Inhaltsverzeichnis
Tod fürs Vaterland
Mäßigung
Kriegskunst
Die Erzählungen des Geographen
Weihnachten mit Miloradowitsch
Lazarett
Über dieses Buch
Impressum und Copyright

Über dieses Buch

Es passiert recht selten, dass Dichter andere, lebende Dichter loben. Doch wir haben es mehrfach erlebt. Denn seitdem bekannt wurde, dass wir »Das Handbuch der Zeiten« von Ștefan Agopian in der Übersetzung von Eva Ruth Wemme veröffentlichen, gratulieren, ja bedanken sich immer wieder rumänische Dichter bei der Übersetzerin und beim Verlag.
Agopian, 1947 in Bukarest geboren, gilt als einer der wichtigsten lebenden Autoren Rumäniens. Sein »Manualul întâmplărilor« – so der Originaltitel des Handbuches – erschien erstmals 1984. Das Romanmanuskript hatte die Zensur ohne jede Beanstandung passiert. Das war verwunderlich, denn der satirische Charakter des Textes war offensichtlich, auch waren – gerade in den Berichten der Figur des Spions – die Anspielungen auf das Ceaușescu-Regime eigentlich unübersehbar. Doch die zuständige Dame in der Zensurbehörde sah, dass die Handlung in der Fanariotenzeit angesiedelt ist, also im 18. Jahrhundert, damit begnügte sie sich. So konnte das Buch erscheinen – und es wurde ein großer Erfolg, erlebte mehrere Auflagen, wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
Doch das Politische im Roman erklärt nicht allein, warum Agopian gerade für diesen Text so gerühmt wird. Der große Essayist Petru Creția begründet der Erfolg folgendermaßen: »Es ist eins der wenigen Bücher, die auf wenigen Dutzend Seiten eine Welt entstehen lassen: mit ihrem Raum, ihrer Zeit, mit ihren Gesetzen und einer transinfiniten Endlichkeit. Anhand der Schilderung weniger Augenblicke einer apokryphen Zeit zu Beginn des rumänischen 18. Jahrhunderts, ergießt es sich sachte in die Ewigkeit. Die Orte sind alle gleich, und eines Nachts nach Ägypten aufzubrechen bedeutet nur, einen Ort gegen den anderen auszutauschen, der ebenso gleichgültig ist, eine Art, den grundlegenden Zustand der Trägheit und der Melancholie in eine zwecklose Aktivität zu übersetzen, die vor allem dem Vergessen anheimgegeben ist. Und alle Tatsachen und Gedanken sind hypothetisch, können so sein oder anders oder gar nicht. Und das Lebendige und Überbordende sind Stickereien auf einem Gewebe der Traurigkeit, so wie das goldene, honigfarbene Licht der Tage in diesem Buch sich oft verdunkelt. Und darüber ein Himmel voller Wunder und wunderlos, zu dem du irgendwann vielleicht doch einmal fliegen wirst.«
Viele haben das Buch als ein erstes Meisterwerk der rumänischen Postmoderne bezeichnet, was dem Autor allerdings nicht sonderlich behagt. Er beschreibt sich lieber als verhinderten Lyriker. Auch Vergleiche des Textes mit Becketts »Murphy« oder Jerofejews »Die Reise nach Petuschki« wird der Autor sicher nicht gelten lassen. Doch sind sie zulässig, denn das Buch ist auch ein ganz fantastischer Rauschroman. Agopian selbst sagte einmal: »Ja, das Trinken der Schriftsteller wurde vom Regime befördert, denn es zerstörte einen physisch. Aber ich will etwas klarstellen: Niemand von uns war im eigentlichen Sinne jemals betrunken.« In genau diesem Sinne bietet auch das »Handbuch der Zeiten« seinen Leserinnen und Lesern ein Vergnügen von tagheller Klarheit.
 Jörg Sundermeier

Impressum und Copyright

Handbuch der Zeiten

Erste Auflage

© Verbrecher Verlag 2018

www.verbrecherei.de

Buchsatz und Ebook: Christian Walter

Der Verlag dankt Insa Hansen-Goos.

ISBN Print: 978-3-95732-309-5

ISBN Epub: 9783957323217

ISBN Mobipocket: 9783957323224


The book is published with the support of the Romanian Cultural Institute.

NBC
Stefan Agopian
HANDBUCH
DER ZEITEN
ROMAN
Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme
signet

Tod fürs Vaterland

Schnell wurde die Stadt frühlingshaft und der Monat April brach wie Licht ein in die Seelen der Menschen und erfreute sie. Fein zerstob der Wind über den Häusern, polierte sie mit goldenem, unendlichem Licht. Die Obstbäume schüttelten sich wie weißer Regen über der Stadt aus, und die Wasservögel kamen herbei, die Paarung begehrend.
Im Jahre 1870 waren Moskowiterbälle in Mode, die Menschen hatten Pazvantoğlu vergessen, die Türken hatten sich im Lande rar-, die Moskowiter breitgemacht.
Am siebzehnten Tage des Monats April erwachte Marin Ioan, Lehrer an der Schule zu Colția, benommen und mit schwerem Kopf, und eine sengende Sonne drang wurmgleich in seinen Schädel, eine Aureole wand sich wie Dampf über ihm und verhöhnte ihn. Und neben ihm schlief mit einem Tuch aus Entengrütze, welches sein Gesicht bedeckte, schnarchend der Armenier Zadic. Er planschte eine Weile im Sumpf und die Kinder lachten wie besessen, wussten aber wohl nicht, dass er Lehrer an der Schule zu Colția war, also lachten sie noch mehr und bewarfen ihn mit etwas, bis es des Hohnes genug und ausreichend war. Sie lachten nur. Aber Marin Ioan, der Lehrer, schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Er klaubte einen Maria-Theresien-Taler mit dieser Dickmadame darauf aus dem Schlamm, dazu noch ein paar Zwanziger, allerdings war der Taler ordentlich am Rand zerbissen, dies verbitterte ihn gänzlich. Er hätte gern einen neuen Taler gehabt, keinen abgeschabten, einen mit Franziskus darauf, dem neuen Kaiser von Österreich und anderen Ländereien. Dann schüttelte er den Armenier, um ihn zu wecken. Die Kinder lachten wieder, aber diesmal aus der Ferne. Der Armenier Zadic erwachte und sammelte ein paar von der Hitze beduselte Frösche von seinem Körper, dann stand er auf, aber nicht wie irgendwer, sondern drehte sich zunächst einmal auf alle Viere, und – nachdem er eine Weile so auf allen Vieren gestanden hatte, er wusste selber nicht weshalb, er stand dort nur herum und dachte an nichts in jenem fauligen Graben – da legte er sich wieder hin. Ioan Marin, der Geograf, hingegen dachte daran, wie groß die Welt war und wie klein er selbst, letzten Endes. Und während er über all das nachdachte, darüber, wie unbegreiflich die Welt war und er selbst darin, unbedeutend wie ein Spucketropfen in diesem fauligen Wasser, da stand der Armenier auf und sagte:
»Komm, ey, ist spät!«
Eine grünliche Sonne zog über ihnen auf. Der Armenier Zadic flatterte wie ein dürrer und völlig besudelter Vogel, erhob sich über diese Welt und von dort aus sprach er:
»Lass uns gehen, ey, wir lassen uns vom Voda Ypsilanti einziehen und schlagen die Türken, das ist doch auch was. Die Moskowiter haben keine Angst und ich habe auch keine Angst. Du etwa?«
»Nein, warum sollte ich welche haben?«, sprach Ioan der Geograf aus seinem Schlammloch. »Ich hab nicht mal vor dem Teufel Angst!«, sprach er noch und schlug schnell mit der Zunge ein Kreuz und Zadic der Armenier spuckte in den Wind und schlug ebenfalls ein Kreuz mit der Zunge.
Der Wind fegte wohlriechend über sie hinweg und trocknete ihre Kleider. Nun kam ein Hund und beschnupperte sie eine Weile, dann wedelte er mit dem Schwanz, was Freundschaft hieß, und streckte sich neben ihnen aus. Der Armenier Zadic durchsuchte eine Weile seine Taschen. Als er fand, wonach er suchte, eine Münze, gab er sie dem Hund. Der Hund erhob sich träge, beschnupperte die Münze, wedelte wieder mit dem Schwanz und setzte sich dann.
»Ey, ist der blöd, dieser Hund hier, verdammt nochmal, oder was hat er?«, sagte der Armenier Zadic.
»Wird so sein!«, sagte Ioan, »deshalb ist er ja ein Hund.«
Und wieder:
»Gehen wir, es ist an der Zeit.«
Nach einer Weile brachen sie auf und der Hund folgte ihnen oder ging ihnen voraus, so wie er grade lustig war.
»Ey, dies hier, ey, ist wohl der Weinberg des Gheorghe Totoroază«, sprach Zadic, wobei er sich umsah.
»Wird so sein!«, sprach Ioan, »aber ich meine, das ist der des Formion, der seinen Sohn nach Paris schickte, weshalb er den Weinberg an Radu Șonțu verkaufte, welcher ihn an Hristea ot Dumitru Grecu für hundert Gulden, zehn Adler und zwölf Zwanziger verpachtete.«
»Aha!«, sprach Zadic, »Doch was ich vernommen habe, liegt Hristu Grecu mit krankem Kopfmuskel im Bett und jetzt beackert ein Tache Polihroni den Weinberg, sein Stiefbruder.«
»Nein!«, sprach Ioan, »Tache Polihroni ist mein Vetter mütterlicherseits, der beackert ihn nicht. Den beackert eine von Hristea beackerte Dame, eine gewisse Maria Bonjescu.«
So redeten sie eine Weile, dann legten sie sich unter einem knotigen Nussbaum nieder, um zu ruhen, und auch der Hund legte sich.
»Heute ist wohl ein Feiertag«, sprach Zadic, »denn wir begegnen niemandem.«
»Vielleicht ist Palmsonntag«, sprach Ioan, »denn dieses Jahr ist Ostern wohl früh.«
»Ey, weißt du was, heute ist tatsächlich Ostern und wir haben es gar nicht gewusst!«, sprach Zadic.
»Ist es nicht!«, widersprach Ioan, »denn wenn’s so wär, hätten wir gestern Abend zur Auferstehung gemusst, aber wir waren nicht da.«
Die Sonne erhob sich über ihre Scheitel und es duftete betörend nach den heißen Kräutern des Nachmittags. Von irgendwo, aus der Ferne, wehte der Wind den Geruch von Kamille in ihre Nasen.
»Das haben wir gut gemacht, ey, dass wir uns ein wenig hingesetzt haben, damit wir nicht zu sehr ermüden. Wie Platon sagte: ›Die Seele des Menschen …‹«
»Ja, weiß ich!«, sprach Ioan, »Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung. ›Die Besonnenheit zeigt uns die Schönheit zuvorderst, doch die anderen Tugenden tragen uns wie drei gleichermaßen beschaffene Wege zu ebenjener Schönheit.‹«
»Ich denke gerade darüber nach, ey«, sprach der Armenier, »warum muss es vier Wege geben, wo einer doch gänzlich ausreicht?«
»Marsilio Ficino«, sprach der andere, »zeigt, dass ein einziger Weg genügt: ›Denn durch die Gabe, die sie in sich tragen, bieten sie mit Tapferkeit dem Tod für den Glauben, dem Tod für das Vaterland, dem Tod für die Eltern die Stirn.‹«
»Meine Eltern sind von jeher tot!«, sprach der Armenier und holte von irgendwo einen Bocksbeutel hervor, den er schüttelte, und der halbvolle Bocksbeutel gluckerte und die zwei ergötzten sich an seinem Gluckern.
Sie tranken eine Weile schweigend. Als er sie so sah, erhob sich der Hund und wedelte träge mit dem Schwanz. Der Armenier goss ein wenig aus dem Bocksbeutel ins Gras und der Hund schleckte die heiße und duftende Flüssigkeit auf.
»Guck mal, der trinkt, ey!«, freute sich der Armenier, »Was meinst du, betrinkt er sich?«
»Sein Bier«, sprach Ioan, Lehrer an der Schule zu Colția.
Er sprach:
»Auch wir sind irgendwo in einem Winkel dort im Geiste der Engel, und da sitzen wir und schweigen, doch hier sprechen wir und trinken. Und auch diese Worte und das Getränk sind dort, nur dass keiner dort das Getränk trinkt und die Worte von keinem gesprochen werden, sie stehen bloß da zwischen anderen Worten und Dingen und nichts geht hervor aus ihrem Stehen.«
»Sie stehen da, um zu sein«, sprach der Armenier Zadic, dann trank er aus dem Bocksbeutel, verschluckte sich, hustete, vergoss Tränen und hustete erneut.
Er sprach:
»Dort stehen alle unsere Taten bis ans Ende und wir wissen nichts von ihnen und es gibt keinen Unterschied zwischen ihnen, wie hier, denn ob Anfang oder Ende, dort ist alles gleich.«
Ioan nahm den Bocksbeutel und trank, eine Weile schwiegen sie wieder in der Hitze jenes scheinbar endlosen Nachmittags. Irgendwo weit in der Ferne sahen sie wie durch ein welliges Glas Soldaten Übungen machen. Sie bewegten sich wie an Fäden geführte Puppen. Dann knallten die Büchsen, die sie anfangs über der Schulter getragen hatten. Es war wohl eine Moskowitertruppe, das erkannten sie nach einiger Zeit des Beobachtens. Da kam ein bärtiger Zwerg daher und bedrängte sie.
»Aber ey«, sprach der Armenier, »Wenn du hier herumhängst, warum nicht ein wenig weiter weg, damit auch ich zu Ende gucken kann, was die Moskauer da machen.«
»Jetzt ruhen sie sich aus«, sprach Ioan der Geograf, der zwischen den Beinen des Zwerges hindurchsah.
Der Zwerg stand weiterhin da, breitbeinig und böse. Sein Bart hatte sich verzwirbelt vor Zorn und große Schweißperlen strömten von seiner Stirn ins Erdreich.
»Du Mistzwerg!«, sprach der Armenier erbost darüber, dass er noch immer nichts sah, auch wenn diese Moskauer sich grade ausruhten.
Als die Trompete erschallte, schreckte der Zwerg auf und sprach:
»He da, ihr, was tut ihr hier?«
Der Armenier Zadic lachte einfach. »Ey!«, sagte er, »Weißt du was, der vermaledeite Zwerg hier sucht bei dieser Hitze Streit mit uns.«
Ioan der Geograf betrachtete den Zwerg und sprach:
»Glaub ich nicht, so dumm wird er nicht sein!«
»Ey, weißt du, Zwerge sind dumm!«, sprach der Armenier.
»Jetzt sind noch mehr Moskauer gekommen«, sprach Ioan, der wieder etwas sah.
Der Hund erhob sich und kläffte kurz zu den Moskauern hinüber, schien verängstigt und legte sich wieder hin. Ein paar seitlich stehende Pflaumenbäume schüttelten ihre Blüten träge wie einen Schneeschauer über die Erde und machten sie weiß.
»Ey, was ist?«, schreckte der Armenier nach einer Weile hoch.
»Nichts!«, sprach Ioan, »Nur dass die Moskauer weg sind und nach ihnen ist auch der Zwerg gegangen.«
»Hör mal«, sprach der Armenier Zadic, »wir könnten im Vögelchen Würfelspielen gehen, aber wir haben kein Geld.«
»Wir können doch auch so hin!«, sprach der andere, also Ioan, »ich kenne einen, der uns Geld geben wird, damit wir spielen, und verlieren wir, geben wir ihm nichts zurück, und kommt es umgekehrt, geben wir ihm die Hälfte des Gewinns oder gar noch mehr, ich erinnere mich grade nicht.«
Sie tranken aus dem Bocksbeutel, bis sie ihn geleert hatten, auf dass nichts zu Begehrendes mehr darin wäre. Sie fühlten sich eine Weile frei von Wünschen, dann hatten sie wieder Lust zu trinken und diese Lust überschwemmte sie wie ein düsterer Nebel und jeder dachte an etwas Schönes, um zu vergessen. Zadic an Moskowiterbälle, wo er als Türke verkleidet hinging und die verschwitzten Mädchen erschreckte, und Ioan der Geograf an das Land Engliterra, wo er nie gewesen war. Dann konnten sie an all das oder auch anderes, was an diesem warmen und duftenden Nachmittag hätte gewesen sein können, nicht mehr denken.
Und man vernahm hernach nie wieder etwas von ihnen, bis auf diese Worte, welche Ioan auf eins seiner Bücher schrieb, welches hieß Giographie:
»Man wisse, dieses Buch, welches heißt Giographie, also die Schrift der ganzen Erdoberfläche, habe ich, welcher unten unterzeichnete, mit sechs Talern erstanden.«