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Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. Bevor er anfing zu schreiben, hat er als Manager in der IT-Branche gearbeitet. Bislang sind von Schorlau vier Kriminalromane mit seinem Privatermittler Dengler erschienen, zuletzt Brennende Kälte (2008). 2006 ist Wolfgang Schorlau mit dem Deutschen Krimi-Preis ausgezeichnet worden.

Wolfgang Schorlau

EIN PERFEKTER MORD

Krimi * Nautilus

KALIBER . 64

Edition Nautilus

1. Teil

1. Nichts als die Wahrheit

Für einen Moment bleibt die Zeit stehen. Ich bin erfüllt von Ruhe und innerem Frieden. Wie Madame Bovary komme ich mir vor. So ist es also, das Glück. Aber ich stehe nicht vor einem Spiegel, und es ist keine sexuelle Ekstase, die mich so zufrieden macht. Es ist ein weißer Umschlag. Ich stehe im Treppenhaus eines Hauses in der Stuttgarter Mozartstraße, habe ihn eben aus dem Briefkasten gezogen und geöffnet. Absender ist mein Verlag.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin kein Verleger. Das besitzanzeigende Fürwort bedeutet nicht, dass der Verlag mir gehört. Es bedeutet, dass ich endlich Schriftsteller bin. Aus dem weißen Umschlag ziehe ich mein erstes Buch. Es heißt: Die Blaue Liste. Ein Kriminalroman. Das Cover ist blau. Es zeigt einen Vorhang. Das gefällt mir. Denn dahinter verbirgt sich das Geheimnis. Dahinter verbirgt sich das Staatsverbrechen, das mein Held Georg Dengler aufdeckt.

Vorsichtig, das Buch mit beiden Händen haltend, als könne das Neugeborene verletzt werden, wenn ich es fallen lasse, gehe ich die Treppen hinauf in den fünften Stock, wo ich neuerdings wohne.

Ich habe es geschafft. Ich schreibe Kriminalromane. Ich könnte weinen vor Freude.

Und nun – fünf Jahre und fünf Romane später – schreibe ich erneut an einem Buch, und von diesem Roman hängt mein Leben ab. Ich schreibe keine Fiktion, ich schreibe die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, und auf jedes Wort, das Sie hier lesen, kann ich schwören. Ich weiß, was für mich davon abhängt. Man hat mir meinen Laptop gebracht. Man hat mir erlaubt, meine externe Tastatur zu verwenden, ohne die ich schlecht zurechtkomme. Aber die Tischplatte ist zu hoch. Der Stuhl, auf dem ich sitze, ist eine Katastrophe. Beim Schreiben ziehen sich die Schulterblätter zusammen, und das produziert einen sengenden Schmerz im Rücken, der meine Konzentration stört. Noch nie habe ich in einem Raum geschrieben, in dem ich zugleich meine Notdurft verrichten muss. Aber immerhin, ich kann schreiben, und ich werde diese Geschichte aufschreiben und hoffen, dass die Wahrheit siegt. Zumindest dieses eine Mal.

2. Das neue Leben

Noch am selben Tag kündige ich. Ich gehe zu meinem Chef und lasse mich in den großen Sessel sinken, der vor seinem Schreibtisch steht. In der company, wie wir die Firma nennen, reden wir uns alle mit Vornamen an. Bleiben beim »Sie«, aber eben mit Vornamen. Sehr amerikanisch, sehr modern, aber auch ein bisschen komisch. Steffen, sage ich, ich gehe. Er sieht mich über seine hypermoderne Brille hinweg an, eine Brille, auf die er sehr stolz ist. Sie macht ihn dem Trainer von Borussia Dortmund so ähnlich.

Er sieht mich also über seine hypermoderne Brille hinweg an, überlegt einen Augenblick und fragt dann: Wann? Sofort, sage ich. Dann schweigen wir.

Wir wissen beide, dass ich die Kündigungsfrist einzuhalten habe. Meinen Urlaub für dieses Jahr habe ich bereits komplett genommen, auch den Resturlaub der letzten drei Jahre. Das ist in der company nicht üblich. Keiner der Projektleiter nimmt seinen kompletten Urlaub. Nach ein, zwei, drei Jahren kommt Frau Rosendahl, die die Personalbuchhaltung macht, und fragt, was sollen wir denn nur mit Ihrem vielen Resturlaub machen? Dann wird er ausgezahlt. Samt Urlaubsgeld. Die Steuer frisst fast alles wieder weg.

Kein Mensch hat mir gegenüber irgendeine Bemerkung gemacht, dass ich den Resturlaub genommen habe, auch Steffen nicht. Aber intern wurde bestimmt darüber geredet. Deshalb wird er sich gedacht haben, dass sich irgendeine Veränderung mit mir anbahnt.

Also erzähle ich ihm, dass ich einen Kriminalroman geschrieben habe. Ab heute wird er in den Buchläden zu haben sein, sage ich. Ich schenke ihm das Exemplar, das der Verlag mir geschickt hat. Für Steffen, habe ich hineingeschrieben.

Kann man denn davon leben, fragt er skeptisch und wiegt das Buch in der Hand, als würden Schriftsteller nach dem Gewicht ihrer Bücher bezahlt.

Ich hoffe es, sage ich wahrheitsgemäß. Er wünscht mir alles Gute, und ich gehe.

3. Grün-Türkis

Ich vermisse die Landesbibliothek. Seit fünf Jahren bin ich Stammgast in deren Lesesaal. Ich benötige die disziplinierende Atmosphäre eines öffentlichen Raums, um wirklich produktiv arbeiten zu können. Immer habe ich die Kollegen bewundert, die in ihrer eigenen Wohnung schreiben. Mir ist das nie gelungen. Immer gab es etwas Dringendes zu erledigen. Schnell mal einen Kaffee zu kochen, das Geschirr zu spülen, einen Anruf zu erledigen, E-Mails zu beantworten.

Das Anfangen fällt mir schwer. Immer habe ich eine fast unüberwindliche Barriere zu überwinden. In einer öffentlichen Bibliothek gewinne ich diesen inneren Kampf leichter. Hier kann ich weder Kaffee kochen noch Geschirr spülen. Hier arbeiten alle. Die Jurastudenten mit den dicken roten Wälzern kommen meist schon früh und zwingen mich, auch kurz nach neun da zu sein, sonst nehmen sie meinen Lieblingsplatz ganz hinten am Fenster weg.

Außerdem kommt hin und wieder eine junge Frau in die Bibliothek, eine Studentin vermutlich, von der ich nicht möchte, dass sie meine Arbeitsschwierigkeiten erkennt. Sie ist zu jung für mich, ich mache mir da gar keine Hoffnungen, aber trotzdem … Zweimal schon hat sie mein Lächeln erwidert. Das letzte Mal, als ich im Lesesaal arbeitete, war sie auch da. Sie saß nur zwei Reihen vor mir. Wie immer hatte sie ihre Haare hochgesteckt, und an diesem Tag trug sie eine grün-türkise Bluse und zwei Perlen als Ohrringe. Sie hat sehr zarte Ohren und sehr zarte schmalgliedrige Hände. Wunderschöne Hände, die ich gerne einmal in den meinen gehalten hätte. Und sie hat einen vollen Busen. Seltsamerweise denke ich nachts, wenn ich hier alleine liege, nicht an L., die ich so gut kenne, angezogen und nackt. Ich denke an die Studentin und male mir ihre Brüste aus, ihre Brustwarzen. Sie sind groß, nicht ganz rund. Ist das nicht seltsam, dass man sich in meiner Situation nach einer Unbekannten sehnt und den vertrauten Körper fast vergisst?

Ob die Studentin sich an mich erinnert? Mein Bild war ja lange genug in allen Zeitungen. Vielleicht hat sie ihren Freundinnen erzählt: Der Krimi-Killer saß zwei Bänke hinter mir. Der Krimi-Killer, so hat die Bild-Zeitung mich genannt, so nannte mich dann jeder in der Stadt. Vielleicht haben ihre Freundinnen sie bedauert. Sei froh, dass er dich nicht umgebracht hat. Er hat mich zweimal so merkwürdig angelächelt. Oh Gott, wie entsetzlich, werden die Freundinnen gesagt und die Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen haben.

4. Nahe an der Realität

»Wolfgang Schorlau schreibt so nahe an der Realität wie kaum ein anderer deutscher Autor«, schrieben die Stuttgarter Nachrichten