Prolog

Hoch oben, im Norden, da, wo die Tage im Sommer endlos lang sind, wo die Häuser bunter sind als irgendwo sonst auf der Welt und wo große Seen nur darauf warten, dass jemand hineinhüpft – genau da sind die Wichtel zu Hause.

Wichtel leben im Verborgenen. Unter Baumwurzeln und in Tannenbaumspitzen, in Ställen und auf Wiesen oder gut versteckt in Wohnungen und Häusern. Es gibt viele verschiedene Wichtel, musst du wissen. Da sind zum Beispiel die Hof- und Stallwichtel – sehr altmodische, etwas knorrige Gesellen, die darauf achten, dass die Tiere gut versorgt sind.

Oder die Weihnachtswichtel, die dem Weihnachtsmann helfen, alle Kinderwünsche zu sammeln und die Geschenke zu verteilen. Einige Wichtel sind allerdings nicht so gut auf die Weihnachtswichtel zu sprechen. Sie haben nämlich den Verdacht, dass es die Weihnachtswichtel nicht so genau damit nehmen, nicht gesehen werden zu dürfen. Denn schließlich sind sie die einzigen Wichtel, die weltberühmt sind – und das ist doch etwas verdächtig.

Die Bewegung der Extremwichtel gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten – es sind sehr wagemutige Wichtel, die in Elch-Geweihe klettern und es lieben, ihre Nasen in den Wind zu halten. Die älteren Wichtel können darüber aber nur den Kopf schütteln. Und dann gibt es natürlich noch hoch spezialisierte Bäcker-, Schneider- und Elektrikerwichtel, es gibt Kraftfahrzeugwichtel und Schiffswichtel – und es gibt die, die von allem ein bisschen können. Das sind die Hauswichtel.

Ein Hauswichtel kann hämmern, basteln und bauen. Er kann Schlüssel wiederfinden, vergessene Kerzen löschen und kaputte Kabel flicken. Er kümmert sich darum, dass keine allzu großen Spinnen das Haus betreten, und hält Mücken, Motten und Mäuse fern.

Wenn du den Verdacht hast, dass vielleicht ein Wichtel bei euch leben könnte, dann wird das ziemlich sicher ein Hauswichtel sein.

Das lässt sich übrigens sehr leicht überprüfen:

Hast du jemals gedacht, du hättest etwas verloren – und hast es dann ganz plötzlich doch wiedergefunden? Sind deine Eltern manchmal unsicher, ob sie den Herd, die Kaffeemaschine oder das Bügeleisen auch wirklich ausgeschaltet haben? Kehren eilig zurück in die Wohnung – und alles ist tatsächlich in bester Ordnung? Ja? Also dann ist das ein klarer Fall. Dann lebt höchstwahrscheinlich ein Hauswichtel bei euch.

Vielleicht ist es ja so ein bemerkenswerter Wichtel wie Jeppe, von dem diese Geschichte handelt.

Kapitel 1: In der Wichtelschule

Viele sagten später, wenn sie die Geschichte über Jeppe hörten, dass er ja schon immer ein besonders auffallender Wichteljunge gewesen sei. Besonders groß oder besonders klein oder besonders blond. Aber das stimmt nicht.

Mit zwölf-Komma-zwei Zentimetern war Jeppe ein ganz normal großer Wichteljunge mit ganz normal blonden Haaren. Vielleicht waren sie etwas struppiger als gewöhnlich. Und ganz sicher waren sie immer ungekämmt.

Und dieser ungekämmte, zwölf-Komma-zwei Zentimeter große Jeppe hatte einen Wunsch. Er wollte unbedingt ein Hauswichtel werden! Schon solange er denken konnte.

Doch um ein Hauswichtel zu werden, muss man vorher die Wichtelprüfung bestehen – und das ist nicht ganz einfach. Jedenfalls nicht, wenn man so ein miserabler Schüler war wie Jeppe. Unser Jeppe ging nicht sehr gern zur Schule, das ist leider wahr. Ihm gefielen zwar die Kurse, in denen gehämmert und gebaut wurde, aber alles andere war ihm zutiefst zuwider. Die Nase in Bücher zu stecken, Texte auswendig zu lernen oder Matheaufgaben zu rechnen – all das fand Jeppe so sterbenslangweilig, dass er auf dem Schulweg immer extra lange herumtrödelte. Jede Minute außerhalb der Schule war eine gute Minute, fand Jeppe.

Denn selbst wenn er sich anstrengte: Er konnte dem Lehrer kaum einmal fünf Wimpernschläge lang zuhören. Immer schweiften seine Gedanken ab.

Und so war es auch kein Wunder, dass Jeppe der schlechteste Schüler der Klasse war.

Was ihn aber – unter uns gesagt – nicht wirklich kümmerte. Es gab so viele andere Sachen, die er gut konnte. Zum Beispiel Farne flechten oder Flöten schnitzen. Jeppe wusste, wie man Eichhörnchen zähmt, verlassene Spechthöhlen findet oder wie man in einer Hängematte Überschläge macht, ohne dabei hinauszuplumpsen.

Auch an diesem milden Spätsommermorgen, an dem unsere Geschichte beginnt, war Jeppe mit seinen Gedanken ganz woanders. Bei dem halb fertigen Schnitzmesser nämlich, das er unter dem Pult versteckt in seinen Händen hielt. Er hatte es selbst geschmiedet – aus einem Nagel, den er kürzlich auf dem Schulweg gefunden hatte. Nach vielen unterschiedlichen Experimenten war Jeppe auf die Idee gekommen, den Nagel über eine Flamme zu halten und flach zu klopfen. Wenn man anschließend eine Seite mit einem Kieselstein schliff, bis eine glatte Schneide entstand, besaß man im Handumdrehen ein hervorragendes Schnitzmesser in Wichtelgröße.

Jeppe legte vorsichtig seinen Finger auf die Spitze. »Au! Sehr gut«, wisperte er zufrieden. Sein Messer war wirklich scharf geworden!

»Wovon habe ich gerade gesprochen, Jeppe?«, fragte Isfandahür plötzlich. Der Lehrer des Hauswichtelkurses stand direkt vor ihm. Isfandahür war größer und schmaler als die meisten Wichtel, und wenn er es nicht hörte, nannten die Wichtelkinder ihn »Klappergestell«. Schnell ließ Jeppe das Messer in seinem Stiefelschaft verschwinden.

Isfandahürs Augenbrauen wanderten in die Höhe, und gleichzeitig rutschte die Brille auf seine lange Nasenspitze.

»Ähm, wahrscheinlich … also ich meine: ganz sicher sogar … ähm … von der Wichtelprüfung?«, riet Jeppe. Denn Isfandahür sprach in der letzten Zeit fast immer von der Wichtelprüfung.

Der Lehrer sah ihn überrascht an. »Vollkommen richtig, Jeppe. Von der Wichtelprüfung!«, sagte er. »Und wie genau sieht die Wichtelprüfung aus?«

Doch Jeppe hörte schon gar nicht mehr zu. Er tastete vorsichtig nach seinem Schnitzmesser. Heute Nachmittag wollte er sich um den Griff kümmern. Am schönsten wäre ein Holzgriff. Aber vielleicht würde er auch einen weichen Stein finden, den man bearbeiten konnte.

»Jeppe! Wie sieht die Wichtelprüfung aus?«, wiederholte Isfandahür.

Jeppe zog schnell die Hand zurück. »Wie? Oh. Ich weiß nicht«, stammelte er.

»Weißt du denn wenigstens, was ein Hauswichtel normalerweise so tut?«

»Er betreut sein eigenes Haus«, antwortete Jeppe schnell – denn damit kannte er sich aus. »Ein Hauswichtel verjagt Spinnen. Er baut Schlüsselbretter. Er schärft und schleift große Küchenmesser. Und er kann Kaffeemaschinen auseinandernehmen …«

Isfandahür schaute streng.

»… die er aber auch wieder zusammensetzt«, ergänzte Jeppe. Und in Gedanken fügte er hinzu: Und alles, alles würde er machen können, wann er wollte und wie er wollte. Das Leben als Hauswichtel wäre herrlich, davon war Jeppe überzeugt.

Isfandahür legte die Hände auf den Rücken und schlenderte auf und ab. »Merkt es euch gut. Sechs Wochen lang habt ihr bei der Wichtelprüfung Zeit, ein unwichteliges Haus wichtelig zu machen. Marzinia, was meinen wir damit, wenn ein Haus ›wichtelig‹ ist?«

Eines der Wichtelmädchen erhob sich: »Dass ein Mensch sich dort wohlfühlt, sobald er es betritt«, sagte es ein wenig leiernd, so, als habe es diesen Satz schon viele, viele Mal aufgesagt. »Unabhängig davon, ob es ein großes oder kleines, ein ordentliches oder unordentliches, ein neues oder altes Haus ist.«

Ein zweites Wichtelmädchen reckte den Arm und rief: »Ein wichteliges Haus ist ein Zuhause – und nicht nur ein Haus!«

Unter uns gesagt: Das ist tatsächlich so. Vielleicht hast du es auch schon einmal bemerkt: Es gibt Häuser, in denen man sich gleich rundum wohlfühlt. Und dann gibt es andere, in denen das nicht so ist – auch wenn die vielleicht größer oder schöner eingerichtet sind. Viele Menschen meinen, man könne den Grund dafür nicht genau benennen – sie glauben dann die wunderlichsten Dinge, denen sie komplizierte Namen geben wie »Atmosphäre« oder »Wasseraderverlauf«.

Aber das ist alles Quatsch!

Es ist nämlich ganz einfach der Unterschied zwischen einem wichteligen und einem nicht-wichteligen Haus.

Isfandahür nickte. »Ganz genau richtig! Und wo können wir das alles nachlesen?«

»In! Der! Wichtelverordnung!«, riefen die anderen Wichtelschüler im Chor, und Jeppe beeilte sich, noch schnell mitzusprechen.

Isfandahür wickelte sich nachdenklich seine Bartspitze um den Finger. »Sehr schön. Sehr richtig. Ich denke, ihr seid so weit. Morgen kann es losgehen. Sobald die Sonne aufgegangen ist, schnürt ihr eure Bündel zusammen. Die Wegbeschreibungen bringe ich jedem Einzelnen persönlich vorbei.« Isfandahür schaute Jeppe eindringlich an: »Für jeden Wichtelschüler wähle ich ein passendes Haus – so ist es gerecht.«

Die meisten Wichtelkinder jubelten. Nur Jeppe stöhnte leise. Während Isfandahür noch genauer ausführte, warum diese Regelung so gerecht sei, legte Jeppe den Kopf auf seine ausgestreckten Arme. Auweia. Wenn es nach Noten ginge, würde er kein besonders gutes Haus bekommen. Dann würde man ihm sicher das schlechteste von allen zuteilen.

Er sah sich in seiner Klasse um – die sommersprossige Marzinia war die beste Schülerin im Hauswichtelkurs, das war sonnenklar. Der dicke Alv war zwar nicht besonders schlau, aber fleißig. Und auch Henk und Helaria, die Zwillinge, waren bessere Schüler als Jeppe.

Missmutig packte er seine Sachen zusammen. Da klingelte es. Die anderen Wichtelkinder stürmten fröhlich an Jeppe vorbei. Doch Jeppe war nicht fröhlich.

Normalerweise hielt er auf dem Nachhauseweg immer die Augen offen. Schließlich gab es überall etwas zu sammeln, zu schnitzen oder auszugraben. Aber heute hatte er keinen Blick für die unentdeckten Schätze, die auf dem Weg liegen mochten. Er übersah sogar ein Holzstück, das einen perfekten Griff für sein Schnitzmesser abgegeben hätte.

Ja, Jeppe war wirklich sehr, sehr traurig an diesem milden Spätsommermorgen, an dem unsere Geschichte beginnt.

Ohne jeden Umweg und ohne jede Pause lief der Wichtel zu einer hoch gewachsenen Pappel.

Mit geübten Handgriffen kletterte er an der Rinde entlang den Baum hinauf, griff hier nach einer Rindenspalte, setzte dort den Fuß in eine Ritze. In der Baumkrone angelangt, schnappte er sich einen dünnen Zweig, umklammerte ihn – und sprang.

Mit einem großen Satz landete Jeppe punktgenau im Eingang seines Hauses – einer verlassenen Spechthöhle.

Den ganzen restlichen Tag dachte Jeppe darüber nach, was Isfandahür gesagt hatte. Was für ein Haus würde den schlechtesten Schüler des Kurses wohl erwarten? Eine alte Bauruine? Ein feuchter Schuppen? Eine gruselige Villa, in der es spukte?

Jeppe seufzte. Wie sollte er da die Prüfung bestehen? Und wenn er die nicht bestand – wie sollte er dann jemals ein Hauswichtel werden?

Unruhig begann er in seiner Spechthöhle umherzulaufen. Er nahm sein halb fertiges Schnitzmesser in die Hand – und legte es wieder beiseite. Er kramte ein Stück Stoff hervor, um sein Bündel zu schnüren. Strich es glatt. Und legte es wieder zusammen. Kochte sich einen Eichenblättertee.

Und vergaß, ihn zu trinken.

Schließlich legte sich Jeppe in das Bett, das er selbst gezimmert hatte, und zog sich die Decke über den Kopf. Dabei stieß er aus Versehen ein Buch herunter, das er sich am Morgen noch extra aufs Bett gelegt hatte: Es war mehr als tausend Seiten dick und sehr schwer. Die Seiten waren eng beschrieben und an der Kante mit Gold verziert. »Wichtelverordnung« stand in schimmernden Buchstaben darauf.

Doch Jeppe war viel zu traurig, um das Buch zu beachten. Und so vergaß er, dass er vor dem Schlafengehen eigentlich noch darin hatte lesen wollen. Denn um die Wichtelprüfung zu bestehen, musste er die Verordnung doch kennen!

Aber zu spät – Jeppe war bereits eingeschlafen.

Kapitel 2: Ein Haus für Jeppe

Am nächsten Morgen wurde Jeppe von einem lauten Klopfen geweckt. Isfandahür steckte seinen Kopf durch die Öffnung der Spechthöhle: »Jeppe, aufwachen! Heute ist der große Tag.« Der Lehrer kletterte umständlich herein. Er zog einen großen, dunkelblauen Briefumschlag aus seiner Tasche und legte ihn auf die Bettdecke. Jeppe blinzelte müde mit den Augen. Isfandahür fuhr fort: »Hier findest du die Wegbeschreibung zu dem Haus, das ich für dich ausgesucht habe. Es passt wirklich ganz hervorragend zu dir und deinen Fähigkeiten.« Er klopfte sacht auf Jeppes Decke. »So. Jetzt muss ich aber weiter!«

Jeppe gähnte und streckte sich. Müde packte er sein Bündel und steckte den Umschlag ein.

Und noch während er seine Sachen zusammensuchte, spürte er in den Zehenspitzen doch ein klitzekleines bisschen Vorfreude.