Sara Kadefors

Wer sonst?

Aus dem Schwedischen
von Lotta Rüegger

Urachhaus

1

Ich schaffe es einfach nicht, jeden Morgen zur selben Zeit aus dem Haus zu gehen. Das ist geradezu ein Ding der Unmöglichkeit. Ich muss erst in aller Ruhe auf dem Klo sitzen und meine Gedanken zu Ende denken. Ich muss meine Sachen in meinem eigenen Tempo zusammensuchen. Ich muss einen Song zu Ende hören. Wenn der Morgen nicht jeden Tag anders abläuft, sterbe ich.

Petra klopft behutsam an die Klotür, damit ich weiß, dass ich mich beeilen muss. Aber sie will nicht allzu streng wirken, weil ich nicht ihr eigenes Kind bin. Ich trockne meine Hände lange an dem hellgelben Handtuch ab. Als ich endlich die Tür öffne, wirkt sie den Tränen nahe. Ist denn Pünktlichkeit wirklich so wichtig? Verglichen mit all den anderen Dingen, meine ich. Verglichen damit, dass den Leuten die Häuser zerbombt werden oder dass eine Familie über ein verstorbenes Kind schweigt.

Alvar ist schon längst losgezogen. Er bricht immer zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn auf, obwohl es mit dem Rad nur zehn Minuten bis zur Schule sind. Viertel vor räumt er seinen Teller in die Spülmaschine, vierzehn vor geht er ins Badezimmer, sitzt höchstens bis acht vor auf dem Klo (ich höre die Spülung) und putzt sich bis fünf vor die Zähne. Dann bleiben ihm noch ein paar Minuten, um die letzten Dinge in die Schultasche zu packen, seine Jacke anzuziehen und sich auf den Weg zu machen.

Ich stolpere aus dem Haus, ohne meine Sneakers richtig zu binden. Winke dem Fenster zu, an dem Petra steht und nervös mit ihrer Halskette spielt. Ich kichere bei dem Gedanken, dass meine richtige Mutter nicht einmal wusste, wann mein Unterricht begann. Petra zuliebe werfe ich mich schnell aufs Fahrrad und trete kräftig in die Pedale. Sobald ich abgebogen bin, fahre ich langsamer. Ich versuche, mich an den Songtext zu erinnern, den ich gestern gehört habe. Außerdem muss ich noch über eine Frage nachdenken, die ich mir kürzlich gestellt habe: Was machen die Einwohner Bokarps an Sonntagen, wenn die Straßen vollkommen ausgestorben sind?

Als ich mich dem Gemeindehaus nähere, sehe ich jemanden, der in Schlangenlinien vor mir herradelt. Er scheint es auch nicht so eilig zu haben. Ich fahre etwas zügiger und hole ihn ein. Er wirft mir einen trägen Blick zu, sagt aber immerhin nicht »fuck you«. Dann konzentriert er sich wieder auf seine Schlangenlinien. Jedes Mal, wenn er auf mich zuradelt, muss ich aufpassen.

»Hast du verschlafen?«, frage ich Douglas.

»Hab’ ich?«

»Der Unterricht hat doch schon angefangen?«

»Na und?«

Wir radeln nebeneinander weiter, als wären wir zusammen unterwegs. Ich will gewisse Dinge herausfinden und gebe nicht so schnell auf.

»Dein Vater ist also Petras Bruder?«

»Ihr Stockholmer seid aber clever!«

»Dann sind wir also beinahe verwandt.« Ich lächle einschmeichelnd. »Du bist mein Bonuscousin.«

Er schaut mich an. Seine Stachelfrisur hat sich in gewöhnliche Stirnfransen verwandelt. »Warum will dich deine Mutter nicht haben?«

»So ist das nicht.« Ich unterdrücke meinen Wunsch, ihn zu schlagen.

»Wieso wohnst du dann nicht bei ihr?«

»Weil sie krank ist.«

»Wie krank kann man schon sein?«

Die Wut kocht in mir hoch. »So krank, dass man MS hat und fast blind ist!« Ich fahre näher an ihn ran, mein Rad berührt seines, und er gerät ins Schwanken. »Und deine Mutter? Mag sie dich überhaupt? Wer will schon ein Kind haben, das gemeine Sachen sagt und sich wie ein Idiot benimmt? Wenn ich deine Mutter wäre, hätte ich dich schon längst über!«

Erstaunlicherweise kommt keine freche Antwort zurück. Ich hab das Gefühl, dass er blasser geworden ist.

»Entschuldige«, sage ich.

Er beugt sich über den Lenker und startet durch. Auch ich gebe Gas. Erreiche die Schule nur wenige Sekunden nach ihm. Renne über den Schulhof und durch Korridore. Vor dem Klassenzimmer hole ich ihn ein. Wir gehen zusammen rein, gleichermaßen verspätet. Douglas knallt sein Mathebuch nachlässig aufs Pult. Alvar wirft mir einen finsteren Blick zu, als hätte ich etwas Ungehöriges getan. Roya erklärt, dass wir nachsitzen müssen, wenn wir mehr als dreimal in der Woche zu spät kommen. So kann es nicht weitergehen.

»Ich weiß, dass ich mich zusammenreißen muss«, sage ich mit einem Seufzer, »aber es fällt mir sooo schwer!«

Es wird gelacht. Evins Eichhörnchenaugen funkeln. Douglas piekst Salim mit einem Stift, als hätte er mich nicht gehört. Aber nachdem alle ihre Bücher aufgeschlagen haben, dreht er sich um und schaut mich an. Würde er sich gerne aussprechen oder mich lieber umbringen? Schwer zu sagen.

In Bokarp machen Mädchen und Jungen fast alles getrennt. Die Mädchen können sich in Jungs verlieben, aber einfach nur befreundet sind sie fast nie. Vermutlich ist das der Grund, warum Mange gemischte Teams einführt. Einige sollen Federball spielen, aber Alvar und ich sind in der Basketballgruppe. Alvar steht ganz verloren in der Landschaft, während die anderen Jungs alles plattwalzen, ohne sich darum zu kümmern, ob jemand im Weg steht. Alvar tut mir leid, weil er ausgerechnet in Bokarp Junge sein muss, wo alle so dick auftragen.

Leider ist er im gleichen Team wie Douglas gelandet. Weil Alvar sein Hassobjekt nach Möglichkeit ausblendet, spielt er seine Bälle immer dem gegnerischen Team zu. Zuletzt reicht es Douglas, dass Alvar ihn immer um einen halben Meter verfehlt. »Blödmann!«, zischt er.

»Mach schon, Alvar!«, ruft Mange.

Plötzlich ist da etwas ungewöhnlich Aufsässiges in Alvars Blick. Er entreißt Max den Ball und sprintet auf seinen wackligen Zahnstocherbeinen Richtung Korb. Schon von Weitem ist ihm anzusehen, wie sehr er punkten möchte, wie sehr er Douglas und allen anderen zeigen möchte, dass er nicht immer versagt.

»Was machst du denn für einen Blödsinn? Idiot!« Douglas verzieht höhnisch das Gesicht. Die Sache ist nämlich die, dass Alvar das Dribbeln vergessen hat. Ich werfe Mange einen Blick zu, damit er kapiert, dass er gegen Douglas’ Beleidigungen einschreiten muss. Aber Mange schweigt einfach. Vielleicht will er Alvar nicht in Schutz nehmen, damit nicht der Eindruck entsteht, er würde seinen eigenen Sohn begünstigen. Sicherlich haben sich zwischen Alvar und Douglas oder zwischen Petra und Douglas’ Vater Dinge abgespielt, von denen ich nichts weiß, heikle Dinge.

Evin wirft mehrere Körbe und ist die beste Spielerin auf dem Feld. Ich werfe auch einen, und das fühlt sich gut an. Wenige Minuten vor der Pause hat Alvar wieder den Ball. Aber gerade als er sich zum Korb hochschwingen will, kommt Douglas angeschossen und reißt ihm den Ball aus der Hand. Alvar steht einfach nur da und schaut zu, wie Douglas zwei Punkte erzielt.

»Douglas …«, sagt Mange lahm. Aber dann scheint er gleich wieder an andere Dinge zu denken. »Zeit zum Duschen! Beeilt euch!

»Du musst eingreifen!«

Mange beginnt, die Badmintonnetze wegzuräumen. Ich gehe auf ihn zu.

»Hörst du nicht? Er ist so gemein zu Alvar. Die ganze Zeit!«

»Genau!«, pflichtet mir Evin bei, die direkt hinter mir steht. »Na, so schlimm ist es nun auch wieder nicht!«

»Doch«, erwidere ich. »Man muss doch eingreifen, wenn jemand ungerecht behandelt wird!«

»Oder?«, fügt Evin hinzu.

Verwirrt schaut Mange Alvar hinterher, der auf dem Weg zur Tür ist. Einige Neugierige sind stehen geblieben. Douglas steht mit dem Basketball im Arm da und schaut interessiert zu, als ginge ihn das alles nichts an. Mange sieht erst mich und dann Alvar an. Schließlich seufzt er und geht mit zögernden Schritten auf Douglas zu.

»Das war vielleicht nicht so gut … du musst auf die Gefühle anderer Rücksicht nehmen.«

»Übertrieben sensible Leute«, erwidert Douglas.

Mange lächelt kumpelhaft.

»Ein bisschen sensibel ist doch wohl erlaubt, oder nicht?«

»Alvar ist nicht sensibel«, wende ich ein. »Es ist ganz normal, sauer zu sein, wenn man andauernd geärgert wird.«

»Er ist ein lausiger Spieler!« Mit einer geübten Bewegung dreht Douglas den Ball auf seinem Zeigefinger. »Er ruiniert alles.«

»Du ruinierst alles«, sage ich.

»Ja«, pflichtet mir Evin bei.

»Ja«, sagt auch Wilma.

»Genau«, stimmt Larissa ein.

Rasmus nickt zustimmend. Ich sehe, dass auch Douglas das sieht. Wütend wirft er den Ball an die Wand, der prallt zurück, in meine Richtung. Ich muss ausweichen, um nicht getroffen zu werden. Hat er sie nicht mehr alle?

Evin kommt in die Dusche. Sie mustert meinen Körper, ihr Blick gleitet von meinem Busen zu meinen Hüften. Ich schäme mich nicht über mein Aussehen, aber es ist schon ein komisches Gefühl, wenn man angestarrt wird.

»Weißt du eigentlich, wie cool du bist?«

»Klar doch!« Ich drehe den Duschkopf in ihre Richtung. Sie kreischt und lacht. Sofort kommen die anderen dazu und eine Wasserschlacht ist in vollem Gang. Es ist allen egal, dass ihre Haare nass werden. Hier wird nach dem Turnen immer geduscht, kaum jemand scheint kapiert zu haben, dass Nacktsein peinlich ist. An meiner alten Schule haben sich alle die Kleider über die verschwitzten Körper gestreift.

Insgeheim betrachte ich meine Mitschülerinnen. Filippa hat überhaupt keinen Busen, Evin hingegen wirkt beinahe erwachsen. Wenn ich mich nicht ganz täusche, habe ich seit meiner Ankunft in Bokarp ein paar Haare mehr zwischen den Beinen bekommen.

Nadine ist die Einzige, die beim Duschen zur Wand schaut. Ihr langes braunes Haar fällt wie eine wohlgekämmte Mähne über ihren weißen Rücken. Ich kann ihre Rippen unter der dünnen Haut erkennen. Nadine wirkt zerbrechlich und geheimnisvoll. Als hätte sie meinen Blick gespürt, dreht sie sich plötzlich um. Im nächsten Augenblick nimmt ihr Gesicht einen frechen Ausdruck an, dann richtet sie den Strahl auf mich. Ich renne auf sie zu, um das Wasser abzudrehen. Nadine hält ihre Hand vor den Hebel. So gelöst habe ich sie noch nie erlebt, mit niemandem.

Alvar und ich machen uns gemeinsam auf den Heimweg. Ich schiebe das Fahrrad neben mir her, weil seines mit einem Platten zu Hause steht. Mange findet, dass er es selber flicken soll, und hat ihm schon tausend Mal gezeigt, wie man’s macht. Er kaut einem das Ohr damit ab, wie wichtig es ist, diese Dinge zu lernen. Mein Einwand, dass ich niemanden kenne, der seinen Platten selber repariert, ist ihm vollkommen egal.

Der ernste Alvar. Stirnfransen, die die Augen verbergen. Verkniffener Mund. Was ist jetzt schon wieder los?

»Seit du da bist, ist es echt anstrengend«, sagt er.

Ich weiß, dass er es nicht ernst meint. Er redet manchmal kompletten Unsinn.

»Was soll ich denn tun? Einfach das Maul halten, wenn er sich wie ein Vollidiot benimmt?«

»Ja, bitte.« Er tritt absichtlich in eine Pfütze, dass es spritzt.

»So ein Aufstand macht es auch nicht besser!«

Ich schaue zum Marktplatz hinüber, wo ein paar Mädchen aus Teas Klasse vor der Statue stehen und Eis essen. Teas Freundin Fatima gestikuliert heftig. Alvars Schritte werden immer langsamer. Zuletzt steht er reglos da und starrt auf den regennassen Asphalt. Seine Stirnfransen haben sich in den Wimpern verfangen.

»Ich will einfach nur auf ihn einprügeln«, sagt er fast unhörbar.

»Was?«

Alvar hebt seinen Blick. Er sieht verängstigt aus. »Ich will ihm ins Gesicht schlagen, in den Bauch, überallhin. Ich muss die ganze Zeit daran denken, dass ich damals in der Tischtennishalle keinen richtigen Treffer gelandet habe.«

»Ist es nicht anstrengend, solche Gefühle mit sich rumzuschleppen?«

»Vielleicht.«

Er setzt sich wieder in Bewegung. Ich kapiere es einfach nicht.

»Aber … wie kann man auf jemanden nur so wütend sein?« Wie erwartet, keine Antwort.

»Was ist eigentlich zwischen euch passiert? Kannst du mir das nicht einfach erzählen?«

Er geht schneller. Ich schwinge mich aufs Rad, um mit seinem Tempo mithalten zu können. Dann beginne ich zu singen: »Don’t wanna see no blood, don’t be a macho man. You wanna be tough, just do what you can, so beat it …« Ich singe lauter als gewöhnlich, um ihn zu ärgern. Bestimmt ist ihm das jetzt wahnsinnig peinlich, aber er ist einfach selber schuld, wenn er nichts sagt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Impressum

2

Heute steht »Gartentag« auf dem Wochenplan. Was vor allem Laubrechen zu bedeuten scheint. An einem solchen Tag eine Freundin zu besuchen, ist vollkommen ausgeschlossen. Sich im Haus zu verschanzen und fernzusehen natürlich auch. Der Gartentag hätte eigentlich am Sonntag stattfinden sollen, aber da hat es geregnet und die ganze Familie ist stattdessen in die Bibliothek gegangen. Mich hat es nur mäßig begeistert, in einer Reihe und Regenklamotten durch den Ort zu spazieren, aber Tea und Alvar haben regelrecht gelitten. Der Anblick ihrer tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen hat geradezu wehgetan. Nicht einmal in Bokarp unternimmt man alles gemeinsam. Und nicht einmal in Bokarp muss man sich Gummistiefel anziehen, sobald es draußen ein bisschen feucht ist.

Der Himmel ist von dunkelgrauen Wolken überzogen. Die Luft hat jede Freundlichkeit verloren. Aber ich bin trotzdem als Erste im Garten. Fast alles, was man zum ersten Mal macht, wirkt spannend. Ich kann mir ja nicht hundertpro sicher sein, dass Laubrechen nicht mein Ding ist.

»Weißt du wirklich nicht, was ein Rechen ist?«, erkundigt sich Mange mit dem Kopf im Geräteschuppen.

»Nein.«

»Und eine Harke?«

»So in etwa.«

Mange lacht übertrieben laut. »Wie ist das nur möglich, Billie? In Stockholm gibt es doch auch Laub? Und Leute mit Gärten?«

»Ich kenne niemanden, der einen Garten hat«, erwidere ich.

»Und jemanden mit einem Rechen schon gar nicht.«

Er kommt mit einigen Holzstangen mit langen Plastikzinken an einem Ende zum Vorschein. Mange und ich sehen uns an und haben denselben Gedanken. Im nächsten Moment verwandeln sich die Rechen in fluoreszierende Stäbe und wir beginnen einen Fechtkampf wie in »Herr der Ringe«. Die Nachbarin starrt entsetzt durch die Hecke zu uns herüber. Petra kommt in einer Outdoor-Jacke in den Garten. Sie bleibt in einiger Entfernung stehen und fingert nervös an ihrem Goldkreuz.

»Jeden Moment triffst du sie ins Auge, Mange.«

»Keine Sorge«, sagt er und drückt mich an die raue Hauswand.

»Aaaah!«, schreie ich. »I swear to god I’m gonna kill you!«

»I’m gonna kill you first!«, sagt Mange.

»If you fuck with me I’ll fuck with you!«, erwidere ich und schiebe ihn weg.

»Die!«

»Hört auf! Hört sofort auf!«

Wir lassen unsere Stäbe sinken. Sie sieht aus, als hätten wir in vollem Ernst so schlimme Dinge gesagt. Was hat sie bloß? Denkt sie immer gleich an den Tod, wenn jemand »die« sagt? Wie sensibel darf man eigentlich sein?

»In dieser Welt wird schon genug getötet«, murmelt sie und greift sich einen Rechen.

»Jetzt sei doch nicht so«, entgegnet Mange. »Wir haben doch nur Spaß gemacht.«

»Sei doch nicht so«, wiederhole ich.

Aber Petra scheint uns nicht zu hören.

Mange zeigt mir, wie man den Rechen über das Gras zieht, damit das Laub zwischen den Zinken hängen bleibt. Fast sofort habe ich den richtigen Dreh raus. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Petra auf den kleinen Baum zugeht, der nach dem Tod ihres verunglückten Sohnes Casper vor zwei Jahren gepflanzt wurde. Mittlerweile hängt ein Bild von Casper an der Wand im Wohnzimmer. Manchmal nenne ich seinen Namen, damit er ab und zu ausgesprochen wird. Niemand greift das Thema freiwillig auf, aber inzwischen können sie immerhin über ihn sprechen, wenn ich Fragen stelle. Manchmal kommen sie mit dem Erzählen richtig in Schwung. Aber irgendwie scheinen sie sich einreden zu wollen, dass sie meinetwegen über ihn reden und nicht von sich aus. Petra steht vollkommen reglos neben dem Bäumchen, dann beginnt sie, mit bedächtigen Bewegungen das pfifferlinggelbe Laub unter den Ästen zusammenzurechen. In diesem Moment schaut Alvars blasses Gesicht hervor. Er macht einen vorsichtigen Schritt auf die Terrasse und verkriecht sich tiefer in seine Jacke. Hinter ihm erscheint Tea in glänzender Weste und Gummistiefeln.

Laubrechen ist gar nicht so einfach, wie ich zuerst dachte. Richtig feuchtes Laub setzt sich zwischen den Zinken fest und verklumpt sich. Manchmal muss man sich bücken und das lehmige Zeug mit der Hand wegklauben. Aber ich strenge mich an und habe bald einen doppelt so großen Haufen wie die anderen zusammen. Mange bittet mich, die Schubkarre aus dem Geräteschuppen zu holen und das Laub hineinzulegen.

»Falls du überhaupt weißt, was eine Schubkarre ist.«

Er zwinkert mir zu. Petra hält inne.

»Billie weiß sicher viele Dinge, von denen wir keine Ahnung haben. Du darfst sie nicht dauernd kritisieren.«

»Das macht gar nichts«, antworte ich und begebe mich mit der Schubkarre Richtung Laubhaufen. »Mama würde sich halb totlachen, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Sie kennt Gartengeräte nicht einmal aus der Ferne. Ihre Eltern haben Tabletten geschluckt und Jazz gehört.«

Tea schaut mich interessiert an.

»Was denn für Tabletten?«

»Solche, die man schluckt, um das Leben auszuhalten«, sage ich und reche ganz viel Laub zusammen. »Mama nimmt die auch.«

»Bitte weiterharken«, sagt Petra.

»Wie machen die Tabletten, dass man das Leben aushält?«, erkundigt sich Tea.

»Weiß ich nicht«, erwidere ich und häufe noch mehr Laub auf die Schubkarre. »Aber ohne die Tabletten hat Mama nicht einmal die Kraft, mit mir zu reden. Alles ist dann so sinnlos, sagt sie. Und wenn sie die Tabletten nicht nimmt, dann kriegt sie einen wahnsinnigen Hass auf die Gesellschaft und alle Menschen und will ganz andere Tabletten schlucken und noch mehr essen und Schnaps trinken und …«

»Billie, jetzt müssen wir wirklich weitermachen, damit wir auch fertig werden.«

Ich bewerfe Tea mit Laub. Sie strahlt vor Freude, packt einen ganzen Haufen von der Schubkarre und lässt ihn über meinem Kopf los. Alvar macht mit. Wir fangen an, uns zu raufen, und landen in einem weichen Laubhaufen. Tea klemmt sich auf meinen Rücken. Ich kitzle Alvar, bis er vor Lachen kaum Luft bekommt. Einen Moment lang kommt es mir so vor, als ob die Sonne hervorschaut. Als hätte ich richtige Geschwister. Petra und Mange stehen auf entgegengesetzten Seiten des Gartens und schauen uns zu. Vielleicht würden sie ja auch gerne mitmachen, oder zumindest Mange.

Zu guter Letzt sagt Petra natürlich, dass es jetzt reicht. Mange bittet Alvar, ihm dabei zu helfen, einige Bretter an der Terrasse festzunageln. Alvar erhebt sich missmutig und klopft sich das Laub von den Jeans. Dann geht er mit Mange Richtung Haus. Ich schaue ihnen hinterher.

»Warum fragst du mich nicht, ob ich was festnageln will?« Mange dreht sich um. »Was? Ja, willst du das denn?«

»Und ob.«

»Na, dann komm!«

Während Mange erklärt, wie’s gemacht wird, schweift Alvars Blick ab. Und als er schließlich einen Hammer in der Hand hält, schlägt er nur ganz schwach zu. Ich übernehme gerne. Lasse den Hammer mit Schmackes niedersausen und treffe daneben. Ich witzle, dass ich Schreiner werden möchte, weil ich ganz offensichtlich talentiert bin. Mange findet, dass Alvar es noch mal versuchen sollte, aber der hat keine Lust. Mange schlägt den Nagel mit einem Hieb ein. Dann zwinkert er mir zu.

»So wird’s gemacht, Billie.«

Er schielt zu Petra hinüber, die sich auf ihr Laub konzentriert.