Christopher Wurmdobler

SOLO

Roman

Federschwert

Christopher Wurmdobler

SOLO

Roman

Czernin Verlag, Wien

Produziert mit Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien,
MA7 / Literaturförderung

Wurmdobler Christopher: Solo/
Christopher Wurmdobler
Wien: Czernin Verlag 2018
ISBN: 978-3-7076-0631-7

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien

Solo

Für Matthias
und den Salon Limoncello

»Love is a bourgeois construct«
(PET SHOP BOYS)

Gratisgetränke

»Ich glaube, ich werde altersheterosexuell.« Peter war zurückgekehrt von der improvisierten Bar, die man in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Postfiliale eingerichtet hatte, vorsichtig drei Longdrinkgläser zwischen seinen Händen balancierend. »Ich habe mich jetzt sicher zehn Minuten mit dem hübschen Barmann unterhalten – und er hat nicht mal nach meiner Handynummer gefragt. Ich bin über dreißig, mein Sexappeal ist weg, ich mach keinen Aufriss mehr.«

»Ooooch«, machten Arnold und Martin gleichzeitig und drehten sich Richtung Bar, wo ein Typ mit Flaschen hantierte, der genauso gut modeln könnte: vielleicht Ende zwanzig, blond, akkurater Seitenscheitel, sauber geschnittener Vollbart im kantigen Gesicht. Und, ach, natürlich Tattoos auf den Unterarmen. So wie sie halt gerade alle aussahen; zumindest jene, die es sich von ihren körperlichen Voraussetzungen her leisten konnten. Der Barmann bekam mit, dass sie ihn beobachteten, und grüßte freundlich.

»Porno«, sagte Arnold, Peter eines der Gläser abnehmend.

»Er hat keine Ahnung, wie gut er aussieht, das ist so wahnsinnig sexy«, fand Martin.

»Er ist trotzdem ein unnötiger Dude. Mit dem hab ich schon das letzte Mal geredet. Sehr süß, stockhetero. Der erzählt nur von seiner Freundin.«

»Die sind doch überhaupt die Ärgsten!« Peter gab Martin seinen Drink, die Freunde stießen so heftig an, dass man hätte hören können, wie die Eiswürfel in ihren Gläsern klimperten, wenn nicht im selben Moment der DJ, der gelangweilt an einem Biertisch hinter einem aufgeklappten MacBook saß und aussah, als müsste er noch schnell die Buchhaltung erledigen, die Anlage so weit aufgedreht hätte, dass die großen Fensterscheiben wackelten.

»Was ist da drin?« Arnold musste brüllen, so laut war es plötzlich im Raum.

»Gin mit irgendeiner Szenelimo.« Peter rührte den Cocktail mit dem Röhrchen um und warf es dann einfach auf den Boden.

»Basilikum«, schrie Martin. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, weniger zu trinken. Er langweilte sich auf solchen Veranstaltungen. Aber sie waren eine gute Gelegenheit, möglichst viele von seinen Leuten auf einem Haufen zu sehen. Und es gab Freigetränke für alle, Frinks, wie sie seit Bilderbuch sagten, neuerdings offenbar sogar harte Cocktails mit Grünzeug. Allerdings, diese Erfahrung hatte Martin jetzt ein paarmal gemacht, musste man aufpassen, nicht schon am frühen Abend einen sitzen zu haben. So etwas konnte böse enden. Ein Drink war okay, später würde Martin auf Mineralwasser umsteigen. Oder, besser, zeitig nach Hause. »Was wird denn heute präsentiert?«, fragte er Lena, die, nachdem sie den DJ mit einer eindeutigen Geste dazu verdonnert hatte, die Anlage wieder mehr Richtung Hintergrundrauschen zu drehen, das Trio jetzt mit Küsschen rechts, Küsschen links begrüßte.

»Blödsinn wie immer, aber es gibt gleich Häppchen und das Catering ist diesmal toll.« Lena machte ein vielversprechendes Gesicht. »Wir probieren mal was Neues.« Gemeinsam mit ihrer Freundin Rita, die gerade mit jemand Wichtigem im Gespräch war und ihnen unauffällig zuwinkte, besaß sie eine PR-Agentur. Um die Stimmung bei grundfaden Präsentationen aufzulockern, luden sie oft ihren ganzen Bekanntenkreis zu ihren Events ein. So wie heute. Manchmal kam sich Martin vor wie ein Statist, ein Lückenfüller, um dröge Partys aufzupeppen. Die lässigen Schwulen mit dem guten Geschmack, die für den richtigen Rahmen und gute Stimmung sorgten, sich um die weiblichen Gäste kümmerten, deren Typen abends lieber zu Hause blieben, und die, ganz wichtig, wussten, dass sie die Kunden in Ruhe lassen sollten.

Was auch immer präsentiert wurde, Klamotten, Computerprogramme, die neuesten Errungenschaften der Unterhaltungsindustrie oder wie heute Strumpfhosen: Martin und die anderen gehörten nicht zur Zielgruppe. Ein Fünfzigjähriger und zwei Typen in ihren Dreißigern. Sie hatten die falschen Outfits, die falschen Frisuren, die falschen Berufe, aber immerhin die richtigen Verbindungen. Meist taten sie ein bisschen interessiert, unterhielten sich über an- und abwesende »Dudes« oder sie richteten die Leute aus. Sie lästerten über jene, die aus beruflichen Gründen auf solchen Veranstaltungen zugegen sein mussten. In der Regel waren das Fashion-Bloggerinnen, sogenannte Influencer, und Wiener Prominente oder solche, die sich dafür ausgaben. »Haben die abends nichts Besseres zu tun?«, fragte Martin dann. Oder »Haben die daheim nichts mehr im Kühlschrank?« Einmal hatten sie sogar von einem welk gewordenen Fernsehmoderator ein Autogramm geholt, blöd kichernd wie die letzten Fanboys. Lena hatte das gar nicht witzig gefunden.

»Ich muss euch nachher noch was erzählen«, sagte sie nun und überließ Peter, Arnold und Martin wieder sich selbst, um jemand Wichtigen zu begrüßen.

Mit ihrer Anwesenheit taten sie den Gastgeberinnen einen Gefallen, und wie gesagt: Es gab Free Drinks. Die Frinks waren freilich nicht ungefährlich. Wenn man zu viel getrunken hatte, schickte Lena einen ohnehin meist freundlich aber bestimmt nach Hause. Ein einziges Mal, das war während der Präsentation eines Modelabels in den Räumlichkeiten des Museums für Angewandte Kunst, hatten die Freunde es geschafft zu bleiben, bis sämtliche Alkoholvorräte aufgebraucht waren. Die Barleute machten schon die abstrusesten Mischungen aus den Resten; »AMS«, »Alles muss speiben«, hieß seitdem ihr Lieblings-Cocktail, wenn es bei den Lena-Rita-Events darum ging, die Bar zu plündern.

Wenn man in der Nähe der Paravents stand, hinter denen gerade asiatische Häppchen auf Tabletts verteilt wurden, konnte man sich an so einem Abend tatsächlich richtig satt essen. Man musste nur rechtzeitig die schwarz gekleideten Studentenjobber mit ihren Tabletts abfangen, nicht geschissen zu ihnen sein wie die meisten anderen Gäste, sondern aufrichtig nett, dann wurde man bestens versorgt. »Pressday ist Fressday«, sagten sie immer. Für Martin, Arnold und Peter war es eine Art Statistenhonorar oder Schmerzensgeld, und Lena freute sich, wenn sie ihre Freunde auf Kosten eines Kunden durchfüttern konnte. Vor allem, wenn dieser nicht besonders gut zahlte.

Sie sahen sich um, machten bei der Fotostation ein paar Gruppenbilder, Dreierselfies, die sie gleich ausdrucken ließen und behashtagged auf Instagram stellten. Die üblichen Verdächtigen zupften an Strumpfhosen einer bedeutenden heimischen Marke herum. In allen Farbvarianten baumelten sie von quer durch den Raum gespannten Wäscheleinen. Einige Gäste ließen den Experten raushängen, die meisten hatten nach wenigen Sekunden genug gesehen und widmeten sich wieder dem Netzwerken. Sie überlegten, ob sie die große Blonde, die sich gerade bei den Give-away-Taschen bediente, von der einen Castingshow oder dem Reality-TV-Format aus den frühen Nullerjahren kannten. »War die nicht bei ›Tausche Familie‹?«, fragte Peter. Er hatte eine gallegelbe Strumpfhose von der Leine genommen, sich ein Strumpfhosenbein über den Kopf gestülpt und sah aus wie ein durchgeknallter Bankräuber.

»Wo ist dein Mann?«, fragte er und hielt Arnold eine unsichtbare Pistole an den Kopf.

Arnold duckte sich weg. »David hat Nachtdienst. Wie eigentlich immer.«

»Oho, dann wird’s wohl eine lange Nacht für dich. Später noch was vor?«

Arnold grinste.

»Und wo bleibt Mister Steph?«, fragte die Stimme unter der gallegelben Strumpfhose.

»Kommt nicht«, antwortete Martin, der gerade eine WhatsApp von Steph bekommen hatte. »Hat wohl was Besseres vor.« Er mochte es gar nicht, wenn sie »Mister Steph« sagten, es klang so streng feldwebelig und war auch ein bisschen gemein. »Außerdem gibt’s hier ja nichts für Veganer, also auch nichts zum Bloggen.«

»Aber Strumpfhosen ohne Tierleid!« Peter machte Anstalten, das andere Hosenbein Martin aufzusetzen, der wehrte sich: »Lass dich bloß nicht von Lena erwischen.«

»Ganz schön elastisch.« Arnold zog die Strumpfhose über Peters Schädel in die Länge, was in einer kleinen Rangelei endete.

Lena war natürlich gleich zur Stelle. »Hört mit dem Scheiß auf«, zischte sie, riss Peter die Strumpfhose, die inzwischen eine Laufmasche hatte, vom Kopf und ließ sie unauffällig hinter einem der Paravents verschwinden. Alle drei machten betretene Gesichter und hielten sich an ihren leeren Gläsern fest.

»Nachschub?« Der gutaussehende Barkeeper-Dude hatte sie beobachtet und war zu ihnen rübergekommen.

Arnold und Peter nickten eifrig, Martin schüttelte den Kopf. »Für mich nichts mehr.«

»Spielverderber.«

»Wenn ich doch morgen früh raus muss.«

»Wir ziehen eh gleich weiter.«

»Ich ziehe garnirgends mehr hin, ich fahr dann heim.«

»O. M. G.«, machte Peter jetzt. Die Tür war aufgegangen und ein Typ, den Martin vom Fortgehen kannte, stand da. Oder kam er ihm nur bekannt vor? In seinen Augen sahen die meisten Typen inzwischen eh ziemlich gleich aus; eigentlich ähnelte er dem Barkeeper, Scheitel, Bart, Tattoos. Nur dass der hier keine Schürze trug.

»Ich habe ihn zuerst gesehen!« Peter war ganz plötzlich aus dem Häuschen. Der Barmann, der ihm seinen neuen Frink brachte – »Extraservice«, sagte er –, schien ihn nicht mehr zu interessieren. »Wieso mit einem Pferd ficken, wenn du ein Einhorn haben kannst?«

»Was hast du uns eigentlich noch erzählen wollen?«, fragte Martin Lena, als er sich von ihr wenig später verabschiedete.

Lena strahlte und zog Rita zu sich. »Es wird geheiratet!«

Erst dachte Martin, es ginge um ein weiteres Lena-Rita-Event und sie brauchten Hochzeitsstatisten. Obwohl das vielleicht dann doch zu weit ginge. »Wer heiratet denn?«

»Na, wir zwei Hübschen.«

»Ach so.« War das zu wenig euphorisch? Martin startete einen zweiten Anlauf. »Das ist super. Ich freu mich. Wann?« Das klang vielleicht ein bisschen verlogen. Aber er freute sich wirklich für die beiden.

»Am 25. März. Und ihr müsst alle kommen.«

Martin holte sein iPhone aus der Tasche. »Wow, schon so bald!«

»Die Einladungen gehen demnächst raus. S. T. D.« Rita blieb Organisationstalent. »Safe the date.«

»U. A. w. g.?«

»L. I. E. B. E.«, sagte Lena.

Martin entdeckte auf seinem iPhone eine neue Nachricht. Steph wollte ihn gleich morgen in der Früh treffen. »Ob Lena und Rita wissen, was S. T. D. bedeutet?«, überlegte er, als er die Party verließ.

Ich überleb’s

Er mochte Lena und Rita. Große Lust auf eine Hochzeit hatte Martin aber nicht. Warum überhaupt heiraten? Dauernd gab es irgendwas zu feiern, und seit einiger Zeit häuften sich Geburtstage, Jubiläen und andere Anlässe. Er saß in der U-Bahn nach Hause, betrachtete die anderen Fahrgäste im Wagen und fragte sich, ob die auch ständig auf irgendwelchen Partys abhingen. Womöglich war es ein Generationending. Vergangenen Sommer, am 21. August, war er fünfzig geworden, aber seine Probleme mit dem Alter hielten sich in Grenzen. Das betonte er jedenfalls immer, wenn ihn jemand darauf ansprach. Er sah jünger aus und fühlte sich auch so. Jedenfalls jünger als fünfzig. Mit seinen roten Haaren, seinem roten Schädel, dem roten Bart und der empfindlichen, hellen Haut, mit den Sommersprossen und seiner stämmigen Gestalt sah Martin mehr aus wie ein irischer Bauer. Er wurde auch oft für irisch gehalten.

Okay, das Haar war dünner geworden, er konnte nicht mehr jeden Frisurenquatsch mitmachen. Einmal im Jahr rasierte er sich den Bart ab, um nachzusehen, was sich darunter verbarg. Die Backen hingen dann vielleicht ein bisschen, der Hals war faltiger geworden, aber eigentlich sah das »Darunter« noch ganz gut aus. Trotzdem hatte er letzten Sommer nicht groß feiern wollen und inständig gehofft, dass es auch niemand von ihm erwartete. Das Schlimmste wäre eine Überraschungsparty gewesen. Um ihn zu ärgern, hatten die Jungs schon Wochen vor seinem Geburtstag immer wieder davon gesprochen, und er: Bitte. Nicht. Obwohl Martin sonst gerne Besuch hatte – Steph und David besaßen sogar eigene Schlüssel für sein Häuschen, durften kommen und gehen, wann sie Lust hatten – und zu seinen Geburtstagen normalerweise immer ein großes Gartenfest ausrichtete, wollte er diesen so deppert aufgeladenen Runden einfach nicht so groß werden lassen. Selbst auf ein intimes Essen mit seinen besten Freunden hatte er keine Lust. Ach, er wusste auch nicht so recht, suchte nach Ausreden. Er hätte in der Arbeit gerade viel um die Ohren. »Vielleicht spontan. Oder wir holen’s nach.« Außerdem müsse er noch die vielen Zwetschgen verarbeiten, die er vor ein paar Tagen vom Baum geholt hatte. Der ganze Eiskasten sei voll, man könne ja unmöglich Getränke einkühlen. Vorsorglich hatte er natürlich trotzdem ein paar Flaschen Sprudel besorgt, nur für den Fall.

An diesem 21. August also, einem extrem heißen Hochsommertag, war er im Büro gewesen. Es hatte länger gedauert, weil ein Projekt Probleme bereitete. Als er sich dann endlich abends gegen halb acht aufs Rad setzte und nach Hause fuhr, geriet er in das ärgste Sommergewitter überhaupt. Die Art warmer Regenguss, bei dem man innerhalb von Sekunden klatschnass ist und es auch schon egal ist, ob man jetzt einfach weiterradelt oder sich triefend in einem Hauseingang unterstellt und die Menschen beobachtet, die vergnügt kreischend Schutz suchen. Martin entschied sich fürs Weiterradeln, die nassen Hosen schlackerten ihm um die Waden, klebten an den Oberschenkeln, seine Stoffschuhe wurden immer schwerer und sein weißes Hemd triefte und wurde durchsichtig, sodass man die Brusthaare und Nippel sehen konnte.

Er war der Einzige, der jetzt auf der Straße unterwegs war. Sogar die Autofahrer hatten angehalten, weil der Regen so stark wurde, dass sie durch die Windschutzscheibe nichts mehr sahen. Den Rucksack mit dem MacBook hatte er zum Glück im Büro gelassen. Martin zog das jetzt durch, und der warme Sommerregen begann ihm Spaß zu machen. Laut singend radelte er durch Wasserwände. Scheiße, wie er Wien liebte, gerade auch in solchen Situationen! Er grölte, ohne dass ihn jemand hören konnte (»I will survive«, ausgerechnet diesen Gay-Klassiker!), schluckte Wasser, japste und schnappte nach Luft, als würde er ertrinken. Fast war es, als tauchte er durch den Regen.

Als er schließlich zu Hause ankam, hatte das Unwetter aufgehört. Die Luft roch klar und sauber. Amseln freuten sich und machten ihren Vogellärm. Es dämmerte, als er das Gartentor aufsperrte, sein Rad an den Geräteschuppen lehnte, und er begann schon auf der Veranda, sich die von der Nässe schweren Klamotten vom Leib zu reißen. Hemd aus, Sneakers aus, Hose und Unterhose gingen nur schwer von seinem feuchten Körper herunter. Nachdem er sein nasses iPhone aus der Hosentasche geschält hatte, warf er die Kleider über einen hölzernen Gartenstuhl. Nackt schloss er die Tür seines Häuschens auf. In dem Moment, als er die Klinke herunterdrückte, fiel es ihm ein: Bitte. Keine. Überraschungsparty.

Er lauschte und drehte das Licht in der Wohnküche auf. Niemand war da.

Kurz war Martin sogar enttäuscht gewesen, dass niemand auf ihn wartete. Dann sagte er sich, dass er ja auf keinen Fall hatte feiern wollen, also jetzt kein Selbstmitleid. Der Gedanke, dass er jetzt nackt vor allen seinen Freunden stehen würde, amüsierte ihn.

Der letzte Sommer war schon so weit weg. Martins U-Bahn-Station, wo in der heißen Zeit immer die Hölle los war, war jetzt im Winter wie verlassen. Er stieg als Einziger aus, allein ging er die Stiegen hinunter, nahm den schlecht beleuchteten Fußweg. Schon seit seiner Studienzeit bewohnte er das windschiefe Holzhaus in einer Schrebergartensiedlung bei der Alten Donau. Schwedenrostrot gestrichen mit weiß lackierten Kanten, spitzem Giebel und einer hübschen Veranda davor. Er zahlte absurd wenig Pacht, das Häuschen bot kaum Komfort, hatte aber einen riesigen Garten, der ihn regelmäßig überforderte. Seine Nachbarn überforderten ihn allerdings mindestens genauso. In der Anfangszeit verpfiffen diese Kleingartenspießer ihn ständig bei den Kontrolleuren, wenn er den Rasen nicht gemäht hatte oder sich weigerte, das Unkraut auf dem Weg vor seinem Gartentor mit Unkrautvernichtungsmittel zu bekämpfen. Besuchten ihn seine schwulen Freunde, schauten die Spießer blöd. Einmal standen ein paar Bekannte tatsächlich im Fummel vorm Gartentor, gackerten und riefen mit hohen Stimmen »Hallöchen Popöchen«. Martin war die Situation ein bisschen unangenehm gewesen. Gleichzeitig hatte er sich geschämt, dass ihm seine Freunde peinlich waren.

Martin war kein Gärtner. Regelmäßig musste er seinen Dachterrassenfreunden erklären, die sich Tipps von ihm erwarteten, dass er Landschaftsdesign gelernt habe, was mit ihren boboesken Dachterrassenfragen nur bedingt etwas zu tun hätte. Okay, er kannte sich mit Pflanzen aus, liebte es, in der Natur zu sein. Immerhin. Und wenn jemand ein Urban-Gardening-Projekt anging, was Martin immer sehr amüsierte, riet er zu diesen oder jenen Pflanzen und bau, bitteschön, keine Paradeiser in Blumenerde an, da ist nämlich voll viel Scheiß drin, Plastikteile, Kunstdünger und so.

Martin war auf dem Dorf aufgewachsen, seine Eltern besaßen in Oberösterreich eine Landwirtschaft mit einem kleinen Gasthof. Seine Geschwister waren in der Gegend geblieben, die älteste Schwester hatte den Hof übernommen, der Bruder die Gastwirtschaft. Obwohl seine Eltern aufgeschlossen waren, in den frühen Achtzigern hatten sie den Betrieb auf Bio umgestellt, war er ein bisschen der Außenseiter gewesen. Er hatte die Gartenbauschule besucht und sich nach der Matura früh für die Großstadt entschieden, studiert, demonstriert, Haltung gezeigt. Er war ein Stadtmensch geworden, ein Stadtmensch gefangen im Körper eines Landeis.

Erstaunlicherweise gewöhnten sich die Nachbarn mit der Zeit an ihn und seine Gäste. Genauso, wie sie sich an seine Art gewöhnten, den Garten zu gestalten. Hier konnte Martin bei den Schreberstrebern sogar mit seinem Fachwissen punkten. Und er hatte neben der Erziehung der Anrainer zur Toleranz noch eine weitere Mission: weniger Spritzmittel, mehr Nutzfläche. Lange, bevor es chic wurde, baute er sein eigenes Gemüse an, sägte die hässliche Thujenhecke und die unnötigen Ziersträucher um, die der vorherige Pächter angepflanzt hatte, und setzte Obstbäume. Zwetschgen, Marillen, Apfelbäume – alte Sorten natürlich.

Die Bäume wurden größer, und inzwischen überforderte ihn auch die Ernte. Aber es bereitete ihm auch großen Spaß, Obst einzukochen, Marmelade und Kuchen zu machen und damit sein Umfeld zu beglücken. Im Sommer hatte er immer Dreck unter den Fingernägeln vom Garteln, auch wenn er im Job fast nur vorm Computer saß und nicht in der Erde wühlte.

Mit den Jahren hatte sich die Nachbarschaft verändert. Die alten Rasenspießer übergaben an junge Familien, und fast die komplette Anlage war inzwischen fest in der Hand urbaner Öko-Hippies. Martin hatte sich vorgenommen, kein alter Spießer zu werden, und wenn die neuen Nachbarn abends zu lange Party feierten, ums Feuerschalenfeuer saßen oder – das war das Schrecklichste! – ihre Gitarren auspackten, setzte er sich entweder dazu oder, wenn er am nächsten Morgen früh raus musste, stopfte er sich Stöpsel in die Ohren.

Jetzt, wo es kalt war, saßen die Bobonachbarn natürlich alle in ihren großzügigen Altbauwohnungen mit Gasetagenheizung in den innerstädtischen Szenebezirken. Martin war einer der wenigen in der Anlage, die ganzjährig ihr Häuschen bewohnten. Er liebte die Winterstille. In der Nacht hatte es heftig geschneit, und anders als drinnen in der Stadt blieb bei ihm draußen an der Alten Donau der Schnee auch liegen. Am Morgen hatte er sich einen schmalen Pfad vom Haus zum Gartentor freigeschaufelt und war dann mit der U-Bahn ins Büro gefahren. Radeln war ihm im Winter zu mühsam. Zumindest wenn es feucht und kalt war wie heute.

Als er am Schuppen vorbeikam, nahm er ein paar von den Buchenholzscheiten mit, die davor gestapelt waren. Er legte sie vor der Haustür ab; glücklicherweise hatte der Wind den Schnee nicht auf die Veranda geweht. Mit klammen Händen sperrte er die Tür auf, machte Licht. In der Wohnküche war es so kalt, dass er seinen Atem sehen konnte. Er würde den finnischen Kamin anheizen und die dicke wollene Armee-Winterjacke erst ausziehen, wenn die Flammen loderten. Martin suchte nach Feuer. Seit er aufgehört hatte zu rauchen, hatte er auch kein Feuerzeug mehr einstecken und vergaß dauernd, Zündhölzer einzukaufen. In der Lade bei den Kerzen fand er schließlich welche. Er gab zerknülltes Zeitungspapier in den Kamin, ein paar Spreißel Weichholz, die er immer auf Vorrat gespalten hatte, zwei Scheite und zündete das Papier an. Glücklicherweise zog der Kamin, keine dramatischen Rauchschwaden im Raum heute. Er drehte den Wasserhahn auf, füllte den elektrischen Wasserkocher und schaltete ihn ein.

Das Wasser siedete, das Feuer im Kamin loderte und beides zusammen klang wie Regenrauschen. Die Situation damals nach dem Wahnsinnssommergewitter an seinem fünfzigsten Geburtstag wäre ihm natürlich auch ein bisschen unangenehm gewesen. Er nass und nackt vor seinen Freunden: SURPRISE! Obwohl, die meisten kannten ihn nackt, schließlich war er mit ihnen regelmäßig baden drüben am Steg bei der Alten Donau. Sie hatten ohnehin wenig Geheimnisse, glaubte Martin zumindest. Spätestens seit jeder auf Dating-Apps wie Grindr unterwegs war, wussten sie alles voneinander. Auf Grindr konnte man sehen, wer im Umkreis von soundsoviel Kilometern schwul und willig war, ein – in der Regel: sexuelles – Abenteuer zu erleben. Immer wieder sah Martin Profile von Freunden oder Bekannten, er wusste mehr, als ihm manchmal lieb war; von den sexuellen Präferenzen – wer war »Active Top«, wer »Power Bottom«? – bis zur Schwanzgröße.

Martin hatte es immer schon genau wissen wollen. In den Achtzigerjahren mit vierzehn oder fünfzehn hatte er in der Bahnhofsbuchhandlung der Stadt, in der er die Gartenbauschule besuchte, eine Film-Illustrierte entdeckt. Nicht dass ihn das Thema Film sonderlich interessiert hätte. Aber auf dem Titelblatt des Magazins war, altrosa gerahmt, das Foto eines homosexuellen Filmemachers aus Deutschland abgebildet. Der Filmemacher stand, das linke Bein angewinkelt, den Fuß auf einem Hocker abgestellt, blickte nach rechts oben, hatte einen Strauß weißer Lilien in den Händen – und war unbekleidet. Martin fühlte sich magisch angezogen von diesem Foto. Eine Woche lang schaute er täglich in die Buchhandlung, betrachtete das Foto von dem schönen Nackten, blickte verstohlen auf den Schwanz, der sich unter dem haarigen Bauch des Typen kringelte. War die Vorhaut zurückgezogen? Er traute sich freilich nicht, das Heft in die Hand zu nehmen oder es gar zu kaufen, das wäre ihm peinlich gewesen. Schließlich ging Franz, sein bester Freund, in den Laden und klaute es für ihn. »Was ist schon dabei«, hatte der coole Franz gesagt und für sich selbst noch einen »Playboy« mitgehen lassen.

Wenn Martin jetzt die Augen schloss, sah er das Bild wieder vor sich. Kein Wunder, schließlich hatte er einen großen Teil seiner Jugendzeit dazu masturbiert. Dabei war es völlig harmlos, ein wahrscheinlich künstlerisch höchst wertvolles Aktporträt, aber auf keinen Fall pornografisch – sonst hätte man es auch kaum auf dem Cover dieser Filmzeitung abgebildet. Obwohl Martin später von Freunden erfahren hatte, die zu Katalogen des Kunsthistorischen Museums oder Unterhosenmodels im Quellekatalog onaniert hatten, war das Bild wirklich keine typische Wixvorlage, nicht einmal für einen schwulen Jungen vom Land. Aber Martin war total vernarrt in das altrosa gerahmte Foto.

Einmal borgte er sich übers Wochenende sogar ein Mikroskop von der Schule aus. Seine Lehrerin hatte er angelogen, er wolle zu Hause irgendwelche Pilzsporen näher untersuchen. Tatsächlich hatte er vor, den Penis des Mannes auf dem Foto genauer zu betrachten. Martin hoffte, noch tiefer eintauchen zu können in diese aufregende Welt. Allerdings entdeckte er, als er schließlich in seinem Zimmer am Schreibtisch saß und mit schwitzigen Händen die Titelseite unters Mikroskop geschoben hatte, nicht wie ersehnt den riesenfach vergrößerten Schwanz seines Titelhelden, sondern nur viele kleine rote, gelbe und blaue Punkte. Vergrößerte, gedruckte Fotos waren gerastert: Dank dieser Erkenntnis konnte Martin bis heute nicht an einer Plakatwand vorbeigehen, ohne darauf Rasterpunkte zu sehen.

Etwas anderes sollte Martins Leben noch nachhaltiger beeinflussen. Immer wenn er als Jugendlicher die Filmzeitschrift hervorkramte, um sich einen runterzuholen, las er die Coverzeile wieder. »Lieber ein warmer Bruder als ein kalter Krieger« stand da, offenbar ein Zitat des Filmemachers. In den friedensbewegten Achtzigern keine schlechte Ansage, fand Martin. Sein erstes großes Begehren galt also einem Intellektuellen in Pin-up-Pose. Plus: Er hatte seinen ersten, offen schwulen Helden gefunden, in dessen Arme er sich träumte, wo Sex und Karriere eins wurden und das Private politisch. Es hätte schlechter laufen können. Darum genierte er sich irgendwann auch nicht mehr, wenn ihn die tuntigsten Freunde in der Spießersiedlung besuchten, auf High Heels durch die Anlage stöckelten. Auch wenn er selbst nie auf die Idee gekommen wäre, so im Fummel.

Langsam wurde es warm in der Wohnküche. Der Raum war hübsch eingerichtet, aber überhaupt nicht stylish. Freunde, die ihn besuchten, lästerten, dass er keinen Geschmack habe, fanden es erstaunlicherweise bei ihm aber dann doch immer ganz gemütlich. Martin zog Schuhe und Armeejacke aus, ließ den grauen Pulli lieber noch an und schlüpfte in die ausgelatschten Birkenstocks, die er nur zu Hause trug. Er hatte die Theorie, dass die stilvollsten Menschen – auch und vor allem seine Freunde! – in den eigenen vier Wänden jegliches Stilbewusstsein verlieren, was sich vor allem an der Wahl der Pantoffel zeigte. Versiffte Gesundheitssandalen waren da noch das geringste Vergehen. Was Martin im Laufe seines Lebens schon an fürchterlichen Wohnungsschuhen gesehen hatte! Er selbst war da keine Ausnahme.

Das Wasser kochte, mit einem Klacken schaltete sich der Wasserkocher ab. Martin holte eine große Dose aus dem Achtzigerjahre-Küchenkasten, den er von den Vorbesitzern übernommen und weiß lackiert hatte, öffnete sie, gab eine Handvoll Kräuter – Zitronenmelisse, Minze, Dost aus eigener Ernte – in eine altmodische Teekanne und goss mit dem heißen Wasser auf. So roch der Sommer.

Perfekte Welt

»Du darfst ihn nur ganz oben anfassen, so schaut es gut aus.«

»Spinnst du? Das ist doch die beste Stelle.«

»Oder du nimmst ihn in den Mund …«

»Nimm bloß deine Finger da weg!«

Kurz nachdem Martin gegangen war, verließen auch Peter und Arnold die Lena-Rita-Veranstaltung. Es gab dort nichts mehr zu holen für die beiden. Sie hatten schon einiges intus und Peter fand, dass er es nicht nötig habe, sich noch länger von den Hotties dort ignorieren zu lassen. Nun gingen sie die Mariahilfer Straße runter, und Arnold versuchte, seinen Selfie-Print, einen altmodischen Streifen mit vier Schwarz-Weiß-Einzelbildern, den er bei der Fotostation ausgedruckt hatte, abzufotografieren; quasi ein doppeltes Selfie zu machen. Er wollte sich selbst, den Print und auch ein bisschen Wien bei Nacht samt leichtem Schneefall auf das Foto draufbekommen. Kein leichtes Unterfangen, und Peter war echt ein schlechter Selfie-Berater. »Ich kann auch einfach ein Foto von dir mit dem Foto machen«, bot er Arnold an.

»Dann ist es ja kein Selfie mehr, sondern Fake.«

»Hauptsache es schaut irre spontan aus und keiner auf Instagram sieht, wie lang du da grad herumscheißt. Alter, es ist Winter und wir stehen hier wegen dir blöd in der Kälte rum.«

Schließlich klemmte sich Arnold den Fotostreifen zwischen die Zähne, streckte den linken Arm aus und schoss ein Foto.

Peter war zufrieden. »Der perfekte Ausschnitt.«

Schnell lud Arnold das Foto auf Instagram hoch. Er überlegte zu warten, bis ein Like-Herzchen von David käme, packte das iPhone dann aber doch schnell zurück in die Hosentasche und zog seine schwarzen Lederhandschuhe wieder an.

Nun war es Peter, der an seinem Handy herumfingerte. Er betrachtete Arnolds Foto und hielt es neben sein Gesicht. »Du könntest ja noch ein Selfie machen, Schatzi, ein dreifaches. Das wär doch was!«

Arnold schaute ihn böse an. Fake. Sowas Deppertes! Ihre Fotos auf Instagram zeigten doch immer den idealen Ausschnitt. Aber es war halt immer nur der Ausschnitt zu sehen und nicht der ganze Wahnsinn um sie herum. War etwas perfekt, ein Abendessen, ein Moment, ein Gefühl, versuchten sie, es irgendwie festzuhalten. Sie hielten alles fest, doch manchmal entglitt es ihnen trotzdem. Das Hässliche, die Enttäuschungen, schlechte Stimmung oder Streit dokumentierten sie natürlich nicht. (Niemand fotografierte die Schüssel Haferschleim, wenn er Magendarm hatte, schmutzige Bettwäsche oder sein verheultes Gesicht bei Liebeskummer. Obwohl …) Doch seltsamerweise blieb die Erinnerung an das Unschöne trotzdem, manchmal war sie sogar stärker als die Erinnerung an das ganze abfotografierte Schöne. Oft waren sie überrascht, was ihnen Facebook so als »Erinnerung« anbot. Das sollten sie gewesen sein? Wann war das denn? Vor drei Jahren? Und wo? Mit wem?

»Du schaust auf deinen Fotos immer total anders aus«, sagte Peter und gab dem frischen Insta-Post seines Kumpels ein Like. Sie waren vor der unbeleuchteten Auslage eines leer stehenden Geschäfts stehengeblieben und betrachteten ihre Spiegelungen in der Scheibe: der eine klein und drahtig, der andere vielleicht eine Spur zu bullig.

»Wie anders?«

»Weiß nicht, anders halt. Nicht wie du. Was war hier nochmal für ein Geschäft drinnen?«

»Wie soll ich anders aussehen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht benutzt du irgend so eine App, die dein Gesicht verändert.«

»Tu ich nicht.«

»Oder du ziehst ein Fotogesicht und streckst den Arsch extra weit raus. Wie Kim Kardashian. Genau: Du machst Grimassen und twerkst immer so komisch.«

Arnold schien Peters Feststellung zu beunruhigen. »He, ich schau immer ganz normal. Und Kim Kardashian kann gar nicht twerken.«

»Dann eben wie Miley.«

»Die twerkt auch nicht mehr, die macht jetzt Country.«

»In echt gefällst du mir jedenfalls besser.«

Okay, Peter, der Hund, wollte ihn wahrscheinlich eh bloß ärgern. Und Hunderte Likes auf Insta standen gegen sein Wort. »Musst mir ja nicht folgen«, sagte Arnold ein bisschen patzig.

Peter gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich like dich eh so am liebsten.«

»Und hier war übrigens American Apparel drin.«

»Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, zu lange her.«

»Die haben doch erst vor ein paar Wochen zugesperrt.«

»Eben drum.«

Es war saukalt und sie legten einen Zahn zu, runter Richtung Wienzeile. Für einen Letzten im Savoy und dann schnell heim.

Glasherz

David hatte Nachtdienst gehabt, auf der Notfall war es einigermaßen turbulent zugegangen, nichtmal ein Nickerchen im Dienstzimmer war drin gewesen. Am liebsten wäre er direkt heim, doch blöderweise hatte er noch diesen Termin im Barbershop, den er nicht absagen wollte, weil es urschwer war, überhaupt Termine bei Toni zu bekommen. Und jetzt war er offenbar auch noch viel zu früh da. Er hatte seine Jacke in einem der alten Stahlspinde verstaut und saß matt vor einem Espresso, ignorierte die auf dem Mahagoni-Coffeetable ausgelegten Männermagazine, den schrecklich lauten Spotify-Mix aus den Boxen, und wartete, bis Toni, sein Barber, den Kunden vor ihm abgefertigt hatte. Aber das blonde Bürschchen – »Wie alt ist der? Zwanzig?«– bekam gerade erst den hellblauen Frisierumhang angelegt, es würde also noch dauern.

Der Barbershop im Bobobezirk Neubau trug das Wort »Brothers« im Namen und wurde von zwei Russen geführt, die zwar keine Brüder, aber irgendwie miteinander verwandt waren. Gerade rechtzeitig hatten sie den Trend mit der Barberei erkannt und nach Wien geholt. Sie bauten eine richtige Männerwelt um dieses Thema. Die Kundschaft – Frauen bediente man nicht, eine Freundin hatte man tatsächlich weggeschickt, als sie ihren Herrenhaarschnitt hier machen lassen wollte – bekam Kaffee oder Whiskey angeboten, wartete auf stilvollen Vintage-Möbeln, irgendwo stand sogar ein alter Marshall-Verstärker mit angesteckter E-Gitarre herum. Das Fixie, das an der Wand aus künstlichen Ziegelsteinen lehnte, kam sicher ebenso selten zum Einsatz wie die Stromgitarre, aber es sah halt alles sehr, nun ja, kerlig aus. Genau wie die meisten Typen, die hier arbeiteten: Tattoos, fesche Frisuren, beeindruckende Bärte, Karohemden und klobiges Schuhwerk. Es roch harzig-frisch nach den Pflegeprodukten, die sich in den altmodischen Regalen stapelten. Wäre der offene Kamin beim Wartebereich nicht aus Pappe, er wäre an diesem kalten Februartag sicher eingeheizt worden. Hier versuchte man, die Aura eines Herrensalons zu schaffen, der schon ewig besteht. Tatsächlich hatte der Barbershop erst 2015 aufgesperrt, und das merkte man halt auch. David taugte dieser Fake trotzdem. Vor allem aber taugte ihm Toni.

Wieso dauerte das bei dem Bürschchen so lange? Der hatte doch noch nicht einmal Bartwuchs. Ganz im Gegensatz zu David. David war einer dieser Männer, die morgens frisch rasiert das Haus verließen, zu Mittag bereits einen blauschwarzen Schatten im Gesicht hatten und abends schließlich einen Bart, den andere nichtmal in den berühmten drei Tagen zusammenbekamen. »Du schaust aus wie Homer Simpson«, hatte Martin einmal zu ihm gesagt, »nur nicht so fett.« Zuerst fand David den Vergleich noch lustig, schließlich fühlte er sich gekränkt und war ein paar Tage lang ernsthaft beleidigt. Homer Simpson, ausgerechnet.

Obwohl seine Mutter, eine Physikerin aus Argentinien, die einen Wiener Banker geheiratet hatte, mit ihm und seinen Geschwistern bis heute nur Spanisch sprach, waren Davids Spanischkenntnisse leidlich schlecht. Was nicht an ihr lag, sondern einfach daran, dass er ein schweigsames Kind gewesen war. Dass er bis heute mit seinen argentinischen Verwandten eher in einer Art Kindersprache kommunizierte, war ihm erst bei einer Fachtagung aufgegangen, als er sich mit Kollegen aus Madrid über Erwachsenenthemen unterhalten wollte. Was ihn allerdings nicht davon abhielt, den Argentinier raushängen zu lassen. Er trug zwar einen altösterreichischen Familiennamen, sprach Spanisch wie ein Baby, sah aber aus wie ein Gaucho: groß, schwarzhaarig, glutäugig. Sogar seine Stimme hatte das harte Schnarren des Spanischen, das zu seinem Wiener Akzent, er war im feinen Bezirk Währing aufgewachsen, so gar nicht passte.

Müde saß David auf seinem Vintagemöbel und beobachtete, wie die Barber ihre Kunden abfertigten. Er bewunderte das Geschick, mit dem sie zur Sache gingen. Fast wie im Spital, dachte er, nur ohne Blut. Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen, etwas Geisteswissenschaftliches zu studieren, Kunstgeschichte und Germanistik, war es dann die Medizin geworden und er Kinderarzt. Nach der Facharztausbildung war er ziemlich rasch fix angestellt worden in einem städtischen Krankenhaus. Er mochte seine kleinen Patienten, und sie mochten ihn zurück: David trug im Dienst sogar Shirts mit Kindermotiven. Aber er tat nicht so auf Trallala wie manche seiner Kollegen, sondern behandelte Kinder genau so, wie er zuvor in der Turnus-Zeit auch Erwachsene mit Raucherlunge behandelt hatte. Wusste er früher mit Kindern nicht viel anzufangen, seine ältere Schwester hatte gleich drei davon, konnte er nun professionell mit ihnen in Kontakt treten – sie waren Teil seiner Arbeit. Die Patienten spürten das intuitiv und fühlten sich bei ihm gut aufgehoben. Kolleginnen und Kollegen schätzten ihn fachlich, und die Eltern fassten selbst in schwierigen Situationen Vertrauen zu ihm. Ja, die Mütter der Kinder schwärmten sogar von dem »rassigen, gutaussehenden Südländer«. Das zumindest hatte David einmal eine Ärztin berichtet, die im Lift Zeugin eines solchen Gesprächs geworden war. Er freute sich darüber. Nicht zuletzt hatte er sogar ein klitzekleines Faible für Jungväter entwickelt; natürlich nur für hübsche Jungväter. Es berührte ihn und er fand es wohl auch anziehend, wenn sie in Sorge um ihren Nachwuchs waren. Er mochte die Dankbarkeit, wenn sie im Spital wieder einem Kind hatten helfen können. Dann blickte er die hübschen Jungväter mit seinen schwarzen Gauchoaugen an, schnarrte lässig, dass es schließlich ihr Job sei, alles selbstverständlich, und fand den Moment ausgesprochen sexy.

»Südländer«, beschrieb er sich selbst auf Grindr. Im großen Flüchtlingssommer, David war gerade von einem Kongress in München zurückgekehrt, klatschten ihm die Leute Beifall, als er mit einem Pulk ankommender Familien aus Syrien am Westbahnhof über den Bahnsteig ging. Die Applaudierenden hielten ihn offenbar für einen Flüchtling, und er musste immer noch lachen, wenn er daran zurückdachte. Irgendwer hatte ihm sogar ein Proviantpackerl in die Hand drücken wollen. Ja, bemerkte denn niemand den teuren Rimowa-Trolley, den er hinter sich herzog? Das Erlebnis am Westbahnhof nahm David schließlich zum Anlass, sich zu engagieren. Gemeinsam mit Kinderarztkollegen besuchte er in seiner Freizeit Flüchtlingsunterkünfte, versorgte dort tagelang ehrenamtlich Kleinkinder und Babys.