Die Heldentaten von Herakles, die in diesem Buch beschrieben sind, haben sich vor Tausenden von Jahren ereignet. Sie spielten in der Zeit, als die Welt noch jung war und auf dem griechischen Berg Olymp Götter lebten.

Es gab viele Helden in diesen alten Zeiten. Aber der größte war Herakles. Die alten Römer nannten ihn Herkules.

Keiner hat so viele Heldentaten vollbracht wie er. Einmal musste er sogar den Himmel auf seinen starken Schultern tragen.

 

Über sein Leben und seinen Tod erzählen die folgenden Geschichten.

Herkules, der stärkste Mann der Welt

 

 

Es war ein herrlicher Sommertag im Palastgarten des alten griechischen Königs Amphitrion.

Ein kleines Baby, nur drei Monate alt, lag nackt in einer Wiege. Das Baby hieß Herkules. Seine Mutter war die schöne Königin Alkmene.

Eine Amme musste auf das Baby aufpassen. Aber in der Sommerwärme war sie eingeschlafen. Sie schnarchte leise neben der Wiege.

Vom Berg Olymp, wo die griechischen Götter wohnen, schaute Göttin Hera zur Erde. Nur um zu sehen, wie die alten Griechen an so einem herrlichen Tag dort unten faulenzten. Das war ihre Lieblingsbeschäftigung.

Und dann, auf einmal, sah sie das Kind.

Ihr Blick erstarrte: Sie erkannte in seinen Gesichtszügen ihren Gatten Zeus.

Sie wusste es sofort: Das Baby da unten war kein gewöhnliches Kind. Das war ein Kind von Zeus. Er war ihr wieder untreu gewesen. Schwarzer Zorn erfüllte sie. Und weil für die Götter ein Menschenleben nur so viel bedeutete wie für uns das Leben einer Fliege, sagte sie sich: »Das Kind muss sterben!«

»Kommt her, meine lieben Schlangen«, rief sie, »kommt her!«

Sie hatte zwei Riesenschlangen als Dienerinnen.

Die Schlangen kamen eifrig angekrochen:

»Hier sind wir. Was dürfen wir für Euch tun, unsere Göttin und Gebieterin?«

»Hebt eure Köpfe und schaut zur Erde, in die Richtung, die ich euch zeige. Seht ihr den Garten des Königs Amphitrion?«

»Jawohl, wir sehen ihn. Ein wunderschöner Garten.«

»Seht ihr das nackte Baby in der Wiege?«

»Jawohl, wir sehen es. Ein wunderschönes Baby.«

»Ein hässliches Baby«, zischte Hera.

Die Schlangen zischten ihr sofort nach:

»Jawohl, ein hässliches Baby.«

»Es ist so hässlich, dass es nicht leben darf. Es ist eine Schande für die Welt.«

»Jawohl, es ist eine Schande für die Welt.«

 

»Eure Aufgabe ist es, diesen kleinen Schandfleck dort unten verschwinden zu lassen. Fresst ihn auf, dass nichts von ihm übrig bleibt. Ich bin sicher, er wird euch gut schmecken.«

»Wir beeilen uns, Göttin Hera. Wir werden Euren Auftrag wie immer schnellstens erfüllen.«

Die Schlangen krochen eilig vom Olymp zur Erde.

Sie schlichen in den königlichen Garten und kletterten in die Wiege.

»Jetzt schnappen wir uns das Kind. Ich wickele mich um seinen Hals«, zischte die Erste.

»Ich wickele mich um seine Beine«, zischte die Zweite.

»Wir zerquetschen es. Und dann werden wir es uns brüderlich teilen.«

Was die Schlangen nicht ahnten: Zeus hatte das Baby Herkules mit ungeheuren Kräften beschenkt. Von der Kälte der Schlangenkörper erwachte das Kind, packte mit seinen kleinen Händen die beiden Schlangen gleichzeitig am Hals und drückte zu.

»Hilfe! Er bricht mir das Genick!«

»Mir auch! Mir auch! Hera, hilf uns! Hilfe, Göttin Hera!«

Mehr konnten die Schlangen nicht sagen. Sie waren auf der Stelle tot.

Jetzt erwachte die Amme.

»Zwei Schlangen!«, rief sie erschrocken. »Wache, Hilfe, zwei Schlangen wollen das Baby verschlingen!«

Aus dem Palast eilte die Mutter, die schöne Alkmene, in den Garten. Wachen mit gezogenen Schwertern stürmten herbei.

Dann blieben sie alle vor der Wiege stehen. Keiner traute seinen Augen.

Das Baby lachte und hob die toten Schlangen hoch, eine in seiner linken Hand und eine in seiner rechten.

Jetzt wusste jeder: Ein Wunder war geschehen. Und allen war klar: Dieses Kind würde eines Tages die größten Heldentaten der Welt vollbringen – größere, als die Welt je zuvor gesehen hatte.

 

Herkules wuchs schneller als die anderen Kinder. Von Tag zu Tag wurde er kräftiger. Als er sechzehn Jahre alt war, überragte er alle Erwachsenen um einen Kopf, und seine Kräfte waren unermesslich groß. König Amphitrion war sehr stolz auf seinen Ziehsohn. Er holte für ihn die besten Lehrer seines Reiches und befahl ihnen, sehr streng zu Herkules zu sein.

»Er soll mehr lernen und mehr arbeiten als alle anderen!«, sagte der König.

Das hat sich auch gelohnt. Das Schulzeugnis des Herkules zum Beispiel sah so aus:

Bogenschießen

sehr gut

Note 1

Fechten

sehr gut

Note 1

Faustkampf

sehr gut

Note 1

Reiten

sehr gut

Note 1

Gesang und Musik

sehr gut

Note 1

Griechische Sprache

sehr gut

Note 1

Schrift

befriedigend

Note 3

»In Rechtschreibung ist er gut. Aber seine Schrift ist nicht sehr schön. Weil er viel zu schnell schreibt«, sagten seine Lehrer.

So musste Herkules jeden Tag Schönschreiben üben. Er hasste es, aber er tat es trotzdem fleißig.

Als er sechzehn war und einmal am Meeresufer saß, kamen ihm plötzlich zwei Frauen aus dem Wasser entgegen. Sie kamen aus dem Wasser, aber sie waren gar nicht nass.

Waren das zwei Nymphen? Oder zwei Göttinnen? Herkules traute sich nicht, zu fragen. Er schaute sie nur aufmerksam an: Die eine Frau war sehr schlicht gekleidet. Die andere war überall mit Gold behängt. Auch ihr Gesicht war grell geschminkt.

»Wir sind zu dir gekommen, Herkules, weil es Zeit ist für dich, deinen Lebensweg zu wählen. Eine von uns kannst du dein ganzes Leben lang als Ratgeberin haben. Welche von uns wirst du wählen?«

Als Erste trat die goldgeschmückte Frau hervor.

»Wähle mich, Herkules. Überlege nicht lange. Ich werde dir alle angenehmen Dinge des Lebens beibringen. Mit mir wirst du lernen, zu faulenzen, zu trinken und zu rauchen. Ich werde dir zeigen, wie man das Leben genießt, ohne etwas zu tun. Das Unglück anderer Menschen wird dich nicht bekümmern. Du wirst nur an dich denken und dabei glücklich sein. Ich zeige dir den leichtesten Weg durch das Leben. Du wirst so viel Gold haben wie ich, oder sogar noch mehr. Ich werde dir zeigen, wie man leicht Geld verdienen kann. Was sagst du jetzt? Wirst du mich wählen?«

»Um wählen zu können, muss ich die Zweite von euch beiden auch anhören«, sagte Herkules und wandte sich zu der zweiten, sehr schlicht angezogenen Frau.

»Wenn du mich wählst«, sagte sie, »wirst du lernen, dass man im Leben alles nur durch Schweiß und Mühe erreicht. Keinem wird etwas geschenkt, auch wenn er ein Göttersohn ist. Wer Freunde haben möchte, muss diesen Freunden helfen. Und er soll nicht auf Dankbarkeit warten. Wer eine gute Ernte haben will, muss auch säen und sich um seine Felder kümmern. Wer einen starken Körper haben will, muss ihn hart machen durch Schweiß und Übung. Wenn du mich wählst, Herkules, erwartet dich Mühe und Arbeit, aber am Ende auch das Glück. Du musst dich entscheiden. Ich bin die Tugend.«

»Ich wähle dich«, rief Herkules und gab der Tugend seine Hand. Beleidigt verschwand die goldbeladene Frau wieder im Meer.

Die Suche nach einer unerfüllbaren Aufgabe

 

 

Als Herkules achtzehn wurde, fühlte er eine starke Unruhe. Er wollte große Taten vollbringen, aber was für welche? Er wusste keinen Rat.

Er fragte seine Mutter, die schöne Alkmene:

»Ich will nicht weiter im Palast leben, ich muss in die Welt hinaus. Ich will etwas tun. Aber ich weiß nicht, was. Was rätst du mir?«

»Gehe nach Delphi, mein Sohn«, sagte Alkmene, »und frage das Orakel. Das Orakel wird dir sagen, was du zu tun hast.«

Herkules ritt sofort nach Delphi.

Er fragte, und das Orakel antwortete:

»Ich habe dich schon lange erwartet. Darum warst du auch so unruhig.«

»Was soll ich tun, Orakel? Wie sieht meine Zukunft aus?«

»Ich sehe deine Zukunft ganz klar, Herkules: Eines Tages kannst du ein großer Herrscher werden. Das hat dein Vater Zeus bestimmt. Aber vorher musst du zwölf Jahre lang deinem Vetter, dem König Eurystheus, dienen. Kennst du ihn?«

»Ich habe ihn nur ein Mal gesehen«, antwortete Herkules. »Man erzählt, er sei kein guter Herr.«

»Du musst ihm trotzdem dienen, Herkules. Das haben die Götter bestimmt. In diesen zwölf Jahren wird dir Eurystheus zwölf schwere Aufgaben stellen. Wenn du sie erfüllst, wirst du seinen Thron einnehmen. Und dann wirst auch du unsterblich werden.«

»Ich werde unsterblich?«

»Das wird deine Belohnung sein. Aber nur, wenn du die Aufgaben erfüllst. Geh jetzt! Und sage dem König, dass du ihm dienen willst. Mehr kann ich dir nicht sagen.«