf. »Der Club war nicht direkt in der Innenstadt, wir sind ziemlich lange gefahren, es war dunkel … Haben solche Clubs überhaupt einen Namen?«

»In den meisten Fällen, ja«, sagte Manni. »Ist Ihnen irgend etwas aufgefallen, als Sie hineingingen?«

Kowalski rückte die Goldrandbrille auf seiner Nase zurecht. »Wie gesagt, es war dunkel …«

»Befand sich der Club direkt an einer befahrenen Straße, war er im Keller, auf dem ersten Stock? War er in einem alten Haus, in einem Neubau? Irgend etwas muß Ihnen doch aufgefallen sein!«

»Warten Sie. Herr Thielen …« In Kowalskis Gehirn tat sich was. »Ich glaube, wir gingen durch einen Hausflur, über einen Hof …«

»Er lag also im Hinterhaus. Mehr fällt Ihnen nicht ein?«

Kowalski schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, nein.«

»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun, so viele Clubs gibt es außerhalb der Innenstadt nicht. Außerdem bringen die Taxifahrer ihre Kunden immer zu den Clubs, die die höchste Provision zahlen; das läßt sich feststellen. Sie sagten eben, Sie hätten die Nacht bei dieser Carmen verbracht, Sie haben also ihre Adresse, oder?«

Kowalski zog seine Brieftasche aus dem Jackett und durchstöberte den Inhalt. »Ich habe die Adresse des Appartements, in dem wir die Nacht verbrachten; ob sie da wohnt, weiß ich natürlich nicht«, sagte er und reichte Manni einen handgeschriebenen Zettel.

Manni steckte ihn ein. »Wann und wie sollte das Geld übergeben werden?«

»Der Mann am Telefon sagte, er würde mich im Laufe der Woche anrufen, um genaue Instruktionen zu geben. Ich solle das Geld im Büro bereithalten.«

Manni zündete sich eine neue Zigarette an, zog kräftig und blies den Rauch Richtung Decke.

»Haben Sie es hier?« fragte er. Kowalski nickte.

»Dann geben Sie mir schon mal tausend Vorschuß für die ersten vier Tage, die Spesen rechnen wir später ab.«

»Sie werden mir helfen?« Kowalski erhob sich aufatmend.

»Ich werde es versuchen. Das Risiko tragen Sie. Wenn’s nicht klappt, können Sie immer noch zahlen oder zur Polizei gehen.«

»Wenn nur meine Frau aus dem Spiel bleibt«, sagte Kowalski. Er ging zum Schreibtisch, öffnete eine Schublade und zählte Geld ab.

»Ich wünsche uns viel Erfolg«, sagte Manni und stand auf. »Ich werde Sie anrufen, sobald sich was ergibt.«

Kowalski überreichte ihm eine Visitenkarte der T & W Handelsgesellschaft und ein Päckchen blauer Banknoten.

»Noch was«, sagte Manni, »versuchen Sie nicht, mich in der Detektei zu erreichen; ich war bis heute so was wie eine Urlaubsvertretung. Meine Privatnummer lasse ich Ihnen hier.«

»Geht in Ordnung und … vielen Dank, Herr Thielen.«

»Ich werde mein Möglichstes tun«, entgegnete Manni.

Sie schüttelten sich die Hände.

Manni betrat die Hauptstelle der Dresdner Bank und überwies seinem Vermieter siebenhundertfünfzig DM, die fälligen drei Monatsmieten. »Bei Mario« auf dem Eigelstein aß er eine Pizza mit Pilzen und einen Salat, trank ein Glas Rotwein und ließ sich eine Quittung geben. Auch die kurze Taxifahrt nach Hause zum Klingelpütz 39 ging auf Spesen.

III

Manni bestieg seinen Käfer. Das Liebesnest dieser Carmen lag etwas außerhalb, in Weiden. »Ostlandstr. 27, App. 706« stand auf dem Zettel, den Kowalski ihm gegeben hatte.

Der größte Teil des Vororts existierte erst seit einigen Jahren. Man hatte an ein Stadtranddorf eine Wohnlandschaft geklebt: ein steriles Einkaufscenter, eine Kneipe, eine Bushaltestelle und Hochhäuser mit Wohnschubladen für zehntausend Menschen; das war laut Prospekt der Baugesellschaft »Ideales Wohnen in Stadtnähe und doch auf dem Land«.

Manni stellte den Wagen an einem betonierten Platz ab, auf dem man einige Bänke um eine konfuse Plastik aus silbrigem Metall gruppiert hatte, die Bänke waren leer. Etwas zurückversetzt, zwischen zwei Hochhäusern befand sich ein Kinderspielplatz. Die Klettergerüste waren Ruinen; zersägt, auseinandergeschlagen, angekohlt. Zwei kleine Jungen lagen ineinander verknäult im Sand und schlugen sich gegenseitig in die Gesichter.

Haus Nummer 27 war genauso häßlich wie alle anderen; ein klobiger Kasten mit etwa zwanzig Stockwerken, unsymmetrisch angeklatschten, grün verschalten Balkonen und bemalt mit riesigen gelben Vierecken, was die abschreckende Fassade wohl nachträglich etwas auflockern sollte, aber das Gegenteil bewirkte.

Manni nahm einen Schraubenzieher und eine Zange aus dem Kofferraum, steckte sie in die Tasche und ging zur Haustür. Nur die Hälfte der Klingelschilder war mit Namen versehen. Manni legte seine Hand quer darüber und lehnte sich dagegen. Irgend jemand drückte die Tür auf. Wände und Decke der Eingangshalle waren im Rohbeton belassen, der Boden mit roten Klinkersteinen ausgelegt. Manni steuerte auf den Lift zu und drückte den Knopf. Die Lichter der Etagenzahlen blinkten herunter bis E für Erdgeschoß. Lautlos teilte sich die eiserne Schiebetür vor ihm. Er stieg ein und im siebten Stock wieder aus. Drei Gänge – rechts, links und geradeaus – führten vom Aufzug weg. Auf Wegweisern hatte man die Wohnungen ausgeschildert. Die Nummern 701–725 befanden sich im linken Gang. Bei 706 stand kein Name an der Tür. Manni drückte den Knopf mit der stilisierten Glocke darauf. In der Wohnung machte es »Bim-Bam«. Mehrmals drückte er. Es tat sich nichts. Der Gang war menschenleer und still wie eine Friedhofshalle. Manni schraubte die Verschalung vom Schloß, drehte mit der Zange den Zylinder und gab Druck. Mit einem leisen Quietschen sprang die Tür auf. Er befestigte die Verschalung wieder, schloß die Tür hinter sich und machte Licht. Er stand auf altrosa Teppichboden in einer winzigen Diele. Weiße Wände, kein Bild, drei leere Garderobenhaken, darunter ein leeres Ablagebord. Manni drückte die Klinke der Tür, die aus dem verschlagartigen Vorraum herausführte. Ein kühler Luftzug streifte sein Gesicht.

Der Raum lag im Dämmerlicht. Manni fand den Lichtschalter rechts neben dem Türrahmen. Eine rote Birne ging an. Das Bett und den Sessel kannte er von Kowalskis Fotos; den Mann, der neben dem Bett auf dem Fußboden lag, kannte er nicht. Er trug einen grauen Anzug und schwarze Stiefeletten, eine dunkle Krawatte und ein weißes Hemd mit zwei dunkelroten Flecken auf der linken Brusthälfte; er hatte schwarze volle Haare, einen buschigen Oberlippenbart und breite Augenbrauen, sein Mund stand offen, ein dünner, verkrusteter Blutstreifen zog sich vom linken Mundwinkel quer über seine Backe, seine Augen waren geschlossen, seine Gesichtshaut sah aus wie Bienenwachs.

Außer dem Bett, dem Sessel und dem Toten befand sich nicht viel in dem etwa dreißig Quadratmeter großen Raum. Die ganze Frontseite war eine aufschiebbare Glaswand, vor die feste Leinenvorhänge gezogen waren, die rechte Wand bestand aus drei weißen Schrankwandtüren. Ein Schrank war leer, hinter den beiden anderen Türen verbarg sich die Küche: eine Spüle mit eingebautem leerem Kühlschrank, zwei abgedeckten Kochplatten und drei unbenutzten Kochtöpfen. Das Chrom der Spüle blitzte. Manni drehte den Wasserhahn auf, es krachte und schluckte in der Leitung, braunes Rostwasser spritzte stoßweise in das Becken. Manni drehte den Wasserhahn wieder zu und schloß die Schränke. Auf der anderen Seite ging eine Tür ins Badezimmer: eine Toilette, ein Waschbecken, eine Duschkabine; alles auf zwei Quadratmetern. Kein Handtuch, keine Seife, kein Klopapier. Über der Tür hatte man ein nicht zu öffnendes Fenster bis zur Decke hochgezogen, so daß der Mieter tagsüber seine Notdurft bei Naturlicht verrichten konnte. Manni stellte sich auf den Klosettdeckel und schaute durch das Fenster. Er sah das Bett und den Sessel. Hier hatte der Fotograf gestanden.

Er stieg vom Klo herunter und ging zu dem Toten. Die Hände waren starr und kalt wie Tiefkühlkost; ein schmaler, goldener Ehering umschloß den Ringfinger der rechten Hand. Die Hosentaschen waren leer bis auf ein Taschentuch. Ein dicker Schlüsselbund, eine Packung Zigaretten und ein teures Feuerzeug befanden sich in den Außentaschen des Jacketts, in der Innentasche steckte eine Brieftasche aus Krokodilleder. Manni klappte sie auf, Visitenkarten fielen heraus: »Roland Hartwig, Immobilien«, Adresse und zwei Telefonnummern. Er steckte sich eine in die Tasche, die übrigen legte er zurück; außer den Karten waren da noch Wagenpapiere von einem Porsche und ein Führerschein, beides auf den Namen Roland Hartwig, geboren 1945 in Hamburg, wohnhaft in Köln-Marienburg, Germanicusstraße 56. Das Bild im Führerschein war eindeutig das des Toten. In einem Extrafach der Brieftasche steckten Geldscheine; die großen blauen nahm Manni an sich, es waren sechs. Er schob das kostbare Leder ins Jackett der Leiche zurück, stand auf und blickte sich noch mal im Zimmer um. Nirgendwo entdeckte er etwas, das auf einen Bewohner schließen ließ, auch nicht unter dem Bett.

Er schaute die Leiche an. Eine Visitenkarte hatte er übersehen, sie war unter das Revers der Anzugjacke gerutscht. Manni beugte sich herunter und hob sie auf. Treuhand KG, war auf die Rückseite gekritzelt. Er steckte sie ein, verließ die Wohnung und ging eilig zum Aufzug.

Er begegnete niemandem auf dem Weg zu seinem Auto, die Bänke waren immer noch leer, die zwei Jungen vom Spielplatz verschwunden.

Er fuhr in die Stadt zurück. Neben einer Telefonzelle hielt er an. Er wählte Kowalskis Nummer. Niemand hob ab.

G–P