Fletcher Pratt

 

Der Blaue Stern

 

 

 

 

Roman

 

Apex Fantasy-Klassiker, Band 7

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER BLAUE STERN 

Prolog 

Erstes Kapitel: Netznegon - Märzregen 

Zweites Kapitel: Aprilnacht 

Drittes Kapitel: Flucht 

Viertes Kapitel: Tag - Zuflucht 

Fünftes Kapitel: Nacht - Großmut und Verrat 

Sechstes Kapitel: Nacht und Tag - Die Kammer der Masken 

Siebtes Kapitel: Sedad Vix - Ein neues Leben 

Achtes Kapitel: Hohe Politik 

Neuntes Kapitel: Frühlingsfest - Intrige des Grafen Cleudi 

Zehntes Kapitel: Vorspiel zum Gesindeball 

Elftes Kapitel: Kazmerga - Zwei gegen eine Welt 

Zwölftes Kapitel: Netznegon - Ein Zigranerfest 

Dreizehntes Kapitel: Abschied und Aufbruch 

Vierzehntes Kapitel: Die Ostsee - Des Kapitäns Erzählung 

Fünfzehntes Kapitel: Charalkis - Die Tür fällt zu 

Sechzehntes Kapitel: Die Ostsee - Systole 

Siebzehntes Kapitel: Charalkis - Tiefen und Höhen 

Achtzehntes Kapitel: Erneuter Anfang 

Neunzehntes Kapitel: Zwei Wahlen 

Zwanzigstes Kapitel: Unvermeidlichkeit 

Einundzwanzigstes Kapitel: Mittwinter - Die Rückkehr 

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Gesetz der Liebe 

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Netznegon - Ruhmvolle Heimkehr 

Vierundzwanzigstes Kapitel: Reden vor der Generalversammlung 

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Gespräch im Nationalen Gästehaus 

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Sondergericht 

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Winter - Klärungen 

Achtundzwanzigstes Kapitel: Erneuerte Glut 

Neunundzwanzigstes Kapitel: Nein und Ja 

Epilog 

 

Das Buch

 

 

Penfield erhob sich und trat ans Fenster, wo er verharrte und hinaus auf den mitternächtlichen Atlantik blickte, der seine Brandung gegen die steinerne Brustwehr der Küste rollte.

»Hexen«, sagte er. »Ich frage mich, ob es sie wirklich gibt.«

Hodge lachte. Aber in dieser Nacht hatten alle drei Männer einen Traum; und es schien, als verliefe eine Faser durch die alten Räume des uralten Hauses, denn jeder wusste, dass er träumte und dass er dasselbe träumte wie die anderen...

...von Ereignissen auf einer Parallelwelt, in der Hexerei keine dubiose Angelegenheit ist, sondern eine erprobte Kunst von alter Tradition. Die Mächtigen sichern sich die Kundigen der Schwarzen Kunst, um sie für ihre Zwecke zu benutzen - und wehe jeder Frau, die das Erbe des Blauen Sterns besitzt und die ihnen nicht zu Willen ist!

 

»Ein prächtiges Stück Prosa... das Musterbeispiel einer Spielart der reinen Fantasy, die heute so selten geworden ist, perfekt geschliffen wie ein Edelstein.«

- Damon Knight

 

Fletcher Pratt (1897- 1956), Journalist der New York Times, Historiker und Schriftsteller, gehörte zu den beliebtesten Fantasy-Autoren der vierziger und fünfziger Jahre. Neben Der Blaue Stern (1952) und Die Einhornquelle (1948) begründete vor allem die in Zusammenarbeit mit L. Sprague de Camp entstandene Harold-Shea-Trilogie seinen Ruhm und seinen Erfolg als Schriftsteller.

DER BLAUE STERN

 

 

  Prolog

 

 

 

Penfield drehte den Stiel seines Portweinglases zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Ich bin anderer Meinung«, sagte er. »Es ist nichts als egozentrische Eitelkeit, unsere Lebensform als einzig unter jenen Millionen von Welten zu betrachten, die es geben muss.«

»Woher weißt du«, fragte Hodge, »dass es sie geben muss?«

»Beobachtung«, sagte McCall. »Die Astronomen haben nachgewiesen, dass außer unserer Sonne auch andere Sterne Planeten besitzen.«

»Du spielst ihm in die Hände«, bemerkte Penfield, dessen dicke Brauen zuckten, als er eine Nuß knackte. »Das Herangehen von der statistischen Seite ist besser. Warum schäumt der Portwein in diesem Glas nicht plötzlich empor und spritzt an die Decke? So etwas hat man noch nie an einem Glas Portwein beobachtet, und doch sind die Moleküle, aus denen es sich zusammensetzt, in ständiger Bewegung, und jeder Physiker wird euch erklären, dass es keinen Grund gibt, warum sie sich nicht plötzlich alle in eine Richtung bewegen sollten. Nur besteht die überwältigend hohe Wahrscheinlichkeit, dass es nicht geschieht. Zu glauben, wir auf dieser Erde, einem Planeten eines unbedeutenden Sterns, seien die einzige intelligente Lebensform, ist das gleiche wie zu erwarten, dieser Portwein könne in jedem Moment überkochen.«

»Aber es gibt ohnehin recht viele Möglichkeiten für intelligentes Leben«, sagte McCall. »Ein Schwede, der in deutscher Sprache schrieb - ich glaube, er hieß Lundmark -, hat sich die Auswahl einmal angeschaut. Er sagt zum Beispiel, dass ein Chlor-Silikon-Kreislauf ebenso Leben gewährleisten könnte wie das Sauerstoff-Kohlenstoff-System dieses Planeten, und es gibt keinen besonderen Grund, aus dem die Natur das eine dem anderen vorziehen sollte. Sauerstoff ist ein sehr aktives Element, darum strömt es in solchen Mengen frei umher, wie es bei uns der Fall ist.«

»Schön«, sagte Hodge, »kann es also nicht sein, dass der Kreislauf, den du vorhin erwähnt hast, der normale ist und unserer ein außergewöhnlicher?«

»Überlege einmal«, sagte Penfield. »Was hättest du denn damit erreicht, um alles in der Welt? Lassen wir den Portwein und beginnen wir von neuem.« Er lehnte sich zurück und blickte hinauf zur Decke des Raums, wo an der dunklen Täfelung geschnitzte Wappenschilder matt glänzten. »Ich meine nicht, dass alles hiesige irgendwo im Universum ganz genau nochmals vorhanden ist und drei Männer namens Hodge, McCall und Penfield beisammen sitzen und nach einem bekömmlichen Essen wie Studenten Philosophie diskutieren. Die Tatsache, dass wir hier sind und es unter diesen Umständen sind, ist die Summe aller vergangenen Geschichte der...«

Hodge lachte. »Die Vorstellung, wir drei wären die Krone der menschlichen Entwicklung«, sagte er, »finde ich faszinierend.«

»Du bringst zwei verschiedenartige Dinge durcheinander. Ich habe nicht gesagt, dass wir erstklassige oder auch bloß angenehme Geschöpfe seien. Aber uns sind bestimmte Umstände vorausgegangen, von denen jeder so unwahrscheinlich ist wie das Emporschießen des Portweins. Zum Beispiel das Auftreten solcher Personen wie Beethoven oder George Washington oder des Menschen, der das Rad entdeckte. Sie sind unverzichtbare Bestandteile unserer Geschichte. Auf einer anderen Welt, die ungefähr so begonnen hat wie die unsere, denke man sie sich fort - und jene Welt wäre dadurch erheblich verändert.«

»Ich habe den Eindruck«, sagte McCall, »dass man, sobald man den Gedanken an Welten, die ungefähr den gleichen Ursprung haben - also in diesem Fall an einen Planeten, der die gleiche Größe und chemische Beschaffenheit wie die Erde besitzt und sich in ungefähr gleicher Entfernung von seiner Sonne befindet -, einmal anerkannt hat...«

»Den finde ich eben schwer anerkennbar«, sagte Hodge.

»Lass uns für einen Moment unseren Spaß«, sagte McCall. »Er führt uns zu etwas, das interessanter ist als das Gerede im Kreis.« Er ließ sein Feuerzeug aufschnappen. »Ich wollte sagen, dass man bei einem ungefähr gleichen Anfang zu einem ungefähr gleichen Ende gelangen muss, entgegen von Penfields Annahme. Dafür verfügen wir über Beweise hier auf der Erde. Ich meine die sogenannte Konvergenz der Evolution. Als die Reptilien herrschten, brachten sie sowohl Pflanzenfresser wie auch Fleischfresser hervor, wobei die letzteren sich von ersteren ernährten. Und unter den frühen Säugetieren waren solche, die so sehr Katzen und Wölfen ähnelten, dass eine Unterscheidung nur anhand der Skelette möglich ist. Warum sollte das nicht auch für die menschliche Evolution gelten?«

»Du meinst«, fragte Penfield, »dass Beethoven und George Washington zwangsläufig auftreten müssten?«

»Nun ja - das meine ich eigentlich nicht«, antwortete McCall. »Aber jedenfalls irgendein musikalisches Genie und irgendein wackerer Soldat und militärischer Führer... Es gäbe mancherlei Unterschiede.«

»Einen Moment«, sagte Hodge. »Wenn wir das Produkt der Menschheitsgeschichte sind, dann waren es auch Beethoven und Washington. Dann hätten wir eine Determiniertheit ohne jede wirkliche Alternative, seit die Sonne ihre Planeten hervorbrachte.«

»Das Prinzip des Freien Willens...«, begann McCall und seufzte.

»Das kenne ich auch«, sagte Penfield. »Falls man aber die Willensfreiheit völlig leugnet, kommt man zu einem Universum, in dem jede Welt haargenau so ist wie unsere - was so absurd ist wie Hodges Einfall von unserer Einzigartigkeit, nur viel abscheulicher.«

»Na schön«, sagte Hodge. »Was für eine Art von Kosmologie schlägst du vor? Wenn du dich mit keiner unserer Vorstellungen einverstanden erklären kannst, dann lass uns deine hören.«

Penfield trank einen Schluck vom Portwein. »Ich kann lediglich ein Beispiel nennen«, sagte er. »Nehmen wir einmal diese Welt - oder eine, die ihr sehr ähnelt - ohne einen dieser unwahrscheinlichen Fälle davonschießenden Portweins an; unterstellen wir, dass irgendwo in der langen Reihe einer dieser Fälle ausgeblieben ist. Eben habe ich vom Rad gesprochen. Wie wäre das Leben heute, hätte man es nicht entwickelt?«

»Da musst du McCall fragen«, empfahl Hodge. »Er ist der Techniker.«

»Nein, vom Rad kann ich das nicht glauben«, sagte McCall. »Vom Rad nicht. Es ist ein zu logisches Produkt der Umwelt. Es muss auftreten, sobald ein Urmensch erkennt, dass die Scheibe eines Baumstamms rollt. Nein, nein. Wenn du eine Voraussetzung festlegen willst, musst du eine wählen, die eindeutig ist, etwas nennen, das es wirklich vielleicht nicht gegeben haben könnte. Zum Beispiel Musik. Hier unter uns leben Menschen, die niemals das gesamte Farbspektrum kennengelernt haben, gar nicht zu reden von den klassischen Zivilstationen des Altertums. Aber ich vermute, solche Dinge sind euch nicht grundsätzlich genug.« Für ein paar Augenblicke tranken und rauchten die drei Männer in wortloser Verständigung der Freundschaft. Im Kamin brach ein Scheit nieder und versprühte Funken. »Wenn man's sich genau überlegt«, ergänzte McCall schließlich, »ist die Dampfmaschine eine ziemlich unwahrscheinliche Erfindung. Und die meisten modernen Maschinen und deren Produkte sind in dieser oder jener Weise ihre Abkömmlinge. Aber ich weiß etwas von hervorstechenderem und grundsätzlicherem Charakter als die Dampfmaschine. Nämlich das Schießpulver.«

»Ach, komm«, sagte Hodge, »das ist ein spezielles...«

»Nein, ist es nicht«, sagte Penfield. »Er hat völlig Recht. Das Schießpulver hat die Feudalgesellschaft zerstört und jene Atmosphäre geschaffen, die unsere Dampfmaschine erst ermöglichte. Und denkt daran, dass alle alten Zivilisationen, auch die im Osten, in regelmäßigen Abständen Rückschlägen durch Barbarenheerzüge unterworfen waren. Das Schießpulver versah die zivilisierte Menschheit mit einer Technik, die kein Barbar nachzuahmen vermochte, und somit half es ihr durch die kritischen Zeitabschnitte.«

»Alle metallverarbeitenden Techniken und ein Großteil der Chemie hängen grundlegend vom Gebrauch von Explosivstoffen ab«, sagte McCall. »Man stelle sich vor, wir müssten alle die Erze, die wir benötigen, mit den Händen ausgraben.«

»Also gut, ihr sollt euren Spaß haben«, sagte Hodge. »Malen wir uns diese Welt aus, wo man das Schießpulver nie erfunden hat. Wie möchtet ihr sie denn gerne haben?«

»Ich weiß es nicht«, sagte McCall. »Allerdings glaube ich, dass Penfield sich in einer Beziehung irrt. Was das Feudalsystem angeht, meine ich. Zuletzt stand es auf sehr unsicheren Füßen, und die Kanonen, welche die Burgen in Trümmer legten, beschleunigten nur den Zerfallsprozess. Ohne das Schießpulver träfe man noch mehr Reste des Feudalismus an, aber sein Niedergang wäre so oder so eine abgeschlossene Sache.«

»So, nun hört einmal her«, sagte Hodge. »Ihr überseht etwas ganz anderes. Wenn ihr das Schießpulver streicht und dazu alles, das sich aus seiner Erfindung ergeben hat, dann müsst ihr es durch etwas ersetzen. Immerhin sind ja viel Zeit und Aufmerksamkeit unserer sogenannten Zivilisation darauf verwendet worden, die Resultate der Erfindungen von Schießpulver und Dampfmaschine zu erarbeiten. Lässt man sie fortfallen, entsteht ein Vakuum, was der Natur, wie ich vernommen habe, jedoch missfällt. Es müsste auf einem anderen Gebiet eine korrespondierende Entwicklung geben, die unseren diesbezüglichen Entwicklungsstand übertrifft.«

Penfield trank Wein und nickte. »Das finde ich annehmbar. Eine Entwicklung auf irgendeiner Linie, die wir missachtet haben, weil wir uns zu stark mit der Mechanik befassen. Warum sollte sie nicht im ESP-Bereich oder in den Bereichen von Psychologie oder Psychiatrie liegen - bei den Wissenschaften vom menschlichen Geist?«

»Aber die Psychologen bewegen sich im Rahmen der normalen Prinzipien der physikalischen Wissenschaft«, sagte McCall. »Sie beobachten, überprüfen ihre Beobachtungen anhand einer Anzahl von Beispielen und versuchen dann Aussagen zu machen. Ich wüsste nicht, wie eine andere Rasse weitergekommen sein sollte, wenn sie diese Prinzipien nicht kennt oder übersehen hat.«

»Du bist kurzsichtig«, sagte Penfield. »Ich will nicht sagen, dass man auf einer anderen Welt die Psychologie in eine exakte Wissenschaft nach unseren Begriffen verwandelt haben könnte. Es handelt sich womöglich um eine ganz andere Angelegenheit. Unsere wissenschaftlichen Prinzipien basieren auf der Arithmetik. Der Grund, warum sie sich bei der Erforschung des menschlichen Geistes nicht sonderlich bewährt haben, mag schlichtweg darin zu suchen sein, dass sie dabei überhaupt nicht anwendbar sind. Es könnte sich um eine ganz andere Methode handeln. Denkt einmal einen Moment lang darüber nach. Es könnte sogar etwas auf dem Feld der Magie, der Hexerei sein.«

»Das gefällt mir«, sagte McCall. »Du möchtest einen Unterschied begründen, indem du etwas Reales durch etwas Irreales ersetzt.«

»Aber vielleicht ist es nichts Irreales«, beharrte Penfield. »Magie und Hexerei sind auf unserer Welt recht spät erschienen. Man hat zur gleichen Zeit und in den gleichen Begriffen davon zu reden begonnen wie über Alchimie, alles umwoben von Aberglauben, Betrügerei und schlichter Unwissenheit. In der Welt, die wir uns vorstellen, hat vielleicht jemand den Schlüssel zu etwas so Grundlegendem auf jenem Feld gefunden, wie das Schießpulver es für die physikalischen Wissenschaften war. Einige Leute sagen, wir hätten die Entdeckung beinahe hier gemacht. Ihr kennt die Geschichte um dieses Haus?«

McCall nickte. »Nein«, sagte dagegen Hodge. »Was für eine? Eine Gespenstergeschichte?«

»Nicht ganz. Der alte Teil des Hauses, der, wo sich jetzt die Schlafzimmer befinden, soll durch eine der Hexen von Salem errichtet worden sein. Keine von denen, die man auf der Grundlage falscher Anschuldigungen abgeurteilt hat, sondern einer waschechten Hexe, die verschwand, ehe Verdacht auf sie fiel - wie man es von einer richtigen Hexe wohl erwarten darf. Die Geschichte erzählt, dass sie sich hier niederließ und mit den Indianern Handel trieb, und weil diese im Zimmerhandwerk nicht sonderlich geschickt waren, half sie ihnen beim Bau mit Zaubersprüchen, so dass das Haus ewig stehen möge. Die alten Balken des Dachstocks weisen kein Stückchen Eisen auf. Sie werden ausschließlich von Pflöcken zusammengehalten und sind kein bisschen morsch. Man erzählt auch, dass sich, wenn man die richtigen Vorbereitungen trifft, in der Nacht etwas Ungewöhnliches zuträgt. Anscheinend habe ich jedoch noch nie das Richtige getan.«

»Das dürfte dir auch schwerfallen«, sagte Hodge. »Das Wesen der ganzen Hexerei ist ja eben Unzuverlässigkeit. Hast du noch nicht bemerkt, dass in all den Märchen und Sagen die Zaubersprüche gerade dann nicht recht wirken, wenn man sie am dringendsten benötigt?«

»Wahrscheinlich deshalb«, sagte McCall, »weil Hexerei keine Wissenschaft ist, die Resultate voraussehen kann.«

»Ein weiterer Grund könnte eine Rolle spielen«, sagte Penfield. »Ist euch schon aufgefallen, dass Zauberei die einzige Form menschlicher Tätigkeit ist, in der Frauen vorherrschen? Die wirklich schauderhaften Geschöpfe sind immer Hexen. Wird ein Mann zum Zauberer, ist er entweder vom Teufel besessen oder ein hochgejubelter Taschenspieler. Unsere theoretische Welt müsste zuerst einmal ein Matriarchat besitzen.«

»Oder wenigstens noch Relikte eines solchen aufweisen«, sagte Hodge. »Matriarchate sind sozial instabil.«

»Das ist alles«, sagte McCall. »Ständiger Fluss und ständige Veränderung von einer Form zur anderen sind Charakteristika des Lebens - oder vielleicht sogar seine Definition. Das gilt auch für deine Hexerei. Sie müsste ihre Erscheinung ändern, es dürfte Widerstand geben und Bemühungen, um sie durchzusetzen.«

»Oder um ihre Mängel zu beseitigen«, sagte Hodge. »Die Schwierigkeit mit jeder Gewalt, die wir nicht richtig kennen, liegt doch nicht darin, sie zu definieren, sondern besteht darin, ihre Grenzen zu ermitteln. Wäre Hexerei tatsächlich praktikabel, es gingen damit einige ziemlich schwere Benachteiligungen einher, nicht von gesetzlicher Seite, ich meine solche persönlicher Art, die aus ihrer bloßen Ausübung resultieren. Oder um es auf deine Weise auszudrücken, McCall, eine Hexe zu sein wäre ein so schwerwiegendes Auswahlkriterium, dass alsbald jede lebende Frau eine aktive Hexe wäre, käme es nicht zu den erwähnten Rückschlägen.«

Sorgsam schenkte McCall Portwein nach. »Hodge«, sagte er, »du bist ein wundervoller Kerl, und ich schätze dich. Aber das ist wieder ganz typisch für deine Art der Argumentation. Du versuchst eine schwache Stelle zu übergehen, indem du etwas hinzufügst, das jedermanns Aufmerksamkeit von der Angreifbarkeit deiner eigentlichen Behauptung ablenkt. Benachteiligung? Was ist der Nachteil für den Eigentümer eines elektrischen Kühlschranks?«

»Ein verzärtelter Verdauungsapparat«, erwiderte Hodge prompt. »Ich bezweifle, dass du den Verzehr der Speisen überleben würdest, die Königin Elizabeth über sehr lange Zeit hinweg genoß, denn sie wurde damit weit über sechzig Jahre alt. Gäbe es in der Welt ESP-Talente oder Telepathie, ein Widerstand dagegen und Schwierigkeiten für jene, die solche Fähigkeiten besitzen, träten zwangsläufig auf. Hast du noch nicht daran gedacht, dass nicht einmal eine Hexe ihr Leben lang in einem Kessel rühren könnte, dass sie vielleicht ein ganz normales Leben zu führen wünschte, eines mit Ehemann und Kindern und alldem?«

Penfield erhob sich und trat ans Fenster, wo er verharrte und hinaus auf den mitternächtlichen Atlantik blickte, der seine Brandung gegen die steinerne Brustwehr der Küste rollte. »Ich frage mich«, sagte er, »ob es sie wirklich gibt.«

Hodge lachte. Aber in der Nacht hatten alle drei Männer einen Traum; und es schien, als verliefe eine Faser durch die alten Räume, denn jeder wusste, dass er träumte und das gleiche träumte wie die anderen; und jeder von ihnen versuchte dann und wann, den anderen zuzurufen, vermochte jedoch nur zu sehen und zu hören.

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel: Netznegon - Märzregen

 

 

 

1.

 

 

 

Draußen fiel in gleichmäßigen Strömen Regen. Die Tränen und Wörter der älteren Frau fielen im Rhythmus der Tropfen: dripp-dipp, dripp-dipp. Kühle, denn das hohe Fenster am Ende des Raums ließ sich nie völlig schließen; Ober- und Unterseite fügten sich nie zugleich in den Rahmen. Lalette verspürte unter ihrer Soutane eine Gänsehaut und versuchte den Klang der Stimme zu verdrängen, indem sie an einen Mann mit einem grünen Hut dachte, der ihr eine Handvoll Goldscudi gab und nichts dafür verlangte, bloß weil es Frühling war und sie ihn mit einem Lächeln ein bisschen verzaubert hatte; aber es war noch nicht richtig Frühling, und die Stimme sprach hartnäckig auf sie ein.

»...mein ganzes Leben lang... habe ich gehofft... gehofft und für dich vorausgeplant... schon vor deiner Geburt... ja, vor deiner Geburt...meine leibliche Tochter...« Ja, dachte Lalette, ich weiß das alles, und es rührte mich mehr, hättest du nicht an jenem Abend, als du mit Domina Carabobo Wein trankst, ihr erzählt, dass ich das Ergebnis einer beiläufigen Vereinigung in einer Kutsche bin, stattgefunden zwischen Ruschaca und Zenss. »...und nachdem ich so schwer gearbeitet und sauer gespart habe... du versäumst die einzige Gelegenheit... die einzige Chance... ich weiß gar nicht, was ich tun soll... und Graf Cleudi dürfte wohl kaum...«

»Du hast ihm gesagt, das Angebot sei schrecklich. Ich habe es gehört.«

Schluchzen. »Das war es auch. Ach, das war's auch. Oh, Lalette, das ist nicht recht, du solltest in einer goldenen Kutsche mit sechs Pferden bespannt Vermählung feiern - aber was können wir tun? Ach, hätte dein Vater uns vor dem Krieg etwas hinterlassen... ich habe für ihn alles geopfert... aber das ist's, was wir alle müssen, Opfer bringen, wir können nichts wirklich besitzen, ohne etwas dafür fortzugeben... Lalette!«

»Madame?«

»Du wirst dich der Verbotenen Kunst bedienen können und alles bekommen, das du willst, du kennst die meisten Schemata bereits, er geht nicht oft zur Messe... und außerdem ist es etwas, das auf die eine oder andere Weise jeder Frau widerfährt, und mit Hilfe der Verbotenen Kunst, selbst wenn er dich nicht heiratet, kannst du durch ihn einen Gemahl erlangen, gegen den du nichts einzuwenden hast, es sind nur immer Männer wie Cleudi, die die ersten sein wollen, ein Mann, der heiraten möchte, bevorzugt in Wirklichkeit ein Mädchen mit einiger Erfahrung, das weiß ich... Lalette!« Lalette antwortete nicht. »Nach der Oper besuchen alle die jungen Herrschaften den Ball, Lalette. Graf

Cleudi wird dich einführen, und auch wenn du nicht...« - Er sollte nicht nur einen grünen Hut tragen, sondern auch Spitze aus dem Süden an den Handgelenken und am Hals, und ein Mann von lustigem Aussehen sein, der mit mayernischem Akzent sprach, so dick wie Sahne, und die Börse in der Hand halten, weil sie den Sitz der Kleidung verdürbe - als wäre er einer von jenen... so rücksichtsvoll...«

- Ich glaube, wir haben keinen Einfluss darauf, wie wir zu unseren Eltern kommen - »...dein Vater, wie ein Engel des Himmels, und ich hätte dich noch so vieles mehr lehren können, wenn er...« - Nun ist sie wieder hüfthoch in der Vergangenheit. Ich werde mir alles nochmals anhören müssen - »...wahrhaftig ist's eher ein Schritt empor als ein Sturz aus der Höhe, wofür wir es vorm ersten Male immer halten... Lalette!«

»Ja, Mutter?«

Jemand klopfte an die Tür. Lalettes Mutter betupfte sich hastig die Wangen und erhob sich schwerfällig aus dem Sessel. »Wir könnten den Stein verkaufen«, sagte sie mit abgewandtem Gesicht. Doch bevor das Mädchen antworten konnte, wiederholte sich das Pochen. Die Frau watschelte zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit; ein langes Kinn und eine lange Nase unter einem nassen Wendehut schoben sich herein. »Soeben habe ich zu meiner Tochter gesagt...«, begann Domina Leonalda.

Ein Paar dürrer Schultern drängten sie beiseite, dann stand der Mann, als habe er sie nicht gehört, mitten im Raum, rotzte und wischte sich die Nase am Ärmel. »Hört zu«, sagte er, »jetzt hat es ein Ende mit den Geschichten. Ich habe schon zu viel davon vernommen.«

Domina Leonalda widmete ihm einen betrübten Blick und eilte zurück an ihren Platz. »Aber ich versichere Euch, Sire Ruald...«

»Es ist aus mit den Geschichten«, sagte er erneut. »Ich muss Rechnungen begleichen und Steuern entrichten.« Sie legte die Hände vors Gesicht. Ihre einzige Zuflucht, dachte Lalette. Ich hoffe, ich werde nicht auch so. »Ich will alles andere als hartherzig sein, oh, nein«, sagte Ruald, »ich weiß, dass Ihr im Augenblick kein Geld habt. Ich möchte Euch meine Gutwilligkeit zeigen. Falls Ihr mir einen kleinen Gefallen erweist, nun denn, ich wäre nicht abgeneigt, Euch den Rückstand für alle vier Monate zu erlassen.«

Domina Leonalda ließ die Hände sinken. »Was für einen Gefallen?«, fragte sie. In ihrer Stimme schwang ein leiser Anklang von Furcht.

Ruald rotzte nochmals, wagte einen Blick auf Lalette zu werfen, richtete einen zweiten zur Tür und trat näher. »Ich habe erfahren, dass Ihr zu einer Familie des Blauen Sterns zählt.«

»Wer hat Euch das gesagt?«

»Das ist gleichgültig. Ist es wahr?«

Die Lippen der Domina zuckten. »Und wäre es wahr?«

»Nun, Domina, so wäre es keine Gefahr für Eure Seele, mir mit einem kleinen Zauberspruch...«

»Nein, nein, das wäre unmöglich. Ihr habt kein Recht, so etwas zu verlangen.«

Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. »Aber ich habe das Recht, von Euch mein Geld zu fordern.«

»Nein, nein, ich sage es Euch doch.« Ihre Hände fuchtelten. »Domina Sauglitz hat man mit fünf Jahren und Auspeitschung bestraft.«

»Hierfür wird niemand bestraft. Es bleibt gänzlich eine Sache zwischen Euch und mir. Ist Eure Kunstfertigkeit nicht groß genug, um jeden Verdacht der Hexerei von Euch zu weisen? Seht, ich will noch großzügiger sein. Ich erlasse Euch nicht nur die vier rückständigen Mieten, sondern schenke sie Euch auch für die nächsten vier Monate.«

»Mutter...«, sagte Lalette aus der Ecke.

Domina Leonalda drehte den Kopf. »Das hier geht dich nichts an«, sagte sie. Dann wandte sie sich wieder an Ruald. »Aber woher weiß ich, ob Ihr mich nicht, sobald ich Euch den gewünschten Gefallen erwiesen habe, beim Episkopat denunziert?«

»Nun, was das betrifft, vermögt Ihr Euch nicht vorzustellen, dass ich Eure Hilfe ein weiteres Mal benötigen könnte?« Sie hob eine Hand wie zur Abwehr. »Kommt, kommt«, sagte er, »bloß nicht noch mehr Geschichten. Ich werde...«

Von der Tür ertönte ein neuerliches Pochen. Ruald schaute verärgert drein, während Domina Leonalda mit abermaligem Rauschen ihrer Röcke den Raum durchquerte. »Tretet ein, Ohm Bontembi.« Ihre Stimme klang nahezu heiter.

Vom Mantel des Ohms troffen glitzernde Regentropfen. »Ach, unsere charmante Domina Leonalda.« Sein dicker Bauch behinderte seine Verbeugung. »Ich entbiete Euch den Abendgruß, Sire Ruald. Fürwahr, dies ist eine rechtschaffene Abendversammlung.«

»Ich wollte gerade gehen«, sagte Ruald und zupfte an seinem Rock. »Nun denn, Domina Leonalda, erwägt wohl, was ich Euch gesagt habe. Ich bin davon überzeugt, dass wir zu einer Übereinkunft gelangen.«

Sie stand nicht auf, während er den Raum verließ. Als sich die Tür geschlossen hatte, wandte sie sich an Ohm Bontembi. »Es ist ein so großes Problem, lieber Ohm«, sagte sie. »Natürlich hat das Kind in gewisser Hinsicht vollständig recht, und es wäre alles anders, hätte der Vater wenigstens irgendetwas hinterlassen, aber mit einem Mann wie Cleudi...«

»Der Graf ist ein prachtvoller Gentleman«, sagte der Priester. »Ich habe ihn schon fünfzig Goldscudi auf einen Schlag verlieren sehen, aber noch nie seine Fassung. Und er genießt die Gunst allerhöchster Kreise. Ein Problem im Zusammenhang mit ihm? Sollte er gar sein Auge auf unsere kleine Lalette geworfen haben? Das würde ich allerdings einen Anlass zur Freude heißen, und ich riete zur Einwilligung.«

»Ach, es geht darum, Ohm, verhielten Männer sich nur zu Frauen so ehrenhaft, wie sie's untereinander tun! Er hat sein Auge in der Tat auf dies liebe Kind geworfen, aber er ersucht nicht um dessen Hand, sondern er will alle unsere Schulden bezahlen und Lalette außerdem einhundert Goldscudi geben, wenn sie lediglich mit ihm in die Oper und danach auf den Ball des Frühlingsfestes geht.«

Ohm Bontembi knetete sein Doppelkinn, und das Lächeln floh sein Gesicht. »Hm-hm... angesichts der Tatsachen ist das freilich ein Anerbieten, das... Ihr habt doch wohl nicht die Verbotene Kunst bemüht, Domina Leonalda?«

»Oh, nein, nie und nimmer! und wie käme mein liebes kleines Mädchen dazu?«

Der Priester richtete einen verschmitzten Blick auf das Mädchen. »Ja, ja, sie muss alsbald ihre erste Beichte ablegen. Nun gut, wir wollen diese Sache gemeinsam erwägen. Ich möchte behaupten, dass Graf Cleudi auch in anderen als politischen Kreisen viel gilt. Im Palais Bregatz fanden kürzlich theologische Streitgespräche statt, und der Bischof war der Meinung, er habe nie zuvor vernünftigere und besser formulierte Doktrinen vernommen als von Cleudi. Weshalb er von den Gesetzen Gottes und rechter Sittlichkeit nicht weit sein kann, nicht wahr? Und daher kann seine Absicht eine größere Wohltat sein als sie zunächst zu sein scheint.«

»Solche Wohltaten möchte ich nicht«, sagte Lalette und dachte dabei: Dann könnte ich die Verbotene Kunst anwenden!

»Oho! Unsere junge Nichte widerspricht - das ist nicht ziemliche Demut! Kommt, Demoiselle Lalette, lasst es uns so sehen: Wir vermögen dem Guten nur dann wirklich zu dienen und die ewigen Gewalten des Bösen zu bezwingen, wenn wir anderen Glück schenken, denn trachten wir nur nach dem eigenen Glück, werden die anderen es ebenso halten, so dass zuletzt alle unglücklich sind und das Böse seinen Siegeszug antreten kann.« Er bekreuzigte sich. »Anderen Freude zu bereiten ist der wahre Dienst am Glauben und an der Moral, ganz gleich, was der Augenschein uns einreden will. Und in diesem Fall wären sogar drei Menschen glücklich gemacht. Ja, ja, nach den Lehren der Kirche ist er etwas heikel, aber in meinem Herzen vermag ich keine Missbilligung aufzubringen. Eine Verletzung moralischer Gesetzlichkeit ist der Sache nach gegeben, und ich fürchte, die Kirche muss Euch eine gewisse Geldstrafe auferlegen, doch ich werde dafür sorgen, dass sie möglichst gering ausfällt. Gerade so hoch, dass sie daran erinnert, gute Taten zum moralischen Gewinnst zu vollbringen und nicht für weltlichen Nutzen.« - »Ich liebe ihn nicht«, sagte Lalette.

»Umso selbstloser, um so uneigennütziger die Tat.« Der Priester wandte sich an Domina Leonalda. »Habt Ihr unserer Nichte zu erläutern versäumt, dass die wahre Liebe, die zum Höheren Ruhme Gottes das Böse niederringt, erst aus und nach der Vereinigung ersteht? Nun, wenn sie aber solche Reden führt, werde ich ihr wegen ihrer Neigung zu den Irrlehren des Propheten eine Abgabe an die Kirche auferlegen müssen.«

»Ach, ich hab's ihr gesagt, ich hab's ihr gesagt!« Die Stimme ihrer

Mutter begann sich mit der Ankündigung eines neuen Tränenregens zu bewölken. »Aber sie ist so romantisch und empfindsam, meine kleine Tochter, so wie die Gedichte Terquids. Als ich noch ein Mädchen war...«

Lalette setzte eine gefasste, gleichmütige Miene auf (während sie an den Opernball dachte und wie es dort zugehen möge), aber auch das bewirkte nichts; die beiden Stimmen quälten sie, bis sie hinter den Vorhang und ins Bett in der Ecke ging; zuerst war es unter der Decke noch kälter, so dass sie sich zusammenkauerte. Würde ich richtig heiraten, dachte sie, gehörte der Blaue Stern mir und meinem Gemahl, und...

 

 

 

2.

 

 

»Aber ist es auch ein echter Blauer Stern?«, fragte Pyax. Er richtete seine Frage an Dr. Remigorius, der es, falls es überhaupt jemand wissen konnte, wissen sollte.

»Oh, weh, das kann ich nicht sagen. Immerhin sind wir schon betrogen worden. Es steht fest, dass die Alte wahrhaftige Hexereien vollbracht hat. In Veierelden hat das Zentrum in der dortigen Kirche das Protokoll eines diesbezüglichen Schuldspruchs über sie entdeckt. Die einzige Gewissheit bietet die Probe, und die ist dergestalt, dass nur hier unser Freund Rodvard sie vornehmen kann. Falls er echt ist, haben wir das Spiel gewonnen.«

Pyax' Unterlippe sank zwischen seinen Pickeln schlaff herab, und Mme. Kajas verwüstetes Antlitz wechselte seinen Ausdruck. »Es wäre wun-dervoll, ihn zu bekommen«, sagte sie, indem sie die Silbe dehnte, und Rodvard spürte unter seiner Haut den warmen Blutstrom, als alle ihn ansahen.

»Aber ich bezweifle, dass ihre Mutter einer Heirat zustimmt«, sagte er. »Was soll ich tun?«

»Tun?« wiederholte der Doktor. »Tun?« Die kleinen weißen Ecken an seinen Mundwinkeln stachen scharf aus dem schwarzen Fantasieschnitt seines Barts hervor. »Müssen wir nun die Hennen das Eierlegen lehren oder die Ratten das Aussaugen der Eier? Ihr sollt tun, was für einen forschen Burschen mit einem willigen Mädchen in den Armen zu tun ganz natürlich ist, und dann wird der Blaue Stern unser sein. Soll Mme. Kaja Euch Unterricht erteilen?«

Das Erröten erwärmte Rodvard. »Ich...«, sagte er, »ich... werde... Euch...«

Im Hintergrund öffnete Mathurin seine dünnen, festen Lippen. »Unser Freund ist noch im Pflichtgefühl gegenüber der Kirche verhaftet. Wohlan, Rodvard Ja-und... Nein, welche Moral zieht Ihr vor? Ist es die der Priester, dann ist für Euch kein Platz bei uns. Ihr seid in unseren Reihen als Soldat, um alle niederzuwerfen, die für die Pfaffenmoral einstehen.«

»Oooh, wie sehr Ihr an ihm Unrecht begeht, Freund Mathurin«, sagte Mme. Kaja. »Ich verstehe ihn. Der Mensch hat ein Herz im Leibe...« Sie legte eine Hand auf ihre verwelkte rechte Brust. »Aber wie meine alte Freundin, die Baronin Blenau, zu sagen pflegte, Herz bringt stets Schmerz. Ach, Freund Rodvard, glaubt mir, wenn jemand den inneren Frieden anstrebt, so muss er für die Sprache des Herzens taub sein und unter Missachtung all dessen, das im Moment Kummer bereitet, den Sinn des Ganzen suchen.« Sie tätschelte nochmals ihre Brust und wandte sich an die übrigen Anwesenden. »Ich weiß es - er liebt eine andere.«

»Als ich gestern Abend mit Cleudi zum Abendgottesdienst des Hofes ging«, sagte Mathurin plötzlich ohne jede Veranlassung, »war der alte Schweinehund wieder stockbesoffen. Während des königlichen Gebets sank er zu Boden, so dass man ihm helfen musste, damit er...«

»Was wollt Ihr hier noch Kurzweil betreiben, Mathurin?« unterbrach Dr. Remigorius. »Dies Zentrum hat nur über eine Frage zu entscheiden - das Geheiß des Obersten Zentrums, dass hier unser Freund Rodvard es unternehme, Lalette Asterhax den Blauen Stern abzugewinnen. Können wir melden, dass die Aufgabe angegangen wird?«

»Falls er es nicht anpacken möchte«, sagte Pyax und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, »kann ich die Beschaffung durch Heirat und gesetzmäßige Pacht offerieren. Mein Vater wäre dazu bereit, eine Mitgift...«

Rodvard brach zugleich mit den anderen beim Gedanken daran in Gelächter aus, es könne in der Welt genug Geld geben, um für einen der Zigranerbälger des alten Paix ein dossolanisches Ehebett zu erkaufen. Doch das Lachen endete für den jungen Mann in Bitterkeit, als er daran dachte, dass er, weil es keinen anderen Weg gab, seine Ideale der Ehrenhaftigkeit und wahren Liebe aufgeben sollte. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sein müsste, das Leben mit jemandem zu teilen, der nicht liebte, den man aber um der Ehre willen hatte heiraten müssen, und für einen Moment schienen ringsum die vom Kerzenschein erhellten angespannten Gesichter zurückzuweichen; flüchtig empfand er einen seltsamen, gleichermaßen süßen wie schmerzlichen Schauder, ehe das Bild vor seinem geistigen Auge dem seines Vaters und seiner Mutter wich, die um Geld zankten, und seine Mutter begann zu schreien und schrie, bis sein Vater mit verzerrtem Gesicht den Rohrstock vom Kamin holte... Ach, wenn jemand Liebe schwört, sollte es für immer sein, für ewig, fürs Leben und über den Tod hinaus...

»...noch an seine Stelle treten«, sagte Dr. Remigorius, »aber dabei handelt es sich um eine Sache, womit sich das Oberste Zentrum befassen müsste. Nein, wir haben nur eine Angelegenheit zu klären, und zwar jetzt. Rodvard Bergelin, wir appellieren an Euch bei Eurem Schwur, den Ihr den Söhnen der Neuen Zeit geleistet habt, an Euer Verlangen, die üble Herrschaft des Lachenden Kanzlers und der alten Königin abschütteln - vollbringt Euren Teil!«

Pyax lächelte gehässig. »Erinnert Ihr Euch an Peribert? Wir verstehen mit jenen umzuspringen, die von unserer Sache abfallen.«

»Es ist unklug, jenen Härte zu zeigen, von denen wir Unterstützung erheischen«, sagte Mme. Kaja.

»Schweigt«, gebot Remigorius. »Euer Wort, junger Mann!«

Noch ein letztes Bemühen. »Ist es von so entscheidender Bedeutung«, fragte er, »dass wir dieses Juwel bekommen?«

»Ja«, antwortete Remigorius; sonst sagte er nichts.

»Dies ist der einzige echte Blaue Stern, wie alle unsere Ermittlungen erweisen«, erläuterte dagegen Mathurin. »Und dennoch ist ein Irrtum nicht ausgeschlossen. Aber falls Ihr Euch der Mühewaltung nicht unterziehen wollt, deren es bedarf, um ihn zu erringen, so gibt es eine andere Möglichkeit. Ihr seid Sekretär im Stammbaum-Bureau - macht einen anderen Blauen Stern ausfindig, den wir in unseren Besitz bringen können, und Euer Auftrag ist vergessen. Aber einen Blauen Stern brauchen wir auf jeden Fall, da sich am Hof alles auf eine Krise hin entwickelt und wir die schwächere Partei sind.«

Rodvard sah Pyax den Griff des Dolches berühren und erneut mit der Zunge die Lippen befeuchten, blitzschnell wie eine Eidechse. Unterlegen. Hatte er in jenen langen Diskussionen bis zum Morgengrauen nicht selber stets den Standpunkt vertreten, dass unter freien Menschen die Mehrheit der Stimmen entscheiden müsse? Ihm war zumute, als habe er sich einer Gemeinheit zu verschwören. »Ich werde tun«, sagte er, »was Ihr mir auftragt.«

Dr. Remigorius' Gesicht spaltete sich zu einem rot-schwarzen Lächeln. »Pah! Ihr werdet eine Hexe aus ihr machen, junger Mann, und es wird ihr beileibe nicht schlecht bekommen.«

Als er sich zum Gehen anschickte, trat Mme. Kaja zu ihm und ergriff seine Hände. »Das Herz«, sagte sie, »wird sich später melden.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel: Aprilnacht

 

 

 

1.

 

 

Lalette blickte durch Aste zum Himmel empor, der sich mit purpurnem Rot überzog, dann hinunter vom kleinen Hügel und hinaus über die weiten, flachen, fruchtbaren Felder, die sich bis zum Ostmeer erstreckten, wo die Nacht aufstieg.

»Ich muss gehen«, sagte sie. »Meine Mutter wird inzwischen von der Messe zurück sein.« Ihre Stimme klang matt.

»Noch nicht«, sagte Rodvard und hob den Kopf von seinen um die Knie geschlungenen Armen. »Ihr habt gesagt, sie wolle noch ein

Gespräch mit dem fetten Priester führen... In diesem Licht sind Eure Augen grün.«

»Das ist, wie meine Mutter sagt, ein Zeichen der Launenhaftigkeit. Einmal schaute sie für mich ins Wasser und sagte, als Ehefrau gäbe ich eine fürchterliche Schreckschraube ab.« (Sie war fast zu faul, um sich zu regen, daher froh darum, eine kärgliche Konversation führen zu können, die es ihr gestattete, reglos in der sinkenden Dämmerung zu verharren.)

»Dann müsste es Euch beschieden sein, einen bösartigen Mann zu heiraten. Ich begreife das nicht - wenn man jemanden wahrhaft liebt, wie könnte man da zänkisch sein?«

»Oh, die Mädchen unserer Erbfolge dürfen nicht aus Liebe heiraten. Das ist die Tradition der Hexenfamilien.« Plötzlich setzte sie sich auf. »Nun muss ich aber wirklich gehen.«

Er legte seine Hand auf ihre Hand, die unter den Zedern im dicken grünen Moos ruhte. »Und ich werde Euch wirklich nicht gehen lassen. Ich Werde Euch in den gröbsten Banden zurückhalten, bis Ihr mir mehr über Eure Familie erzählt. Besitzt Ihr tatsächlich einen Blauen Stern?«

»Meine Mutter... ich weiß es nicht. Mein Vater wollte ihn nie benutzen, deshalb sind wir nun so ärmlich. Meiner Mutter Vater jedoch hat ihn verwendet, sagt sie, ehe sie ihn von ihm erhielt. Er war es, der ihr den Rat gab, meinen Vater zu wählen. Er war Kapellan im Heer, müsst Ihr wissen, und fiel im Krieg während der Belagerung von Sedad Mir. Meiner Mutter Vater ersah durch den Blauen Stern, dass mein Vater meine Mutter um ihrer selbst willen begehrte und nicht wegen des Erbes. Daher durften sie eine echte Liebesbeziehung eingehen. Aber nun ist niemand da, der den Blauen Stern gebrauchen kann.« Ich sollte wirklich nicht derartige Geschichten erzählen, die nicht wahr sind, dachte Lalette. Es fährt mir so heraus, weil ich nicht zurückgehen und sie wieder über Graf Cleudi reden hören möchte.

»Könntet Ihr ihn nicht verkaufen?«

»Wer würde ihn kaufen? Es wäre ein Eingeständnis, Hexerei betreiben zu wollen, und dann kämen die Priester und verhängten einen Kirchenspruch. Es ist eine seltsame Sache und eine Last, die Hexerei im Blut zu haben.« Sie schauderte leicht zusammen, fasziniert und zugleich bedrückt, wie immer, wenn es darum ging. »Ich möchte niemals eine Hexe sein...«

»Nun, ich würde sagen...«, begann Rodvard, und dachte insgeheim, dass dies der Grund war, weshalb sie, trotz ihrer Schönheit, mehr als ein wenig reserviert wirkte.

»...und von den Menschen gehasst werden. Und die, die mich mögen wollten, wüssten nicht, ob sie's wirklich tun oder nur infolge einer Hexerei. Der einzige wahre Freund, den meine Mutter besitzt, ist Ohm Bontembi, und das auch nur, weil er Priester ist, und ich glaube sogar, dass er auch kein wahrer Freund ist, sondern nur über sie wacht, um für die Kirche, falls meine Mutter eine Hexerei begeht, ein Bußgeld einziehen zu können.« Rodvard spürte, wie sich ihre kleine Hand unter der seinen zur Faust ballte. »Ich werde niemals heiraten und Jungfrau bleiben, dann brauche ich auch keine Hexe zu sein!«

»Was geschähe dann mit dem Blauen Stern? Ihr habt keine Schwester, oder?«

»Nur einen Bruder, und der fuhr fort übers Meer nach Mancherei, als der Prophet dort zu predigen anfing. Jemand berichtete uns, er sei später, als der Prophet weiterzog, bis hinaus über die Grünen Inseln gereist. Wir hören nun nicht länger von ihm... Aber er könnte sich des Blauen Sterns ohnehin nicht bedienen, außer er wäre mit einem Mädchen aus einer der anderen Familien verbunden, das für ihn den Stein behexte.«

Über ihnen verdunkelte sich der Himmel, an dem im Osten ein schwacher Stern funkelte, und in derselben Richtung erhob sich aus dem Schornstein einer Hütte eine hochauf gewundene träge Rauchsäule, und Rodvard dachte verzweifelt an das liebreizende Mädchen mit den hellen Haaren, das so oft in seine Sekretärsstube im Stammbaum-Bureau gekommen war, um nach Aufzeichnungen über Hexenfamilien zu forschen, doch es war seiner Spange zufolge die Tochter eines Barons, und selbst wenn er von diesem Mädchen hier den Blauen Stern erlangte und ihn verwendete, um das Mädchen mit den hellen Haaren zu gewinnen, Lalette wäre ja dann eine Hexe und würde ihn mit einem Bann belegen... Oh, welch undurchdringliches Gewirr! Die Hand in der seinen rührte sich.

»Ich muss gehen«, sagte Lalette erneut. Irgendwie ähnelt er Cleudi, dachte sie, aber er sieht weniger hart aus, nicht so alt, und ein bisschen romantisch, und er besaß genug Sinn für Naturschönheit, um das wundervolle, kaum merkliche Aufblitzen von Grün im weiten Blau wahrzunehmen, das beim Sonnenuntergang entstand.

»Oh, nein! Ihr werdet nicht gehen, noch nicht! Dies ist ein zauberhafter Abend, und wir wollen ihn auskosten, bis es völlig finster ist.«

Im Erlöschen des Lichts milderte sich ihre Miene ein wenig, aber sie versuchte, ihre Hand zurückzuziehen, um sie aus der seinen zu befreien. »Wirklich...«

Er hielt sie fester, spürte Herzklopfen und Pochen der Adern während der kurzen Auseinandersetzung. »Was, wenn ich Euch nicht fortlasse, bis zur Laternenstunde die Tore geschlossen werden?«

»Dann wird Ohm Bontembi von mir erwarten, dass ich eine Beichte ablege, und weigere ich mich, erlegt er mir ein Bußgeld auf, und das wäre schlimm für meine Mutter, weil wir so arm sind.«

»Aber wenn ich Euch zurückbehielte, dann wäre es, um mit Euch zu fliehen - ach, mit Euch bis weit hinter die Lichten Berge zu fliehen und für immer bei Euch zu bleiben!«

Ihre Hand hielt nun wieder still, und sie beugte sich leicht zu ihm, als wolle sie sich des Ausdrucks in seinem Gesicht vergewissern. »Ist das Euer Ernst, Rodvard Bergelin?«

Er hielt den Atem an. »Warum... warum sollte ich sonst so sprechen?«

»Es ist nicht Euer Ernst. Lasst mich los, bitte, lasst mich los, oder ich muss Gewalt anwenden.« Sie wandte sich halb ab und versuchte aufzustehen, während sie sich bemühte, mit der anderen Hand seine Finger zu lösen.

»Wollt Ihr mich verhexen, Hexe?«, rief er, indem er sich gegen ihre Anstrengungen stemmte, und verlagerte seinen Griff aufwärts um ihr Handgelenk.

»Nein...« Sie packte ihre festgehaltene Hand mit ihrer anderen am Daumen. »Ich breche mir den Finger«, rief sie zornig, »das schwöre ich Euch, wenn Ihr mich nicht freigebt!«

»Nicht doch...« Er riss ihre beiden Hände auseinander. Geschmeidig wie eine Schlange entwand sie ihm erst die eine, dann die andere Hand, doch musste sie dazu so heftige Mühe walten lassen, dass sie darüber das Gleichgewicht verlor und rücklings hinfiel. Er warf sich auf sie, um sie niederzupressen, drückte seine Hände auf ihre Ellbogen, senkte seinen Brustkorb auf ihren Busen und küsste ihren halb geöffneten Mund, bis sie den Widerstand aufgab.

Sie drehte ihr Gesicht zur Seite. »Lasst mich frei«, flüsterte sie. »Es ist nicht recht, es ist nicht recht.«

»Ich lasse Euch nicht.« Er nahm eine Hand von ihrem Arm und betastete ihren Körper an der Stelle, wo er auf atemberaubende Weise ihre Brust spürte und ihr Spitzenzeug begann. Die camera obscura seines Gewissens erhellte flüchtig den Gedanken, dass er sie nicht liebte und eines Tages würde dafür büßen müssen.

»Lasst mich gehen!«, flehte sie nochmals mit erstickter Stimme. Sie wand sich und schlug ihn mit ihrer freien Hand an die Schläfe. In diesem Moment gab ihr Spitzenzeug nach, ihre Hand umschlang seinen Nacken statt zu einem erneuten Hieb auszuholen, sie zog sein Gesicht zu einem langen, geschluchzten Kuss herunter. »So sei es, ach, so sei es denn, nur zu!« Ein Murmeln, leiser als ein Flüstern. Ein schwacher Triumph durchzuckte ihr Bewusstsein, als er in sie eingedrungen war; ein Problem war hiermit gelöst: Cleudi würde sie nicht länger wollen.

Danach kniete er vor ihr, erschöpft und außer Atem, und küsste den Saum ihres hochgeschobenen Kleides. In der Mitte waren ihre Lippen zusammengepresst, die Winkel jedoch leicht gehoben. Sie lag noch ganz so da, wie sie sich ihm hingegeben hatte. »Jetzt verstehe ich«, sagte sie; er aber verstand nicht, und während des ganzen Heimwegs zehrte die allerschrecklichste kalte Furcht an ihm, sie könne sich mit einer Hexerei an ihm rächen, die ihn zum Schwachsinnigen machte oder mit einer grässlichen Krankheit schlug. Und die andere, die andere; nicht einmal zu denken wagte er ihren Namen, und tief in seinem Innern war ein Weinen.

 

 

 

2.

 

 

Alle drei warteten, dazu jener Mann Graf Cleudis mit der olivenfarbe- nen Haut und den so wachsamen Augen - wie war sein Name? Lalette machten einen Knicks; Ohm Bontembi lächelte. »Mathurin, die Körbe«, sagte Cleudi. »Ich begann schon zu glauben, wir müssten heute Abend auf das Vergnügen Eurer Gesellschaft verzichten, meine entzückende Demoiselle Lalette, und mein Herz fühlte sich einsam.«

»Oh«, sagte sie und dachte: Was, wenn sie es wüssten? »aber Ohm Bontembi würde Euch darauf entgegnen, dass es kein echter Glaube sei, im Herzen einsam zu sein, sondern ein Dienst am Bösen, denn Gott möchte uns glücklich sehen. Da er uns nach seinem Ebenbild erschaffen hat, muss es ein Ebenbild der Freude sein.«

»Ihr erörtert den Glauben wie ein Engel, Demoiselle Lalette. Erlaubt mir, dass ich Euch willkommen heiße.« Sie bewegte den Kopf gerade genug, um seinen Kuss auf ihre Wange abzuleiten. Domina Leonalda lächelte einfältig, doch Cleudis Gesicht zeigte in blitzartiger Flüchtigkeit ein Stirnrunzeln über den hohen Wangenknochen. »Welch liebliche Haut Eure Tochter hat!«

Mathurin verteilte auf dem Tisch Servietten, die er den Körben entnahm und entfaltete. Es gab in Schnee gepackte Austern, Schaumwein, eine Pastete aus Trüffeln und Hechtleber, als Ganzes eingelegte Artischocken, Pfirsiche aus dem Süden - denn in Dossola war nun erst die Zeit der Pfirsichblüte -, Weißbrot, ein reichlich gewürzter Schinken, kandierte Früchte aus Spalierobst. Wäre er nur mehr mir zugewandt als sich selbst, dachte Lalette, es könnte mit ihm auszuhalten sein, er sticht ja nicht. Sie und ihre Mutter nahmen einander gegenüber Platz, die beiden Männer dagegen an den Seiten des Tisches, der so klein war, dass die Knie sich berührten, Mathurin, der Lakai, stand neben ihrem Stuhl, aber er eilte bei Bedarf rund um den Tisch, um nachzureichen. Cleudi redete fast unaufhörlich über tausenderlei Dinge, während er mit der Linken aß und mit der Rechten dann und wann den Stoff auf Lalettes Bein tätschelte, welchen harmlosen Spaß sie ihm vergönnte, denn inmitten des Plauderns und Lachens beim Wein fühlte sie sich selbst ungemein wohl. Er verbreitete wie ein Parfüm eine Aura von Männlichkeit, Verlangen und guter Laune; Lalette schien es, als schwanke sie leicht auf ihrem Stuhl.

»Lalette Asterhax - der Name hat fünfzehn Buchstaben«, sagte Cleudi, »und die Summe von eins und fünf ist sechs, womit uns noch eine eins zur mystischen Zahl sieben fehlt. Schaut, man kann auch auf andere Weise herangehen, L ist der zwölfte Buchstabe des Alphabets, so dass man nach dieser Zählung für den Buchstaben A eine eins und für das zweite L nochmals eine 12 nimmt, und das so weiter, woraus sich insgesamt eine Summe von siebenundachtzig ergibt.« - Das hat er vorher ausgerechnet, dachte sie. - »Die Quersumme von siebenundachtzig wiederum ist fünfzehn, also ist es ganz offensichtlich, dass Ihr unvollständig und infolgedessen unglücklich sein werdet, bis Ihr einem Mann verbunden seid, der die fehlenden Ziffern hinzufügen kann.«