coverpage

Über dieses Buch:

London, 18. Jahrhundert: Ben Weaver hat sich als begnadeter Detektiv einen Namen gemacht – und gleichzeitig eine Menge Feinde. Das ganze Ausmaß ihrer Macht wird allerdings erst deutlich, als Ben sich im berüchtigten Kerker von Newgate wiederfindet: verurteilt für ein Verbrechen, dass er nicht begangen hat und für das er nun mit dem Leben bezahlen soll. Im letzten Augenblick gelingt ihm die Flucht, doch von nun an ist er der ewig Gejagte. Erbittert versucht er die Oberhand in dem falschen Spiel der vornehmen Londoner Gesellschaft zu gewinnen … aber ist er bereit, dafür alles zu verraten, was ihn ausmacht?

»Finstere Bösewichte, faszinierendes Zeitkolorit, witzige Dialoge und ein Held, der sich nicht unterkriegen lässt: wunderbarer Lesestoff für Krimifans und Freunde historischer Romane.« Publishers Weekly

Über den Autor:

David Liss, geboren 1966 in New Jersey, studierte an der Columbia University über britische Literatur und Kultur im 18. Jahrhundert und widmete sich nach seinem Abschluss dem Schreiben von Romanen. Für seinen ersten historischen Krimi »Die Papierverschwörung« wurde er mit den drei bedeutendsten Preisen der Kriminalliteratur ausgezeichnet: dem Edgar-Allen-Poe-Award, dem Barry-Award und dem MacAvity-Award.

Bei dotbooks veröffentlichte David Liss bereits den historischen Kriminalroman »Der Kaffeehändler« sowie die folgenden Bände seiner spannungsgeladenen »Ben Weaver«-Reihe: »Die Papierverschwörung« und »Die Teufelsgesellschaft«.

Die Website des Autors: www.davidliss.com

***

eBook-Neuausgabe März 2018

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2004 David Liss

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »A Spectacle of Corruption« bei Random House, New York.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/sailorr und eines Gemäldes von Samuel Scott »The Thames and the Tower of London«

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-062-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Falschspieler« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

David Liss

Die Falschspieler

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gerald Jung

dotbooks.

KAPITEL 1

Seit der Veröffentlichung des ersten Bandes meiner Memoiren bin ich auf eine Weise zum Spielball der öffentlichen Meinung geworden, wie ich es niemals vermutet hätte. Selbstverständlich habe ich weder Beschwerden noch Bedauern anzumelden, denn wer wie ich ins Licht der Öffentlichkeit tritt, hat keinen Grund, sich über die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit zu beklagen. Eher sollte er dankbar dafür sein, dass die Öffentlichkeit ihren launischen Blick auf ihn zu richten geruht. Diese Wahrheit bezeugen die zahllosen Bände, welche in der Hölle eines jeden Schreiberlings – der Nichtbeachtung – schmachten.

Offen gesagt, habe ich mich sehr über die Anteilnahme gefreut, mit der die Leser die Berichte über meine frühen Jahre aufgenommen haben. Zugleich musste ich mich jedoch ein wenig wundern – und zwar über so manche Leute, die sich nach der Lektüre nur weniger Zeilen meiner Gedanken sogleich als gute Freunde betrachten und sich die Freiheit herausnehmen, mich einfach unverfroren anzusprechen. Und so ich keinen Fehl darin sehe, wenn jemand, der meine Worte so nachhaltig gelesen hat, dass er den Wunsch verspürt, einige Bemerkungen darüber zu verlieren, muss ich meiner Bestürzung über die Anzahl von Leuten Ausdruck verleihen, die meinen, sich ohne jegliche Rücksicht auf Anstand und Sitte ungestraft über jeden Aspekt meines Lebens auslassen zu dürfen.

Einige Monate nach der Veröffentlichung meines schmalen Büchleins nahm ich an einer Abendgesellschaft teil und sprach gerade von einem besonders üblen Verbrecher, den ich der Gerechtigkeit zu übergeben beabsichtigte. Woraufhin sich ein junger Bursche, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, zu mir umdrehte und meinte, dieser Kerl sollte sich besser in Acht nehmen, sonst nähme es mit ihm noch das gleiche Ende wie mit Walter Yate. An dieser Stelle lächelte er affektiert, als hüteten er und ich ein gemeinsames Geheimnis.

Ich bekenne, dass ich derart verdutzt war, dass ich mit keinem Wort darauf einging. Schon seit geraumer Zeit hatte ich nicht mehr an Walter Yate gedacht und hätte auch nicht vermutet, dass sein Name nach all den Jahren immer noch geläufig ist. Bald schon machte ich jedoch die Erfahrung, dass, wenn schon nicht ich selbst, so doch andere sich ihre Gedanken über diesen armen Burschen machten. Kaum vierzehn Tage später bemerkte ein anderer Herr, auch er für mich kaum mehr als ein Fremder, hinsichtlich eines Problems, dem ich mich gegenübergestellt sah, ich solle die Angelegenheit doch auf die gleiche Art und Weise angehen wie damals die Sache mit Walter Yate. Den Namen sprach er mit einem Nicken und einem verstohlenen Zwinkern aus, als mache uns dieses Losungswort, einmal ausgesprochen, sofort zu den verschworensten Kumpanen.

Im Allgemeinen störe ich mich nicht daran, wenn sich manche Leute auf Begebenheiten aus meiner Vergangenheit beziehen. Hingegen verwirrt es mich durchaus, wenn sie sich die Freiheit nehmen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen, und sich obendrein die plumpeste Vertraulichkeit anmaßen. Es verwundert mich über alle Maßen, dass diese Leute, mögen sie von diesem Zwischenfall halten, was sie wollen, ihn mir gegenüber überhaupt erwähnen, und das auch noch in der allervergnügtesten Stimmung. Macht man sich denn beim Besuch eines fahrenden Zirkus über die gefletschten Zähne der Tiger lustig?

Nicht zuletzt deshalb bin ich zu dem Schluss gekommen, einen weiteren Band meiner Erinnerungen zu Papier zu bringen – um die Welt hinsichtlich ihrer falschen Vorstellungen über dieses Kapitel in meinem persönlichen Geschichtsbuch eines Besseren zu belehren. Ich wünsche, den Namen Walter Yate nie mehr auf gehässige oder verschwörerische Art und Weise vernehmen zu müssen. Nach allem, was ich weiß, hat dieser Mann nichts getan, was ihn zum Gegenstand verstohlenen Gekichers machen müsste. Deshalb sage ich an dieser Stelle, wahrheitsgemäß und ein für alle Mal, dass ich Mr. Yate zu keiner Zeit gewalttätig gegenübergetreten bin – schon gar nicht mit jener äußersten Gewalt, die, wie ich erfahren habe, die Welt mit diesen Vorfällen in Verbindung bringt. Des Weiteren bin ich, wenn ich die Öffentlichkeit noch eines anderen Missverständnisses berauben darf, der fürchterlichen Strafe für seine Ermordung nicht deshalb entgangen, weil ich mich einflussreicher Freunde aus den Kreisen der Regierung bedient hätte. Keines dieser Märchen entspricht der Wahrheit. Ich besaß von derlei Gerüchten keinerlei Kenntnis, weil sie mir bis vor kurzem niemand zugetragen hatte. Nachdem ich aber inzwischen ein paar Zeilen über mein Leben veröffentlicht habe, bin ich plötzlich jedermanns Freund. So lassen Sie mich Ihnen allen den Freundschaftsdienst erweisen, die Wahrheit über den Vorfall aufzudecken, und sei es nur aus dem Grund, dass anschließend nie wieder darüber gesprochen werden möge.

Walter Yate starb, nachdem man ihm mit einer Eisenstange den Schädel eingeschlagen hatte. Die Tat hatte sich nur sechs Tage vor dem Zusammentreten des Obersten Strafgerichts Seiner Majestät ereignet, so dass ich nach meiner Festnahme und während ich auf den Prozess wartete glücklicherweise nur wenig Zeit hatte, mir über meine prekäre Lage Gedanken zu machen. Ich will ehrlich sein: Ich hätte diese Zeit besser nutzen können, aber ich rechnete in keinem Gedanken damit, dass man mich für ein Verbrechen verurteilen würde, das ich nicht begangen hatte – den Mord an einem Mann, von dem ich vor seinem Tod so gut wie nichts gehört hatte. Ich hätte damit rechnen sollen, aber ich tat es nicht.

Mein Vertrauen war so groß, dass ich mich des Öfteren dabei ertappte, überhaupt nicht zuzuhören, was bei meiner Verhandlung gerade gesagt wurde. Stattdessen ließ ich meine Blicke über die Gaffer schweifen, die sich am Ort der Verhandlung unter freiem Himmel drängten. An jenem Tag, von dem die Rede ist, nieselte es unaufhörlich, und die Februarluft war relativ kalt, was die Menge jedoch nicht vom Kommen abgehalten hatte, auch nicht davon, sich in die grob gezimmerten, ungehobelten Bänke zu quetschen, sich gegen die Feuchtigkeit zusammenzukauern und Augenzeugen dessen zu werden, was in den Zeitungen für einiges an Aufsehen gesorgt hatte. Die Zuschauer aßen mitgebrachte Orangen, Äpfel und kleine Lammpasteten, rauchten ihre Pfeifchen und schnupften ihre Prisen. Sie pissten in eigens dafür an den Ecken bereitgestellte Töpfe und warfen den Geschworenen ihre Austernschalen vor die Füße. Sie flüsterten und jubelten und schüttelten die Köpfe, als wäre das alles ein riesiges Kasperletheater, das allein zu ihrem Amüsement aufgeführt wurde.

Womöglich hätte ich mich als Objekt einer derartig ausgeprägten öffentlichen Neugier geschmeichelt fühlen dürfen, aber ich konnte dieser traurigen Berühmtheit nichts abgewinnen. Nicht, wenn sie nicht dort war, sie, die ich in meinem Kummer und meiner Not am liebsten gesehen hätte. Sollte ich verurteilt werden, so malte ich mir aus (natürlich nur in den romantischsten Farben, schließlich rechnete ich ebenso wenig mit meiner Verurteilung wie damit, dass man mich zum Oberbürgermeister wählen würde), dass sie zu mir käme und zu meinen Füßen weinte und mir sagte, wie Leid ihr das alles täte. Ich wollte ihre tränennassen Küsse auf meinem Gesicht. Ich wollte, dass ihre Hände, rau und trocken vom unablässigen verzweifelten Ringen, die meinen ergriffen und dass sie um Vergebung flehte und darum, meine Liebesschwüre wieder und wieder zu hören.

Das waren, wie ich sehr wohl wusste, nur mehr Wunschvorstellungen einer überreizten Fantasie. Sie würde nicht zu meinem Prozess erscheinen, und sie würde mich auch vor meiner möglichen Hinrichtung nicht besuchen. Es war ihr schlicht und einfach nicht möglich.

Miriam, die Witwe meines Cousins, die zur Frau zu nehmen ich beabsichtigt hatte, hatte sechs Monate zuvor einen Mann namens Griffin Melbury geheiratet. Ebendieser Mann war zu der Zeit meiner Verhandlung damit beschäftigt, sich auf seine Kandidatur als Tory bei der schon bald anstehenden Wahl in Westminster vorzubereiten. Als zur anglikanischen Staatskirche Konvertierte und Ehefrau eines Mannes, der sich einen Aufstieg zum prominenten Oppositionspolitiker erhoffte, stand es Miriam Melbury schlecht an, den Prozess eines gedungenen jüdischen Schlägers zu verfolgen, dem sie nicht einmal mehr durch verwandtschaftliche Beziehungen verbunden war. Sich zu meinen Füßen niederzuknien und mein Gesicht mit tränennassen Küssen zu bedecken entsprach wohl kaum dem Verhalten, zu dem sie sich unter welchen Umständen auch immer hätte hinreißen lassen. Jetzt, da sie sich einem anderen Mann versprochen hatte, würde so etwas erst recht nicht passieren.

Jedenfalls kreisten meine Gedanken in meiner schicksalhaften Stunde weniger um das möglicherweise bevorstehende Verhängnis, als vielmehr um Miriam. Ich schob ihr die Schuld zu, als könnte man sie für diesen absurden Prozess verantwortlich machen. Aber hätte sie mich geheiratet, so hätte ich meine Jagd auf Langfinger womöglich sein lassen und mich nicht in die missliche Lage gebracht, die zu dieser Katastrophe geführt hatte. Mir selbst warf ich vor, ihr nicht energischer den Hof gemacht zu haben, obwohl drei Heiratsanträge nach der Definition eines jeden Mannes wohl als energisch genug betrachtet werden sollten.

Also dachte ich, während der Ankläger der Krone die Geschworenen davon zu überzeugen suchte, mich zu verurteilen, an Miriam. Außerdem dachte ich – auch wenn ich vor Sehnsucht und Melancholie vergehe, bleibe ich doch immer ein Mann – an die Frau mit den goldgelben Haaren.

Es darf nicht verwunderlich anmuten, dass meine Gedanken zu anderen Frauen abschweiften. In dem halben Jahr nach Miriams Hochzeit hatte ich sehr wohl Ablenkung gesucht; nicht um zu vergessen, verstehen Sie mich bitte richtig, sondern mit dem Ziel, das Gefühl meines Verlustes besser auskosten zu können. In dieser Absicht hatte ich mich hauptsächlich den Lastern hingegeben, und diese Laster bestanden in erster Linie aus Frauen und Alkohol. Zu meinem großen Bedauern konnte ich mit dem Glücksspiel nicht viel anfangen, fanden doch die meisten Männer im Kreise meiner Bekannten dieses Laster nicht minder zerstreuend als die beiden von mir favorisierten – wenn nicht gar noch mehr. Aber ich hatte in der Vergangenheit in dieser Hinsicht schon einmal einen zu hohen Preis bezahlt und viel Geld verloren, so dass ich nicht recht nachzuvollziehen vermochte, welchen Unterhaltungswert ein paar raffgierige Hände haben sollen, die einen Stapel Geld einsammeln, der kurz zuvor noch mir gehört hat.

Alkohol und Frauen. Das waren Laster nach meinem Geschmack, wobei keines von beiden von besonders ausgewiesener Qualität sein musste. Mir war nicht danach, mich übermäßig wählerisch zu geben. Trotzdem fiel mir diese eine Frau auf, die ganz außen in einer der Bankreihen saß, eine Frau, die meine Aufmerksamkeit in einem Maße erregte, wie sonst kaum etwas in jenen finsteren Tagen. Sie hatte strohblondes Haar, ihre Augen strahlten in der Farbe der Sonne selbst. Sie war nicht schön im üblichen Sinne, aber sie war hübsch, und sie tat ein wenig keck mit ihrer spitzen Nase und dem leicht vorspringenden Kinn. Obwohl sie keine große Dame war, kleidete sie sich wie eine Frau mittleren Standes, ordentlich, aber ohne Flair oder besondere Zugeständnisse an die Mode. Stattdessen erlaubte sie der Natur das, was ihrem Schneider versagt blieb, und stellte der Welt in einem tief ausgeschnittenen Mieder einen verwirrend ausladenden Busen zur Schau. Kurz gesagt, sie hatte nichts an sich, was mich davon abgehalten hätte, mich in einem Alehaus oder einer Taverne ihrer Reize zu erfreuen, aber auch nichts, was meine Aufmerksamkeit dermaßen hätte fesseln dürfen, während vor Gericht gerade über mein Leben verhandelt wurde.

Abgesehen von der Tatsache, dass sie ihren Blick nicht von mir nahm. Keine einzige Sekunde lang.

Natürlich sahen mich auch andere Leute an – mein Onkel und meine Tante voller Mitleid und vielleicht auch ein wenig ermahnend, meine Freunde mit Angst, meine Feinde voller Schadenfreude, Fremde mit unbarmherziger Neugier –, aber diese Frau fixierte mich mit einem verzweifelten, fast gierigen Ausdruck. Als sich unsere Blicke trafen, reagierte sie weder mit einem Lächeln noch mit Missbilligung, sondern erwiderte meinen Blick lediglich auf eine Weise, als hätten wir bereits ein ganzes Leben miteinander verbracht, so dass es zwischen uns keiner Worte bedurfte. Ein unbeteiligter Beobachter hätte uns für Eheleute oder für ein Liebespaar gehalten, aber ich hatte sie, soweit mich meine Erinnerung – die in den vergangenen sechs Monaten exzessiver Sauferei nicht die verlässlichste gewesen war – nicht täuschte, noch nie zuvor gesehen. Ihr rätselhafter Blick nahm von all meinen Gedanken Besitz, weit mehr als das Rätsel, weshalb ich überhaupt des Mordes an einem Hafenarbeiter angeklagt wurde, von dem ich bis zwei Tage vor meiner Festnahme noch nie etwas gehört hatte.

Als der Ankläger, ein alter Knabe namens Lionel Antsy, Jonathan Wild in die Zeugenbank rief, verwandelte sich der jetzt stärker fallende Regen in kleine Eisstückchen. In jenem Jahr, 1722, hielten weite Kreise diesen berüchtigten Verbrecher immer noch für das einzig ernst zu nehmende Bollwerk gegen die marodierenden Horden von Dieben und Straßenräubern, die unsere Hauptstadt unsicher machten. Bei unserer Tätigkeit, dem Einfangen von Dieben und anderen Tunichtguten, waren er und ich schon seit langem Konkurrenten gewesen, denn unsere Methoden waren recht unterschiedlich. Ich war der Ansicht, dass mir, wenn ich ehrenhaften Leuten dabei half, ihre verloren gegangenen Besitztümer wiederzubeschaffen, eine ordentliche Belohnung für meine Mühen zustand. Zugegeben, meine Arbeit war nicht immer nur von hehren Grundsätzen geleitet. Ich war bereit, flüchtige Schuldner ausfindig zu machen, meine Fähigkeiten, die ich als professioneller Faustkämpfer im Ring erworben hatte, einzusetzen, um räudigen Schurken eine Lektion zu erteilen (sofern sie in meinen Augen einer solchen Behandlung bedurften), und Männer, bei denen eine solchen Behandlung erforderlich war, einzuschüchtern und ihnen einen tüchtigen Schrecken einzujagen. Niemals hätte ich Leuten, die eine solch grobe Behandlung nicht verdienten, etwas angetan, und es war sogar bekannt, dass ich – stets verbunden mit einer entschuldigenden Ausflucht gegenüber meinen Auftraggebern – den einen oder anderen Schuldner hatte laufen lassen, wenn er mir glaubhaft von einer am Hungertuch nagenden Frau und kranken Kindern erzählen konnte.

Wild hingegen war ein skrupelloser Halunke. Er schickte seine Diebe aus, damit sie Sachen klauten, die er den Eigentümern anschließend zum Rückkauf anbot, wobei er die ganze Zeit über so tat, als sei er die einzige Stimme der armen Opfer Londons. Seine Methoden waren, das gebe ich gern zu, weitaus profitabler als die meinen. Kaum ein Beutelschneider in London füllte sich die Taschen, ohne dass Wild seinen Anteil daran hatte. Kein Mörder konnte seine blutverschmierten Hände vor Wilds strengem Blick verbergen, selbst wenn der große Diebesfänger den Mord selbst befohlen hatte. Ihm gehörten Schmugglerschiffe, die sämtliche Häfen des Königreichs anliefen, in jedem Land Europas hatte er seine Handlanger sitzen. Die Börsenspekulanten in der Change Alley wagten ohne seine Zustimmung kaum zu kaufen und zu verkaufen. Kurz gesagt, er war ein bemerkenswert gefährlicher Mann, der mir keine Liebe entgegenbrachte.

Mehr als einmal waren wir bei unseren unvereinbarten Geschäftspraktiken aneinander geraten, auch wenn sich diese Konflikte eher unterkühlt als überhitzt abspielten. Wir umkreisten einander wie Hunde, die es mehr aufs Bellen denn aufs Beißen anlegten. Dessen ungeachtet durfte ich nicht daran zweifeln, dass Wild diese Gelegenheit, an meinem Verderben mitzuwirken, freudig wahrnehmen würde. Da er seine Karriere darauf aufgebaut hatte, vor jedem Geschworenen, der bereit war, ihm zuzuhören, einen Meineid zu leisten, war ich nun lediglich auf die Schwere seiner Anschuldigung und die Leidenschaft gespannt, mit der er sie vorbringen würde.

Mr. Antsy hinkte auf den Zeugen zu und beugte sich nach vorne, um den gefrorenen Regen nicht direkt ins Gesicht zu bekommen. Er sah aus, als sei er irgendwas zwischen fünfzig und hundert Jahre alt, hager wie der Tod selbst. Die Haut hing ihm wie ein leerer Weinschlauch vom Gesicht, und sein Kopf wackelte über dem massigen Mantel hin und her. Seine vom Regen schwere Perücke saß ihm schief auf dem Schädel und befand sich in einem dermaßen grauenhaften Zustand, dass man zu dem Schluss kommen musste, er habe sie beim Trödler in Holborn gekauft, wo ein Mann für drei Pence einmal blind in eine Kiste mit gebrauchten Perücken greifen durfte. Da er sich an diesem Morgen, und wahrscheinlich auch am Morgen davor, nicht die Mühe gemacht hatte, sich zu rasieren, war sein Gesicht reichlich mit fusseligen weißen Stoppeln überzogen, die durch den zerfurchten Acker seines Gesichts ans Tageslicht stießen.

»Also, Mr. Wild«, sagte er mit seiner schrillen, zittrigen Stimme, »Sie sind hierher einbestellt worden, um hinsichtlich des Charakters des Mr. Weaver auszusagen, und weil sie allgemein als so etwas wie ein Experte in kriminellen Angelegenheiten gelten, sozusagen als Gelehrter der Philosophie des Verbrechens. Auch ich sehe mich manchmal als solchen«, sagte er in seinem ländlichen Akzent, der so heftig war, dass die Geschworenen sich nach vorne beugten, als könnte größere Nähe ihnen helfen, ihn besser zu verstehen. Wild, auf den der Regen kaum zu fallen wagte, saß aufrecht da und lächelte Mr. Antsy beinahe mitleidig an. Wie konnte ein alter Winkeladvokat wie Antsy anderes als Verachtung in einem Mann hervorrufen, der seine eigenen Diebe ohne mit der Wimper zu zucken an den Galgen schickte, um die vom Staat ausgeschriebenen vierzig Pfund Belohnung zu kassieren?

»Entspricht es ebenso den Tatsachen, Sir, dass Sie weithin als der in unserer Stadt erfolgreichste Aufspürer von Dieben und Einbrechern angesehen werden?«

»So ist es«, antwortete Wild mit unverhohlenem Stolz. Auch der König der Diebesfänger wechselte allmählich ins fortgeschrittene Alter hinüber, wirkte in seinem schmucken Anzug und mit der adretten Perücke aber immer noch sehr ansehnlich und vital. Außerdem nannte er ein trügerisch freundliches Gesicht mit großen Augen, rundlichen Wangen und einem herzlichen, onkelhaften Lächeln sein Eigen, das die Leute für ihn einnahm und ihm sofort ihr Vertrauen einbrachte. »Ich bin als der Oberste Diebesfänger bekannt und trage diesen Titel sowohl mit Stolz als auch mit Ehre.«

»Und in dieser Eigenschaft sind Sie mit den vielfältigsten Aspekten der Welt des Verbrechens in Berührung gekommen?«

»Ganz recht, Mr. Antsy. Die meisten Leute wissen, dass sie am besten mich aufsuchen, sollten sie einen wichtigen Gegenstand verloren haben oder den Urheber eines Verbrechens, wie abscheulich auch immer, dingfest zu machen wünschen.«

Keine Gelegenheit ist erbärmlich genug, um daraus nicht noch persönlich Kapital zu schlagen, dachte ich. Wild wollte mich nicht nur hängen sehen, sondern bei dieser Gelegenheit zugleich für sich selbst ein bisschen Reklame in den Zeitungen schinden.

»Dann halten Sie sich also für sehr vertraut mit den kriminellen Machenschaften in unserer Hauptstadt?«, fragte Mr. Antsy.

»Ich bin mittlerweile seit vielen, vielen Jahren in diesem Geschäft tätig«, antwortete Wild. »Nur wenige Angelegenheiten auf dem Gebiet der Kriminalität entgehen meiner Aufmerksamkeit.«

Er verschwieg, dass er die Angelegenheiten auf dem Gebiet der Kriminalität deshalb so genau kannte, weil im Allgemeinen er oder seine Handlanger sie zu verantworten hatten.

»Dann berichten Sie uns doch bitte«, fuhr Antsy fort, »inwieweit Mr. Weaver in Zusammenhang mit dem Tod von Walter Yate steht.«

Wild überlegte einen Augenblick. Ich starrte ihn an. Ich tat mein Möglichstes, um ihm ohne Worte mitzuteilen, dass er wissen müsste, dass ich niemals verurteilt würde, und dass ich, sollte er auf den Gedanken kommen zu versuchen, mich ans Messer zu liefern, die Sache nicht auf sich beruhen lassen würde. Noch ein Schritt, übermittelte ihm mein Blick, und du rennst in dein eigenes Verderben. Wild erwiderte meinen Blick und nickte kaum wahrnehmbar. Ein Zeichen, das ich nicht zu ergründen wusste. Dann wandte er sich an Antsy.

»Darüber kann ich Ihnen so gut wie nichts berichten«, sagte er.

Antsy öffnete den Mund, aber es dauerte einen Moment, bis er merkte, dass die Antwort, die er erhalten hatte, keineswegs diejenige war, mit der er gerechnet hatte. Er drückte mit Daumen und Zeigefinger auf den Nasenrücken, als wollte er dort Wilds Antwort auf die gleiche Weise herausquetschen, mit der ein Mostmacher den Saft aus einem Apfel quetscht. »Was wollen Sie damit sagen, Sir?«, fragte er mit zittriger Stimme, die eine Spur schriller klang als zuvor.

»Nur dass ich hinsichtlich des Todes von Yate oder Weavers mutmaßlicher Verwicklung darin nichts weiß«, antwortete Wild lächelnd. »Ich weiß nur das, was ich in der Zeitung gelesen habe. Mein Ziel ist es, die Wahrheit hinter all diesen schrecklichen Verbrechen aufzudecken, aber ich komme nicht hinter jedes Geheimnis. Ich werde mich aber darum bemühen, das verspreche ich Ihnen.«

Daran, wie Antsys Gesicht nach unten rutschte, konnte jeder Zuschauer der Verhandlung sehen, dass der Anwalt etwas völlig anderes von Wild erwartet hatte. Vielleicht einen Vortrag über die Gefahr, die ich für London darstellte. Eine Aufzählung meiner früheren Verbrechen. Eine Liste der Abscheulichkeiten, in die er mich schon seit langem verwickelt glaubte. Aber Wild spielte ein anderes Spiel, eines, das mich völlig verwirrte.

Antsy blickte auf und verzog das Gesicht. Er holte tief Luft, blähte seine Brust beinahe zu der Größe eines normalen Mannes auf und entblößte die Zähne zu einem tödlichen Grinsen. »Halten Sie Weaver für einen verwerflichen Menschen, der durchaus dazu in der Lage wäre, ohne jeden Grund einen ihm völlig fremden Menschen zu töten? Für einen Menschen, der also imstande wäre, Walter Yate umzubringen? Entspricht es nicht der Wahrheit, dass Sie mit Sicherheit wissen, dass er Walter Yate ermordet hat?«

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Wild, froh gelaunt wie ein Anatomielehrer, den man gebeten hat, etwas über die Geheimnisse der Atmung zu erzählen. »Ich halte Weaver für einen Ehrenmann. Er und ich sind keine Freunde, und, ehrlich gesagt, sind wir in geschäftlichen Dingen oft Konkurrenten. Aber wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, würde ich Weaver eher als einen miserablen Diebesfänger bezeichnen, der dem Staat und denjenigen, die ihn bezahlen, keinen guten Dienst erweist. Aber in diesem Geschäft miserabel zu sein bedeutet noch lange nicht, dass man auch ein schlechter Mensch ist, ebenso gut könnte man einen Flickschuster einen schlechten Menschen nennen, bloß weil er Schuhe anfertigt, die kneifen. Ich habe keinen Grund, Weaver oder irgendeinen anderen hier Anwesenden dieses Verbrechens zu verdächtigen. Nach allem, was ich weiß, könnten Sie ebenso schuldig sein wie er.«

Antsy wirbelte zu Richter Piers Rowley herum, der Wild mit der gleichen Verwunderung ansah wie der Anwalt. »Euer Ehren«, beschwerte sich Antsy, »das ist nicht die Aussage, die ich erwartet habe. Mr. Wild sollte über Weavers Verbrechen und Grausamkeiten berichten.«

Der Richter wandte sich dem Zeugen zu. Wie Antsy war auch er über die besten Jahre hinaus, doch mit seinem großen Gesicht und dessen gesund wirkender rötlicher Farbe stand ihm das Alter besser als dem Anwalt. Antsy sah aus, als mangelte es ihm an Nahrung aller Art, wohingegen der Richter den Eindruck machte, als bekäme er von allem mehr als nur seinen Anteil. Seine gewaltigen Hängebacken, die von Bier und Roastbeef zeugten, bliesen sich wie bei einem dicken Kind auf.

»Mr. Wild«, sagte Rowley zu dem Zeugen, »Sie werden Mr. Antsy nun die von ihm gewünschte Aussage liefern.«

Eine derartige Reaktion hatte ich nicht erwartet. Ich kannte ihn zwar so gut wie überhaupt nicht, hatte Rowley in der Vergangenheit aber immer dann beobachtet, wenn ich vorgeladen war, um gegen die Spitzbuben auszusagen, zu deren Ergreifung ich beigetragen hatte. Von daher hatte ich ihn immer für so fair und ehrenhaft gehalten, wie man es von einem Mann seiner Profession eben erwarten durfte. Er nahm nur selten Schmiergelder an, und auch dann nur, wenn er eine Entscheidung absichern wollte, die er ohne finanziellen Ansporn ebenso gefällt hätte. Mir war eher aufgefallen, dass er seine Rolle als Fürsprecher des Angeklagten ernst nahm, und als ich erfuhr, dass er meiner Verhandlung vorsitzen sollte, war ich gewissermaßen erleichtert gewesen. Allem Anschein nach war mein Optimismus fehl am Platze gewesen.

»Ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren«, antwortete Wild, »aber ich kann nicht seinen Erwartungen entsprechend antworten. Nachdem ich einen Eid geschworen habe, nichts als die Wahrheit zu sagen, vermag ich nicht anders zu handeln.«

Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. Wild empfand geleisteten Eiden gegenüber nicht mehr Verpflichtungen als ein Franzmann gegenüber sauberer Bettwäsche. Und doch saß er dort und handelte sich lieber den Zorn des Anklägers und eines Richters ein, als schlecht von mir zu sprechen. Wild, der weitaus mehr Zeit vor Gericht verbrachte als ich, wusste mit Sicherheit von Rowleys Temperament. Er musste einfach wissen, dass der Richter ein Mann war, der mehr Wert auf sein Ansehen legte als so manch anderer und eine Beleidigung seiner Autorität nicht so einfach durchgehen lassen würde. Indem er derart zu meiner Verteidigung antrat, riskierte Wild beträchtliche Nachteile für sich selbst und seine Geschäfte, sah er sich doch bei zukünftigen Verhandlungen selbst Rowleys Feindseligkeit ausgesetzt. Nachdem das Leisten von Meineiden zu seinen wichtigsten Einkommensquellen gehörte, konnte ihm ein feindlich gesonnener Richter das Leben empfindlich unangenehm machen.

Antsy begriff die Situation nicht besser als ich. Er rieb sich den Regen aus dem Gesicht und sagte: »Wenn er sich weigert, die Wahrheit zu sagen, dann muss ich nichts weiter von ihm hören. Sie können gehen, Mr. Wild.«

Ich erhob mich. »Entschuldigung, Euer Ehren, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, den Zeugen zu befragen.«

»Keine weiteren Fragen an den Zeugen.« Rowley schlug mit dem Hammer auf den Tisch.

Wild trat aus dem Zeugenstand und zwinkerte in meine Richtung. Ich sah ihn nur ausdruckslos an.

Meine hübsche strohblonde Verehrerin weinte in den Ärmel ihres Mantels, und sie war in ihrer Bestürzung nicht allein. Die Zuschauer reagierten sofort mit Zischen und höhnischen Rufen, und schon flogen die ersten Apfelbutzen in unsere Richtung. Ich war beim Pöbel nicht so beliebt, dass er Beleidigungen meiner Person nicht zugelassen hätte, aber dieser Pöbel konnte sehr wohl zwischen Recht und Unrecht unterscheiden, und der Abschaum dieser Stadt sieht nicht ruhig zu, wenn ein Mitmensch vor dem Gesetz eine ungerechte Behandlung erfährt. Nicht zu Zeiten, in denen die Arbeit rar und das Brot teuer ist. Rowley hingegen blickte auf eine jahrelange Erfahrung mit derlei Ausbrüchen zurück und pochte noch einmal mit dem Hammer, diesmal mit einer Autorität, die auf der Stelle Ruhe einkehren ließ.

Ich war nicht so leicht zu beruhigen. Unser Rechtssystem gesteht einem Angeklagten keinen Anwalt zu, weil allgemein davon ausgegangen wird, dass der Richter als sein Advokat handelt. Es kommt jedoch des Öfteren vor, dass der Beklagte es mit einem unfreundlichen Richter zu tun hat und deshalb ohne jeden Schutz dasteht. Ich hatte noch nie zuvor Grund gehabt, die Unbilligkeiten unseres Systems zu beklagen, da ich für gewöhnlich in der Position dessen war, der den Beklagten verurteilt haben wollte, damit ich meinen Anteil einstreichen konnte; selbstverständlich auch, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Jetzt hingegen konnte ich nicht einmal meine eigenen Zeugen aufrufen, sie nach Belieben befragen oder mich angemessen verteidigen. Richter Piers Rowley, ein Mann, den ich nur aus der Ferne kannte, schien es darauf abgesehen zu haben, mich zu vernichten.

Als Nächsten rief Antsy einen gewissen Spirit Spicer auf, einen Burschen, von dem ich noch nie gehört hatte – und wie hätte ich einen so außergewöhnlichen Namen je vergessen können? Er war noch jung, ein einfacher Arbeiter, ganz eindeutig ein Vertreter der unteren Stände. Spicer hatte sich, so gut es ihm möglich war, herausgeputzt, aber seine Jacke war an mehreren Stellen zerrissen und seine Kniehosen auf eine Weise fleckig, dass es jedem Mann von Stand gelinde gesagt äußerst peinlich gewesen wäre. Er hatte sich für die Verhandlung die Haare geschnitten und dabei, wie ich vermutete, eine stumpfe Klinge benutzt, so dass er aussah, als wäre er mit dem Kopf in eine Getreidemühle geraten.

Nach einer unnötig in die Länge gezogenen Folge belangloser Fragen (zweifellos, um nach dem unglücklichen Auftritt mit Wild wieder Tritt zu fassen) enthüllte Antsy, dass sich Spicer am Tag von Yates Tod auf den Docks von Wapping aufgehalten habe und behauptete, Zeuge der Auseinandersetzung an jenem Nachmittag sowie des Mordes selbst gewesen zu sein. »Ich habe diesen Mann dort gesehen«, sagte Spicer und zeigte auf mich. »Er hat diesen Yate umgebracht. Er hat ihn geschlagen, ganz recht. Und dann hat er ihn umgebracht. Hat immer wieder auf ihn eingeprügelt.«

»Sind Sie sich dessen absolut sicher?«, fragte Antsy. Seine Stimme klang triumphierend. Sein Zeuge reagierte wie gewünscht. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Die Welt meinte es wieder gut mit ihm.

»Ich war mir schon lange nicht mehr so sicher, da müsste ich echt lange überlegen«, versicherte ihm Spicer. »Weaver war's, so viel ist sicher. Ich war nah genug dran, um alles zu sehen, und gehört hab ich auch alles. Ich hab gehört, was Weaver gesagt hat, bevor er es getan hat. Hab seine hämischen und gehässigen Worte gehört, doch, ganz bestimmt.«

Der alte Anwalt blinzelte in offensichtlicher Verwirrung, fuhr aber unbeirrt fort. »Und was hat Mr. Weaver gesagt?«

»Er hat gesagt: ›So ergeht es allen, die sich Ärger mit dem Mann einhandeln, der Johnson genannt wird.‹ Genau das hat er gesagt. Eindeutig. Johnson. Den Namen hat er genannt.«

Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Johnson sein sollte, und allem Anschein nach Antsy ebenso wenig. Er sperrte den Mund auf, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders und wandte sich ab, wobei er verkündete, er habe keine weiteren Fragen, und setzte sich wieder auf seinen Platz.

»Johnson«, wiederholte Spicer.

Richter Rowley wandte sich an mich. »Mr. Weaver, möchten Sie dem Zeugen vielleicht die eine oder andere Frage stellen?«

»Es freut mich zu hören, dass Mr. Spicer auf der Liste derjenigen Zeugen steht, die ich befragen darf, was ich durchaus zu tun beabsichtige«, sagte ich. Ich bedauerte meine Worte in dem Moment, in dem ich sie aussprach, aber sie verhalfen mir zu einem Lacher von der Tribüne, woraus ich ein wenig Trost zog. Rowley hatte gezeigt, dass er gegen mich eingenommen war, aber ich war immer noch dumm genug zu glauben, dass sich seine Haltung bald ändern würde. Während meiner Woche im Gefängnis war mir kaum Gelegenheit geboten worden, Nachforschungen hinsichtlich Yates Tod anzustellen, aber ich hatte meinen guten Freund Elias Gordon in der Stadt herumgeschickt, damit er für mich Fragen stellte, und ich vertraute darauf, dass das, was er herausgefunden hatte, diese Farce schon bald beenden würde.

Ich warf einen kurzen Blick zu dem Bereich der Tribüne, wo Elias saß, und sah, dass er heftig nickte; sein schmales Gesicht war vor Freude ganz erregt. Es war an der Zeit, einen tödlichen Schlag gegen diese Missachtung der Gerechtigkeit zu führen.

Ich erhob mich von meinem Platz, streifte das Eis von der Jacke und ging auf den Zeugen zu. »Sagen Sie mir eins, Mr. Spicer. Sind Sie jemals einem Mann namens Arthur Groston begegnet?«

Vielleicht hatte ich erwartet, dass Spirit Spicer rot anlaufen würde, dass er blass werden oder anfangen würde zu zittern. Er könnte sich dazu hinreißen lassen abzustreiten, einen Mr. Groston zu kennen, in welchem Falle ich ihm so lange hätte zusetzen müssen, bis er es zugab. Doch Spicer dachte weder daran, Widerstand zu leisten, noch verspürte er, so sein Gesicht auch nur den geringsten Rückschluss auf sein Herz zuließ, auch nur die Spur eines schlechten Gewissens. Sein frommes, offenes Grinsen zeigte der ganzen Welt nichts weiter als einen Burschen, der sich darum bemüht, jedem, der so freundlich ist, ihm eine Frage zu stellen, diese auch aufrichtig zu beantworten. »Aye, ich bin Mr. Groston begegnet. Mehr als einmal.«

Die Freimütigkeit seines Geständnisses verwunderte mich, aber ich drängte trotzdem weiter. »Hat Ihnen Mr. Groston bei diesen Gelegenheiten jemals Geld angeboten, damit Sie ihm einen Dienst erweisen?«

»Aye, allerdings. Mr. Groston ist außerordentlich großzügig, das kann man wohl sagen, und er kümmert sich auch um mich. Schon weil seine Cousine eine Freundin meiner Mutter ist, Sir. Er findet es richtig, meine Familie zu unterstützen, Sir, und meine Familie findet das auch richtig, und deshalb hat er mir immer wieder mal aus der Patsche geholfen.«

Ich lächelte den Burschen an. Wir waren hier unter Freunden. »Wie würden Sie die Dienste beschreiben, die Mr. Groston von Ihnen verlangt hat?«

»Ich würde sie als großzügig und freundlich beschreiben«, sagte Spicer. An dieser Stelle lachte die Menge, und Spicer grinste breit, hielt er sich doch für den Liebling der Meute und nicht für deren Clown.

»Lassen Sie mich die Frage anders formulieren«, sagte ich.

Antsy erhob sich langsam. »Euer Ehren, Mr. Weaver vergeudet mit diesem Zeugen die wertvolle Zeit des ehrenwerten Gerichts. Ich beantrage, ihn zu entlassen.«

Rowley genehmigte sich einen Augenblick, um über Antsys Wunsch nachzudenken, und ich glaube, er hätte ihm stattgegeben, aber die Zuschauer, die seine Parteilichkeit spürten, fingen an zu zischen. Es setzte ganz leise ein, schwoll aber schon bald so an, dass das Königliche Strafgericht sich alsbald anhörte wie eine Schlangengrube. Diesmal flogen keine Apfelbutzen, und vielleicht war es das, was den Richter umstimmte. In dem Geräusch verbarg sich die Ankündigung eines Unwetters, das sich jederzeit entladen konnte. Da er keinen Krawall riskieren wollte, sagte Rowley, ich dürfe fortfahren, riet mir aber, meinen gemächlichen Schritt etwas zu beschleunigen, schließlich warteten an jenem Tag noch andere Menschen auf ihren Prozess.

Ich setzte noch einmal an. »Lassen Sie es mich ganz direkt ausdrücken«, sagte ich zu Spicer, »damit der Herr Richter nicht ungeduldig wird. Hat Mr. Groston Ihres Wissens jemals Leute dafür bezahlt, damit sie vor Gericht aussagen?«

»Aber sicher. Er handelt mit Aussagen. Was glauben Sie denn, was er sonst tut?«

Ich lächelte. »Und hat Ihnen Arthur Groston Geld dafür gegeben, damit Sie sagen, Sie hätten gesehen, wie ich Walter Yate geschlagen und ermordet habe?«

»Jawohl, Sir«, antwortete Spicer und nickte eifrig. »Er hat mich schon vorher dafür bezahlt, dass ich bei Gelegenheiten wie dieser hier solche Sachen aussage, aber noch nie hat er mir so viel gegeben wie die halbe Krone, damit ich das sage, was ich vorhin gesagt habe.«

Nun brach in den Reihen der Zuschauer lautes Gemurmel aus, wurde ihnen doch jetzt ein Schauspiel geboten, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Mit nur einer Frage hatte ich die gesamte Anklage vom Tisch gefegt. Meine Tante und mein Onkel nahmen einander bei der Hand und nickten triumphierend. Elias setzte sich aufrecht hin, um nicht aufzustehen und sich zu verbeugen, denn es war allein sein Verdienst, das uns zu dieser Information verholfen hatte. Die Frau mit den strohblonden Haaren klatschte freudig in die Hände.

»Also.« Ich sah zur Geschworenenbank hinüber und suchte den Blick eines jeden Mannes. »Würden Sie uns jetzt bitte sagen, Mr. Spicer, dass Sie überhaupt nicht gesehen haben, dass ich Walter Yate irgendetwas angetan habe, sondern dass Sie es nur behauptet haben, weil Sie von einem bekannten Meineidhändler dafür bezahlt worden sind?«

»Genau so ist es«, sagte Spicer.

Ich riss die Hände in gespielter Wut nach oben. »Warum aber«, fragte ich, »wenn Sie doch dafür bezahlt wurden auszusagen, Sie hätten gesehen, wie ich Mr. Yate umbrachte, geben Sie jetzt zu, dass Sie es nicht gesehen haben?«

Es dauerte einen Moment, bis Spicer die Frage verdaut hatte. »Also«, meinte er, »ich bin dafür bezahlt worden, dass ich sage, ich hätte etwas gesehen, aber ich bin nicht dafür bezahlt worden, dass ich sage, ich hätte es nicht gesehen. Solange ich gesagt habe, dass ich es gesehen habe, hab ich das getan, was von mir verlangt wurde.«

Da ich eine gewisse Zeit meines Lebens damit verbracht hatte, als Faustkämpfer in der Öffentlichkeit zu agieren, kannte ich mich ein bisschen mit der Dramaturgie einer Vorstellung aus. Deshalb ließ ich diese Aussage einen Augenblick lang für sich stehen, bevor ich abermals das Wort ergriff. »Sagen Sie mir, Mr. Spicer«, forderte ich ihn nach einer gebührenden Pause auf, »haben Sie schon jemals das Wort ›Meineid‹ gehört?«

»Aber ja doch«, sagte er strahlend und zeigte auf die Geschworenen. »Das ist doch das, was ich hier vor Gericht machen soll, auf Ehre und Gewissen.«

»Einen Meineid leisten«, erklärte ich geduldig, sobald das Gelächter nachgelassen hatte, »ist ein Verbrechen. Es bezeichnet den Tatbestand, bei dem eine Person schwört, bei einer Verhandlung die Wahrheit zu sagen, und dann wissentlich falsch aussagt. Halten Sie sich dieses Verbrechens für schuldig?«

»Aber nein.« Er wedelte abwehrend mit der Hand. »Mr. Groston hat es mir genau erklärt. Er hat gesagt, es ist ebenso wenig ein Verbrechen, wie es für einen Schauspieler Gotteslästerung ist, wenn er in seiner Rolle auf der Bühne etwas gegen Gott sagt. Mehr ist da nicht dran.«

Nachdem ich mit dem Zeugen fertig war, machte sich Mr. Antsy noch einmal daran, Mr. Spicer zu befragen. »Haben Sie gesehen, dass Mr. Weaver Walter Yate getötet hat?«

»Aber ja doch!«, verkündete der froh gelaunt. Dann blickte er zu mir herüber, als wartete er auf meine Frage, damit er mir noch einmal bestätigen konnte, dass er es nicht gesehen habe.

Als Nächstes brachte Antsy noch einen Augenzeugen, einen Mann von mittleren Jahren namens Clark, der ebenfalls behauptete, er hätte mich dieses Verbrechen verüben sehen. Als ich die Gelegenheit erhielt, ihn zu verhören, leistete er ein wenig mehr Widerstand als der junge Mr. Spicer, aber letztendlich gab auch er zu, dass er von dem Zeugenbeschaffer Arthur Groston dafür bezahlt worden war, etwas zu bezeugen, was er nie gesehen hatte. Ich hatte allen Grund zu bedauern, dass das Gesetz es dem Angeklagten nicht erlaubte, Zeugen aufzurufen, denn ich hätte sehr gerne gewusst, wer Mr. Groston dafür bezahlte, dass er derlei Aussagen lieferte. Aber die Information, die ich erhalten hatte, beantwortete meine Fragen, wie ich glaubte, mehr als ausreichend, und für Groston war später noch Zeit genug. Abgesehen von den Aussagen zweier Augenzeugen, die zugaben, dass sie bis auf die Münzen in ihrer Hand nichts gesehen hatten, konnte mir die Krone nichts nachweisen.

Deshalb wähnte ich mich auch bereits in Sicherheit, während mein Blick zu der strohblonden Frau zurückkehrte. Mr. Antsy hatte seine Arbeit auf bewundernswerte Weise getan und bewiesen, dass das Alter für einen Mann, der sich seinen jugendlichen Ehrgeiz erhält, kein Hindernis sein muss. Doch die Beweisführung gegen mich war jämmerlich gescheitert. Trotzdem musste ich, als es an der Zeit war, dass der Richter das Wort an die Geschworenen richtete, feststellen, dass ich mich zu früh gefreut und vielleicht zu viel Vertrauen in das Phantom namens Wahrheit gelegt hatte.

»Sie haben gar manches hier gehört«, sagte der ehrenwerte Piers Rowley zu den Geschworenen, »und dabei so einiges Widersprüchliche. Sie haben Zeugen gehört, die behaupten, etwas gesehen zu haben, und dann, wie nach dem Taschenspielertrick eines fahrenden Zigeuners, haben Sie gehört, dass sie behaupten, sie hätten es nicht gesehen. Jetzt müssen Sie entscheiden, wie sich dieses Rätsel lösen lässt. Ich kann Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie das bewerkstelligen, aber ich kann nur sagen, dass es vielleicht keinen Grund mehr gibt, eine widerlegte Geschichte eher zu glauben als eine zunächst beteuerte. Man kann nicht wissen, ob diese Zeugen dafür bezahlt wurden, dass sie aussagen, sie hätten etwas gesehen, oder ob sie bezahlt wurden, damit sie aussagen, sie hätten nichts gesehen. Ich weiß nichts von Leuten, die mit falschen Aussagen handeln, aber ich weiß von durchtriebenen Juden und den Tricks, die sie anwenden, um sich ihre Freiheit zu erhalten. Ich weiß, dass eine Rasse von Lügnern sehr wohl bare Münze zu zahlen bereit ist, um andere Menschen unehrlich zu machen. Ich hoffe, Sie lassen sich von derlei billigen Betrügereien nicht blenden und sorgen dafür, dass kein Christenmensch, sei es Mann, Frau oder Kind, in London den verheerenden Machenschaften einer habgierigen Rasse ausgesetzt ist, die sich womöglich einbildet, uns ungestraft ermorden zu können.«

Damit zogen die Geschworenen ab, um ihre Entscheidung zu treffen.

Die hehre Gemeinschaft kehrte eine halbe Stunde später wieder zurück.

»Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?«, erkundigte sich Richter Rowley.

Der Sprecher der Geschworenen erhob sich langsam, nahm den Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch das feuchte, dünne Haar. »Wir befinden Mr. Weaver des Mordes für schuldig, genau wie Ihr sagtet, Euer Ehren.« Der Mann hielt die ganze Zeit über den Blick gesenkt.

Der Menge entrang sich ein Schrei. Im ersten Moment konnte ich nicht einmal sagen, ob aus Freude oder Empörung, erkannte dann aber mit einer gewissen Genugtuung, dass die Zuschauer für mich Partei ergriffen. Wieder flog allerlei Unrat durch die Luft. Weiter hinten hatten sich Männer erhoben und schrien laut etwas von Ungerechtigkeit und Herrschergewalt.

»Haben Sie noch etwas zu sagen, bevor das Urteil verkündet wird?«, fragte mich der Richter durch den Lärm. Er schien jetzt sehr erpicht darauf, seinen Auftritt so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen und dann zu verschwinden, ohne sich die Mühe zu machen, vorher die Ordnung wieder herzustellen. Ich muss über seine Frage wohl einen Augenblick zu lange nachgedacht haben, denn schon knallte er mit seinem Hämmerchen und sagte: »Dann sei es also. Angesichts der Schwere und Grausamkeit dieses Verbrechens sehe ich keinen Grund für Milde, schon gar nicht, da so viele Juden in dieser Stadt leben. Ich kann nicht tatenlos zusehen und nicken und den Angehörigen Ihrer Rasse damit zu verstehen geben, dass sie ganz nach Belieben Christen umbringen dürfen. Ich verurteile Sie, Mr. Weaver, für das schlimmste Verbrechen, Mord, zum Tod durch den Strang. Die Strafe soll am nächsten Hinrichtungstag, sechs Wochen von heute an, vollstreckt werden.« Dann pochte er wieder mit dem Hammer, erhob sich und verließ, flankiert von einem Quartett von Gerichtswachtmeistern, die Gerichtsstätte.

Sofort fanden sich auch zwei dieser wackeren Burschen an meiner Seite ein, um mich zurück ins Gefängnis Newgate zu bringen. Obwohl soeben mein Tod angeordnet worden war, galten meine ersten Gedanken nicht dem Schrecken, mich der Ewigkeit stellen zu müssen, sondern der Empörung, von diesen Grobianen weggeschafft zu werden.

Erst dann wurde mir blitzartig bewusst, was da soeben mit mir geschehen war. Ich war wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Nun hatte ich mir zu meiner Zeit so manches Verbrechen aufs Kerbholz geladen, darunter auch Missetaten, auf die durchaus der Strang steht, aber die Ungerechtigkeit dieses Schuldspruchs machte mich schwindelig vor Zorn. Mein Freund Elias Gordon rief von den Zuschauerbänken, dass eine solche Ungerechtigkeit nicht von Dauer sein würde. Mein Onkel rief mir zu, dass er seinen ganzen Einfluss geltend machen würde, um zu meinen Gunsten zu intervenieren. Aber ihre Worte rauschten nur von fern an meine Ohren. Ich hörte sie, doch zugleich hörte ich sie nicht.

Ich spürte, wie mich die Gerichtsdiener wegzogen, jeder an einem Arm. Meine Muskeln spannten sich, und einen Moment überlegte ich, ob ich versuchen sollte, mich loszureißen. Warum auch nicht? Ich konnte diese Männer überwältigen. Was bedeutete mir das Gesetz jetzt noch, nachdem es so himmelschreiend ungerecht mit mir verfahren war?

Aber da stand sie plötzlich direkt vor uns. Die Frau mit dem gelbblonden Haar. Ihr hübsches Gesicht war jetzt rot und aufgelöst. Tränen quollen aus ihren Augen. »Oh Benjamin!«, heulte sie auf. »Verlass mich nicht. Ohne dich werde ich sterben!«

Dieser Ausbruch kam mir seltsam vor, hatte sie doch ihr gesamtes bisheriges Leben ohne mich verbracht und war dabei gesund und munter geblieben. Trotzdem ließ sich die Wucht ihrer Gefühle nicht so einfach zurückweisen. Sie warf sich mir entgegen, schlang mir die Hände um den Hals und bedeckte mein Gesicht mit Küssen.

Unter anderen Umständen wäre ich hocherfreut gewesen, die Aufmerksamkeit einer so hübschen Dame zu erregen – unter Umständen, die, sagen wir, nichts damit zu tun hatten, dass mein Tod soeben richterlich beschlossen worden war –, aber hier konnte ich nichts anderes tun, als verdutzt aus der Wäsche zu gucken. Die Frau, die jetzt von den Gerichtsdienern beiseite geschoben wurde, fing an zu heulen und schrie laut etwas von Ungerechtigkeit. Dann drehte sie sich einfach um, vollführte eine vollendete, natürliche Drehung, um die sie jeder Akrobat oder Schlangenmensch auf der Bartholomäus-Kirmes beneidet hätte. Jetzt drängte sich die samtene Zartheit ihrer Brüste, die von dem erfreulich großzügigen Ausschnitt ihres Mieders zu keinem geringen Teil entblößt waren, an die Hände eines meiner Bewacher.