Über Kate White

Kate White war mehrere Jahre lang Chefredakteurin bei Cosmopolitan. Ihre Bücher sind in dreizehn Ländern erschienen.

Matthias Frings, 1953 in Aachen geboren, war Journalist und Fernsehmoderator und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er studierte Anglistik, Germanistik und Linguistik. In den 80er Jahren veröffentlichte er mehrere erfolgreiche Sachbücher, darunter »Liebesdinge. Bemerkungen zur Sexualität des Mannes.« Ab 1986 arbeitete er als Radiomoderator beim SFB. Von 1993 an war er Redaktionsleiter und Fernsehproduzent. Bekannt wurde er als Moderator der Sendung »Liebe Sünde«.

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Bist du mein Geliebter – oder ein Mörder?

Die erfolgreiche Autorin Bryn Harper kämpft seit einem schweren Autounfall, bei dem sie fast verbrannt wäre, mit einer Schreibblockade. Alpträume suchen sie heim, und ihr Ehemann Guy versucht, sie abzulenken, indem er eine Dinnerparty ausrichtet. Dort hinterlässt ihr jemand rätselhafte Zeichen, die auf den Unfall hinweisen, und die Chefin der Catering-Firma verhält sich ihr gegenüber feindselig – am nächsten Morgen ist sie tot. Und dann muss Bryn erfahren, dass ihr Mann nicht der zu sein scheint, als der er sich ausgibt.

»Diesen Thriller kann man nicht beiseitelegen – verrückte Träume garantiert!« Cosmopolitan

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Kate White

Lüge nie!

Thriller

Aus dem Amerikanischen
von Matthias Frings

Inhaltsübersicht

Über Kate White

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Danksagung

Impressum

Kapitel 1

Ich wache auf, weil es verbrannt riecht. Zuerst nur schwach, aber es reicht, um mich aufzuscheuchen. Ich schrecke hoch, die Augen aufgerissen. Auf die Ellbogen gestützt verharre ich ein paar Sekunden und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Habe ich einen Kochtopf auf dem Herd stehen lassen? Ich will die Beine aus dem Bett hieven, verheddere mich aber in den Laken und muss daran zerren, damit ich meine Füße auf den Boden bekomme. Während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, wird mir klar, dass ich nicht zu Hause bin. Ich befinde mich in einem Hotelzimmer. Ich war auf Geschäftsreise … kann mich aber nicht erinnern, wohin sie führte. Der Brandgeruch wird intensiver, dringt in meine Nase, lässt mich nach Luft schnappen. Panik erfasst mich. Feuer, denke ich. Feuer. Mit den Händen taste ich mich so schnell wie möglich am zweiten Doppelbett in diesem Zimmer entlang. Gedankenfetzen schießen mir durch den Kopf, Verhaltensregeln, die ich gelesen oder gehört habe: Fülle die Badewanne mit Wasser, mache ein Handtuch nass und halte es dir vor den Mund. Aber dafür ist keine Zeit. Ich muss hier raus. Dann ein Geräusch, ein Hämmern, jemand klopft an die Tür. Hotelangestellte vielleicht, die ihre Gäste warnen. »Ich bin hier drin«, rufe ich. »Nicht weggehen, ich komme.«

Jetzt kann ich sogar sehen, wie mir Rauch entgegenwabert. Ich stoße mir die Zehen an der Außenwand des Badezimmers, laufe aber weiter, stürze mich geradezu nach vorn.

Und dann hinter mir aus dem Hotelzimmer die Stimme eines Mannes.

»Bryn, ist alles in Ordnung?«

»Ja«, rufe ich. »Aber wir müssen hier weg.«

»Warten Sie«, sagt er. »Da ist etwas …«

»Ich kann nicht. Wir müssen rennen. Schnell.«

Am Ende des Flurs schlage ich wie von Sinnen auf die Wand ein, bis ich den Lichtschalter erwischt habe, aber als ich ihn betätige, tut sich nichts. Der Strom ist ausgefallen. Ich schreie verzweifelt auf.

Endlich finden meine Finger den Sicherheitsriegel der Tür. Ich lege ihn um, greife nach der Türklinke. Sie fühlt sich warm an, aber zu meiner Erleichterung nicht heiß. Ich lasse ein paar Sekunden verstreichen und versuche, mir das rote Exit-Schild im Korridor zu vergegenwärtigen. Zeigte es nach rechts oder nach links? Gott, ich habe keinen Schimmer. Ich kann mich immer noch nicht an das Hotel oder die Stadt erinnern, nicht einmal daran, an der Rezeption eingecheckt zu haben. Ich drücke die Türklinke mit zitternden Fingern nach unten.

Entsetzt fühle ich, wie sie sich auflöst. In Sekundenschnelle ist nichts mehr von ihr übrig als ein Klümpchen, weich und warm wie geschmolzenes Wachs. Es gibt keinen Ausweg.

Kapitel 2

Kurz darauf kämpfe ich mich aus einem Gespinst aus Schlaf. Mir wird klar, dass ich einen Alptraum hatte, ich bin jetzt hellwach. Mein Herz hämmert in meiner Brust. Meine Haut glüht, als wäre ich zu lange in der Sonne gewesen, und mein T-Shirt ist schweißnass.

Ich blicke mich um, immer noch unsicher, wo ich bin. Es ist hell, vielleicht später Nachmittag. Und dann weiß ich es. Ich befinde mich auf der abgeschirmten Veranda des Hauses, das wir in Saratoga Springs gemietet haben. Neben mir liegt eine abgegriffene Ausgabe von House Beautiful. In der Ferne höre ich das Dröhnen eines Rasenmähers und das Bellen eines Hundes.

Mein Herz schlägt immer noch wie wild. Ich stehe auf und atme tief durch die Nase ein, durch den Mund wieder aus, eine Technik, die mir Dr. G. gleich bei unserer ersten Sitzung beigebracht hatte.

Schließlich beruhigt sich mein Puls. Ich greife nach Stift und Block, die auf dem Beistelltisch bereitliegen, und notiere Fragmente meines Traums: Hotelzimmer, Rauch, schmelzende Türklinke, eine Wand aus Flammen. In den letzten Wochen hatte ich schon mehrfach diesen oder ähnliche Alpträume. Dr. G. hat vorgeschlagen, die Träume aufzuzeichnen. Sie scheinen wegen des Feuers etwas mit dem Unfall zu tun zu haben, den ich vor drei Monaten hatte.

Sie glaubt, dass mich das Niederschreiben der Träume beruhigen würde – und mit Glück auch einige meiner Erinnerungslücken füllen könnte.

Ich schließe meine Augen und versuche, weitere Details festzuhalten, aber der Traum zerfällt in meiner Erinnerung wie ein Haufen toter Blätter, die vom Wind verweht werden.

Ich zwinge mich dazu, von der Liege aufzustehen, und trotte in den Haupttrakt des Hauses. Vor etwas über hundert Jahren ist es im viktorianischen Stil erbaut worden. Es gibt nicht viele Zimmer, aber sie sind geräumig und elegant, mit hohen Decken, aufwändigen Stuckverzierungen und Wandverkleidungen. Nicht die Art von Haus, für die ich mich entschieden hätte – es ist alles so steif und ordentlich –, aber angenehm für einen Sommer.

Ich gehe in die Küche. Die weißen Fliesen unter den Hängeschränken glänzen in der Junisonne. Ich öffne den Kühlschrank und nehme den Krug mit Eistee heraus, gieße mir ein Glas ein und trinke es aus.

Der Tee löscht meinen Durst, vertreibt aber nicht mein Unbehagen. Ich schaue auf die Uhr. Es ist sechzehn Uhr dreißig. Guy wird gegen sechs zu Hause sein. Vielleicht können wir sogar noch draußen auf der Veranda essen, es wird ein lauer Abend werden.

Ich zwinge mich aufzustehen und das Geschirr abzuspülen. Dann nehme ich zwei Hühnerbrüste aus dem Kühlschrank und schnipple die grünen Bohnen, die ich vorhin gekauft habe.

Als ich damit fertig bin, gehe ich nach oben und mache das Bett. Aber während ich den Stoff geradeziehe, wird mir zum ersten Mal die totale Lächerlichkeit – und auch Ironie – dessen bewusst, was ich da tue. Im übertragenen Sinn war mein Leben bisher nichts als eine Abfolge ungemachter Betten, für die ich viel zu beschäftigt war und einfach nur glücklich, am Ende eines verrückten Tages hineinzufallen. Aber ich weiß genau, warum ich mich jeden Tag aufs Neue dieser Aufgabe widme. Es lenkt mich davon ab, was ich eigentlich machen sollte.

Dieser Sommer in Saratoga in einem zauberhaften Ferienhaus sollte mir die Gelegenheit geben, wieder auf die Beine zu kommen, nachdem meine Knochenbrüche größtenteils verheilt sind. Außerdem wollte ich an einem Exposé für mein neues Buch arbeiten, womit ich schon längst begonnen haben wollte, bevor dann der Unfall dazwischenkam. Aber es soll wohl nicht sein. Ich habe permanenten Jetlag wie ein Reisender, der aus einem Flugzeug taumelt, nachdem er ein Dutzend Zeitzonen durchflogen hat.

Und dann ist da noch meine Schreibblockade. Ich hatte befürchtet, dass es eine Weile dauern würde, bis es wieder rund läuft, aber inzwischen habe ich schon ganze Tage damit verbracht, auf einen leeren Computerbildschirm zu starren. Manchmal kommt es mir vor, als hätten Aliens mein Gehirn leergesaugt. Wenn die Panik mich überrollt, stelle ich mir vor, dass ich nie wieder ein Wort würde schreiben können, nie wieder mit jemandem teilen könnte, was ich gelernt habe, nie wieder in einem Raum voller Zuhörer sprechen könnte.

Nach einem letzten Aufschütteln des Federbettes erhasche ich einen flüchtigen Blick in den Spiegel über der Kommode. Weil ich bis vor kurzem noch einen Gipsarm hatte und meine Haare trotzdem waschen und föhnen musste, habe ich vor drei Monaten mein braunes Haar ziemlich kurz schneiden lassen. Die Frisur ist ganz nett, aber weil ich viel Gewicht verloren habe, sehe ich ein wenig mitgenommen aus.

Handyklingeln reißt mich aus meinen Gedanken. Als ich es aus der Tasche meines Sweatshirts ziehe und Guys Namen auf dem Display sehe, muss ich unwillkürlich lächeln.

»Hallo, Schatz«, sagt Guy. »Ich habe dich nicht bei einer Siesta gestört, oder?«

Glaubt er, dass ich mir jeden Tag ein Mittagsschläfchen gönne? Nun ja, im Grunde mache ich das wohl auch.

»Nein, ich erledige nur gerade ein paar Sachen.«

»Ich habe hier ein Problem mit einem Geldgeber, aber ich gehe davon aus, dass ich es lösen kann.«

Guy leitet das Fundraising von Saratogas kleiner, aber renommierter Opernkompanie. Sein Job ist es, Geldgeber an Land zu ziehen und sie bei der Stange zu halten.

»Wie ärgerlich. Um welchen Geldgeber geht es?«

»Ja, der Typ, der letzte Woche hunderttausend geben wollte. Ich muss ihn wohl auf ein paar Drinks einladen und ihn beruhigen.«

»Heute Abend?«

»Ja, tut mir wirklich leid, aber hier brennt die Luft.«

Bei dieser Wortwahl zucke ich zusammen und registriere, wie er sich auf die Zunge beißt und überlegt, ob er sich entschuldigen soll, doch dann entscheidet, dass das die Sache nur schlimmer machen würde.

»Du schaffst das bestimmt, Liebling«, sage ich.

»Hoffentlich. Ich werde heute Abend einen der Sänger einladen. Mario vielleicht.«

»Mario kann Menschen doch gut um den Finger wickeln, oder?«

Er gluckst, und ich habe das Grinsen auf seinem hübschen Gesicht genau vor Augen. Guy ist ein Improvisationstalent, jemand, der unverdrossen Probleme löst, von denen die meisten von uns in den Wahnsinn getrieben würden – gestrichene Flüge, verlorenes Gepäck, Kreditkartenkatastrophen.

Er fragt nach meinem Tag, und ohne es zu wollen, erwische ich mich dabei, wie ich die Einzelheiten aufhübsche. Ich sage »Ich war heute Morgen einkaufen« anstatt »Ich habe einen Beutel grüne Bohnen gekauft.« Ich sage »Ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht« statt »Ich stand im Garten und habe dem Farn dabei zugesehen, wie es sich im Wind bewegt«.

»Wie läuft es mit dem Schreiben?«, fragt Guy. »Geht es dir schon wieder leichter von der Hand?«

»Ja, es wird besser. Ich habe mir Notizen für das neue Buch gemacht.« Auch das stimmt nicht wirklich. Ich habe lediglich das Wort Neuanfang mit einem Fragezeichen aufgeschrieben und siebenundzwanzig Minuten lang darauf gestarrt.

»Soll ich mit dem Essen warten, bis du zu Hause bist? Mir macht es nichts aus, später zu essen.«

»Nein, warte nicht. Ich weiß wirklich nicht, wie lange es dauern wird. Stell mir einfach was in den Kühlschrank, okay?«

»Mache ich«, antworte ich und versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Alles in Ordnung wegen morgen Abend?«

»Ja, sicher. Ich freu mich drauf.« Morgen werde ich hier zum ersten Mal die Gastgeberin einer Dinnerparty spielen, die wir für zwei Geldgeber und ihre Frauen geben. Guy kann mit dem Haus ein wenig angeben, und er hofft, es wäre eine gute Gelegenheit für mich, wieder in die Gänge zu kommen und ein paar Einheimische kennenzulernen. Sein Büro sorgt für das Catering, also muss ich nichts vorbereiten, einfach nur einen Abend lang mit Gästen plaudern, genau die Art von Aktivität, die ich bis zum März dieses Jahres sowohl privat als auch professionell genossen habe. Jetzt aber graut es mir vor der seelischen Anstrengung, die mir das abverlangen wird.

»Was mich daran erinnert«, füge ich hinzu, »dass ich im Esszimmer nach Servietten suchen sollte. Beide Geldgeber bringen ihre Frauen mit, richtig?«

»Ja, obwohl es außer uns eigentlich fünf sind«, sagt er. »Ich habe noch diesem Professor für Journalistik vom Ballston College eingeladen, Derek Collins. Ich habe ihn kennengelernt, als er mit seinem Kurs eine Diskussionsveranstaltung im Theater besucht hat. Er ist ein großer Fan deiner Bücher.«

»Bringt er niemanden mit?«

»Nein, er ist Single und meinte, er würde lieber allein kommen.«

»In Ordnung. Dann bis später.«

»Ja, ich freu mich. Ich liebe es, dich neuerdings jeden Abend für mich zu haben.«

Bis vor drei Wochen hatten wir zwei Jahre lang eine Fernbeziehung geführt. Er hatte Verständnis dafür, dass ich für einen Umzug in eine Kleinstadt nicht zu haben bin, und war mehr als glücklich, an den Wochenenden nach Manhattan zu kommen, bis er sich irgendwann einen Job in der Stadt suchen würde. Und obwohl wir mit der Fernbeziehung gut klarkommen, sind sieben gemeinsame Tage pro Woche statt zweieinhalb eine nette Abwechslung für uns. Außer wenn Guys Arbeit mal wieder dazwischenfunkt.

»Dito.«

Nachdem ich aufgelegt habe, plagt mich ein schlechtes Gewissen, weil ich wegen meines Tages geschwindelt habe. Ich belüge ihn nicht gerne, weil es das Vertrauen, das zwischen uns gerade herrscht, nur belastet. Aber seit etwa einem Monat spüre ich einen winzigen Riss in seinem Geduldsfaden, einen leisen Missmut wegen meiner Untätigkeit und weil ich den Neuanfang einfach nicht schaffe. Geschieht es nicht oft, dass Mitleid sich am Ende gerne in Genervtheit verwandelt? Man tut anderen aufrichtig leid, aber sie wollen auch irgendwann damit aufhören, sich Sorgen zu machen, wie sehr sie einen auch lieben. Sie wollen, dass man ihnen versichert, dass die Sorgen unbegründet sind, dass die Krise vorübergeht und dass man bald wieder man selbst ist. Also laden sie Journalistikprofessoren ein, um dich anzustacheln, wieder an die Arbeit zu denken.

Ich muss einfach meine alte Energie, meine Lebensfreude wiederfinden, dann gibt es keinen Grund mehr, Guy anzuschwindeln.

Ich gehe wieder nach unten in das kleine Zimmer neben der Küche, das ich als Büro nutze. Als Guy das Haus für uns gefunden hatte, schwärmte er von einem perfekten Ort zum Schreiben. Im Sinn hatte er dabei das Turmzimmer, das man vom zweiten Stock aus über steile Stufen erreichen kann. Wie gemacht für eine Schriftstellerin, sagte er, aber ich fand es nur verstaubt und klaustrophobisch eng. Ich wollte lieber im Erdgeschoss sein. Also habe ich stattdessen das winzige Zimmer gegenüber der Küche in Beschlag genommen, eine ehemalige Abstellkammer, wie ich annehme, und einen Schreibtisch hineingestellt. Nicht wirklich ideal – ein penetranter Geruch von nasser Wolle und Plastikstiefeln strömt aus der Vertäfelung –, aber ich bezweifle, dass ich gerade an irgendeinem Ort schreiben könnte.

Ich checke meine Mails, leite allerdings das meiste davon gleich an meine Assistentin in New York weiter. Ich antworte nur Freunden, die sich erkundigen, wie es mir geht, und meinem Bruder Will, der im dritten Jahr für eine Bank in Djakarta arbeitet. Es gibt mehrere Interviewanfragen, die ich höflich ablehne, und zwei Angebote für gutbezahlte Vorträge. Auch die schlage ich aus. Öffentliche Vorträge über die Themen, über die ich in meinen Büchern schreibe, haben mich immer begeistert, aber momentan kann ich nicht genügend Energie aufbringen, um auch nur den Mund aufzukriegen.

Mein Blick fällt auf das Ordner-Symbol, unter dem ich die Datei mit dem Exposé abgelegt habe. Vielleicht sollte ich noch einen Versuch starten, bevor ich das Abendessen vorbereite. Aber nur beim Gedanken daran verkrampft sich mein Magen.

Mein Telefon klingelt und erlöst mich. Es ist Casey, meine Agentin.

»Wie geht es dir da oben. Hast du dieses Pferd gesehen, wie hieß es noch mal? Seabiscuit?«

Ich lache über ihren kleinen Scherz. »Seabiscuit starb in den Vierzigern. Aber es gibt im Ort eine große Statue von ihm. Ich habe sie schon mehrfach gestreichelt.«

»Hört sich an, als ob du viel herumkämst.«

»Ja, ich taste mich heran.« Nach drei gemeinsamen Büchern ist Casey für mich auch zu einer Freundin geworden. Sie ist mit zweiundvierzig nur drei Jahre älter als ich und hat mir stets den Rücken freigehalten, aber ich bin trotzdem vorsichtig, wie viel ich ihr von meinem Zustand erzähle. Ich habe zugegeben, dass es länger dauert, als ich gehofft hatte, wieder in die Gänge zu kommen. Der Ausdruck, den ich ihr gegenüber aber nie erwähnt habe, lautet Posttraumatisches Stresssyndrom. Oder was für Casey noch schlimmer wäre: Schreibblockade.

»Mal einen Sommer rauszukommen, wird dir sicher gut tun. Der Verlag will bei einem Meeting die Buchpremiere des Taschenbuchs besprechen, aber ich habe ihnen gesagt, sie sollen eine Weile alles per Telefon erledigen. Du wirst nicht demnächst mal wieder in der Stadt sein, oder?«

»Nein, nicht vor September … Übrigens, weißt du, ob sie inzwischen einen Nachfolger für Paul eingestellt haben?«

»Äh, ich habe gehört, dass sie seine Vertretung befördert haben«, sagt sie nach kurzem Zögern.

»Eine gute Lösung. Er wirkt robust.« Einen Moment lang suche ich nach Worten. »Ich habe darüber nachgedacht, Pauls Witwe zu kontaktieren, Stephanie. Ich wollte gerne mal deine Meinung dazu hören. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht an der Beerdigung teilnehmen konnte.«

Vielleicht ist es wegen meiner Träume, dass ich zurzeit viel an Stephanie nachdenke, obwohl ich ihr noch nie begegnet bin. Ich habe die Hoffnung, dass ein Gespräch mit ihr uns beiden guttun und mir vielleicht helfen könnte, mit meinem Leben weiterzumachen.

»Ihr einen Brief schreiben, meinst du? Ich dachte, das hättest du schon vor drei Monaten nach dem Unfall längst getan.«

»Ja, aber ich meinte eher ein persönliches Gespräch.«

Am anderen Ende herrscht Stille. Ich schaue auf das Display, um sicherzustellen, dass die Verbindung nicht unterbrochen wurde.

»Ich weiß nicht«, sagt Casey. »Ich habe gehört, dass sie immer noch ziemlich verstört ist. Vielleicht ist die Zeit noch nicht reif.«

»Ich verstehe.« Ihre Antwort überrascht mich etwas, aber ich vertraue Caseys Einschätzung.

»Bevor ich auflege: Darf ich dich ein wenig antreiben?«

Oh Gott, ich hätte wissen müssen, dass das passieren würde, sobald ich sie am Telefon habe.

»Langsam werden sie ungeduldig wegen eines Exposés. Ich habe sie mehrfach hingehalten, und bisher waren sie verständnisvoll, aber du hast einen Vertrag für ein weiteres Buch, und sie könnten sich noch viel mehr vorstellen.«

»Casey, an ein Exposé ist in nächster Zeit überhaupt nicht zu denken. Ich … ich habe noch nicht einmal angefangen.«

»Hast du wenigstens eine Idee? Einen Arbeitstitel?«

»Wie wäre es mit Von einer Ratgeberautorin, die keinen Rat mehr weiß

»Du hast wirklich gar nichts?«

Sie fragt sich jetzt bestimmt, warum die Frau, die einen Bestseller zum Thema Entscheidungen schrieb, selbst keine Entscheidung treffen kann.

»So eine Idee habe ich schon.«

»Okay, mehr brauchst du eigentlich nicht. Ich weiß, dass du deine Exposés gerne wasserdicht hast, aber sie wären schon mit fünf Seiten mehr als zufrieden. Es würde sie beruhigen. Und vielleicht löst das ja auch deine Hemmungen.«

»Hm, das müsste zu machen sein.« In Wahrheit beginnt mein Herz so zu rasen, dass ich höre, wie das Blut in den Ohren rauscht. »Gibst du mir zwei Wochen?«

»Hört sich gut an.«

Nachdem wir uns verabschiedet haben lege ich meinen Kopf auf den Schreibtisch, eine Wange auf der kalten Oberfläche. Wie soll ich je die Energie für fünf Seiten aufbringen? Ich weiß noch nicht einmal, ob mir die Idee gefällt, die ich mir aus den Fingern gesogen habe.

Schließlich zwinge ich mich dazu, das Büro zu verlassen und Abendessen zu machen. Hühnchen kurz anbraten, dazu grüne Bohnen. Einen Teller für Guy stelle ich in den Kühlschrank und meinen nehme ich mit auf die Veranda, dazu ein Glas Wein.

Die Veranda ist mein Lieblingsort im Haus, mit ihrer antiken eisernen Liege und der schwarzen Korbgarnitur, darauf die Kissen mit dem verblassten Blumenmuster. In Manhattan hatte ich ganz vergessen, dass es solch gemütliche Plätze noch gibt.

Als es dämmert, bleibe ich einfach im Dunkeln sitzen und lausche den Kinderstimmen in der Nachbarschaft. Spielen die Kinder immer noch »capture the flag«, frage ich mich?

Von dem Moment an, wo ein Nachbarskind uns dieses Spiel beibrachte, war ich davon wie besessen. Während andere zwölfjährige Mädchen schon den Jungs hinterherliefen, habe ich dieses Spiel noch lange Zeit geliebt. Ich mochte den Rausch, der sich beim Herumrennen durch die Dunkelheit einstellte, liebte es, dem Fänger wieder und wieder zu entkommen, Leute aus dem Gefängnis zu befreien und vor allem, dem anderen Team die Fahne zu klauen und damit zum eigenen Stützpunkt zurückzurennen. Im Grunde spiegelte das Spiel meine Art wieder, wie ich mit den Herausforderungen des Lebens umging: zuerst die Lage einschätzen, sich dann furchtlos hineinstürzen und jede Sekunde davon genießen.

Ich war nicht so naiv zu glauben, dass diese Strategie auch nach dem Unfall noch funktionieren würde. Aber ich sagte mir, wenn ich mich nicht in Selbstmitleid suhle und einfach nur einen Fuß vor den anderen setze, wird es mit der Zeit schon besser werden.

Der Unfall passierte an einem eiskalten Tag im März, ungefähr eine Stunde südwestlich von Boston. Anlässlich meines Buches Twenty Choices sollte ich dort einen Vortrag halten. Wie gewöhnlich bestand das Publikum hauptsächlich aus Frauen, von denen viele hofften, sie hätten noch genügend Zeit für Veränderungen, die ihr Leben oder ihre Karriere zu dem machten, was sie sich einmal ausgemalt hatten. Ich mochte es, bei Vorträgen wie diesem eine Verbindung zu den Frauen herzustellen, liebte ihre Kommentare beim anschließenden Signieren. Und ich fand es aufregend, wenn ich durch meine Anmerkungen Anstöße geben konnte.

Ich war erstaunt, als Paul Dunham, der Leiter der Taschenbuchabteilung des Verlags, neben meinem Tisch auftauchte, während ich die letzten Exemplare signierte. Er war groß, hatte breite Schultern und kurzes blondes Haar und war der Typ, der im College Football gespielt hatte. Er sei zufällig beruflich in der Stadt, wohne in einem Hotel und habe sich spontan entschieden vorbeizuschauen. Es sei eine gute Gelegenheit, mich sprechen zu hören und meine Fans etwas näher kennenzulernen. Das könne sich für die geplante Paperbackausgabe als hilfreich erweisen. Als er mich zum Essen einlud, erklärte ich ihm, dass ich schon verabredet sei, nahm aber seine Einladung an, am nächsten Tag mit ihm zurück nach Manhattan zu fahren. Angenehmer als der Zug, dachte ich mir.

Aber es war ganz und gar nicht angenehm gewesen. Auf einem vollkommen trockenen Teilstück des Massachusetts Turnpike war Paul von der Straße abgekommen und in eine Leitplanke gerast. Sogar mit gebrochenem Arm, einem gebrochenen Becken und einer leichten Gehirnerschütterung hatte ich mich irgendwie aus dem Airbag befreien und auf die Straße torkeln können, wo ich zusammengebrochen war. Jedenfalls hat man es mir später so erzählt. Ich erinnere mich an nichts, weder an die Minuten vor dem Unfall, noch daran, was unmittelbar danach passiert ist. Nur unklare Erinnerungen an Hitze und Flammen und dunklen Rauch, der aufstieg. An Sirenen. Später wachte ich im Krankenhaus auf und musste erfahren, dass Paul den Unfall nicht überlebt hatte.

Ich brauchte keinen Psychiater, um zu begreifen, dass mich danach mehr als nur Trauer quälte. Ich hatte tonnenweise Schuldgefühle. Ich lebte, und Paul war tot. Und ich hatte noch immer keine Ahnung, warum er die Kontrolle über sein Auto verloren hatte.

Wie niedergeschlagen ich mich auch fühlte, ich sah es als Teil eines Prozesses. Es würde dauern, bis es mir besser ging, körperlich und seelisch. Mich in die Arbeit zu stürzen, würde mir dabei helfen. Einen Monat später jedoch, kurz nachdem mein Leben sich wieder zu normalisieren schien, verwandelte meine Trauer sich in etwas anderes. Immer wieder wurde ich von Panikattacken heimgesucht, gefolgt von Taubheitsgefühlen und Teilnahmslosigkeit. Als ich schließlich wieder mit dem Schreiben beginnen wollte, kam einfach nichts. Der Versuch, Worte aus mir herauszupressen, war so unmöglich, wie wenn man während eines Spaziergangs an einem kalten Herbsttag versuchte, sich trotz nassgeregneter Kleidung warm zu fühlen.

Schließlich stehe ich auf und schalte eine Lampe ein. Dabei fällt mein Blick auf den Block mit den dahingekritzelten Traumnotizen. Ich nehme ihn und starre auf die Wörter: Hotelzimmer, Rauch, schmelzende Türklinke, Wand aus Flammen. In meinen Träumen kommen all diese beängstigenden Elemente vor, aber stets neu angeordnet, als ob mein Gehirn mich jedes Mal mit einer neuen Variante quälen will: Ich befinde mich immer in einem Hotelzimmer und weiß nicht, was ich dort mache. Es gibt immer Rauch und Flammen und nie kann ich aus dem Raum fliehen, aber immer aus anderen Gründen. Einmal war es, weil die Tür zu schwer war und ich sie nicht öffnen konnte, ein andermal gab es überhaupt keine Tür, nur eine undurchdringliche Wand.

Und dann erinnere ich mich plötzlich. In meinem heutigen Traum gab es ein Detail, das ich nicht notiert habe: der gesichtslose Mann, der nach mir ruft.

Das ist neu. Bis jetzt war nie jemand mit mir im Raum, ich war immer allein. Ich glaube nicht, dass der Mann Guy war. Die Stimme gehörte jemand anderem. Keine Stimme, die ich zuordnen kann, aber auch nicht die eines Fremden. Nichts an dem Mann machte mir Angst …

Wer war er? Mein Herz setzt einen Moment aus. Und warum bestand er darauf, dass ich warte?

Kapitel 3

Bei Guys Eintreffen schlafe ich schon und zucke zusammen, als er unter die Bettdecke schlüpft. Er legt sich dicht hinter mich und fährt mit den Fingern leicht durch mein Haar. Beruhigt schmiege ich mich an seinen Körper.

Am nächsten Morgen ist seine Seite des Bettes leer. Als ich sehe, dass es schon acht ist, zucke ich zusammen. Guy muss bald los, und ich möchte vorher wenigstens etwas Zeit mit ihm verbringen. Ich schließe die Augen noch einmal kurz und versuche, mich zu erinnern, ob ich einen weiteren Traum hatte, aber nein, nichts. Nur verschwommene, bedeutungslose Bilder.

Ich schlage das Laken zurück, kämpfe mich hoch und schlüpfe in Jeans und Baumwollpulli. Ein paar Minuten später treffe ich Guy in der Küche, wo er mit einer Kaffeetasse in der Hand die Nachrichten auf seinem iPad liest. Er trägt einen seiner perfekt geschnittenen dunkelblauen Anzüge und ein blau-weiß kariertes Hemd. Keine Krawatte heute.

Zum ersten Mal fällt mir auf, dass sein Gesicht schon ein wenig Farbe bekommen hat, hauptsächlich von den abgezweigten Stündchen hier und da auf dem Tennisplatz. Als er mit seinen leicht verschleierten blaugrauen Augen aufschaut, habe ich ein Déjà-vu. Vor zwei Jahren war es ebenfalls im Juli, als ich auf der Terrasse meiner Freundin in Rhode Island stand und sah, wie er die Glastür beiseiteschob und nach draußen trat. Groß und mit seiner guten Figur war er damals tiefbraun gebrannt, und seine vollen, umwerfenden Lippen waren von Wind und Sonne ein wenig rissig. Er sah mich an und lächelte. Im Bruchteil einer Sekunde wusste ich, dass es zwischen uns gefunkt hatte. Und er wusste es auch.

Ja, ich konnte sehen, dass er älter war als ich – sieben Jahre, wie ich später herausfand –, was mir aber nichts ausmachte. Es wurde Zeit für einen Kerl, der reif genug war, sich in seiner Haut wohl zu fühlen, und den mein Erfolg nicht verschreckte, so wie bei meinem letzten Freund Marc. Ich wollte jemanden, der sich eine wirkliche Partnerschaft vorstellen konnte.

»Morgen«, sagt Guy und lässt ein Lächeln aufblitzen. »Ich hatte schon befürchtet, es würden mehr als vierundzwanzig Stunden vergehen, bevor ich diese babyblauen Augen wieder zu Gesicht bekomme.«

Ich beuge mich hinab und gebe ihm einen Kuss. Er riecht frisch geduscht mit einem Hauch Zitrus von seinem Cologne.

»Ich habe noch nicht mal gehört, wie du dich angezogen hast«, sage ich.

»Muss dran gelegen haben, dass ich inzwischen ein Talent entwickelt habe, mich mucksmäuschenstill fertig zu machen.«

»Weck mich in Zukunft, wenn du aufstehst, hörst du? Auch wenn ich laut fluche.«

»Sicher? Du sahst ziemlich erledigt aus.«

»Ja, bitte.« Mein Blick fällt auf den Platz, wo ich gewöhnlich meinen Morgenkaffee trinke. Auf dem Teller liegt ein riesiger, lecker aussehender Scone.

»Oh mein Gott, was ist das denn? Himmlisches Manna?«

Guy lacht. »Manna vom Mrs. London’s Bakery. Ich bin gestern nach dem Mittagessen vorbeigefahren und habe ein paar Scones mit Blaubeeren geholt.«

»Das ist lieb von dir, Schatz. Du weißt, wie gern ich die mag.« Guy und ich haben unsere Hochzeitsreise in London und in den schottischen Highlands verbracht, und ich habe dort fast täglich Scones mit Clotted Cream verschlungen.

Ich schenke mir Kaffee ein und öffne die Kühlschranktür, um Butter herauszunehmen. »Erzähl mir von gestern Abend. Bist du vorangekommen?«

»Sieht ganz danach aus. Ich konnte Mario dazu überreden, zu uns zu stoßen, und er hat sogar ein paar Takte gesungen. Die Leute waren begeistert. Ich werde morgen erfahren, ob der Geldgeber wieder an Bord ist, aber ich würde darauf wetten.«

»Phantastisch.«

Ich wollte ihm von meinem Traum berichten, vielleicht könnte er etwas zu dem unbekannten Mann sagen, aber er stürzt den letzten Schluck Kaffee herunter und ist offensichtlich startklar.

»Wegen heute Abend«, sage ich stattdessen, »wie fein werden die Leute angezogen sein?«

»Nicht so sehr, jedenfalls im Vergleich zu New York. Die Männer im Jackett und die Frauen schick, aber wahrscheinlich konservativ. Derek allerdings nicht. Die wenigen Male, die ich ihn gesehen habe, trug er alte Cordhosen und einen Pullover – und meistens denselben.«

Ich muss lachen. »Okay, konservativ also. Dann lass ich die schlampigen Oberteile im Kleiderschrank.«

»Aber nur bis zum Wochenende, okay?« Er lächelt und schaut auf die Uhr. »Ich sollte lieber los. Termin um halb neun.«

Er schaltet sein iPad aus, steht auf und gibt mir einen Abschiedskuss.

Als er weg ist, gehe ich duschen und ziehe mich an. Als ich wieder unten bin, überfliege ich die Online-News und gehe dann in der Küche noch mal alles durch, um sicherzugehen, dass das Catering alles findet, was es brauchen wird. Irgendwann bin ich auch damit fertig und zwinge mich dazu, mich an den Schreibtisch zu setzen. Ich starre wieder auf das Wort Neuanfang, das ich gestern geschrieben habe. Es ist kein brandneues Konzept, aber ich glaube, dass ich einen frischen Blick darauf entwickeln könnte. Und dennoch hockt das Wort nur auf der ansonsten leeren Seite, als würde es zurückstarren. Kaum zu glauben, dass ich einmal stundenlang ohne Pause schreiben konnte, sogar in Flugzeugen oder an Flughäfen oder in überfüllten Cafés. Im Moment jedoch fühle ich mich wie jemand, der versucht, in einer Sprache zu schreiben, die er nicht spricht. Ich schließe die Datei und spring vom Schreibtisch auf.

Nach einem frühen Lunch schlüpfe ich in meine Jacke und schnappe mir den Rucksack, den ich benutze, seit mein Arm geheilt ist. Mit dem Smart, den wir für den Sommer gemietet haben, fahre ich in die Stadt, halte zuerst am Geldautomaten und dann bei einem Blumenladen. Vor dem Geschäft stehen zahllose Tulpensträuße. Aus einer Laune heraus kaufe ich mehr als geplant: vier Dutzend weiße Tulpen für das Esszimmer und zwei Dutzend in Rosa für das Wohnzimmer.

Zu Hause decke ich den Tisch mit Tellern, Besteck, Gläsern und den perfekt gestärkten weißen Servietten ein, die ich gestern in einer Schublade entdeckt habe. Dann arrangiere ich die Blumen in einer Vase. Mit dem vielen Weiß – Servietten, Tulpen und Kerzen – sieht der dunkle Tisch umwerfend aus. Er erinnert mich an etwas, was meine Mutter einmal sagte, als sie noch am Leben war: »Manchmal ist mehr eben doch mehr.« Obwohl sie seit zwölf Jahren tot ist, höre ich ihre Stimme immer noch, wie sie kleine Weisheiten mit mir teilt.

Ich betrachte den Tisch und verspüre einen Adrenalinstoß wie seit der Zeit vor dem Unfall nicht mehr. Vielleicht muss ich einfach nur versuchen, in Bewegung zu bleiben, schießt mir durch den Kopf. Ich muss mir jeden Tag etwas vornehmen, dazu körperliche Aktivität. Laufen ist fürs Erste verboten – etwas, das ich bitter vermisse –, aber ich könnte meinen Hintern wenigstens einmal täglich für einen Spaziergang auf die Straße schieben. Doch sobald ich die anderen Tulpen im Esszimmer arrangiert habe, versickert meine Energie so schnell wieder, dass es mir fast den Atem verschlägt. Ich stolpere auf die Veranda und lasse mich auf die Liege sinken. Eine Weile liege ich dort und lausche dem höhnischen Ruf eines Blauhähers im Hof. Und dann höre ich ein Klopfen. Jemand ist an der Eingangstür. Ich schaue auf die Uhr. Zu früh für das Catering.

Als ich die Holztür öffne, sehe ich hinter dem Fliegengitter eine Frau. Sie ist Anfang vierzig, groß und hält sich sehr gerade, ihr Haar ist schwarz und hat einen schönen Schnitt. Sogar durch das Gitter kann ich sehen, dass sie eine kleine Einkaufstasche in der Hand hält. Lavendelfarbenes Seidenpapier lugt oben heraus.

»Es tut mir so leid«, sagt sie. »Hoffentlich störe ich nicht.«

Vermutlich hat sie sich gefragt, ob sie mein Nachmittagsschläfchen unterbrochen hat. Ich hätte nicht zur Tür gehen sollen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin Sandra Dowd. Sind Sie Bryn? Bryn Harper?«

»Ja?«

»Ich bin vom Komitee des Saratoga-Kunstbeirats und wollte etwas für Sie abgeben im Namen von uns allen.«

»Oh, das ist nett von Ihnen«, sage ich. Obwohl ich mich am liebten wieder auf der Liege verkriechen würde, wäre es unhöflich, ihr nicht die Fliegengittertür zu öffnen. Ich bitte sie in den Flur. Sie ist elegant gekleidet: eine Bluse in Granatapfelrot, die sie mehr als ausfüllt, eine cremefarbene Hose und hautfarbene Pumps mit mindestens Acht-Zentimeter-Absätzen. Nur ihre Nase passt nicht recht ins Bild. Sie ist fast vertikal, ganz gerade von oben bis unten, als wäre vor Jahren ein Höcker entfernt worden.

»Das Letzte, was Sie jetzt brauchen, ist wahrscheinlich ein Wilkommenskomitee, das Sie am helllichten Tag überfällt«, sagt sie leichthin mit verschwörerischer Miene. »Aber einem unserer Mitglieder ist zu Ohren gekommen, dass sie in die Stadt gezogen sind und das Haus der Jessups gemietet haben. Wir dachten, Sie könnten ein paar Informationen über die Gegend brauchen.« Sie reicht mir die Tasche. »Ein Kalender mit den Veranstaltungen, die im Sommer stattfinden, so etwas. Und ich habe meine Karte dazu gesteckt.«

In meinem Hinterkopf blitzt ein Gedanke auf, aber ich kann ihn nicht festhalten. »Vielen Dank. In den letzten Jahren habe ich ein paar Wochenenden hier verbracht, aber sonderlich gut kenne ich mich in der Gegend noch nicht aus.«

»Um ehrlich zu sein«, sagt sie und schaut, als wäre sie kurz davor, etwas Unanständiges zu enthüllen, »würden wir uns sehr freuen, wenn wir Sie bei Gelegenheit mit Fragen löchern dürften. Aber keine Eile, vielleicht nachdem Sie sich eingelebt haben.«

Mit meiner derzeitigen Trägheit kann ich mir nicht vorstellen, dass ich etwas Interessantes zu erzählen hätte, aber ich möchte sie nicht zu offensichtlich abblitzen lassen.

»Mal sehen, wie der Sommer sich entwickelt, okay?«

»Sie sind also nur für eine Saison da?«

»Ja. Mein Mann arbeitet unter der Woche in Saratoga und kommt an den Wochenenden in die Stadt. Ich habe mich entschieden, den Sommer hier oben zu verbringen. Ich bin erst vor drei Wochen angekommen.«

»Er ist sicher begeistert, Sie in der Nähe zu haben.«

»Es ist eine nette Abwechslung, ja.«

»Ich habe selbst eine Fernbeziehung geführt und kenne die Schwierigkeiten.« Ihr Blick wandert durch die große Eingangshalle mit ihren edel gestreiften Tapeten und der Mahagonitreppe. »Was für ein beeindruckendes Haus. Ich bin oft vorbeigefahren, war aber noch nie drin.«

»Wir hatten Glück. Guy hat natürlich hier vor Ort ein Apartment, aber es ist winzig, und es gibt dort für mich kaum Platz zum Arbeiten. Hier konnte ich mir ein kleines Büro in der Küche einrichten. Möchten Sie … möchten Sie ein Glas Eistee haben?« Es wäre wohl unhöflich, nicht zu fragen.

»Das ist sehr nett, aber dummerweise muss ich gleich wieder los. Eine Geschäftsreise.«

»Arbeiten Sie für eines der Colleges?«

»Nein, ich habe eine kleine Firma. Public Relations.«

Wundert mich nicht, dass sie eine Geschäftsfrau ist. Sie wirkt sehr selbstsicher und voller Energie. »Ich würde es aber liebend gern auf ein andermal verschieben, oder vielleicht wollen wir uns mal zum Lunch in der Stadt treffen«, fügt sie hinzu. Sie hebt ihr Kinn und deutet in Richtung Wohnzimmer. »Das muss ein perfekter Platz sein, um Gäste zu empfangen.«

»Wir geben heute Abend unsere erste Dinnerparty.«

»Oh je, dann sollte ich Sie nicht länger aufhalten. Kochen Sie selbst?«

»Gott sei Dank nicht. Wir haben einige Klienten meines Mannes zu Gast, und er hat ein Catering bestellt.«

»Das ist der Trick, nicht wahr?« Sie blickt mich so verschwörerisch an wie schon zuvor. »Ich hoffe, Sie haben eine passende Firma gefunden. Wir scheinen endlich ein paar Caterer in der Stadt zu haben, die etwas mehr zu bieten haben als Nudelauflauf und pappiges Hühnchen Marsala.«

»Mein Mann kennt die Firma von der Arbeit und schwört, dass sie gut sind.« Endlich fällt mir ein, was mich schon die ganze Zeit so irritiert hat. »Woher wusste Ihre Bekannte eigentlich, dass ich hierhergezogen bin?«

»Der Buschfunk funktioniert gut, nehme ich an. Sie liebt Ihre Bücher, besonders das neue über Entscheidungen. Ich habe es leider noch nicht gelesen, aber gerade online bestellt.«

»Fühlen Sie sich bitte nicht verpflichtet.«

»Oh, ich will es unbedingt lesen! Peinlich genug, dass ich es noch nicht kannte, besonders weil es so ein großer Erfolg ist.«

»Warum nehmen Sie nicht eines meiner Exemplare mit? Sie könnten die Bestellung stornieren oder das Buch einer Freundin schenken.«

»Macht es wirklich keine Umstände?«

»Es ist mir ein Vergnügen. In einem der vielen Schlafzimmer steht ein ganzer Karton davon.«

Ich hole eines der Bücher und bin außer Atem, als ich die Treppe wieder hinabsteige. Ich signiere das Buch für sie.

Als ich ihr hinterherblicke, wie sie den Gehweg entlang eilt, finde ich die Vorstellung nett, sie bei Gelegenheit einzuladen oder mit ihr zu Mittag zu essen. Sie wirkt wie jemand voller Energie, die vielleicht ansteckend ist. Dieser Gedanke wird jedoch schnell von einem anderen abgelöst. Könnte es sein, dass Guy jemanden vom Beirat gebeten hat, mich für eine ehrenamtliche Tätigkeit zu gewinnen? Er hat da natürlich seine Kontakte. Ist das sein heimlicher Plan, damit ich langsam wieder den Hintern hochkriege? Vielleicht meint er es gut, aber ich mag das nicht. Ich gehe zurück auf die Veranda, fühle mich aber merkwürdig aufgekratzt und kann nicht schlafen.

Um fünf Uhr stehen zwei Kellner in der Küchentür, beide in schwarzen Hosen, weißen Hemden und mit schmalen schwarze Krawatten. Einer ist wahrscheinlich Anfang dreißig, dunkelhaarig mit Schnäuzer und kurz geschorenem Bart, dazu eine Tätowierung, die bei jeder Bewegung wie eine Eidechse aus seinem Hemdkragen huscht. Sein Name sei Conrad, sagt er. Der andere Typ ist blond und schlaksig und wahrscheinlich erst Anfang zwanzig. Hoffentlich ist er erfahrener, als er aussieht.

Sie laufen ein paarmal zum Lieferwagen, holen Pfannen aus Aluminium und eine Kühlvorrichtung auf Rädern. Sofort beginnen sie damit, die Pfannendeckel zu lüpfen und allerlei Lebensmittel im Kühlschrank zu stapeln. Der Duft von Mandeln steigt mir in die Nase.

»Ich habe keine Ahnung, was es heute Abend gibt«, sage ich. Weil es sich um ein Arbeitsessen handelt, hat Guy alles organisiert.

»Am besten erklärt Eve Ihnen das«, sagt Conrad.

»Eve?«

»Eve Blazer, die Chefin und Köchin. Sie wird gegen sechs hier sein.«

Als ich eine Stunde später wieder in die Küche komme, ist sie da und verteilt Olivenöl in einer Pfanne. Sie ist hübsch und kurvenreich, eine Frau, die sich offensichtlich nicht vom Probieren ihrer Kreationen abhalten lässt. Passenderweise hat ihr Haar die Farbe von frischer Butter, obwohl das meiste davon unter einer kleinen weißen Kochhaube versteckt ist.

Zu meiner Überraschung fällt ihre Begrüßung sehr kühl aus. Sie wendet den Blick gleich wieder ab, als wäre ich nur zuständig für die Garderobe.

»Soll ich Ihnen zeigen, wo alles steht?«, frage ich.

»Wir kommen schon zurecht«, sagt sie. »Das Dinner beginnt um acht, oder hat sich etwas geändert?«

»Ja, das stimmt wohl.« Guy hatte mir erzählt, die Gäste würden gegen viertel nach sieben eintrudeln. »Was servieren Sie heute Abend?«

»Hat Ihnen das niemand gesagt?«, fragt sie, als wäre ich die Ahnungslose, die einfach nicht weiß, was heutzutage angesagt ist. Es ist mir unverständlich, warum sie diesen Ton anschlägt. Vielleicht ist sie wirklich nur erstaunt, dass man mich im Dunkeln gelassen hat, halte ich ihr zugute.

»Nein, die Sekretärin meines Mannes hat alles arrangiert.«

»Tajine mit Huhn. Und eine Crème brulée zum Dessert.«

»Hört sich gut an. Dann lasse ich Sie lieber wieder arbeiten.«

Ich gehe nach oben, um mich umzuziehen – schwarze Leggins, Pumps und eine lockere weiße Seidenbluse. Minutenlang sitze ich auf der Bettkante und versuche, aus irgendeinem Geheimreservoir des Universums Energie zu saugen. Ohne Erfolg. Sehnsuchtsvoll streiche ich über den Leinenbezug des Oberbettes. Ich würde nichts lieber tun, als ins Bett zu sinken und die Augen zu schließen. Das unablässige Ticken der Digitaluhr auf dem Nachttisch treibt mich an, und schließlich stehe ich auf und gehe nach unten. Bei einem letzten Gang durchs Haus überprüfe ich, ob die Zimmer ordentlich und die Lichter eingeschaltet sind. Auf der Veranda fällt mir der Block ins Auge, auf den ich meinen Traum notiert habe. Als ich ihn mir schnappe, bemerke ich einen Schatten, und ich fahre herum. Guy steht in der Tür.

»Da bist du ja«, sagt er. »Tut mir leid, dass ich spät dran bin. Alles unter Kontrolle mit dem Catering?«

»Sieht so aus. Ich habe versucht, der Köchin zu zeigen, wo alles ist, aber sie wollte keine Hilfe.«

»Sie ist sicher ein Profi im Erkunden fremder Küchen.«

»Jedenfalls ist sie nicht sonderlich freundlich. Aber wenn das Essen gut ist, will ich ihr das nicht nachtragen.«

»Wahrscheinlich ist es nur der Stress«. Ich kann sehen, wie müde er ist.

»Wie war dein Tag?«

»Gut, gut.« Er geht durch den Raum und gibt mir einen kleinen Kuss. »Und du? Hast du etwas geschrieben?«

»Nicht wirklich.« Es tut gut, die Wahrheit zu sagen. Dann wird mir klar, dass er den Notizblock in meiner Hand meint. »Oh, das. Ist nur ein Traum von gestern, derselbe wie immer.«

»Der Feuertraum? Im Hotel?«

»Ja, aber bei diesem war etwas eigenartig. Da war ein Mann im Zimmer und bat mich zu warten.«

»Sollte ich mir Sorgen machen?« Guy lächelt.

»Sei nicht albern, Schatz. Träume darf man nicht so genau nehmen. Aber irgendwas war an diesem Mann, das mir wichtig schien. Ich habe allerdings keine Ahnung, warum.«

Er atmet tief durch, und ich spüre, wie er seine nächsten Worte abwägt: »Dr. Greene hält das wirklich für eine gute Idee?«

»Ganz bestimmt. Sie sagt, obwohl die meisten unserer Träume im Grunde nur Müll verwerten, lohnt es sich, die wiederkehrenden genauer unter die Lupe zu nehmen. Das Unterbewusstsein könnte versuchen, eine Nachricht zu senden.«

»Ich mache mir nur Sorgen, dass alles wieder aufgewirbelt wird.«

»Offen gestanden habe ich nichts dagegen. Es kann mir helfen, mich zu erinnern.«

»Aber könnte es nicht sogar besser sein, wenn du dich nicht erinnerst? Vielleicht will deine Psyche dir auf diese Weise nur die schrecklichen Einzelheiten ersparen.«

»Ich will diese Einzelheiten aber erfahren. Ein Unfall ist passiert, ein Mann ist verbrannt, und ich weiß immer noch nicht genau, warum.«

Er legt eine Hand auf meine Schulter.

»Du hast solche Fortschritte gemacht, Bryn. Ich möchte einfach nur, dass du nach vorne schaust und nicht zurück.«

Wirft das Traumtagebuch mich tatsächlich in die Vergangenheit zurück? Könnte das der Grund sein, warum ich mich sogar noch lethargischer fühle, seit ich hierhergezogen bin?

»Ich spreche nächste Woche noch mal mit Dr. Greene darüber, okay?«

Aber schon während ich es sage, weiß ich, dass ich mit den Notizen weitermachen werde. Ich weiß, dass der Mann im Hotelzimmer eine Botschaft für mich hat.

»Hört sich gut an«, sagt Guy. »Ich sollte mich jetzt besser umziehen.«

Ich stecke den Notizblock in die Schublade eines Beistelltisches, bleibe einen Moment sitzen, um Kraft zu sammeln, und gehe dann in den Haupttrakt des Hauses zurück. Im Speisezimmer treffe ich auf die Köchin, die den Esstisch begutachtet, die Arme in die Seiten gestemmt. Ich folge ihrem Blick. Irritiert bemerke ich, dass sie die Servietten neu gefaltet hat. Aus den schlichten Vierecken hat sie steife Bischofshüte hergestellt. Und dann sehe ich die Vasen. Sie stehen nicht mehr auf dem Tisch. Wie Kinder, die auf einer Party bei den Erwachsenen unerwünscht sind, wurden sie auf einen Nebentisch verbannt.

»Was machen Sie da?«, frage ich.

Sie wendet sich mir nur halb zu, als verdiente ich nicht mehr Aufmerksamkeit.

»Ich bereite den Tisch vor.«

»Aber ich habe ihn schon eingedeckt.«

»Normalerweise decken wir ihn ein und dekorieren ihn ein wenig.«

»Aber warum haben Sie die Blumen weggenommen?«

Jetzt wendet sie sich mir vollständig zu. Ihre Lippen sind trotzig aufeinandergepresst, und ihre grünen Augen mustern mich kühl.

»Wir dekorieren unsere Tische nicht mit Blumen. Ihr Geruch überlagert den Duft des Essens.«

Es macht mich sprachlos, dass sie alles umarrangiert hat, ohne mich zu fragen. Und dann diese blödsinnige Blumenregel.

»Bitte stellen Sie die Vasen wieder zurück«, sage ich zu ihr. »Blumen auf dem Tisch sind vollkommen in Ordnung.«

»Selbstverständlich.« Ein Tonfall wie ein Schulterzucken. Während sie die Blumen zurückstellt, wirkt sie unbeeindruckt und macht keine Anstalten, sich zu entschuldigen. Als Guy kurz darauf den Raum betritt, würdigt sie ihn keines Blickes, sondern verschwindet still durch die Schwingtür in der Küche.

Er wartet, bis sie den Raum verlassen hat, bevor er etwas sagt. »Was ist passiert?«