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Über dieses Buch:

Es sollte der schönste Tag ihrer Jugend werden, doch er wird zum schieren Albtraum: Kurz vor Clarissas Abschlussfeier braut sich ein Sturm über dem Pazifik zusammen und droht, einer der schlimmsten des Jahrhunderts zu werden. Clarissa kann sich in ihrer Schule in Sicherheit bringen, doch ihre Eltern sind irgendwo da draußen … Als sie erfährt, dass ihr Vater auf dem Highway festsitzt, genau da, wo der Hurrikan auf Land treffen soll, ist Clarissa fest entschlossen, ihm zu helfen. Sie macht sich auf, ihn zu suchen – mitten hinein in einen zerstörerischen Hurrikan, der keine Gnade kennt!

Über den Autor:

Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und »on the road« in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Bei dotbooks erscheinen auch:

Biberfrau

Die Tochter des Schamanen

Das Lied der Cheyenne

Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn

Die Sterne über Vietnam

Flucht durch die Wildnis

Sturm über Stone Island

Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Die Website des Autors: www.jeier.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier

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eBook-Neuausgabe April 2018

Copyright © der Originalausgabe 2000 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/donatas 1205 und shutterstock/Tithi Luadthong und shutterstock/solarseven

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-303-7

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Thomas Jeier

Flucht vor dem Hurrikan

Roman

dotbooks.

Teil 1: Mittwoch, 12. September

National Hurricane Center
Miami, Florida
12.32 Uhr

Richard Todd, dienstältester Meteorologe des National Hurricane Center in Miami, blickte auf den Bildschirm und nippte nachdenklich an seinem Kaffee. Das Satellitenbild zeigte dichte Wolken über dem Atlantik. »Sieht nicht gut aus«, meinte er. »Wenn das so weitergeht, bekommen wir einen ausgewachsenen Hurrikan!«

Sein Kollege, ein junger Kubaner, der vor einigen Wochen vom College gekommen war, blickte ihm erstaunt über die Schultern. »Aber das sind nur ein paar Wolken, Mister Todd! Wie können Sie wissen, dass daraus ein Hurrikan wird?«

»Richard«, verbesserte der Meteorologe. »Das hab ich im Gefühl! Mit Andrew ging es genauso los und Emily sah noch harmloser aus, als ich ihr auf die Schliche kam!« Er winkte dem Hausmeister zu, einem weißhaarigen Schwarzen, der mit einem nassen Mopp die Gänge wischte. »Erinnerst du dich noch an Emily, Luther? Das muss '64 gewesen sein! Ein Hurrikan der Stärke 4! Auf den Keys haben sie ihn bestimmt nicht vergessen!«

Der Schwarze stützte sich auf seinen Mopp. »Und ob ich mich erinnere, Mann! Ich hab damals auf einer Plantage bei Homestead gearbeitet und den Regen ins Gesicht bekommen! Heiliger Moses, so einen Sturm erlebst du nur alle hundert Jahre!«

»Da hört ihrs«, meinte der Meteorologe, »und Emily bestand auch nur aus ein paar Wolken, als ich sie entdeckte.« Er warf den leeren Becher in den Papierkorb und setzte sich gerade hin. »Behaltet die Wolken im Auge, okay? Ich mache mir ernsthafte Sorgen!«

»Wird gemacht, Chef«, bestätigte ein Kollege. Er zwinkerte den anderen Angestellten lächelnd zu, als wollte er sagen: Macht euch keine Gedanken, Leute, das wird nie und nimmer ein Sturm!

Alligator Landing
Homestead, Florida
14.45 Uhr

Clarissa Blake lenkte das Airboat ans Ufer und stellte den dröhnenden Motor ab. Der Propeller, der sich in einem Gitterkäfig am Heck gedreht und das Boot über den Sumpf getrieben hatte, wurde langsamer und blieb stehen. Das Mädchen nahm die Kopfhörer ab. »Home Sweet Home«, sagte sie zu den Urlaubern, die mit ihr gefahren waren. Sie vertäute das Boot am Ufer und half den Fahrgästen an Land. »Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen!«

»Es war großartig«, bedankte sich eine ältere Dame, die mit ihren beiden Enkeln gekommen war und jede Minute der Fahrt genossen hatte. »Ich hätte nicht gedacht, dass es in den Everglades so große Vögel gibt! Habt ihr den Ibis gesehen, Kinder?«

»Der Alligator war größer!«, sagte der Junge.

Clarissa verabschiedete sich von den Urlaubern, zog das Boot auf das flache Ufer und wischte sich die Hände an ihrem Overall trocken. Sie war ein hübsches Mädchen, »sweet little sixteen«, wie ihre Mutter immer sagte, weil sie gerade sechzehn geworden war, und etwas zu groß für ihr Alter. »Wenn du so weitermachst, müssen wir neue Türen einbauen«, behauptete ihr Vater. Ihr struppiges Blondhaar und ihre sonnengebräunte Haut bildeten einen deutlichen Kontrast zu ihren hellblauen Augen. Manche Leute behaupteten, dass sie eine Stupsnase hatte. Der unförmige Overall und das ölverschmierte T-Shirt ließen sie nicht besonders weiblich aussehen, aber daraus hatte sie sich noch nie etwas gemacht und immerhin ging sie heute Abend mit einem der bestaussehenden Jungen der Schule zum Ball.

Sie ging über den sandigen Parkplatz, der das zweistöckige Holzhaus mit dem Anbau von der Anlegestelle trennte, und sah den dunkelroten Kombi ihres Vaters vor dem Büro stehen. Ihre Mutter musste zum Einkaufen gefahren sein. Ihre Eltern führten den Bootsverleih am Rande der Everglades und verkauften Angelbedarf im Laden. Das Geschäft lief mehr schlecht als recht, seit ein größerer Veranstalter an der Hauptstraße aufgemacht hatte. Sie hatten nicht mal genug Geld, um sich ein neues Airboat anzuschaffen. Das Boot, das sie für die Touren benutzten, war zu laut. Ihr Vater hatte bereits davon gesprochen, einen anderen Job anzunehmen, irgendwas, das Geld brachte. »Wir stehen mit fünftausend Dollar in den Miesen«, hatte er zu ihrer Mutter gesagt, »wenn wir so weitermachen, kommen wir nie auf einen grünen Zweig!«

Der Laden bestand aus einem halbdunklen Raum mit Angelruten an den Wänden und künstlichen Ködern in den Regalen. Neben der Kasse gab es Sandwiches, Chips und Süßigkeiten. Der Cola-Automat leuchtete verlockend in einer Ecke und summte leise. »He, Dad, wo steckst du?«, rief Clarissa, während sie die Kasse öffnete und das Geld verstaute, das sie eingenommen hatte. »Haben wir schon Anmeldungen für die nächste Tour? Dad?«

Sie schob die Kasse wieder zu und ging zu der Tür, die neben den Regalen ins Haus führte. Sie betätigte den Drehknopf und blickte in den dunklen Flur. »He, Dad? Bist du zu Hause?«

Ihre Eltern ließen den Laden niemals unbeaufsichtigt, dazu gab es zu viele Kriminelle im südlichen Florida. Auch wenn nur hundert Dollar in der Schublade waren, lohnte sich ein Griff in die Kasse. »Dad? Bist du im Bad?« Wenn ihre Mutter weggefahren war, musste ihr Vater zu Hause sein. Sie ging ein paar Schritte und hörte die vertraute Stimme auf der Veranda hinter dem Haus. Sie klang seltsam gedämpft.

Clarissa wollte die Hintertür öffnen und nach draußen gehen, aber eine innere Stimme hielt sie zurück. Warum hatte ihr Vater den Laden verlassen? Warum versteckte er sich hinter dem Haus? Warum ließ er die Kasse allein? Das passte nicht zu ihm. Sie blieb neben dem offenen Fenster stehen und hörte zu.

»Ich muss jetzt aufhören«, sagte Alex Blake, »meine Tochter ist gerade zurückgekommen. Wenn ich nicht im Laden bin, schöpft sie bestimmt Verdacht! Wie? Nein, ich bin nicht im Laden. Ich steh mit dem Handy auf der Veranda.« Ein Augenblick der Stille. »Meine Frau ist beim Einkaufen, aber meine Tochter kann jeden Augenblick rauskommen!« Wieder eine Pause. »Okay, morgen Mittag um zwölf! Am verabredeten Treffpunkt. Ich werde da sein.«

Er schaltete das Telefon aus und Clarissa hastete verstört in den Laden zurück. Wenn ihr Vater eine solche Geheimniskrämerei veranstaltete, konnte das nur bedeuten, dass er sich heimlich mit einer anderen Frau traf. Ausgerechnet am Tag ihres Abschlussballs! Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen, und versteckte sich hinter der Kasse, als ihr Vater den Laden betrat.

»Hi, Clarissa!«, grüßte Alex Blake. »Bist du schon lange hier?«

Seine aufgesetzte Fröhlichkeit schmerzte sie und sie musste sich dazu zwingen, ihm in die Augen zu blicken. »Gerade gekommen.« Ihr Lächeln wirkte gequält. »Wo warst du denn?«

»Im Bad«, antwortete er. »Wie war die Tour?«

»Wie immer«, antwortete sie bedrückt. Sie hätte nicht gedacht, dass er sie jemals anlügen würde, und war froh, als einige Kunden auf dem Parkplatz hielten. »Ich mach das Boot klar«, sagte sie, »die Tour schaffe ich noch, bevor Mark mich zum Ball abholt.«

Dunkin' Donuts
Miami, Florida
16.13 Uhr

Mimi Anderson arbeitete in einem Dunkin` Donuts in Overtown. Die Nachmittagsschicht war ihr am liebsten, weil dann nicht so viele Drogensüchtige vor dem Laden herumhingen. Overtown gehörte zu den schlimmsten Vierteln von Miami, wurde von Drogenhändlern und Straßenbanden beherrscht und von Weißen und Kubanern gemieden. Mimi hatte Glück gehabt. Sie war schwarz wie alle Bewohner des Stadtteils, aber ihre Eltern hatten Arbeit, sie hatte die High School geschafft und wollte nach Homestead ziehen, sobald sie genügend Geld gespart hatte. Die kleine Stadt gefiel ihr. Dort wollte sie sich eine eigene Wohnung nehmen und in einem richtigen Lokal arbeiten.

Mimi war sechzehn und hatte Übergewicht. Sie nahm jeden Monat zwei oder drei Pfund zu, weil sie morgens, mittags und abends nur Donuts aß. Die kosteten nichts und machten satt. Nach jedem Essen rauchte sie eine Zigarette, weil ihr irgendjemand erzählt hatte, dass Rauchen den Appetit zügelt. Auch ihre Mutter rauchte. Sie arbeitete in einem Kentucky Fried Chicken in Liberty City, ein paar Straßen weiter nördlich. Ihr Vater war bei der Miami Police und fuhr in einem Streifenwagen durch Overtown. Er verdiente zwanzig Dollar die Stunde und hatte einiges Geld gespart. »Irgendwann ziehen wir hier weg«, sagte er immer wieder.

»He, der Typ sieht nicht schlecht aus«, sagte Sissy. Ihre Freundin teilte die Schicht mit ihr und blickte jedes Mal aus dem Fenster, wenn ein Junge vorbeiging. Irgendwann würde der Richtige kommen, hoffte sie, der Sohn eines Autohändlers oder einer von diesen reichen Typen, die weiter östlich wohnten. Der Kerl würde sie heiraten und sie würde nie mehr einen Donut essen, nie mehr! »Ich wette, der Kerl kommt rein und bestellt einen Kaffee!«

So war es tatsächlich. Der junge Schwarze hatte kurz hereingesehen und öffnete jetzt die Tür. Sissy strahlte ihn an, als er einen Kaffee verlangte. »Wie lange haste denn noch?«, fragte er und nahm den Becher, den sie vor ihn hinstellte. Der Typ trug Baggies, ein langes T-Shirt und neue Markenturnschuhe. »Wird Zeit, dass wir zwei mal um die Häuser gehen.«

Mimi war froh, dass die Jungen nur Sissy anmachten. Sissy war schlanker und sah wesentlich besser aus als sie. Ihre Augen waren groß und braun und schienen eine magische Wirkung auf die Jungs zu haben. »Heute kann ich nicht«, erwiderte Sissy. »Vielleicht morgen.« Sie legte einen Donut vor ihn hin, den mit Schokostreuseln. »Wie heißt du?«

»Joey. Und du?«

»Sissy.«

»Sissy, hm?« Er schmunzelte, weil sie den weißen Schwächling, den sie vor einigen Tagen aufgemischt hatten, auch Sissy genannt hatten. »Okay, Sissy. Ich schau morgen Nachmittag vorbei. Danke für den Kaffee.«

Joey verschwand mit wiegenden Schritten, kämmte sich beim Rausgehen, drehte sich aber nicht mehr um. Er kam sich unwahrscheinlich cool vor, genau der Typ, den Mimi verabscheute. Mal davon abgesehen, dass sich so ein Angeber sowieso nicht nach ihr umgedreht hätte. »Wenn du jedem Kerl, der dir gefällt, einen Kaffee ausgibst, machen wir Pleite«, meinte sie mürrisch.

»Bist du etwa neidisch?«

»Nicht die Bohne. Weißt du, wer das war?«

Sie lachte. »Joey. Wer sonst?«

»Hast du seine Turnschuhe gesehen? Das waren Nikes, echte Nikes! Die hat er bestimmt geklaut! Im Laden kosten die über hundert Dollar! Das waren die neuen Dinger mit der aufblasbaren Sohle, die jetzt immer in der Werbung kommen! Sei bloß vorsichtig, Sissy! Der gehört bestimmt zu der Bande, die seit letztem Monat in der Gegend dealt! Daddy hat gestern einen von diesen Kerlen festgenommen! Die landen alle hinter Gittern!«

»Andere Typen gibts hier nicht«, meinte Sissy mit einem wehmütigen Lächeln, »von den Kerlen, die hier reinkommen, war jeder zweite schon mal im Knast. Wenn’s reicht! Ich hab nichts dagegen, solange die reichen Schnösel noch nicht vorbeischauen.«

»Du spinnst, Sissy! Wenn du mit so 'nem Typen ins Bett gehst, hängst du irgendwann an der Nadel! Oder er gibt dir Crack zu schlucken und du musst für ihn anschaffen! Nee, halt dich lieber von den Kerlen fern! Die machen so lange auf nett, bis du ihnen auf den Leim gegangen bist, und dann gehts los!«

»Kriegst du wieder deinen Sozialen?«, fragte Sissy lachend.

Das wurde Mimi öfter vorgeworfen. Sie sparte jeden Penny, um endlich aus Overtown rauszukommen, und wollte nicht, dass ihre Freundinnen im »schwarzen Sumpf« zurückblieben. So nannte ihr Vater den Stadtteil, in dem die meisten Morde und Überfälle in Miami geschahen. An jeder zweiten Ecke wurde gedealt, aber die Polizei konnte nichts dagegen tun. »Am Abend sperren wir sie ein und am nächsten Morgen sind sie wieder frei«, sagte Daddy. »Wir sind machtlos. Ich hab Glück gehabt. Ich hab einen guten Job und bin nie im Sumpf untergegangen. Aber die meisten Leute haben keinen Job, vor allem die jungen Leute, und deshalb dealen sie mit Crack und machen laufend Überfälle.«

Mimi wollte nicht, dass Sissi im Sumpf landete. »Warum kommst du nicht mit nach Homestead?«, fragte sie öfter. »Noch ein halbes Jahr und ich mache hier Schluss! Komm doch mit!«

Sissy steckte sich eine Zigarette an, obwohl das laut Firmenordnung streng verboten war, und blickte sehnsuchtsvoll aus dem Fenster. »Ich warte auf den Typ, von dem ich immer träume. Den mit der vielen Knete. Der holt mich hier raus und dann muss ich nie mehr arbeiten. Wir ziehen nach New York oder nach Las Vegas!« Aber ihr Blick sagte etwas anderes und sie war schon froh, wenn ein Typ wie dieser Joey sie umschwärmte.

225 Alhambra Circle
Coral Gables, Florida
17.34 Uhr

Jennifer Gomez stand vor dem Spiegel und verzog das Gesicht. Die pinkfarbene Bluse, die sie in der Grove gekauft hatte, knitterte immer noch. Sie strich über den empfindlichen Stoff, öffnete den Gürtel ihres ledernen Minirocks und zog ihn ein Loch fester. Unzufrieden öffnete sie die Tür ihres Zimmers. »Maria!«, rief sie vorwurfsvoll nach unten. »Was hast du mit der Bluse gemacht?«

»Nada, Jennifer! Gar nichts! Ich hab sie nur gebügelt!«

»Hab ich dir vielleicht gesagt, du sollst sie bügeln?« Auf der Stirn der jungen Kubanerin erschienen Zornesfalten. »Du sollst sie glatt streichen, hab ich gesagt! Jetzt kann ich die Bluse wegwerfen! Caramba, was soll ich nur anziehen?« Sie riss die Bluse aus dem Rock, öffnete hastig die Knöpfe und warf das Kleidungsstück über das Treppengeländer nach unten. »Schmeiß sie in den Mülleimer, Maria!«

»Die schöne Bluse? Ich denke nicht daran!« Die Haushälterin hob die Bluse auf, legte sie zusammen und ging ins Wohnzimmer. »Die meisten Mädchen wären froh, wenn sie eine solche Bluse hätten! Santa Madre de Dios! Als ich in deinem Alter war ...«

»... waren die Mädchen noch lieb und brav, ich weiß!«, rief Jennifer durch den Flur. »Damals warst du in Kuba und alle Leute waren katholisch! Aber jetzt sind wir in Amerika! Was meinst du, was Carlos sagt, wenn er mich in einer solchen Bluse sieht?«

»Carlos, pah!«, erwiderte Maria nur.

Jennifer kehrte in ihr Zimmer zurück und suchte im Schrank nach einer anderen passenden Bluse. Manche Boutique wäre froh gewesen, eine solche Auswahl zu haben. »Dann zieh ich eben die rote Rüschenbluse an«, sagte sie ärgerlich zu sich selbst. Sie schlüpfte in die Bluse, die sie mit ihrer Mutter während eines Wochenendurlaubs in Puerto Rico gekauft hatte, und betrachtete sich im Spiegel. Sie fand sich hinreißend. Das sorgfältige Make-up ließ sie wie zwanzig aussehen, obwohl sie erst siebzehn war, und ihr wütender Blick ließ sie noch temperamentvoller erscheinen. So mochte Carlos sie am liebsten. Sie gingen seit vier Wochen zusammen und hatten schon ein paar Mal miteinander geschlafen. Er war der festen Meinung, dass sie volljährig war. Ihr Vater hätte Carlos kaltblütig umgebracht, wenn er von der ganzen Geschichte erfahren hätte, davon war sie überzeugt. Emilio Gomez besaß noch das russische Gewehr, das er auf seiner Flucht aus Kuba dabeigehabt hatte.

Sie schlüpfte in die schwarzen Plateauschuhe mit den goldenen Schnallen, bürstete sorgfältig ihre dunklen Locken und drehte sich einmal um die eigene Achse. Der kurze Rock flatterte über ihren braunen Beinen. »Das wird dir gefallen, Carlos!«, meinte sie zu ihrem Spiegelbild. Sie lächelte dem pinkfarbenen Teddy zu, der auf der Tagesdecke ihres Himmelbetts lag, und verließ ihr Zimmer. Im selben Augenblick klingelte das Telefon. »Sag Mama, dass ich mit Carlos unterwegs bin, comprende?«, sagte sie zu der Haushälterin. Maria reichte ihr den schwarzen Lackmantel, den sie wie eine Prinzessin entgegennahm. »Gracias, Maria.«

National Hurricane Center
Miami, Florida
18.00 Uhr

Raoul Estevan, der junge Kubaner in der Tagesschicht des National Hurricane Center, rief aufgeregt nach seinem Chef. »Sie haben recht, Mister Todd«, sagte er, »das wird ein Hurrikan! So was hab ich noch nie gesehen. Der Fleck wird immer größer und schneller! Wenn er die Geschwindigkeit beibehält, erreicht er morgen die Karibik!« Er starrte auf das Satellitenbild. »Der hat mindestens 70 Meilen drauf!«

»Siebzig Knoten«, verbesserte Richard Todd, »in der Karibik haben sie Hurricane Warning gegeben!« Er lehnte sich mit beiden Händen auf die Stuhllehne und blickte seinem jungen Kollegen über die Schultern. »Ein ungezogener Bursche, dieser Charly!« Und als der Kubaner sich erstaunt umdrehte: »Sie haben unserem Kind einen Namen gegeben. Diesmal sind wieder die Männer dran.« Er musste grinsen, als er an die wütenden Proteste der Frauenbewegung in den siebziger Jahren dachte. Damals hatten die Hurrikans nur weibliche Namen bekommen. Jetzt wurden abwechselnd männliche und weibliche Namen vergeben. »Bleiben Sie dran, Raoul! Das wird eine harte Woche!«

Richard Todd setzte sich an seinen Platz, griff nach seinem Becher und verzog das Gesicht, als er merkte, dass der Kaffee kalt war. Er holte sich einen neuen und verbrannte sich die Lippen. Den schadenfrohen Blick eines Kollegen übersah er. Leise fluchend kehrte er an seinen Computer zurück. Er vergrößerte den Bildausschnitt des Satellitenbildes und ließ sich die Daten ausdrucken. »Er hält genau auf Puerto Rico zu«, sagte er, »zum Glück haben wir die Kreuzfahrtschiffe zurückgepfiffen. Marilyn, geben Sie die Koordinaten von Charly an die offiziellen Stellen durch! Sie wissen schon, Fernsehen, Rundfunk, Küstenwache, die üblichen Verdächtigen.« Das hatte der Polizeipräsident in »Casablanca« immer gesagt, die üblichen Verdächtigen. Richard Todd war ein großer Humphrey-Bogart-Fan und bereute manchmal, das Rauchen fast völlig aufgegeben zu haben. Vor vierzig Jahren hatte er mächtigen Eindruck auf die Mädels gemacht, wenn er seine Zigarette wie Bogey nach innen gehalten hatte.

»Aye, Sir«, antwortete Marilyn, eine junge Kollegin mit einer grünen Strähne im blonden Haar, »die üblichen Verdächtigen.« Auch sie hatte das Satellitenbild vor sich. Das wird ein übler Sturm!, dachte sie. Wenn wir Pech haben, kommt er direkt auf uns zu!

Alligator Landing
Homestead, Florida
19.31 Uhr

Ein Wagen parkte vor dem Laden. Clarissa hatte ihre schwarzen Jeans und das grüne Sweatshirt mit den springenden Delfinen angezogen und schlüpfte gerade in ihre sauberen Turnschuhe. Ein vorsichtiger Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass Mark Stone pünktlich war. Er hatte den offenen Camaro seines Vaters genommen. Er war ein Angeber, daran war nicht zu rütteln, aber er sah auch unverschämt gut aus und wurde sogar von den Collegegirls angehimmelt. Ein Glück, dass er in der Cafeteria mit ihr zusammengeprallt war. »He, Clarissa, höchste Zeit, dass wir zusammen ins Kino gehen«, hatte er vorgeschlagen. Natürlich hatte sie zugesagt. Die Mädchen rissen sich um ihn und sie war stolz darauf, die Auserwählte zu sein. Am meisten freute sie sich über die neidischen Blicke der aufgetakelten Gören, die sie als »schmutzige Sumpfratte« beschimpft hatten.