Gott würfelt nicht (Albert Einstein)

Jubel ertönt, als der Puck ins Tor rauscht. Um mich herum fallen sich Leute in die Arme, recken die Fäuste in die Luft.

Die Hände in die Taschen geschoben, stehe ich reglos da, verstecke mich im Pulk der gegnerischen Fans und verberge mein Gesicht im Schatten der Kapuze meines Sweatshirts. Niemand, insbesondere nicht Nummer Dreizehn, soll mich sehen.

Es ist die achtundvierzigste Spielminute. Noch zwölf Minuten bis zum Abpfiff. Nach dem eben erzielten Tor der Gegner führen wir immer noch mit zwei zu eins.

Ich bin unfähig, den Blick von ihm zu nehmen, und beobachte gebannt, wie er sich über das Eis bewegt. Ruhig gleitet er dahin und konzentriert sich völlig auf die Spielzüge des anderen Teams. Er lauert. Plötzlich beschleunigt er, holt sich den Puck und bringt ihn vor zwei Gegenspielern in Sicherheit. Ein dritter kommt von der Seite und drückt ihn derb gegen die Bande, doch da hat er den Puck schon abgegeben. Kaum lässt sein Angreifer von ihm ab, sprintet er wieder los und bringt sich in eine günstige Position in Tornähe.

Ich linse zur Uhr. Noch neun Minuten.

Das Spiel wird so schnell, dass man der kleinen schwarzen Scheibe kaum folgen kann. Ich blinzele nicht und halte den Atem an, als Nummer Dreizehn den Puck vor seinem Schläger stoppt, sich um seine eigene Achse dreht und in kraftvollen, langen Bewegungen zum Tor rast. Zwei Gegner sind ihm auf den Fersen, doch sie holen ihn nicht ein. Nummer Dreizehn holt aus, lässt den Puck neben sich hergleiten und befördert ihn mit einem gezielten Schlag so hart ins Tor, dass sich das Netz unter der Wucht des Treffers strafft.

Mein Herz macht einen Satz und übergeht einen Takt. Eine Träne kitzelt auf meiner Wange. Verstohlen wische ich sie weg, drehe mich dann um und schlängele mich zum Ausgang.

Ich will nicht mehr hier sein, wenn die Leute, bei denen ich stehe, mit gesenkten Köpfen davontrotten. Ich will nicht sehen, wie meine Leute, bei denen ich nicht sein kann, den Einzug der Dragons ins Finale feiern. Wenn er jubelnd die Siegesrunde dreht, seinen Helm abnimmt und nicht mich, sondern jemand anderen siegestrunken anlächelt.

Meine Gedanken bleiben zurück, in der Halle, auf dem Eis, bei Nummer Dreizehn. Er hat mir die schönsten Momente meines Lebens beschert, und auch den schlimmsten. Er hat mich verletzt wie niemand zuvor.

Und trotzdem liebe ich ihn.

An Weihnachten ist Pittsburgh am schönsten.

Keine andere Zeit im Jahr ist so voll von Magie, von Freude und Liebe. Wie verzaubert von Lichterglanz in der Dunkelheit kommen die Gedanken zur Ruhe, und die Seele atmet durch. Die Düfte von Zimt und Anis, Piment und Vanille schwängern die Luft und verwirbeln sich im Schneegestöber. Wie ein goldener Nebelstrom wabern sie durch die Straßen und lassen uns lächeln.

Seit Anfang Dezember ist Pittsburgh ein funkelndes Lichtermeer. Die eiskalte Steel City ist über Nacht sanft und warm geworden. Downtown funkeln die Wolkenkratzer. Tausend Vorgärten, zehntausend Fenster, hundert Plätze und Millionen Bäume sind erleuchtet, jedes Schaufenster und jede Straße. Inmitten der Eisbahn am PPG Place glitzert der große Weihnachtsbaum, und am Point State Park spiegeln sich die Lichter verheißungsvoll im Flusswasser.

Im Radio besingt George Michael sein einfach so weiterverschenktes Herz, als ich auf die Liberty Street biege und der Bahnhof in Sicht kommt. Auf der Fahrspur zum Parkhaus reihe ich mich in eine kleine Warteschlange und stelle mein Auto wenig später ab. Fünfzehn Uhr zwölf, sagt die Uhr – noch eine Viertelstunde, bis Grannie Carols Zug eintrifft. Bis dahin bin ich locker am Bahnsteig.

Während ich mir den Weg durch die Menschenmassen vor dem Parkhaus bahne, muss ich über die Diskussion grinsen, die meine Eltern heute Mittag geführt haben. Ursprünglich war geplant, dass wir Grannie zu dritt in Empfang nehmen, aber der Weihnachtsbaum hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.

»Das ist keine Tanne«, höre ich Mom wieder schimpfen. »Das ist eine Fichte, und die nadeln, wenn man sie nur anguckt.«

»Was weiß ich denn?«, verteidigt sich Dad. »Ich bin Arzt, kein Botaniker. Der Kerl hat mir gesagt, es sei eine Tanne.«

»Dann hat er dich verarscht.« Mom rüttelt am Baum und Nadeln rascheln zu Boden. »Das könnte ein Kind, eine Tanne von einer Fichte unterscheiden.«

»Na gut!« Kurzerhand reißt Dad die Terrassentür auf und Mom den schon halb nackten Baum aus der Hand. Mit Schwung befördert er ihn in den Garten und knallt die Tür wieder zu. »Dann haben wir in diesem Jahr eben keinen Baum.«

»Meine Mutter wird in vier Stunden hier sein.« Moms Stimme bebt vor Ärger. »Und dann haben wir sehr wohl einen Baum. Einen fix und fertig geschmückten. Und du wirst dich darum kümmern.«

»Den Teufel werd ich.«

»Du wirst. Und zwar sofort. Ich komme mit und zeige dir, was eine Tanne ist.«

Dad sieht auf die Uhr. »Das schaffen wir nicht, wenn wir rechtzeitig Downtown am Bahnhof sein wollen.«

»Wir schaffen das.« Sie dreht sich zu mir um. »Hol du Grannie allein ab.«

Da bin ich nun. Und mir ist es ganz recht so. Ich glaube, nach der Baumaktion wäre die gemeinsame Fahrt zum Bahnhof nur halb so beschaulich gewesen. Bis ich mit Grannie im Schlepptau zurück bin, sind die Harmonie und der Geist von Weihnachten, die sich vor lauter Schreck verzogen hatten, ganz sicher wieder in unser Haus eingekehrt.

Vor dem Eingang des Bahnhofs hat eine Gruppe als Weihnachtsmänner verkleideter Jungs Aufstellung bezogen. Mehr schlecht als recht, aber mit offenbar einer Menge Spaß, singen sie Good King Wenceslas und sammeln Geld, von dem sie sich laut einem Pappschild Tickets für ein Spiel der Penguins leisten wollen. In der Halle tauche ich in einen nach draußen fließenden Strom von Passagieren und zugehörigen Nicht-Passagieren ein. Arm in Arm gehende Paare, die beseelte Blicke tauschen und knutschen, Väter in Business-Kleidung, die von ihren Kindern umschwärmt werden, und ältere Paare mit ihren erwachsenen Kindern.

Am Bahnsteig angekommen, werfe ich einen Blick auf das Display der Zuganzeige. Grannies Zug hat zehn Minuten Verspätung. Also zurre ich den Reißverschluss meines Parkas bis ganz nach oben, wickele meinen Schal einmal mehr um den Hals und setze mich auf eine Bank.

Aus den Lautsprechern klingt leise Weihnachtsmusik, die sogar der kargen Bahnsteigatmosphäre weihnachtliche Stimmung verleiht. Als ein Zug aus Philadelphia angekündigt wird, hüpft ein kleines Mädchen neben seiner Mutter auf der Stelle und winkt der heranrollenden Bahn aufgeregt mit beiden Armen zu.

Die Bremsen quietschen, bis die Räder nicht mehr rollen, dann öffnen sich die Türen, und Menschen sprudeln heraus. Etwa eine Minute lang bin ich mittendrin im Pulk aus Begrüßungen, Lachen und Umarmungen. Mein Blick huscht über die sich schnell lichtende Masse, von Ankömmling zu Ankömmling – und bleibt auf jemandem hängen, der sich suchend umschaut.

Er ist groß. Seine blonden, halblangen Haare locken sich ein bisschen und fallen ihm ins schmale Gesicht. Über seine Schulter hängt eine große Reisetasche, in der anderen Hand hat er den ausgezogenen Teleskopgriff eines Koffers. Den stellt er jetzt ab, dreht sich um seine eigene Achse und schaut sich weiter um.

Als mich sein Blick streift, schaue ich schnell weg, kann aber nicht anders und beobachte ihn aus den Augenwinkeln weiter.

Unter einer Lederjacke trägt er ein schwarzes Sweatshirt, auf dessen Brust ich das Logo der Philadelphia Flyers erkenne. Seine langen Beine stecken in schmalen grauen Jeans, seine Füße in Industrial Boots. Er holt sein Handy aus der Jackentasche, tippt darauf herum und hebt es ans Ohr. Wenig später steckt er es weg, ohne gesprochen zu haben, und blickt erneut den Bahnsteig auf und ab. Der nächste Zug rollt ein und spuckt seine Passagiere aus. Wie verloren steht er ein paar Sekunden lang im Gewühl der Leute, schließlich rettet er sowohl sich als auch seinen Koffer zu einer Bank neben meiner. Er stellt die Reisetasche ab und wirft mir einen Blick zu, dem ich ausweiche, indem ich meine Boots, die seinen ziemlich ähnlich sind, inspiziere. Währenddessen leert sich der Bahnsteig. Im Augenwinkel sehe ich, wie er Platz nimmt und noch mal telefoniert.

»Hey, Melissa, ich bin da«, höre ich ihn sagen. Seine Stimme ist tief und ein bisschen rau, Anspannung schwingt darin mit. »Wo bist du?« Ohne eine Antwort abzuwarten, nimmt er das Handy wieder herunter. Mailbox, scheinbar.

Eine halbe Stunde vergeht, in der Züge ein- und abfahren. Grannies ist nicht dabei. Ebenso wenig taucht Melissa auf, was den blonden Typen mehr und mehr zu frustrieren scheint. Er tut mir ein bisschen leid. Ist sicher kein tolles Gefühl, am Bahnsteig auf Abholung zu warten oder gar vergessen worden zu sein. Erst recht nicht an Weihnachten. Vielleicht kommt diese Melissa auch in voller Absicht zu spät. Vielleicht ist sie seine Freundin, und sie haben sich gestritten. Oder sie hat einen miesen Charakter. Zu seinem Aussehen würde eine Freundin mit miesem Charakter gut passen. An seiner Schule oder dem College ist er wahrscheinlich der von allen bewunderte Supertyp, der sich natürlich für Barbie entschieden hat.

Bei diesem Gedanken tut er mir noch mehr leid … wegen meiner Gedanken. Schublade auf, Typ rein, Schublade zu. Nicht nett. Vielleicht ist Melissa auch bloß eine gänzlich uninteressante Bekannte, seine Schwester, eine Cousine oder …

Hör auf, du Nuss!, schimpfe ich im Stillen und schüttele den Kopf, um die bescheuerten Gedanken loszuwerden.

»Hey, ich noch mal«, höre ich zwischen zwei Zügen erneut seine Stimme. Langsam klingt er verärgert. »Ähm … ja, keine Ahnung. Ich würde ein Cab nehmen, wenn ich sicher wär, dass du nicht hierher unterwegs bist. Ruf mich zurück, wenn du das hörst.«

Diese Melissa müsste sich doch denken können, dass er wartet. Es ist schließlich Weihnachten. Selbst wenn es Streit gab … heute ist der Tag, zu verzeihen. Vielleicht kann sie nicht. Vielleicht ist Melissa auf dem Weg hierher in einen Unfall verwickelt worden und wird in diesem Moment ins Krankenhaus gebracht. Vielleicht, was absolut schrecklich wäre, ist sie …

Schluss mit dem Unsinn!, schimpft meine innere Stimme. Ich verschränke die Arme vor der Brust und schüttele mich unter einem Frösteln, das weniger von der Kälte als vielmehr von meinem makabren Kopfkino kommt.

Endlich wird Grannies Zug angekündigt. Erleichtert stehe ich auf und gehe ein paar Schritte über den inzwischen ziemlich leeren Bahnsteig, der gerade von God Rest You Merry Gentleman beschallt wird. Dabei huscht mein Blick immer wieder zu ihm. Wie er da so sitzt und auf sein Telefon schaut, fällt mir etwas ein.

Bevor ich zu viel darüber nachdenken und es mir anders überlegen kann, nehme ich meinen Mut zusammen und gehe zu ihm.

»Hey, ich hab ein bisschen was mitbekommen von deinen Telefonaten«, sage ich und komme völlig aus dem Konzept, als er den Kopf hebt und mich ansieht. In seinem Blick liegt irgendetwas, ein Ausdruck, den ich nicht benennen kann, der aber tief in mir etwas zum Schwingen bringt. Was auch immer es war, es verschwindet, als er blinzelt und das eben noch warme Blau seiner Augen kühl wird. Fragend hebt er die Brauen.

»Ähm, ja, also, und ich hab gedacht …«, stottere ich und reiße mich zusammen. »Ich könnte dich mitnehmen. Ich warte nur noch auf meine Großmutter, deren Zug kommt jeden Moment.«

Fertig. Mund zuklappen. Warten. Er reagiert nicht, schaut mich nur an, als müsste ich noch mehr sagen. Na gut …

»Wohin musst du denn?«

»Bennington Avenue.«

»Cool. Das ist in Squirrel Hill. Dahin muss ich auch. Wenn du willst, kannst du bei mir mitfahren.«

Er schaut noch einmal über den Bahnsteig, zuckt dann mit den Schultern und sieht mich wieder an. »Ähm … danke. Gern.«

Mit knapp eins siebzig bin ich kein Winzling, aber als er aufsteht, ist er gut einen Kopf größer als ich. Irgendwie durcheinander, wende ich mich wieder zum Gleis um und spüre, wie ein merkwürdiges Summen meinen Magen füllt. Grannies Zug fährt ein.

Wenig später falle ich ihr um den Hals. Sie schlingt die Arme um mich, drückt mir einen Kuss auf die Wange und stellt fest, dass ich gewachsen bin. Das tut sie jedes Mal, wenn wir uns sehen. Ginge es nach ihrer Einschätzung, wäre ich inzwischen drei Meter groß. Als ich ihr sage, dass wir jemanden mitnehmen, geht sie zu ihm und stellt sich fröhlich vor.

»Sam«, murmelt er und schickt mir einen unsicheren Blick. Ich nehme Grannie den Trolley ab und schlage die Richtung zum Eingang ein. Grannie und Sam folgen mir. Sie erzählt ihm von ihrer Zugfahrt, wen sie kennenlernt und was sie erfahren hat. Ein Florist aus Troy Hill hat sie heute während der Fahrt unterhalten. Bedauerlicherweise war er fünfzig Jahre zu jung für sie und schwul obendrein. Mir ist das peinlich, aber ich höre ihn lachen. Er hat ein schönes Lachen.

Auf der Fahrt nach Squirrel Hill geht es so weiter. Mit der eifrig schwatzenden Grannie auf dem Beifahrersitz und dem zuhörenden Sam auf der Rückbank komme ich mir vor wie ein Chauffeur, bleibe aber still.

Von der Fair Oaks Street will ich gerade in die Bennington Avenue einbiegen, da meldet sich Sam zu Wort: »Ist okay, lass mich hier raus.«

Ich halte und sehe in den Rückspiegel, wo er meinem Blick begegnet. »Sicher? Wäre kein Ding, dich vor dem Haus abzusetzen.«

»Nein, so ist es perfekt.« Er zieht am Griff und drückt die Tür auf. »Danke noch mal.«

Schulterzuckend öffne ich den Kofferraum über einen Hebel in der Mittelkonsole.

»Frohe Weihnachten, Sam«, ruft Grannie Carol, als er aussteigt.

Er zögert. »Frohe Weihnachten«, antwortet er dann und wirft die Tür zu. Aus dem Kofferraum holt er sein Gepäck, schließt die Klappe und geht. Ich lasse das Auto den Rest der Fair Oaks Street entlangrollen, bis mir bewusst wird, dass ich eigentlich in die andere Richtung muss.

»Der hat unverschämt gut ausgesehen«, stellt Grannie fest und schmunzelt.

Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Also halte ich die Klappe, biege an der nächsten Kreuzung ab und bringe uns dahin, wo inzwischen ganz sicher eine mit roten Kugeln geschmückte Tanne steht und ein Truthahn im Ofen brutzelt.

Stimmen dringen in mein noch schläfriges Bewusstsein. Ich wühle mich aus den Federn und tappe aus dem Zimmer, um nebenan im Bad zur Toilette zu gehen und dann ganz schnell wieder im Bett zu verschwinden. Leider gerate ich dabei in eine Diskussion, die meine Müdigkeit wegpustet.

»An Weihnachten besucht man den Gottesdienst«, stellt Grannie klar. Sie steht im Türrahmen von Mom und Dads Schlafzimmer, aus dem Moms Stimme kommt.

»Ich habe keine Lust auf eine Predigt, aber lass dich nicht aufhalten. Du weißt ja, wo die Kirche ist.«

»Ich soll allein gehen?« Grannie ist empört. Als sie mich erblickt, erhellt sich ihre Miene.

Ich ahne Schlimmes, senke den Kopf und will mich verdrücken, da spricht sie mich schon an.

»Guten Morgen, Darling. Stell dir vor, deine Mutter will nicht zur Kirche. Aber wir zwei, wir gehen doch, oder?«

Stumm schüttele ich den Kopf und schließe die Tür des Badezimmers hinter mir. Draußen geht die Diskussion weiter, verlagert sich aber nach unten. So komme ich immerhin unbehelligt in mein Zimmer zurück, kuschele mich wieder ins Bett und ziehe mir die Decke bis zur Nase. Wie in so mancher Minute am vergangenen Abend denke ich an den Typen vom Bahnhof. Sam. Sam heißt er, flüstert mein Geist in den beginnenden Traum hinein. Ich denke an Sam vom Bahnhof, an den merkwürdigen Ausdruck in seinen Augen und seine vergeblichen Versuche, diese Melissa zu erreichen, bis meine Gedanken leichter werden. Im Traum fährt Sam mit Grannie und mir. Wir setzen ihn nicht an der Bennington Avenue ab, sondern nehmen ihn mit zu uns. Er soll an Heiligabend nicht alleine sein. Als wir unser Haus kurze Zeit später betreten, geht er voran, als würde er hier wohnen. Mom und Dad scheinen ausgeflogen zu sein, Grannie zieht sich ins Gästezimmer zurück.

Froh, allein mit Sam zu sein, drehe ich mich zu ihm um, aber er ist nicht mehr da. Dabei hat er eben noch bei der Treppe gestanden. Ich suche ihn in den Schränken der Diele, dann in der Küche und in Moms Büro.

Im Wohnzimmer entdecke ich Sam so wenig wie im Schlafzimmer meiner Eltern. Glücklicherweise ist er auch nicht in meinem Zimmer, wo es aussieht, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Bleibt nur mein Bad. Klopfenden Herzens schleiche ich zur Tür, lausche. Sam duscht. Ich will gehen, kann mich aber plötzlich nicht mehr von der Stelle rühren. Meine Sohlen scheinen am Boden festzukleben, und während ich versuche, sie zu lösen, wird drinnen das Wasser abgestellt. Als ich höre, wie die Tür entriegelt wird, starre ich zum Knauf, der sich dreht. Dann öffnet sich die Tür. Sam steht vor mir, nass, mit einem Handtuch um die Hüfte …

Mit einem Ruck setze ich mich im Bett auf, blinzele mich in die Realität zurück und will die Bilder des Traums mit einem Kopfschütteln vertreiben, doch die sind hartnäckig. Als es an der Tür klopft, zucke ich zusammen.

»Harley Walker, jetzt wird es aber Zeit«, ruft Mom und klopft abermals.

»Schon gut«, gebe ich mit einem genervten Stöhnen zurück und lasse mich zurückfallen, um nach dem Schalter zu tasten, der die Jalousien öffnet. Dann schlage ich die Bettdecke zurück, stehe auf und schlurfe aus dem Zimmer. Nach einem Stopp im Bad tappe ich nach unten und in die Küche, um den Kühlschrank nach zum späten Frühstück Essbarem zu durchforsten.

»Es ist frisches Brot da«, ruft Mom, die mit Grannie Carol im Wohnzimmer sitzt. Dad ist … irgendwo draußen. Wahrscheinlich schippt er Schnee vom Gehweg und lässt sich Zeit dabei.

»Wieso haust du dem Kind nicht ein paar Eier und Speck in die Pfanne?«, tadelt Grannie. »Pfannkuchen kann sie auch essen. Um diese Uhrzeit muss sie doch vor Hunger halb umkommen. Hat ja ohnehin kaum was auf den Rippen.«

»Ich komme klar, Grannie«, gebe ich zurück.

Mit Weintrauben, Käse und Brot setze ich mich an den Esstisch, wo eines meiner Weihnachtsgeschenke liegt. Seit ich weiß, dass weder Santa noch sonst jemand den Schornstein runtersaust, um mir Geschenke hinzulegen, findet die Bescherung im Hause Walker an Heiligabend nach dem Essen, nicht am Morgen des ersten Weihnachtstages statt. Grannie Carol hat mir den Bildband Skate The World geschenkt, den ich mir gewünscht hatte. Von Mom und Dad gab es ein speziell für Sportfotografie entwickeltes Objektiv für meine Nikon. Bis tief in die Nacht habe ich mit den Einstellungsmöglichkeiten experimentiert und deshalb wohl etwas mehr Schlaf gebraucht.

Jetzt schiebe ich mir ein Stück Käse in den Mund und blättere im Buch um, doch Grannie hat von den Gesprächen mit meiner Mutter genug und will sich nun mit mir unterhalten. Sie nimmt mir gegenüber Platz.

»Gut geschlafen?«

Ich nicke, ohne aufzusehen. »Ganz okay.«

»Und? Weißt du noch, was du geträumt hast?«

Und ob. Bei der Erinnerung an Traum-Sam kribbelt es in meinem Bauch. Ich ziehe die Füße auf den Stuhl unter den Po, atme durch und erwidere ihren neugierigen Blick.

»Jepp, bisschen was.«

Grannie Carol hebt den Finger. »Merk dir, was du geträumt hast, denn was man in den Nächten zwischen den Jahren träumt, wird wahr.«

»Behauptet wer?«

»Die alten Kelten und auch die Germanen.«

»Na ja … die sind ja nun schon längere Zeit tot.«

Im Gegensatz zu Grannie bin ich ziemlich realistisch veranlagt und glaube, dass Träume einfach Träume sind. Überhaupt ist die Vorstellung, dass meine Füße am Boden festkleben, während Sam halb nackt vor mir steht, nicht sonderlich verlockend. Viel schöner wäre es doch, wenn ich einen Schritt auf ihn zu machen könnte und … Zum Glück reißt mich Grannie aus meinen Gedanken. »Dein Hasenfutter hast du ja nun aufgemümmelt. Mach dich langsam mal fertig. Deine Mom sagte, die Gäste kommen um drei.«

Sie hat recht. Wobei unsere Gäste bloß Cassidy und ihre Eltern sind. Jeder von denen hat mich bestimmt hundert Mal im Schlafanzug und mit zerwühlten Haaren gesehen. Nichtsdestotrotz tue ich Grannie den Gefallen und verschwinde ohne Widerworte in meinem Bad, wo ich bei einer ausgiebigen Dusche den Rest des Traums abzuspülen versuche.

***

Das Essen am ersten Weihnachtstag mit Onkel Dave, Tante Katie und Cassidy, die meine einzige Cousine ist, hat schon lange Tradition. Dad und Onkel Dave sind Brüder, und da unsere Familien in derselben Straße wohnen, sind Cassidy und ich praktisch wie Schwestern aufgewachsen. Wie sehr verschiedene Schwestern. Seit ich denken kann, ist sie die Prinzessin, und ich bin der Rotzlöffel. Mit der Freundschaft, die uns trotzdem verbindet, sind wir der beste Beweis dafür, dass sich Gegensätze anziehen, wobei es immer ein paar Reibungspunkte gab. Aber die gehören dazu. Cassidy lebt damit, dass ich mich auch heute nicht in eine Prinzessin verwandele. Ich lebe mit ihren manchmal ziemlich zickigen Anwandlungen.

Jetzt ist mein Zimmer erfüllt von Cassidys neuem, blumig-orientalischem Duft, den sie neben einem Steppmantel und anderen stylishen Accessoires, auf die sie so abfährt, zu Weihnachten bekommen hat. Wir sitzen uns im Schneidersitz auf meinem Bett gegenüber. Cassidy grinst erwartungsvoll und klatscht in die Hände.

»Na los, du zuerst.«

Seit sie mir vor zwei Jahren einen großformatigen Kalender mit spärlich bekleideten Kerlen geschenkt hat, findet unsere Bescherung nicht mehr vor unseren Eltern statt, sondern in der Abgeschiedenheit meines Zimmers. Eine gute Idee war das insbesondere vergangenes Weihnachten, als sie mir mit spitzbübischer Miene ein Unterwäsche-Set aus roter, teilweise durchscheinender Spitze überreichte. Das winzige Höschen und den balkonettartigen BH hat sie selbst in Schwarz.

Bis heute halte ich das für ein Scherzgeschenk, das ich meinen liberalen Eltern aber trotzdem ungern erklärt hätte. Weil meine Geschenke im Vergleich zu diesen Dingen fast langweilig waren, habe ich mir für dieses Weihnachten etwas Besonderes einfallen lassen.

Um sie nicht länger zappeln zu lassen, greife ich unters Kopfkissen, wo ich ihr diesjähriges Geschenk versteckt habe. Cass nimmt es, zerrt das grüne Seidenband ab, reißt das rote Papier auf und zieht das auf alt gemachte Metallschild aus den Papierfetzen.

»Oh, wow!« Sie hebt die Hand vor den Mund und betrachtet ihr Geschenk voller Rührung. »Was für eine coole Idee«, haucht sie und schaut sich an, was auf dem Schild steht, wobei sie mal lächelt und mal seufzt.

Das Remember-when-Schild ist mit Ereignissen unserer Freundschaft personalisiert. In verschiedenfarbigen Schriften stehen sie auf schwarzem Untergrund.

»Erinnere dich daran, als wir Dirty Dancing geschaut haben und du mich danach gezwungen hast, mit dir Mambo zu lernen«, liest sie, lacht und sieht auf, wobei Tränen in ihren babyblauen Augen schimmern. »Oh Gott, wie süß, Harley! Das ist so toll.«

Cassidys Rührung ist ansteckend. Ich verdrücke selbst ein Tränchen und freue mich weiter an ihrer Freude, die mit jedem Punkt, den sie liest, größer wird.

Vom Remember-when-Schild angestupst, versinken wir in Erinnerungen: Wie wir zu ihrem siebten Geburtstag so viel Kuchen aßen, dass uns beiden schlecht wurde. Wie sie ihr Fahrrad wütend in ein Gebüsch schleuderte, weil sie keine Lust mehr auf meine blöde Abenteuertour hatte. Und wie sie mir erzählt hat, dass Jason Murdock sie geküsst hat und ich vor lauter Ekel den ganzen Tag nichts mehr gegessen habe.

Neben diesen und anderen süßen Erinnerungen hätte ich ein paar brisantere, aber ähnlich prägende Ereignisse auf dem Schild festhalten können. Beispielsweise den Abend, als Cassidy bei mir aufschlug und erzählte, dass sie und ihr erster Freund miteinander geschlafen hatten. Das war vor zwei Jahren – Cassidy und ich waren fünfzehn, der Junge sechzehn und alles andere als erwachsen oder erfahren, aber so wirkte er damals auf uns. Ich erinnere mich noch, dass mir Cassidy danach eine Zeit lang merkwürdig fremd vorkam, als wäre sie in einem anderen, fernen Land gewesen und verändert zurückgekehrt. Das Gefühl hat sich wieder gelegt. Es ist normal geworden, dass Cassidy Sex hat – und ich nicht.

Sie legt das Schild aufs Bett, nimmt ihre Tasche, kramt darin herum und holt aus dem Gewühl von Lippenstiften, Puderdosen und Thermalwasserspray ein kleines, professionell eingewickeltes Päckchen hervor.

»Das ist für dich«, sagt sie und gibt es mir.

Ich löse die pinkfarbene Schleife und knuppere den Tesastreifen ab, der das rosa Geschenkpapier schließt. Aus einer Schachtel, die sich darin befindet, nehme ich zwei Schlüsselanhänger – einen für mich, einen für Cassidy. Auf den Plaketten, die an den Metallbändern baumeln, sind je zwei Hände eingeprägt, deren kleine Finger miteinander verschränkt sind. BFF, kurz für Best Friends Forever, steht auf den Rückseiten.

»Echt süß! Danke, Cas«, murmele ich gerührt und bin ein bisschen erleichtert, dass sie mir nichts Schweinisches geschenkt hat.

Cassidy breitet die Arme aus. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange, umschlinge sie und halte sie fest. Sie wiegt mich ein paarmal hin und her, kichert dann und löst sich von mir.

»Hat dich Grannie auch schon nach deinem Traum gefragt?«

Einigermaßen verwundert schaue ich sie an. »Erzähl mir jetzt nicht, du glaubst an solchen Kram. Kelten, Germanen …« Mit einem »Uhhh«, zu dem ich mit den Fingern wackele, lasse ich sie wissen, was ich davon halte, und plumpse rücklings aufs Bett. Cassidy legt sich neben mich.

»Ich find’s lustig.« Sie verleiht ihrer Stimme etwas Tadelndes. »Also wirklich, Harley, du musst auch mal an was glauben.«

»Tue ich ja. Ich glaube fest daran, dass die Dragons es in die Play-offs schaffen, wenn sie sich so richtig anstrengen.«

Sie schnaubt. »Du und dein Eishockey.«

Zugegeben, ich liebe diesen Sport, und dass die Mannschaft unserer Schule dieses Jahr endlich wieder Chancen auf den Penguins Cup hat, ist mein Highlight des Jahres. Dennoch denke ich gerade gar nicht so sehr daran, sondern schon wieder an Sam. Ich muss den Gedanken Luft machen, also erzähle ich meiner Cousine, wie Grannie und ich Sam am Bahnhof aufgegabelt und mit nach Squirrel Hill genommen haben.

Sie setzt sich wieder auf, mustert mich eindringlich und sagt: »Oh, oh!«

»Wie, oh, oh?«

»Du findest ihn gut. Hast du dich verknallt?«

»Quatsch!« Verknallt! Tzz! Nach den drei Sekunden, die wir miteinander zu tun hatten?

»Klar hast du. Und das ist gut so.« Cassidy grinst vergnügt. »Irgendwann musst du ja mal damit anfangen. Wie sieht er aus?«

»Ist doch egal, Cas.« Ich setze mich ebenfalls auf. »Es war eine witzige Begegnung. Mehr nicht. Er ist nicht aus Pittsburgh, besucht hier nur irgendwen. Ich werde ihn vermutlich nie wiedersehen und hab Besseres zu tun, als mich in diese Sache hineinzusteigern.«

Einen Moment lang betrachtet Cassidy mich stumm, dann grummelt sie: »Also, mit dieser Einstellung wird das nie was.« Ihr Blick wandert an mir herunter. »Du solltest auch echt langsam was aus dir machen. Immer diese Karohemden.«

»Eigentlich sind es Blusen, keine Hemden, und ich mag Karos.« Streifen und Sternchen auch oder Unifarben. Nur keine Punkte.

»Ich weiß. Genauso gern magst du Jeans, in denen man deinen Arsch nicht sieht, No-Name-Shirts, abgelatschte Chucks und klobige Boots.«

»Vergiss nicht die Biker-Jacken.«

»Natürlich nicht.« Plötzlich klingt sie gereizt. »Wie könnte ich deine Lederjacken vergessen, wo du sie doch praktisch jeden Tag trägst.«

»Aktuell nicht. Ist zu kalt dafür.«

Vielleicht ist es gemein, aber ich mache mir einen Spaß aus ihrer Kritik. Erfahrungsgemäß ist es die beste Art, damit umzugehen.

»Du könntest viel besser aussehen«, trotzt Cassidy und hebt die Hände, um in meinen Haaren rumzufummeln. Bald zupft sie an den Spitzen, als würden sie dadurch wachsen. »Du solltest sie länger tragen. Jungs stehen auf Mädchen mit langen Haaren.«

Ich schüttele ihre Hände ab, nehme meine Haare nach hinten und binde sie mit dem Gummi, das ich bis eben ums Handgelenk hatte, zu einem kleinen Zopf, der gerade so möglich ist.

»Und das sieht erst recht furchtbar aus«, lautet Cassidys Kommentar. »Lass sie wachsen und verpass ihnen auch mal etwas Farbe. Braun ist doch langweilig.«

Mir ist klar, dass ich nicht so hübsch bin wie meine Cousine mit ihrem glatten Teint, den mit Schminke zum Strahlen gebrachten Augen und den glänzenden blonden Haaren. Ich falle nicht so sehr auf wie sie in ihren stylishen Klamotten. Aber das stört mich nicht. Wahrscheinlich könnte ich mich mit ein wenig Aufwand an Cassidys Optik anpassen, doch ich werde mich nicht verkleiden, um ihr einen Gefallen zu tun oder Jungs auf mich aufmerksam zu machen, die mich nicht interessieren. Das trifft auf alle Jungs an unserer Highschool zu. Und ganz offenbar ärgert das meine Cousine mit jedem Tag ein bisschen mehr.

»Übrigens, ich hab ein Date mit Will«, sagt sie aus heiterem Himmel und wieder quietschvergnügt.

Einerseits bin ich froh über den Themenwechsel, andererseits prompt besorgt.

»Ich weiß nicht, Cas. Hast du dir das gut überlegt? Will ist Carls bester Freund.«

Sie stöhnt genervt. »Und?«

»So was macht man nicht. Die besten Freunde sind einfach tabu.«

»Wenn es Will nicht stört, warum sollte es mich aufhalten? Carl ist Geschichte. Und Will ist echt süß. Ich habe lange genug darauf hingearbeitet, dass er mich fragt.«

Ein Jahr lang waren Cassidy und Carl, Kapitän des Eishockeyteams, das Traumpaar der Schule. Anfang November hat sie mit ihm Schluss gemacht, weil ihr die Beziehung zu langweilig wurde. Kurz war sie mit einem Basketballspieler zusammen, hat sich aber auch von ihm getrennt, weil ihr Interesse an Will erwachte. Das geschah in etwa zu der Zeit, als Carl nicht mehr versuchte, sie zurückzugewinnen und mit einem Cheerleader des Eishockeyteams ausging.

»Das gibt sicher Ärger«, murmele ich mehr zu mir selbst und kann mir diesen Ärger sehr bildlich vorstellen.

Sowohl Carl als auch Will, Carls Left Wing auf dem Eis, kenne ich gut. Ich mag sie beide. Als Sportfotografin für die Schülerzeitung bin ich mehrmals im Monat mit ihnen und dem Rest des Teams zu Spielen unterwegs. Kein Typ der Highschool würde sich je mit einem von beiden anlegen, erst recht nicht wegen eines Mädchens. Wenn diese beiden nun wegen Cassidy aneinandergeraten, geht vielleicht nicht nur eine Freundschaft kaputt, sondern auch der Zusammenhalt im Team. Und damit schwinden die Chancen auf den Penguins Cup.

»Wirklich, Cas, ich halte das für keine gute Idee.«

»Ich aber, und es ist meine Entscheidung, mit wem ich mich treffe.« Ein verärgertes Blitzen tritt in ihren Blick.

Nachdenklich stehe ich vom Bett auf und gehe zum Fenster, vor dem es schon dämmert. Dicke Flocken rieseln in unseren geschmückten Vorgarten, dessen Lichterketten sich eben einschalten.

»Hast du demnächst Zeit für ein paar Fotos?«, höre ich von Cassidy.

Zeit schon. Lust nicht wirklich. Aber gut. Reizen wir das nicht aus.

»Was für welche möchtest du denn?«, gebe ich zurück, obwohl ich ihr viel lieber weiter ins Gewissen reden würde. Sie sollte Will einfach nicht daten. Ihr das noch einmal zu sagen, verkneife ich mir erst einmal, um Streit zu vermeiden. Ich kenne Cassidy gut genug, um zu wissen, dass ich sie nicht aufhalten kann. Den Jungen, auf den sie es abgesehen hat, bekommt sie.

Einer Kamera kannst du nichts vormachen. Du kannst es versuchen und deine, vom pseudocoolen Peace-Zeichen unterstrichene, lässige Miene ziehen, mit der du zeigen willst, wie abgefahren dein Leben ist. Du kannst noch so breit lächeln. Eine Kamera enttarnt dich, wenn du eigentlich traurig bist oder gelangweilt oder wütend. Sie achtet auf deine Körperhaltung und blickt über deine Augen in dein Herz, in deine Seele. Sie sieht, was du liebst, wen du hasst, wer du sein willst und wer du bist.

Zumindest auf meine Kamera trifft das zu. Momentan sieht sie Cassidys Schmollmund und ihre weit geöffneten, gedankenvollen Augen. Dieser Weltschmerz-Ausdruck begegnet mir in letzter Zeit überall. Ich nehme die Kamera runter.

»Was soll der Quatsch, Cas? Das ist überhaupt nicht echt. So guckst du doch nie.«

»Klar gucke ich so!«

»Ja, zu Hause vor dem Spiegel, um zu proben.«

Sie grinst verhalten und seufzt. »Nur das eine Bild, okay? Ich mag den Ausdruck in meinem Blick, wenn ich so gucke.«

»Das bist aber nicht du«, murmele ich, während ich wieder fotografiere. »Und wieso haben wir eigentlich ewig nach einem passenden Baum gesucht, wenn ich nur Close-ups machen soll?«

Sie übergeht meinen Einwurf. »Achtest du bitte darauf, dass man meine Haare nicht sieht? Nur mein Gesicht und die Kapuze.«

Die Kapuze spielt eine große Rolle, denn sie hat einen dicken, besonders flauschigen Webpelz und gehört zum roséfarbenen Steppmantel, Cassidys Weihnachtsgeschenk.

»Hängen Schneeflocken im Fell?«, fragt sie mit steifem Kiefer, um die Pose nicht zu ruinieren.

»Jede Menge.«

»Gut. Das ist total wichtig.«

»Wenn du meinst.« Ich muss grinsen. »Du siehst aus wie ein Angorakaninchen.«

»Echt? Süß. Das sind die mit den vielen Haaren, oder?«

»Das sind die, die vor lauter Fell vorm Gesicht kaum was sehen.«

Sie schnaubt und schickt mir einen giftigen Blick, mit dem ich das erste ehrliche Foto bekomme. Dann verschwindet sie aus dem Fokus.

»Gehen wir zum Teich. Was hältst du von ein paar Aufnahmen vorm Wasser mit der Brücke im Hintergrund? Oder welchen mit den Panthern?«

Schnee knirscht unter unseren Schuhen, mehr dicke Flocken schweben vom Himmel. Eine rauchige Note hängt in der Luft; unser warmer Atem steigt in Wolken auf.

Wir haben den Park beinahe für uns. Heute ist der letzte Sonntag im Dezember, morgen um Mitternacht starten wir in ein neues Jahr.

Als Cassidy ihr Smartphone zückt und vor sich hält, glaube ich zuerst, dass sie ein Selfie macht, zur Sicherheit, falls meine Aufnahmen alle schrecklich sind, aber sie checkt nur ihren Look.

»Oh Gott, wie seh ich aus? Hast du mich so fotografiert?« Sie zieht die Kapuze vom Kopf, zupft sich den Pony und fährt mit den Fingern durch ihre Haare. »Die Bilder musst du alle löschen.«

Sie bleibt stehen.

»Ich bin so hässlich«, konstatiert sie mit einem Kopfschütteln. »Wässrige Glotzaugen und aufgedunsene Lippen. Als wären sie aufgespritzt.«

»Du Arme.« Ich kann den Spott nicht ganz aus meiner Stimme verbannen.

»Und diese Nase …« Mit einem Finger drückt sie auf die Spitze. »Die zeigt doch nach oben.«

»Ja, ganz furchtbar. Die fünfzig Typen, die dir in der Schule sabbernd nachlaufen, können nur blind sein.«

Sie geht weiter und steckt ihr Handy ein. »Mach dich nicht lustig«, quengelt sie.

»Was ist denn heute los mit dir? Warum bist du so nörgelig?«

»Ich nörgele nicht. Ich bin nur ein bisschen kritisch.«

Weil du hören willst, wie gut du aussiehst, antworte ich ihr im Stillen.

Wir gelangen an den Teich. Cassidy zeigt auf die Brücke. »Lass uns zuerst hoch zu den Panthern gehen.«

Die Panther sind vier wie Wächter über Felsen schleichende Bronzeskulpturen. Cassidy lehnt sich gegen eine Figur und verklärt ihren Blick fürs nächste Foto.

So wird das nichts.

»Kannst du mal irgendwie anders gucken? Eine Braue hochziehen, skeptisch schmunzeln, ertappt über deine Schulter schauen. Irgendwas Lebendiges.«

Sie versucht es mit einem Lachen, doch es erreicht ihre Augen nicht. Um ihr zu helfen, erinnere ich sie an die Hamburger-Schlacht, die zwei streitende Cheerleader vor ein paar Wochen in der Cafeteria gestartet und dabei versehentlich unsere Spanischlehrerin mit einem halben Bun voller Mayo an der Stirn getroffen haben.

Es funktioniert. Mein Cousinchen lacht schallend, und ich bekomme endlich ein paar authentische Bilder.

»Wofür brauchst du die Aufnahmen überhaupt?«, frage ich, als sie sich wieder beruhigt hat.

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich weiß nicht, vielleicht schicke ich sie an eine Agentur.«

»An eine Modelagentur?«

»Ja. Wie spät ist es eigentlich?« Abermals fummelt sie ihr Handy hervor und schaut nach. »Mist, schon zwei. Ich muss gleich los.«

»Ähm, okay …« Unschlüssig nehme ich die Kamera herunter. »Soll ich noch fotografieren, oder sind wir fertig?«

»Ach, ich glaube, wir haben genug. Ich komme morgen Vormittag bei dir vorbei, und wir schauen die Bilder an, okay?«

Sie wartet, bis ich die Kamera verstaut habe, dann überqueren wir die Brücke und schlagen den Weg zum Parkplatz ein.

»Was hast du noch vor?«, frage ich bemüht beiläufig und hoffe, dass es nicht das Date mit Will ist.

»Nichts Besonderes. Liv, Cheryl und ich sind zum Shoppen verabredet. Zur Maniküre wollen wir auch.«

»Hm, cool«, sage ich und bin ziemlich froh, dass Cassidy diese spannenden Dinge lieber mit anderen als mir erledigt. Dann bricht es aus mir heraus: »Was ist eigentlich mit Will? Hast du dir die Sache überlegt?«

»Ich hab ihn gestern Abend getroffen.«

Oh Gott! »Warum hast du nichts gesagt?«

»Ach …« Sie schnaubt.

»Ach was?«

»Den kannst du vergessen.«

»Wieso? Was ist passiert?«

»Gar nichts. Das ist ja das Problem. Beim Essen hat er mir gesagt, dass zwischen uns nichts laufen wird, weil ihm die Freundschaft mit Carl zu wichtig ist.«

Braver Will!

»Na ja«, hebe ich vorsichtig an, »ich kann Will schon verstehen. Ist doch gut, dass er ehrlich ist.«

»Das hätte er sich überlegen sollen, bevor er mich auf das Date eingeladen hat.«

»Stimmt schon, aber jeder ist mal unvernünftig. Er würde bestimmt gern mit dir ausgehen. Wahrscheinlich hat er einfach kurz vorher Gewissensbisse wegen Carl bekommen, wollte dich aber auch nicht versetzen.«

»Wie ehrenhaft von ihm«, spottet sie noch und klingt plötzlich erstaunlich zufrieden. »Aber Carl hat davon erfahren, also war die Sache am Ende doch für etwas gut.«

Ihre Worte erschrecken mich. »Cas, was soll der Mist? Du hast mit Carl Schluss gemacht, weil dir langweilig war, also spiel keine Spielchen.«

Sie übergeht meine Worte und erzählt mir von Carls Reaktion.

»Angeblich haben er und Will sich heute Morgen beim Training geprügelt. Coach Wilson hat sie beide vom Eis genommen und Strafübungen machen lassen.«

»Und darüber freust du dich jetzt?«

»Natürlich nicht!« Sie schickt mir einen tadelnden Blick. »Aber es hat sich noch nie jemand für mich geprügelt.«

»Also bist du zumindest beeindruckt. Sorry, Cas, aber ich finde das total bescheuert.«

»Was denn?« Ein weiterer, diesmal spöttischer Blick folgt. »Bist du jetzt Pazifistin?«

»Quatsch! Die beiden haben sich wie Höhlenmenschen verhalten, bloß haben sie zum Prügeln ihre Hockeyschläger genommen, keine Keulen. Das ist nicht toll, sondern bloß dämlich.«

Cassidy legt den Arm um mich. »Ach, Harley. Du weißt gar nichts von Liebe. Es wird Zeit, dass du mal in die Gänge kommst, dann verstehst du, was ich meine.«

»Lenk nicht vom Thema ab«, brumme ich, schlinge meinen Arm aber auch um sie. »Wenn du Carl zurückwillst, dann sag es ihm einfach.«

Sie lacht. »Ich soll ihm nachlaufen? Im Leben nicht.« Wieder ernst, schaut sie mich an. »Ich weiß gar nicht, ob ich ihn wirklich will. Obwohl er schon am besten zu mir passt. Keiner sieht so gut aus wie er, und er ist Kapitän des Hockeyteams. Bestimmt wird er Prom-King.«

Dass Cassidy Prom-Queen wird, stelle ich ebenso wenig infrage wie sie.

»Dann tu wenigstens irgendwas, um herauszufinden, was, oder besser wen, du willst.«

»Alles zu seiner Zeit.« Sie schiebt die Hände in die Manteltaschen. »Will hat mir erzählt, dass sie, wenn die Schule wieder anfängt, Verstärkung auf dem Eis bekommen. Mal gucken, wie der Neue so ist.«

Cassidy geht zu ihrem Auto und öffnet die Tür.

»Ich hoffe, ich finde was Cooles im Waterfront. Mein Kleiderschrank ist voller Schrott, und wenn der Neue heiß ist, will ich ihm besser gleich als später auffallen.«

»Was, wenn er hässlich ist?«, gebe ich zu bedenken.

»Gehen wir davon aus, dass er umwerfend aussieht.«

Damit wirft sie mir eine Kusshand zu, steigt ein und braust davon. Ich krame meinen Autoschlüssel aus der Jackentasche. Einen Moment betrachte ich den Anhänger, den Cassidy mir geschenkt hat. Silbern schimmert die Rückseite mit der BFF-Gravur in der dunkelblauen Wolle meines Fäustlings.

***

Am Straßenrand vor unserm Haus stelle ich das Auto ab und gehe an der Garage vorbei zur Haustür, da vernehme ich ein Kichern und drehe mich um. Das Garagentor ist geschlossen, aber auf der Rückseite gibt es eine Tür, die offen steht. Ich schleiche an der Seite des Flachbaus entlang, die Kamera im Anschlag.

»Fester, viel fester«, höre ich Dad sagen.

»Mach ich doch«, giggelt Mom.

»Richtig rubbeln. Du machst das doch nicht zum ersten Mal.«

»Ja, aber dieses Zeug …«

Mit einem Satz, die Kamera schon vorm Gesicht, springe ich in die offene Tür und rufe: »Bitte lächeln!« Als meine Eltern überrascht zu mir schauen, drücke ich auf den Auslöser.

Mom schießt in den Stand und stolpert über den umgestülpten Eimer, auf dem sie gerade noch gesessen hat, fängt sich aber und schimpft »Harley, was soll der Mist? Du hast mir einen Höllenschreck eingejagt.«

FBI