An die ersten Anzeichen der Krise konnte er sich noch gut erinnern. Er war an jenem Tag mit seiner Frau auf Geschenk-Besorgungstour in der Innenstadt gewesen. Schneeflocken, Glühweinduft und Lichtgirlanden, die ganze herrliche Kulisse hatte bereitgestanden. Heck liebte es. Schon als Kind hatte er es geliebt. Doch etwas stimmte nicht an jenem Tag. Normalerweise gab er in solch einer Situation einen heiteren Schwank zum Besten oder versuchte, seine Frau anderswie um den kleinen Finger zu wickeln. So wie es eben seiner Natur entsprach. An diesem Tag aber war nichts normal. Heck spürte Evas wachsende Gereiztheit. Ihre Geduld war beim Thema Weihnachten begrenzt, er wusste das.

Als er bei einem Drehorgelmann stehen blieb, in der Tasche nach Münzen kramte und dabei Eva zulächelte, wandte sich diese mit zusammengepressten Lippen ab. Heck ließ die Münzen in den Sammelbecher des Drehorgelmannes klimpern und dachte: Und ich lass mir die Freude trotzdem nicht nehmen! Was kann ich dafür, dass ich das Glitzern und Wuseln der vorweihnachtlichen Innenstadt so sehr mag? Sogar die Hektischen, die sich mit spitzen Ellbogen durchquetschen, finde ich irgendwie sympathisch.

Wie sie nun weiter durch die Straßen bummelten, passierte etwas, das Heck im Rückblick als den Keim allen folgenden Übels betrachtete: Eine der Lichtgirlanden löste sich aus ihrer Befestigung, schwenkte in einem weiten Bogen knapp über ihre Köpfe hinweg, eine Frau, die neben Eva herging, stieß vor Schreck einen Schrei aus und blieb abrupt stehen, zu abrupt für den Mann hinter ihr, der geradewegs in sie hineinstolperte, worauf die Frau zu Boden fiel und er ebenfalls und dazu drei weitere, die hinter ihm waren. Innerhalb von Sekundenbruchteilen lagen die fünf wie übereinandergestapelt da, und alles rundherum kam ins Stocken, alles rief »Oh!« und »Ah!« und wollte den Gestürzten wieder auf die Beine helfen. Nur Heck rührte sich nicht.

Er betrachtete die unterste Glühlampe der Girlande, verfolgte ihr stilles Pendeln. Und dachte an den Bruch, der nicht stattgefunden hatte, das Klirren, das ausge

Nachdem die Letzten weitergegangen waren, zog er Eva in eine stille Gasse hinein. Er brauchte jetzt etwas Starkes. Da war doch diese neue Panorama-Bar, ganz in der Nähe, und bestimmt würde es dort für Eva einen Negroni geben, den sie so liebte, und für ihn einen Whisky, und wenn sie noch eine ruhige Ecke fänden für sich, würde die Stimmung sich schon lösen, und dann, irgendwann, später jedenfalls, wenn der passende Zeitpunkt gekommen wäre, würde er sich nochmals in Ruhe diesem Klirren zuwenden und auch all jenen Gedanken, die das Klirren wie einen Rattenschwanz hinter sich herzog.

Später, als er Eva zuschaute, wie sie an ihrem Negroni nippte und aus dem Augenwinkel die Barkeeperin be

Auch damals hatte Weihnachten vor der Tür gestanden. Heck war neu als Vertreter für Ordnungssysteme unterwegs gewesen. Niemand kannte ihn, keiner wollte ihn empfangen, das Geschäft lief denkbar schlecht. Seit Kurzem erst war er mit Eva verheiratet und wohnte mit ihr und dem kleinen Felix in zwei engen Zimmern im neunten Stock eines Wohnsilos am Stadtrand. Sämtliche Möbel, die sie besaßen, waren ausgemusterte Restbestände aus dem Haus seiner Schwiegereltern, das Wohnzimmer diente zugleich als Schlafzimmer. Und dann kam der erste Advent, und Hecks Taschen waren leer, und er wusste: Nichts, was die Augen meines zweijährigen Sohnes zum Leuchten bringt, wird heuer unter dem Weihnachtsbaum liegen. Welch erbärmliche Schmach! Da fiel ihm der Nikolaustrick ein, von dem ihm ein Kunde einmal im Scherz erzählt hatte.

Nach drei schlaflosen Nächten wagte er es. Mit rotem Kostüm und zittrigen Knien trat er in das Kaufhaus, im Gesicht den obligaten Kunstbart, auf der Schulter den Jutesack. Doch als er sich auf seinem Weg durch die Rayons hier und dort von Kindern ansprechen ließ, in seinen Sack griff und Nüsse und Mandarinen hervorzauberte, entspannte er sich bereits wieder. Und als er dann in der Spielzeugabteilung ankam, klappte das unauffällige In-den-Sack-fallen-Lassen von Duplo-

Natürlich hätte er damals gleich wieder aufhören können. Sollen. Müssen. Aber es war zu einfach gewesen. Das Anfängerglück hatte ihm einen Streich gespielt. Und so hatte er weitergemacht, hatte immer wieder Neues ausprobiert, andere Schauplätze, andere Konstellationen. Als durchreisender Geschäftsmann, Zigarettenholer oder Sportskanone suchte er Kaufhäuser, Tankstellen und Schwimmbäder auf. An diesen Tummelplätzen des Kleinganoventums trainierte er seine Fingerfertigkeit, auch seine Überredungskunst und sein grenzenloses Talent zur freundlichen Täuschung. Wertlosen Kleinkram, bescheidene Geldbeträge, mehr ließ er nie mitlaufen.

Bis er auf Lasker traf. Lasker erkannte Hecks Talent auf den ersten Blick. Und Lasker hatte Pläne. Er war der Typ, der das Vorurteil, kleine Männer neigten allesamt zu Größenwahn, mustergültig bestätigte. Lasker reichte Heck knapp an den Adamsapfel, dazu hatte er den Wuchs einer gestauchten Wurzelknolle. Sein schütteres Haar und das fliehende Kinn machten die Sache auch nicht besser. Heck sah in Lasker aber nicht nur den entfesselten Ehrgeiz, sondern auch eine praktische Klugheit, die sich nie, aber auch gar nie vom Leichtsinn würde übertölpeln lassen. Dazu kam: Bei allem Ehrgeiz war Lasker ein ausgesprochener Hasenfuß, dem selbst eine dreifache Absicherung seiner Unternehmungen nicht genügte.

So schnell Heck und Lasker sich gegenseitig erkannten, so schnell waren sie sich einig über die Art ihrer

Heck war genau das Gegenteil davon. Schon als Kind hatte er zum Kontrollverlust geneigt. Erwachsen geworden, versuchte er nicht, diese Neigung zu beherrschen, sondern machte sie sich im Gegenteil zum Trumpf. Denn schnell hatte er begriffen: Während andere in Notsituationen Augenmaß und Handlungsfähigkeit verlieren, bleibe ich biegsam und flink. Wie ein Akrobat, der den atemraubenden Fast-Fehltritt braucht, um sich auf dem Hochseil wohlzufühlen. Zur blinden Improvisation genötigt, lief Heck zu Höchstform auf. Dazu kamen seine Gabe der Überredung, des Freundschaft-Schließens und seine Menschenkenntnis.

So wuchsen die Partner aneinander und miteinander. Und Eva und die Kinder gewöhnten sich nur zu

Als die Barfrau ein Schälchen mit Erdnüssen vor sie hinstellte, zog die bierselige Herrengruppe ab, und es wurde ruhiger. Im Lautsprecher gab Eartha Kitt den Weihnachtsklassiker Santa Baby zum Besten. Ein Anflug von einem Lächeln erfasste Evas Gesicht. Heck sah es, leerte seinen Whisky in einem Zug und dachte: Der richtige Zeitpunkt, eine Geschichte zu erzählen. Eine aus seiner Kindheit würde es sein, und zwar die beste von allen. Eva kannte sie, aber wenn er sich geschickt anstellte, konnte er damit ein paar Punkte holen.