Das Geheimnis der schwarzen Zitadelle

 

Fantasy-Abenteuer

von

Miguel de Torres

 

 

 

18.

 

Die Wegstation war in Betrieb, aber alles, was der wortkarge Wirt ihnen anbieten konnte, war grob gebackenes Brot und hartes Pökelfleisch. Sie nahmen einen Vorrat davon mit, und Reinald stillte endlich seinen Hunger.

Pferde oder Maultiere gab es ebenfalls keine, weder zu kaufen noch zu mieten, aber immerhin besaß der Wirt zwei Ruderboote. Eines davon verkaufte er nach langem Sträuben, bekehrt durch Faustos klimpernden Beutel und Cronns physische Präsenz. Er versicherte, dass sie Tahat noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen konnten.

Im Unterschied zu Cronns altem Boot verfügte dieses über zwei in Dollen eingehängte Riemen. Wie selbstverständlich nahm Cronn auf der Ruderbank Platz und schloss seine Pranken um die Holme. Fausto schob Sharee zum Heck, wo sich eine Sitzplattform befand, und Reinald und Elder nahmen im Bug auf einer ähnlichen, kleineren Plattform Platz. Prunn kauerte sich hinter Cronn auf den Boden, den Rücken an die Bordwand gelehnt.

Die Strömung und Cronns kraftvolle Ruderschläge ließen das Boot dahinschnellen, doch an der vorübergleitenden Landschaft änderte sich nicht viel. Menschen bildeten die Ausnahme; einige Male rannten ausgezehrte Hunde ein Stück am Ufer entlang und kläfften die Reisenden an.

Reinald erinnerte sich an das Gespräch, das er mit Elder in der Kleinen Sharr geführt hatte, und er fragte: „Findet man in den Verlorenen Büchern auch Lösungen für den Kampf mit den Barbaren?“

„Du meinst Waffen?“ Elder schüttelte entschieden den Kopf. „Natürlich nicht! Die Verlorenen Bücher sind Werke des Aufbaus, nicht der Vernichtung. Ihre Verfasser, wer sie auch waren und wann sie gelebt haben mögen, wollten den Überlebenden der Katastrophe das Wissen um die Verbesserung der Welt hinterlassen, nicht um ihre Zerstörung.“

Reinald wies zum Ufer. „Nun, diese Welt könnte in der Tat eine Verbesserung gebrauchen. Ich wünsche Euch und allen Menschen, dass Ihr diese Bücher findet.“

Elder nickte, und für einige Zeit war nichts zu hören als das Platschen von Cronns Ruderschlägen, das Gurgeln des Flusses und vereinzelte Vogelrufe. Reinald tauchte seine verbundenen Hände ins Wasser; sie schmerzten kaum mehr.

„Stimmt es“, fragte er Elder, „dass es im Süden ein großes Meer gibt, das bis ans Ende der Welt reicht? Und dass man Durst bekommt, wenn man von seinem Wasser trinkt?“

Der alte Mann lachte. „Ja, das stimmt. Und es gibt Inseln in diesem Meer, kleine und große, bewohnt von seltsamen Menschen und noch seltsameren Tieren.“ Er lehnte sich zurück und wandte sein Gesicht dem Himmel zu. „Aber das Wunderbarste ist das Licht, das dort herrscht. Am Mittag steht die Sonne genau im Zenit, und ihr Licht ist dort intensiver als irgendwo sonst auf dieser Welt. Es bringt alle Farben zum Leuchten: das Rotbraun der Uferfelsen, das Grün der Wiesen und Palmen, das Gold der Strände. Und sogar das Meer leuchtet, und es ändert seine Farbe im Lauf des Tages, von Dämmerungsgrau über ein zartes Blau bis hin zu einem königlichen Azur, bevor es in der sinkenden Sonne rot glüht wie siedendes Metall. Ja, mein Junge, das Licht im Süden ist alle Mühen einer langen Reise wert.“

„Ich würde es gern einmal sehen“, sagte Reinald versonnen.

„Du wirst es“, antwortete Elder mit Überzeugung in der Stimme und richtete sich wieder auf. „Du bist jung und begabt, du wirst dein Leben nicht wie Dugan in irgendwelchen Löchern in der Erde verbringen. Eines Tages wirst du gewiss in den Süden reisen. Doch sag mir, wie bist du zu Dugan gekommen?“

„Er hat mich gekauft.“

„Er hat was?

Mit leiser Stimme sagte Reinald: „Als ich sieben Jahre alt war, verschwand mein Vater in der Wüste. Niemand weiß, was ihm zugestoßen ist. Meine Mutter starb nicht lange danach; sie hatte ihn sehr geliebt. Also kam ich zu entfernten Verwandten meines Vaters in ein größeres Dorf am Nordwestrand der Großen Sharr. Sehr entfernte Verwandte, in jeder Beziehung ...“

„Es war kein gutes Leben?“, fragte Elder sanft.

Reinald zuckte mit den Schultern. „Ich kann mich nicht beklagen. Sie haben mir zu essen gegeben, und ich habe für sie gearbeitet. Ein paar Monate später bereits kam Dugan durch das Dorf, auf den Weg zu einer Baustelle im Süden. Er suchte einen Diener, und meine ... Stiefeltern waren bereit, mich gehen zu lassen, wenn der Preis stimmte.“

„Und dich hat niemand gefragt?“

Reinald sah auf. „Letztlich habe ich dabei am meisten gewonnen, denn ich kam weg aus diesem staubigen Dorf. Als Dugans Bediensteter musste ich zwar jede Arbeit verrichten, aber ich habe eine Menge gelernt. Dugans Beruf hat mich fasziniert.“

„Und eines Tages hat er dich als Lehrjungen angenommen?“

„Das ergab sich ganz von selbst, bis ich schließlich sein Geselle wurde. Nur manchmal ...“

„Ja?“

Reinalds Blick suchte Sharee und ihren Vater. Als er weitersprach, tat er es noch leiser als bisher. „Manchmal wünschte ich, ich hätte eine Familie. Es muss wunderschön sein, in einer richtigen Familie aufzuwachsen.“

Elders Gesicht verdüsterte sich. „Nicht in jeder Familie.“

Ein Aufschrei Prunns unterbrach ihre Unterhaltung. „Seht, dort! Irgendetwas brennt!“

Alle wandten den Kopf. Ein Stück landeinwärts stand eine Säule schwarzen Rauches in der windstillen Luft. Das Feuer, das diesen Rauch erzeugte, konnten sie wegen des erhöhten Ufers nicht sehen.

Reinald stellte sich auf die Zehen neben Elder, der ebenfalls aufgestanden war, dann stieg er balancierend auf die kleine Bugplattform. Hinter der Böschung tauchte eine verkohlte Ansammlung von Hütten auf; einige brannten immer noch.

Reinald berichtete den anderen, was er sah.

„Wir sollten nachsehen“, sagte Elder.

„Was immer es ist, es geht uns nichts an!“, schnappte Fausto.

Cronn hob einen Riemen aus dem Wasser, machte einige Schläge mit dem zweiten und steuerte das Boot ans Ufer. Reinald und Elder stiegen aus, ebenso Cronn. Er zog das Boot zur Hälfte auf die Böschung und ergriff Schwert und Streitaxt. Prunn und Sharee sprangen heraus, und nach einigem Zögern folgte Fausto, kopfschüttelnd und mit verkniffenem Gesicht.

Nach wenigen Minuten Marsch erreichten sie die schwelenden Überreste eines aus weniger als zehn Hütten und ein paar Scheunen und Getreidespeichern bestehenden Dorfes. Rußgeschwärzte Kinder im Alter von etwa zwei bis zwölf Jahren wühlten mit verquollenen Gesichtern in den Trümmern oder standen stumm daneben. Reinald entdeckte zwei Leichen; erwachsene Männer, die Wunden von Pfeilen und Lanzen aufwiesen. Doch er sah keine lebenden Erwachsenen.

„Was ist hier geschehen?“, fragte Elder ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen mit langen braunen Haaren, wohl die Älteste.

Beim Anblick der Gruppe um den halbnackten Krieger, der alle anderen um mehr als Haupteslänge überragte, waren die meisten der Kinder in ihren Bewegungen erstarrt. Eines der Kleinen begann zu weinen und verkroch sich zwischen verkohlten Balken. Nur das braunhaarige Mädchen starrte der Gruppe mit stumpfen Blicken entgegen. Wahrscheinlich glaubte sie, Schlimmeres könne nicht mehr passieren.

Sie schluckte und wischte sich die Tränen aus den Augen, wobei sie Ruß über ihr halbes Gesicht verschmierte. Dann sprudelte alles aus ihr heraus, mit so leiser, beinahe gehauchter Stimme, dass Reinald nur die Hälfte verstand, obwohl er sich kaum drei Meter entfernt befand.

Im Morgengrauen seien viele Bewaffnete gekommen, hätten alle Erwachsenen mitgenommen und die Hütten und Scheunen mit dem vor Kurzem eingebrachten Getreide angezündet. Wer sich wehrte, wurde niedergemacht. Dann seien sie mit ihren Gefangenen davongezogen, den Fluss entlang.

Während das Mädchen noch sprach, ging Sharee zu einem der Kleinen, nahm es in die Arme und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht. Sofort hörte es auf zu weinen. Prunn kümmerte sich in ähnlicher Weise um ein anderes Kind. Reinald erinnerte sich, dass Prunn selbst Vater war, weshalb ihn dieses Elend noch stärker berühren musste als die anderen. Fausto hingegen stand mit verschlossenem Gesicht und auf dem Rücken verschränkten Armen abseits und starrte auf die fernen Umrisse der östlichen Berge.

Elder trat zu Reinald. Sein faltiges Gesicht war grau. „Mehr als sechzig Sommer und Winter habe ich gesehen und mehr Länder, als es den meisten Menschen vergönnt ist. Ich glaubte wirklich, es gäbe nichts, das mich noch überraschen könne. Wie dumm und anmaßend von mir! Denn die menschliche Bosheit kennt keine Grenzen, es gibt immer noch die Möglichkeit einer Steigerung.“

„Ich verstehe das nicht.“ Reinald schüttelte den Kopf. „Wie kann es sein, dass die Barbaren bereits so weit nach Norden vorgedrungen sind? Seit der Fähre haben wir keine Spur von ihnen gesehen.“

Elder sah auf. In seiner Miene lag Überraschung. „Die Barbaren?“ Er machte eine abwehrende Geste. „Aber nein, das waren nicht die Barbaren. Das waren die ‚Greifenklauen‘, eine Elitetruppe des Königs. Hier wurde ein Exempel statuiert. Ich habe nicht ganz verstanden – und das Mädchen weiß es wohl selbst nicht genau –, ob das Dorf zu wenig Steuern entrichtet oder zu wenig Männer für den Kriegs- und Arbeitsdienst abgestellt hat. So oder so, die ‚Greifenklauen‘ haben das Dorf niedergebrannt und alle Erwachsenen in die Gefangenschaft geführt. Die Starken müssen Soldaten werden oder, wenn sie sich weigern, Zwangsarbeit verrichten. Die anderen ...“ Er zuckte mit den Schultern.

„Aber ...“ Reinald schien, als schwanke der Boden unter seinen Füßen – jener bislang granitharte Boden, auf dem seine Überzeugungen wurzelten. „Warum unterbindet der König das nicht? Hat man es ihm nicht berichtet?“

„Die ‚Greifenklauen‘, mein Junge, sind König Hark direkt unterstellt. Sie tun nichts ohne seinen Befehl.“

Elder wandte sich ab und ließ einen zutiefst erschütterten Reinald zurück. Doch bevor dieser seine Fassung zurückerlangen konnte, ließ ihn das Geräusch zusammenstürzender Balken herumwirbeln. Ein Kind schrie auf und eine Rauchwolke stob empor.

Ehe Reinald noch begriffen hatte, was geschehen war, und entsprechend handeln konnte, war Cronn bereits an ihm vorbei und rannte zu der soeben zusammengebrochenen Hütte. Seine Streitaxt hatte er fallen gelassen. Er hob ein weinendes Mädchen aus den Trümmern, vielleicht fünf Jahre alt.

„Delli!“, schrie das Mädchen und streckte die Arme in Richtung der rauchenden Bruchstücke der Hütte aus. „Delli! Meine Puppe!“

Vorsichtig und beinahe zärtlich setzte der große Krieger, der Reinald in der Nacht noch wie ein Dämon erschienen war, das Mädchen außerhalb des schwelenden Trümmerkreises ab. Dann packte er die heißen Balken mit bloßen Händen und schob sie zur Seite. Er wühlte in Asche und Schutt und zog schließlich einen kleinen Gegenstand heraus: eine primitive Puppe aus zusammengenähten Lumpen, deren aus Schnüren bestehendes Haar größtenteils weggesengt war. Er ließ sich neben dem Kind auf den Boden nieder, drückte ihm die Puppe in die kleinen Hände und nahm dann beide auf seinen Schoss. Dabei flüsterte er ihm beruhigend zu.

Elder schob sich in Reinalds Blickfeld. Der alte Mann hatte sich von der Szene abgewandt wie von etwas Unerträglichem. In seinen Augen schimmerten Tränen.

Und auf irgendeine seltsame Weise erschreckten diese Tränen in Elders klaren blauen Augen Reinald mehr als alles andere, was er in den letzten Tagen erlebt und gesehen hatte, sogar mehr als der Anblick von Thrakons Geisterheer.

Was auch immer es war, das den alten Mann mit dem Krieger verband, es musste sich um eine Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes handeln.

19.

 

Prunn bat Reinald, der nominell immer noch sein Vorgesetzter war, um die Erlaubnis, bei den Kindern bleiben zu dürfen. Einige Kilometer landeinwärts, so hatte er von dem Mädchen erfahren, gab es ein größeres Dorf, in dem einige der Kinder Verwandte besaßen. Dorthin wollte Prunn sie bringen. Danach wollte er versuchen, seine Familie zu erreichen, die im Westen lebte, in der Nähe von Grendor.

Natürlich erteilte Reinald die Erlaubnis, denn seit dem gewaltsamen Ende der Bauarbeiten am Wolfspass gab es für ihn keine Vorgesetzten und Untergebenen mehr. Sie ließen Prunn ferner den kompletten Proviant zurück, was Fausto glücklicherweise nicht mitbekam.

Der Rückmarsch zum Fluss verlief in gedrückter Schweigsamkeit. Erst als das Boot unter Cronns kräftigen Ruderschlägen wieder den Oront hinabschoss, erhob Elder das Wort. Reinald war nicht entgangen, dass der Mann, den er mittlerweile als väterlichen Freund betrachtete, ihn seit dem Verlassen des Ruinendorfs mehrmals verstohlen gemustert hatte.

„Du verstehst nicht, wie so etwas geschehen kann. Habe ich recht?“

Reinald richtete sich auf. „Ich versuche, es zu begreifen, aber ich kann es nicht.“

„Lass mich dir eine Geschichte erzählen“, begann Elder so laut, dass jeder im Boot es hören musste. Sharee hob den Kopf.

„Es ist nun mehr als dreißig Jahre her, dass es dem Sohn eines Provinzfürsten gelang, die Liebe der Tochter des Königs von Khorat zu gewinnen. Dieser junge Mann, zweifelsohne tapfer und listig, aber sehr ehrgeizig, trug den Namen Harkorn, kurz Hark. Der alte König – sein Name war Fulko II., du wirst von ihm gehört haben – nahm Harkorn nicht gern als Schwiegersohn, denn er erkannte dessen brennende Ruhmsucht ebenso wie die Ruhelosigkeit in seinem Herzen. Aber Fulko liebte seine Tochter und wollte ihrem Glück nicht im Weg stehen. Überdies besaß er zwei Söhne, die in der Rangfolge vor Harkorn standen, so dass dieser aller Wahrscheinlichkeit nach niemals König werden würde.

Fulkos Reich war zu diesem Zeitpunkt nicht wesentlich größer als die Reiche seiner Nachbarn im Westen und im Süden. Doch es unterschied sich von diesen durch Beständigkeit, Wohlstand und mehrheitlich glückliche Menschen. Die Steuern waren gering, denn Fulko, wiewohl kein Krieger, war ein kluger Herrscher, der Frieden nicht nur zu schließen, sondern auch zu bewahren verstand.“

Mittlerweile hing Reinald an Elders Lippen, und ein kurzer Blick ins Heck verriet ihm, dass es Sharee ebenso erging. Sogar Fausto lauschte. Cronn ruderte mit unbewegter Miene.

Elder fuhr fort: „Harkorn zog also in Fulkos Palast oberhalb von Khorat ein. Dieser Palast existiert heute nicht mehr; Harkorn hat ihn niederreißen lassen und an seiner Stelle die schwarze Zitadelle erbaut. Die Bauarbeiten sind heute noch nicht ganz abgeschlossen. Wenn du die Zitadelle siehst, mein Junge, wirst du wissen, was für ein Mensch Harkorn ist.

Aber ich greife weit voraus. Natürlich wurde der Schwiegersohn des Königs mit wichtigen Aufgaben und Ämtern betraut, und im Großen und Ganzen bewährte er sich wohl. Allerdings neigte er schon damals dazu, Zwistigkeiten auch dort mit der Waffe zu lösen, wo Verhandlungen genügt hätten. Der König beobachtete das mit Besorgnis. Doch schon bald hatte er andere, größere Sorgen.

Es begann mit dem Tod von Fulkos Tochter. Sie starb im Kindbett, das kommt leider immer noch viel zu häufig vor.“ Trauer überschattete Elders Gesicht; eine tiefere Trauer, als der lange zurückliegende Tod einer Königstochter in einem so welterfahrenen Mann wie Elder verursachen konnte. „Es war bekannt, wie sehr sie Hark geliebt hatte. Ob Hark sie ebenfalls liebte, wer vermag das zu sagen? Zumindest hat er nie wieder geheiratet.“ Elder lachte humorlos. „Er hätte auch kaum Zeit dazu gehabt.“

„Und das Kind?“, fragte Sharee gebannt.

„Sumru, Harks einziger Sohn, überlebte. Er hat sich einen Namen gemacht als Feldherr und hält mittlerweile den Oberbefehl über einen Großteil von Harks Truppen.

Aber weiter in der Geschichte. Wie gesagt, der Tod seiner Tochter war nur die erste Tragödie, die König Fulko traf. Nicht lange danach starb Ezbert, sein ältester Sohn und Thronfolger, bei einem Jagdunfall.“ Elder wiegte den Kopf. „Nun, auch so etwas kann passieren, obwohl die königlichen Jagden stets gut organisiert sind.“

„Aber der alte König hatte doch noch einen zweiten Sohn“, warf Sharee vom Heck her ein. „Was geschah mit ihm?“

„Nur zwei Wochen nach Ezberts Begräbnis brach er mit einem Trupp Bewaffneter an die Südgrenze auf, um Räuberbanden zu bekämpfen, die dort neuerdings ihr Unwesen trieben.“ Ein Seitenblick traf Reinald. „Übrigens nicht allzu weit entfernt vom Wolfspass. Ein sehr unübersichtliches Gelände. Irgendwie – die Berichte darüber widersprechen sich – wurde er von seinen Soldaten getrennt. Schließlich fand man ihn, herabgestürzt von einem hundert Meter hohen Felsen.“ Elder breitete die Arme aus. „Und damit war König Fulko ohne Thronfolger. Das heißt, Harkorn – Hark – rückte als Witwer seiner Tochter an die erste Stelle. In weniger als zwei Jahren nach seiner Heirat.“

„Und was geschah mit dem alten König?“, fragte Sharee.

„Man sagt, Fulko grämte sich über den Tod seiner Kinder zu Tode. Er überlebte seinen zweiten Sohn um weniger als einen Monat.“

Etwas in der Betonung von Elders Worten ließ Reinald aufhorchen. „Man sagt, er grämte sich zu Tode?“

„Wenn man am Leben hängt, sollte man tunlichst nichts anderes behaupten.“ Elder hob die Stimme. „Und so wurde aus Harkorn, dem ehrgeizigen Sohn eines Provinzfürsten, König Hark I. Und er verlor keine Zeit. Kaum gekrönt, begann er damit, ein gewaltiges Heer auszuheben. Damals bestand es noch größtenteils aus Freiwilligen, denn Harks raue, zupackende Art hatte ihm viele Anhänger verschafft. Außerdem verstand er es, die Leute bei ihrem Stolz zu packen, und seine Reden von einem ‚geeinten und starken Land‘ ließen die Herzen der Kleingeistigen höher schlagen.

Da er schon immer ein ausgezeichneter Feldherr war, eilte er von Sieg zu Sieg. Bald war sein Reich auf ein Vielfaches von dem angewachsen, was er von Fulko II. geerbt hatte, und nach etwa zehn Jahren war der Punkt erreicht, da man in der Tat von einem ‚geeinten und starken Land‘ sprechen konnte. Hätte Hark sich damit begnügt, wer weiß, vielleicht wäre er ein wirklich großer König geworden.

Doch sein Ehrgeiz ließ ihn nicht ruhen. Die Grenzen wurden in alle Richtungen ausgedehnt, und der Krieg verbrannte das Land. Längst waren Freiwillige die Ausnahmen unter seinen Soldaten; die Heere bestanden im Wesentlichen aus gepressten Bewohnern der eroberten Fürstentümer, die nur die Angst vor unmenschlichen Strafen bei der Fahne hielt.“

„Aber er hat erreicht, was er sich vorgenommen hat“, warf Fausto mit Trotz in der Stimme ein. „Er schuf einen großen, einheitlichen Staat.“

Elder musterte den Kaufmann lange, bevor er antwortete. „Staat“, sagte er dann, „das ist ein großes, ein erhabenes Wort. Aber was bedeutet es? Letztlich ist der Staat nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Vertrag, den ein Volk mit seinen Führern abschließt, zum gegenseitigen Schutz und Nutzen. Aber auch wenn es einen König gibt, der herrscht – oder meinetwegen auch einen Diktator, ein Triumvirat oder was immer: In jedem Fall ist es das Volk, das die Macht verleiht, und zwar durch seine Bereitschaft, an diese Macht zu glauben und ihr zu folgen. Denn wenige können viele nur mit deren Einverständnis beherrschen.“

„Aber wenn das Volk unterdrückt wird?“, fragte Reinald. „Dann kann es sich doch nicht wehren gegen die Mächtigen?“

„Die Macht liegt stets beim Volk, bei der großen Mehrheit. Das Problem ist, dass es nur wenige Menschen zu geben scheint, denen dies bewusst ist. Ein Volk, das sich einig ist in seinen Zielen, kann jede Führung hinwegfegen und durch eine neue, bessere ersetzen. Es gibt Beispiele dafür in der Geschichte, allerdings nicht viele. Denn die Trägheit der Masse ist ungeheuer groß, und nur wenige Menschen besitzen die Redegabe und das Charisma, die Menschen aus ihrem Dämmerschlaf zu wecken. Es ist stets einfacher, Befehle auszuführen, als selbst welche zu geben.“

Fausto verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen, antwortete jedoch nicht. Reinald fragte: „Aber wie kam es dazu, dass Harks Reich wieder so stark geschrumpft ist?“

Elder reckte sich auf seinem lehnenlosen Sitzplatz und schlug die Beine übereinander. „Es gibt eine natürliche Grenze für die Größe eines zentralistischen Reiches, denn die Nachrichtenwege werden immer länger, die Verwaltung immer schwieriger. Je weiter sich die Grenzen ausdehnen, desto mehr Soldaten sind zu ihrer Sicherung nötig. Einmal davon abgesehen, dass man Soldaten nicht so einfach herstellen kann wie Schwerter oder Rüstungen, kosten Heere Geld. Die Expansion von Harks Reich wurde durch die Beute finanziert, die seine Heere in den eroberten Gebieten machten. Doch als die Expansion stagnierte, weil die Front zu lang und der Gegendruck zu groß wurden, begannen die Militärausgaben, den Staatsschatz aufzufressen. Herrscht an einer Front endlich Ruhe, flackert der Krieg an anderer Stelle wieder auf. Die Heere sind nun nicht mehr Eroberer, sondern Feuerwehrzüge, die Brände löschen.“

„Aber die Mauer!“, warf Fausto ein.

Reinald ahnte, was nun kommen würde, und er behielt recht.

„Die Mauer.“ Elder seufzte. „Die Mauer kostet, wie Euch unserer junger Freund hier bestätigen kann, viel Geld und die Leben vieler guter Männer, aber ihre Wirkung ist bestenfalls eine aufschiebende. Für sie werden Männer von Feldern und Weiden, aus Werkstätten und Mühlen geholt, die dort dringender gebraucht würden.“

„Aber wie wird das alles enden?“, fragte Sharee.

Elder sah sie lange an. „Der Weg der Könige, so sagt man nicht zu Unrecht, führt vom Thron direkt ins Grab. Es gibt kein Dazwischen.“

Für eine Weile waren wieder nur Cronns Ruderschläge und das Plätschern des Flusses zu hören. Schließlich hob Elder den Kopf und starrte in Richtung Ufer, wo die Ruinen einer Hammermühle vorüberglitten.

„Der Mensch ist ein Raubtier“, sagte er. „Und die größtmögliche Beute ist der Staat selbst. Darum sind ehrgeizige Herrscher die gefährlichsten Raubtiere des Erdkreises.“ Er strich sich über den Bart. „Nein, es ist nicht gut, wenn ein junger Mann König wird. Er will zu viel erreichen, in einem zu kurzen Zeitraum. Ihm fehlen die Ruhe und Besinnlichkeit des Alters, kurz: die Lebenserfahrung.“

20.

 

Als sie am Spätnachmittag eine mit Statuen und bunten Wimpeln geschmückte Grotte und dahinter ein großes Mühlrad sichteten, lenkte Cronn das Boot ungefragt an einen baufälligen Landungssteg. Alle stiegen aus, dankbar für die Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten.

Die Grotte bildete ein Erdgeister-Heiligtum, wie man sie überall im Land vorfand. Allerdings ein ziemlich armseliges: Die halbmetergroßen Statuen waren aus Holz, nicht wie meist aus Stein, zudem rissig und teilweise mit Schimmel überzogen. Ein Dutzend Kerzenstummel standen davor, von denen nur einer brannte. Cronn überraschte Reinald ein weiteres Mal, als er die Grotte über eine ausgetretene steinerne Treppe betrat und sich zum Beten niederkniete. Sharee tat es ihm nach, während ihr Vater auf dem kurzen Steg auf und ab ging, die Hände in den Taschen seiner Weste vergraben. Elder setzte sich auf einen Pfosten.

Reinald ehrte die Erdgeister mit einem kurzen Kniefall, dann sah er sich um. Eine aus den hier wieder höher aufragenden Uferfelsen gehauene Steintreppe führte etwa fünf Meter nach oben. Er folgte ihr und entdeckte in einiger Entfernung die zu dem haushohen Rad gehörende Mühle. Über eine schmale Hängebrücke war sie mit dem jenseitigen Flussufer verbunden.

Reinald marschierte auf die Mühle zu. Kurz bevor er sie erreichte, trat ein stämmiger Mann mit rotem Gesicht und weißer Schürze heraus, einen Packen leerer Säcke in der Hand. Als er Reinald erblickte, legte er die Säcke auf einen Stapel und grüßte freundlich. Es schien nicht oft vorzukommen, dass Reisende hier Halt machten.

„Ist es noch weit bis Tahat?“, fragte Reinald.

Ein etwa vierjähriger Junge, Gesicht und Hände weiß von Mehl, stolperte aus dem Haus, sah Reinald mit großen Augen an und versteckte sich dann halb hinter der breiten Gestalt seines Vaters.

Der Müller trat, eng gefolgt von dem Knaben, bis an den Rand der Brücke, von wo aus er den Landungssteg sehen konnte. „Mit dem Boot? Nicht mehr als zwei Stunden.“ Er maß Reinalds verbundene Hände und seine fleckige und an einigen Stellen zerrissene Kleidung mit einem wissenden Blick. „Ihr scheint einiges erlebt zu haben.“

In der offenen Tür der Mühle erschien ein bleiches Frauengesicht, verschwand beim Anblick des Fremden jedoch sofort wieder.

„Das kann man wohl sagen“, antwortete Reinald. „Nicht mehr viele Reisende, wie?“

Der Müller zog die dünnen Brauen hoch. „Richtung Tahat? Oh doch, mehr denn je. Aber kaum jemand macht sich die Mühe, so kurz vor dem Ziel anzuhalten. Und in die Gegenrichtung ziehen nur solche wie die da.“

Reinalds Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Mannes zum jenseitigen Ufer. Dort näherte sich ein langgestreckter Wald aus Lanzen.

„Was ist das?“, fragte Reinald.

„Was wird es sein? Ein weiteres Heer auf dem Weg zur Front.“ Der Müller packte Reinald am Arm und zerrte ihn in Richtung des Hauses. „Versteckt Euch besser, junger Herr, sonst könnte es sein, dass sie Euch einfach mitnehmen. Der König braucht Soldaten, und er ist nicht mehr wählerisch.“

Widerstrebend ließ Reinald sich in die Deckung des düsteren Raumes hinter der Tür ziehen. Auf eine Geste des Müllers hin zog der Knabe sich in ein angrenzendes Zimmer zurück, wohl zu seiner Mutter, die unsichtbar blieb.

Zusammen spähten sie hinaus. Die Armee zog sechsreihig in leichtem Trab dahin; Lanzenspitzen, Helme und Zaumzeuge glänzten in der Sonne. Doch in dem Maß, wie sie näher kam, zerfaserte das einheitliche Bild. Die Pferde waren von ebenso unterschiedlicher Farbe wie die Kleidung der Soldaten; manchmal stolperte eines, und Reinald sah Reiter, die im Sattel schwankten.

„Das sind ja halbe Kinder!“, stieß er hervor. Tatsächlich schienen nicht wenige der hohläugigen Soldaten jünger zu sein als er selbst.

Der Müller zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, der König ist nicht mehr wählerisch, und Sumru war es noch nie.“

„Sumru? Harks Sohn?“

„Kein Geringerer ist es, der sie anführt.“

Der Voranreitende war der Einzige, der wie ein Stock im Sattel saß, den Kopf erhoben, den Blick nach vorn gerichtet. Er war auch der Einzige, der einen in der Sonne funkelnden Brustpanzer trug, einen mit Edelsteinen besetzen Dolch im Gürtel und ein ebensolches Schwert an der Reinald zugewandten linken Seite.

„Zurück, man sieht Euch sonst.“

Aber der ängstliche Blick, den der Müller in Richtung des durch einen fadenscheinigen Vorhang abgetrennten Nebenraumes warf, verriet ihn: Seine Sorge galt allein seiner Frau, und das erschreckte Reinald zutiefst. Was konnte die Familie eines armen Müllers vom Sohn des Königs zu befürchten haben?

Aus der Dunkelheit des Zimmers heraus betrachtete er das in weniger als dreißig Metern Entfernung vorüberziehende Heer. Sehnsüchtige Blicke trafen die kleine Mühle. Überraschend viele der Soldaten trugen blutige Verbände, oft um den Kopf, manchmal um einen Arm oder ein Bein. Sie vermittelten den Eindruck eines Heeres, das von einer Niederlage kam und sich auf dem Weg zur nächsten befand. Einzig Sumru auf seinem jungen Rappen, der einer edlen Zucht entstammen musste, passte nicht in dieses Bild. Einmal wandte er den Kopf, und Reinald sah deutlich das Gesicht des Königssohns: Trotz seines Alters von nur achtundzwanzig Jahren waren seine Züge tief eingekerbt, seine Haut sonnengebräunt. Dies und der scharf ausrasierte Kinnbart gaben ihm das Aussehen eines Vierzigjährigen. Die Augen lagen tief in den Höhlen, aber sogar aus der Entfernung sah Reinald ihr unstetes Funkeln.

Sie warteten, bis der letzte Soldat und der sich anschließende Tross vorbei waren. Reinald hatte sie nicht gezählt, aber er schätzte die Größe von Sumrus Heer auf mindestens tausend Mann. Es zog den Oront hinauf, in jene Richtung, aus der Reinald und seine Gefährten kamen. Suchte Sumru Thrakon? Reinald schauderte bei dem Gedanken, diese Arme von müden und verletzten Halbwüchsigen könne mit Thrakons „Geisterheer“ aus kampferprobten, ausgeruhten Kriegern zusammentreffen.

Er verabschiedete sich vom Müller und machte sich auf den Rückweg. Als er die Felsentreppe erreichte, die zum Steg hinunterführte, stand Cronn mit seiner adlerförmigen Streitaxt auf einer der obersten Stufen und blickte dem Heer nach.

„Fahren wir weiter?“, fragte Reinald.

Cronn antwortete nicht. Es schien, als hätte er die Worte des Jungen gar nicht gehört. Reinald stieg hinunter, und als er zurückblickte, war der Krieger verschwunden.

Elder, Fausto und Sharee saßen bereits im Boot und sahen Reinald entgegen. Kaum, dass er ebenfalls eingestiegen war, begann Elder die Leine zu lösen.

Reinald deutete nach oben. „Warten wir nicht auf Cronn?“

Elder schüttelte mit ausdrucksloser Miene den Kopf. „Er sagte, wir bräuchten ihn nun nicht mehr. Fausto, würdet Ihr ...?“ Er wies auf die Ruderbank.

Fausto starrte Elder an, und für einen Moment befürchtete Reinald einen Wutausbruch. Doch dann beugte der Kaufmann sich den Notwendigkeiten. Reinalds Hände waren verletzt, und dem alten Mann konnte kaum zugemutet werden, das Boot nach Tahat zu rudern.

Als sie ablegten, glitt Elders Blick nach oben, wo die eindrucksvolle Gestalt des Kriegers gerade die Hängebrücke zum Schwanken brachte.

„Seine Welt ist nicht die der Lebenden“, sagte Elder. „Er starb bereits vor langer Zeit. Die Träume sterben zuerst, dann stirbt die Seele. Nur der Körper lebt noch.“

21.

 

Wie der Müller vorausgesagt hatte, erreichten sie Tahat kurz vor Sonnenuntergang. Ein fernes Donnern hatte sie schon lange begleitet, und als die nun wieder hoch aufragenden Uferfelsen zur Seite traten, erblickten Reinald und seine Gefährten eine Wand aus Wasser, deren Gischt von den Sonnenstrahlen golden gefärbt wurde. Es war der Lakos, der, von Khorat kommend, einen Höhenunterschied von dreißig Metern überwand und in den der Oront hier mündete. Die vereinten Wasser, so hatte Elder unterwegs erläutert, flossen dann in Richtung Westen, machten eine weite Biegung und mündeten schließlich, viele Tagesreisen weiter südlich, ins Meer.

Fausto ruderte das Boot in einen beinahe kreisrunden, vom Wasserfall aufgewühlten See, der auf Reinald wie die Arena eines Amphitheaters wirkte. Denn wie Sitzreihen stiegen die Uferfelsen an drei Seiten in einem steilen Winkel empor, während sich im Westen eine weite, fruchtbare Ebene anschloss.

Doch ebenso wie die Höhenrücken, die sie bildeten, waren die Uferfelsen nicht etwa kahl, sondern gesprenkelt mit allen Arten und Formen menschlicher Behausungen: Zelte, die manchmal nicht mehr als von zwei Stangen gehaltene Planen waren; Baracken aus Treibholz oder geflochtenem Buschwerk; Hütten aus Bruchsteinen oder zurechtgezimmerten Planken. Sogar die hier häufigen Grotten schienen bewohnt zu sein, denn Reinald sah zum Trocknen aufgespannte Tücher und Kleidungsstücke. In manchen von ihnen brannten Feuer, deren Rauch sich mit der Gischt des Wasserfalls vermischte.

Elder stieß einen Ruf der Überraschung aus. „Was ist hier passiert? Als ich das letzte Mal hier war, vor ein paar Jahren, gab es nichts als eine Karawanserei mit einigen Nebengebäuden – da oben!“ Er deutete auf einen niedrigen, aber weitläufigen Komplex aus Steinbauten in der Nähe der Oberkante des Wasserfalls, der von einem Türmchen bekrönt wurde.

„Wohin jetzt?“, fragte Fausto ratlos und stemmte die Ruder hoch. Das Boot begann sich in der Strömung zu drehen, obwohl es noch mindestens hundert Meter von der massiven Wand aus Wasser entfernt war.

Elder sah sich um und deutete dann auf einen breiten Holzsteg am Ostufer, der zwanzig Meter weit in den See hineinragte. Zahllose Boote, Kanus und sogar Flöße waren an ihm vertäut. „Dorthin! Das ist die Anlegestelle der Karawanserei.“

Mit einiger Mühe fanden sie eine Lücke, in die ihr Boot gerade noch hineinpasste. Reinald befestigte das Bugseil an einem hölzernen Pfeiler und schwang sich auf den Steg. Doch bevor er die Hand ausstrecken konnte, um Elder zu stützen, löste sich aus dem Schatten eines größeren Bootes eine zwergenhafte Gestalt und kam klackend und mit hüpfenden Bewegungen auf ihn zu.

„Grifo heiße ich, zu Diensten bin ich! Für einen kleinen Obolus.“ Die dünne Stimme übertönte kaum das Tosen des Wasserfalls.

Es war kein Kleinwüchsiger, wie Reinald zunächst geglaubt hatte, sondern ein normal großer Mann von vielleicht vierzig Jahren, dem beide Beine fehlten. Das Klacken wurde verursacht von zwei Holzteilen, die er in den Händen hielt und die ihm offensichtlich als Schuhersatz dienten.

„Grifo heiße ich, zu Diensten bin ich!“ Auf den linken Arm gestützt, kauerte er sich auf den Boden und streckte die geöffnete Rechte Reinald entgegen.

Dieser nestelte mit seinen bandagierten Händen am Verschluss des Geheimfachs seines Gürtels herum, wo er seine geringen Ersparnisse aufbewahrte, doch da flog eine Kupfermünze an ihm vorbei, die Grifo geschickt auffing und in den Tiefen seiner verschmutzten Jacke verschwinden ließ. Elder, der nun ebenfalls aus dem Boot stieg, hatte sie geworfen. Fausto und Sharee folgten ihm.

Grifos ausgezehrtes und von einem Dreitagebart verunziertes Gesicht verzog sich zu der Parodie eines Grinsens. Er deutete eine Verbeugung an. „Grifo heiße ich, zu Diensten bin ich. Wie?“

„Indem du uns erklärst, was hier passiert ist“, sagte Elder und deutete zum Ufer. „Als ich zum letzten Mal hier war, gab es nur die Karawanserei da oben.“

„Was passiert ist?“ Grifo stieß ein keckerndes Lachen aus. „Thrakon ist passiert! Alle fliehen nach Norden, wollen nach Khorat, in die Sicherheit der Mauern. Aber nur wenige erreichen es, nur wenige sind reich genug. Die anderen“, er machte eine das ganze Amphitheater umfassende Geste mit der Rechten, „bleiben hier. Wo sollen sie auch sonst hin? Hier gibt es Fische, die gehören allen, und Wasser.“

Fausto machte zwei Schritte in Richtung Ufer. Sharee folgte ihm zögernd. „Wie kommt man zu der Karawanserei hinauf?“, fragte der Kaufmann. „Ich nehme an, man kann dort Zimmer mieten?“

„Grifo heiße ich, zu Diensten bin ich. Gern!“ Er streckte erneut die Rechte aus.

Faustos linkes Bein zuckte vor, als wollte er nach Grifo treten. „Du wurdest bereits bezahlt, du dreckige Missgeburt! Also, wie kommt man hinauf?“ Sharee griff nach dem Arm ihres Vaters, doch er schüttelte sie ab.

„Grifo nicht Missgeburt!“ Es war der Aufschrei einer gequälten Seele. „Grifo Soldat. Grifo Held! Hier!“ Mit einer zitternden Hand zog er ein schimmerndes Abzeichen hervor und hielt es Fausto hin. „Tapferster Soldat der Abteilung! Hier steht es! Aber Barbarenaxt hackt linkes Bein ab, Pfeil trifft rechtes Bein, Wundbrand ...“ Schluchzend sackte er in sich zusammen. „Grifo nicht Missgeburt!“

Reinalds Kehle brannte mit einem Mal. Er dachte an die bleichen Gesichter der halbwüchsigen Soldaten, die an ihm vorübergeritten waren, und an das Schicksal, das ihnen drohte. Er fand eine Silbermünze – ein nicht unerheblicher Teil seiner Ersparnisse – und drückte sie Grifo in die Hand. Ein tränenerfüllter Blick aus grauen Augen dankte ihm. Grifo schob Geldstück und Medaille wieder ein und machte mit der Hand eine auf das Ufer gerichtete Zickzack-Bewegung.

„Weg beginnt da vorn.“ Er schniefte. „Einfach hinauf, nicht zu verfehlen. Aber Herberge teuer, sehr teuer.“

Fausto schlug sich auf den breiten Gürtel. „Das lass nur meine Sorge sein.“

Elder raunte Reinald etwas zu, und dieser fragte Grifo: „Kannst du einen Käufer für unser Boot finden? Gegen eine angemessene Beteiligung?“

Grifos Gesicht leuchtete auf. Die Tränen waren verschwunden. „Natürlich! Viele wollen Boot! Kommt morgen früh wieder, junger Herr, dann bekommt Ihr Euer Geld. Grifo ehrlich! Grifo nicht Missgeburt.“

In einer Geste der Ehrerbietung legte Reinald den rechten Arm vor die Brust und verbeugte sich. „Niemand zweifelt an Eurer Ehrlichkeit, Herr Grifo.“

Herr Grifo ...“ Der einstige Soldat erwiderte die Verbeugung beinahe ebenso formvollendet. Reinald bückte sich, und sie reichten sich die Hände.

 

Am Ufer, wo der Steg in einen gewundenen Pfad mündete, wirbelte Fausto plötzlich herum. Er sprach Elder an, doch seine Blicke glitten immer wieder zu Reinald.

„Hier trennen sich unsere Wege wohl. Die Karawanserei ist gewiss zu teuer für Euch.“

Elder lächelte und deutete ein Nicken an. „Das mag wohl sein.“

„Ich wünsche Euch eine gute Weiterreise“, sagte Fausto steif. „Wir werden uns kaum wiedersehen.“

„Wer kann schon wissen, was das Schicksal für uns bereithält?“

Für einen Moment sah es so aus, als wolle Fausto etwas erwidern, doch dann wandte er sich ab. Mit einem raschen Schritt trat Sharee zu Reinald, der von diesem Abschied völlig überrascht worden war.

„Wenn der Mond aufgeht“, konnte sie ihm gerade noch zuraunen, bevor ihr Vater sie am Ärmel packte und mit sich zog, hinauf in Richtung Karawanserei.

Als sie um die erste Biegung verschwunden waren, schüttelte Elder den Kopf. „Der gute Fausto wird sich wohl nie ändern.“

Obwohl Reinald mittlerweile wusste, dass Elder kaum etwas aus der Ruhe bringen konnte, war er doch überrascht, dass dieser auf die unverhüllte Beleidigung des Kaufmanns nur mit Belustigung reagierte.

„Ihr kennt ihn schon länger?“, fragte er.

Elders Blick verließ den Abhang und heftete sich auf Reinald. „Nachdem wir beide nun schon so lange Reise- und Schicksalsgefährten sind, halte ich es für angebracht, dass du mich ebenfalls mit Du anredest.“

Das Angebot brachte Reinald beinahe aus der Fassung. Mit Dugan war er zehn Jahre zusammen gewesen, doch der Tunnel- und Brunnenbaumeister hatte stets auf Distanz geachtet, obwohl sie in den letzten Jahren Zelt oder Baracke geteilt hatten. Und nun bot Elder, den Reinald in nur drei Tagen schätzen gelernt hatte wie niemanden sonst in seinem jungen Leben, ihm das Du an.

„Es ... es ist mir eine Ehre“, stammelte er und ergriff Elders dargebotene Rechte.

„Die Ehre ist ganz meinerseits“, antwortete Elder, und aus seinen Augen sprach Aufrichtigkeit. Dann deutete er nach oben. Ein sich bewegender grüner Fleck vor dem Hintergrund der Felsen zeigte an, dass Fausto und Sharee den Aufstieg bereits zur Hälfte hinter sich gebracht hatten.

„Fausto ... Nein, ich habe ihn und seine Tochter erst in Tarts kennengelernt, ebenso wie die beiden Männer, die am Wolfspass getötet wurden. Das Einzige, was uns verband, war der gemeinsame Reiseweg.“ Ein beinahe väterlicher Blick streifte Reinald. „Du allerdings hast kein so großes Glück.“

„Wie meint Ihr das?“, fragte Reinald.

„Du.“

Reinald lächelte. „Verzeihung – wie meinst du das?“

„Ich meine, dass dich mehr mit Fausto verbindet als mich, und dass diese Verbindung blondes Haar und blaugrüne Augen hat. Und dass euch dreien diese Verbindung noch einiges Kopfzerbrechen bescheren wird. Aber machen wir uns auf den Weg, die Sonne versinkt bereits! Ich schlage vor, wir suchen uns ein geschütztes Plätzchen in der Nähe der Karawanserei.“ Er zwinkerte Reinald zu. „Damit du keinen allzu weiten Weg hast, wenn der Mond aufgeht.“

Reinald seufzte. „Wenn sie kommen kann!“

„Sie wird einen Weg finden. Lass dir das von einem Mann sagen, der zwar alt ist, der aber auch einmal jung war und nicht alles vergessen hat. Eine Frau, die liebt, wird immer einen Weg finden.“

22.

 

Ein Stück jenseits der abweisenden Mauern der Karawanserei, die ebenso Festung wie Gasthaus war, gab es eine kleine Felsengruppe, die Schutz gegen den Wind bot. Reinald und Elder waren nicht die Einzigen, die sich hier zum Schlafen niederlegten; mehr als ein Dutzend Männer hatten sich diese Stelle als vorübergehende oder auch dauerhafte Bleibe gewählt. Dennoch gab es keinen Streit. Jemand entzündete ein Feuer und man teilte die vorhandenen Speisen.

Reinald und Elder erfuhren, dass Khorat, das nur noch zwei Tagesreisen entfernt im Norden lag, mit Flüchtlingen überfüllt war und die Stadtwachen so gut wie niemanden mehr einließen. Das bereitete Reinald keine Sorgen, denn er hatte ja die Botschaft mit dem königlichen Siegel durch alle Fährnisse gerettet, und Elder gedachte er als einen erfahrenen Kollegen auszugeben. Dem weisen Alten würde es gewiss nicht schwerfallen, diese Rolle zu spielen.

Als er mit den anderen am Feuer saß, merkte Reinald erst, wie erschöpft er war, und nachdem er Elder das Versprechen abgenommen hatte, ihn gegen Mitternacht zu wecken, legte er sich im Schatten eines Felsens nieder. Als Decke diente Elders weiter Mantel, und nicht einmal das stete Tosen des Wasserfalls konnte verhindern, dass Reinald sofort einschlief.

Als Elder ihn wachrüttelte, war das Feuer erloschen und fast alle Männer schliefen. Ein Schimmer am Horizont kündigte den Halbmond an. Lautlos huschte Reinald im Licht der Sterne auf den gedrungenen Schatten der Karawanserei zu. Im Laufen befreite er sich von den Bandagen um seine Hände und warf sie fort. Probeweise ballte er die Fäuste; die Haut spannte noch etwas, aber der Schmerz war verflogen und es blutete auch nicht mehr.

Die Karawanserei verfügte nur über ein einziges Tor. Es befand sich an der dem Wasserfall zugewandten Vorderseite und wurde von zwei Bewaffneten bewacht. Ohne sich von ihnen blicken zu lassen, umrundete Reinald das Gebäude. Es gab nur wenige schießschartenartige Fenster in einer Höhe von zwei bis drei Metern. Keines davon war erleuchtet.

Als er erneut die vordere Ecke erreichte, blieb er unschlüssig stehen. Mittlerweile war der Mond aufgegangen und hatte den Wasserfall in dampfendes Silber verwandelt. Auch die Frontseite der Karawanserei war von seinem Licht übergossen; ein weiteres Mal würde Reinald die Wachen nicht ungesehen passieren können.

Wie wollte Sharee diese Festung unbemerkt verlassen? Oder hatte sie gemeint, Reinald solle zu ihr kommen? Aber auch wenn er einen Weg hineinfände, wie konnte er sie finden? Von Fausto ganz abgesehen, der wahrscheinlich wie ein Wachhund mit gespitzten Ohren auf der Lauer liegen würde.

Etwas berührte ihn an der Schulter. Er fuhr herum, und noch bevor er Sharee erkannte, nahm er einen leisen Duft von Orangen wahr. Die Karawanserei schien ihren gut zahlenden Gästen allen Luxus zu bieten.

„Wie kommst du hierher?“, stieß er hervor.

„Pst!“ Sie zog ihn in den Schatten der Mauer. „Durch das Fenster dort hinten. Aber wieder hinein schaffe ich es nicht ohne deine Hilfe.“

Vergessen war die Höflichkeitsform, derer die beiden sich bislang bedient hatten. Vergessen auch waren die Worte, die Reinald sich unterwegs zurechtgelegt hatte.

„Sharee, ich ...“

Sie fiel ihm in die Arme und presste ihren zierlichen Körper an ihn. Ihr Mund verschloss den seinen. Reinald hatte nicht geahnt, wie weich die Lippen einer Frau sein konnten und wie fest der Druck ihrer Arme in seinem Rücken. Eine Ewigkeit standen sie so, eng aneinandergepresst, als wären sie eins – untrennbar vom Anbeginn des Universums bis zu seinem Ende.

Und in diesen kostbaren und zeitlosen Augenblicken erkannte Reinald, dass er Sharee niemals mehr loslassen wollte und alles, aber auch wirklich alles tun würde, damit sie zusammenbleiben konnten.

Sein Mund löste sich von ihrem. Er packte ihre Arme. „Lass uns zusammen weggehen, heute Nacht noch – jetzt! Nach Westen! Tunnel- und Brunnenbauer werden immer gebraucht. Wir werden zwar nicht reich sein und am Hof des Königs leben, aber wir werden auch nicht in Armut versinken, das schwöre ich! Und wir werden glücklich sein.“

Ihre Augen schimmerten im Mondlicht. Sie löste sich aus seinem Griff und strich mit der Hand über sein Gesicht wie eine Blinde, die die Züge ihres Gegenübers ertastet.

„Oh Reinald! Denkst du, ich brauche Reichtum und die Feste am Hof des Königs? Denkst du, ich will einen Mann heiraten, der dreimal so alt ist wie ich und den ich noch nie gesehen habe? Nur weil er Macht und Einfluss hat?“

„Niemals habe ich das gedacht. Worauf warten wir also noch? Lass uns gehen! Wenn Grifo das Boot noch nicht verkauft hat, können wir auf dem Lakos bis zum Meer ...“

Noch während er sprach, versuchte er, sie mit sich zu ziehen, doch sie stemmte sich gegen ihn, so dass er mitten im Satz verstummte. Abermals blickte er in ihre Augen und erkannte bestürzt, dass deren Schimmer nicht vom Mondlicht herrührte, sondern von mühsam zurückgehaltenen Tränen.

„Es geht nicht.“

Drei Worte nur, aber die Ernsthaftigkeit, mit der sie gesprochen wurden, ließ all seine Träume bersten.

„Warum?“, flüsterte er.

„Ich muss meinem Vater gehorchen.“

„Auch wenn das bedeutet, dass du für den Rest deines Lebens unglücklich bist – dass wir beide unglücklich sind?“

Sie senkte den Kopf. „Seit ich ein Kind war, hat er auf diese Heirat hingearbeitet. Sie bedeutet alles für ihn. Er hat einen großen Teil seines Vermögens ausgegeben, um Verbindungen zur Hauptstadt zu knüpfen und die richtigen Leute kennenzulernen. Ich darf ihn nicht enttäuschen. Außerdem ...“

Sie lehnte sich gegen seine Brust, und er strich über ihre seidigen Haare. „Außerdem?“

„Er hat sein Geschäft in Tarts verkauft und alles hinter sich gelassen. Was er bei sich trägt, ist alles, was er noch besitzt. Verstehst du nun? Es gibt keinen Weg zurück für ihn. Wenn diese Heirat nicht stattfindet, ist er ruiniert. Es ist wie bei einem dieser Spiele, wo man alles auf eine einzige Karte setzt.“

„Und diese Karte bist du. Was ist mit deiner Mutter?“

„Sie ist schon lange tot.“ Sharee löste sich von ihm. „Ich muss zurück, bevor er merkt, dass ich weg bin.“

Bitterkeit wallte in Reinald auf. „Warum bist du überhaupt gekommen, wenn du entschlossen bist, deinem Vater zu gehorchen?“

„Ich konnte nicht einfach so weggehen. Wir sehen uns vielleicht nie wieder.“

„Wir haben das gleiche Ziel: den Palast des Königs. Die schwarze Zitadelle.“

Sie schüttelte den Kopf. „Auch wenn wir uns zufällig dort begegnen sollten, werden wir Fremde sein.“

„Niemals!“ Er packte ihre Handgelenke. „Ich werde dich niemals aufgeben, hörst du?“

Er hatte lauter gesprochen, als unter den gegebenen Umständen ratsam war. Aus Richtung des Tores erschollen gedämpfte Stimmen, Metall schlug gegen Metall. Die beiden rannten die Längsseite der Karawanserei entlang, dann um die hintere Ecke, wo sie im Schatten der Mauer stehen blieben.

Sharee deutete auf ein enges Fenster über ihnen. „Ich muss zurück. Rasch!“

„Ich liebe dich.“

Als Antwort drückte sie ihm einen Kuss auf die Lippen. Kein langer, intensiver Kuss wie zuvor, sondern ein flüchtiger, kaum mehr als ein Hauch.

Ein Abschiedskuss.

Schwere Schritte traten dürres Gras nieder. Sie kamen näher.

„Jetzt!“, flüsterte Sharee. „Bitte.“

Es hätte noch so viel zu sagen gegeben, aber Reinald hatte keine andere Wahl. Er faltete die Hände zu einem Trittbrett, Sharee stieg mit dem linken Fuß hinein und er hob sie hoch. Wie leicht sie war! Dann hatte sie die Öffnung erreicht und stemmte sich hinein. Im nächsten Augenblick bereits war sie verschwunden.

Für immer?

„Da ist einer! Er will einbrechen!“

Reinald rannte los. Sekunden später tauchte er ein in die Deckung von Felsen und Gebüsch. Aus seinem Versteck sah er zu, wie die beiden Wachen die Verfolgung aufgaben. Einer postierte sich unter dem Fenster, in dem Sharee verschwunden war, der andere ging in Richtung Vorderseite.

Das Blut rauschte in Reinalds Ohren, seine Schläfen pulsierten. Hitze erfüllte ihn plötzlich. Immer noch glaubte er, den Duft von Orangen wahrzunehmen, obwohl er wusste, dass dies nur eine Illusion war – wie auch der kurze Traum vom Glück nur eine Illusion gewesen war?

Die Träume sterben zuerst, hatte Elder mit Blick auf Cronn gesagt. Dann stirbt die Seele. Nur der Körper lebt noch.

„Niemals!“, flüsterte Reinald.

Er schwor sich, er würde einen Weg finden. In Khorat, in der schwarzen Zitadelle. Irgendwo. Irgendwann.

Er würde Sharee niemals aufgeben.

23.

 

Als Reinald am Morgen aus einem unruhigen Schlaf erwachte, war Elder nirgends zu sehen. Da aber sein Mantel und ihr weniges Gepäck noch vorhanden waren, machte Reinald sich keine Sorgen.

Die Männer hatten das Feuer wieder entzündet, und Reinald teilte den restlichen Proviant mit ihnen. Sie waren noch beim Essen, als Elder aus Richtung der Karawanserei ankam. Die Einladung zum Essen lehnte er ab. Er nahm Reinald beiseite.

„In einer halben Stunde bricht eine Karawane nach Khorat auf“, sagte er. „Grifo hat das Boot verkauft; in ihm hast du einen Freund fürs Leben gefunden. Mit dem Geld habe ich zwei Pferde gemietet, die einer der mitreisenden Kaufleute nicht benötigt.“ Er hob seinen Mantel vom Boden auf und schüttelte ihn aus. Reinald nahm den Köcher mit dem Brief des Königs aus Elders Bündel und befestigte ihn an seinem Gürtel. Er war ihr Freipass zum Betreten der Hauptstadt.

„Ich habe ferner gesehen“, fuhr Elder fort, „wie Fausto zwei Sänften gekauft oder gemietet hat. Wenn du meinen Rat hören willst: Geh heute besser nicht in seine Nähe. Er wäre beinahe auf mich losgegangen, als ich Guten Tag gesagt habe.“ Reinald setzte zu sprechen an, doch der alte Mann schüttelte den Kopf. „Sharee war nicht bei ihm.“

Er war so taktvoll, keine Frage nach den Geschehnissen der vergangenen Nacht zu stellen. Reinald konnte sich denken, was passiert war: Fausto hatte die Abwesenheit seiner Tochter bemerkt und würde nun kein Auge mehr von ihr wenden – und von Reinald, sobald dieser in seinen Gesichtskreis trat.