cover.jpg

Sir Arthur Conan Doyle’s

SHERLOCK HOLMES

»Die neuen Fälle«

Band 6

 

DRACHEN
ÜBER
CHELSEA

 

von

AMANDA McGREY

IMPRESSUM

 

Sir Arthur Conan Doyle’s

SHERLOCK HOLMES

Herausgeber: ROMANTRUHE-Buchversand.

Cover: Romantruhe.

Satz und Konvertierung:

ROMANTRUHE-BUCHVERSAND.

© 2015 Romantruhe.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Personen und Begebenheiten der

Romanhandlung sind frei erfunden;

Ähnlichkeiten mit lebenden oder

verstorbenen Personen sowie mit tatsächlichen

Ereignissen sind unbeabsichtigt.

Abdruck, auch auszugsweise,

Vervielfältigung und Reproduktion sowie

Speichern auf digitalen Medien zum

Zwecke der Veräußerung sind untersagt.

Internet: www.romantruhe.de

 Kontakt: info@romantruhe.de

Produced in Germany.

Es war zu grotesk!

Wie versteinert standen Sherlock Holmes und ich da. Auch Lestrade schien – trotz seiner langen Dienstjahre bei Scotland Yard – wie unfähig, etwas zu tun.

Der fahle Mond brach sich einen Weg durch die Wolkendecke und gab dem Szenario noch einen grausigeren, unheimlicheren Ausdruck, als die Polizeilaternen es vermochten.

»Herr des Himmels!«, hauchte ich. »Wer tut so was?« Meine Stimme schien nicht mir zu gehören.

Ich vernahm nur Holmes schnaufenden Atem. Den Kopf in den Nacken gelegt, starrte er auf das über drei Meter hohe, rohe Kreuz, an dem nackt der Leichnam von Sir Archibald Orston hing.

Ohne Augen, grausig verstümmelt, angenagelt … Kleine Blutbahnen suchten sich den Weg über den rauen Senkrechtbalken und sammelten sich zu einer dunkelroten Pfütze am Fuße des Marterinstrumentes. Das Licht der Blendlaternen warf bizarre Reflexe in das Nass.

(Noch heute, viele Jahre danach, wenn ich in meinen Aufzeichnungen lese, wird mir übel.)

Holmes räusperte sich.

»Wie lange hängt er schon da?«

Lestrade hob ein wenig die Arme. »Lady Elenor Orston fand ihn vor etwa drei Stunden.«

»Dann sind Sie jetzt erst hier?«, fragte Holmes merkwürdig berührt.

»Na ja«, beeilte sich der Inspektor zu sagen. »Erst wurde die Bezirkspolizei benachrichtigt. Bis die Meldung zu mir kam … dann musste ich nach Chelsea raus …«

»Schon gut«, winkte mein Freund ab. »Bringen Sie mir eine Leiter.«

»Eine Leiter?«

»Nun machen Sie schon, Lestrade. Ich muss mir den Toten näher ansehen.«

»Wir könnten ihn runter holen.«

»Eine Leiter!«, wurde Sherlock Holmes unwirsch.

Es dauerte noch etwas, bis zwei Constable eine lange Holzleiter anschleppten.

Sherlock Holmes stieg nach oben und inspizierte wohl eine viertel Stunde lang den Leichnam. Als er herabkam, sagte er: »Diese wüsten Bissspuren, wie von einem Krokodil, die sind sehr merkwürdig.«

Lestrade nickte eifrig. »Ich sah schon, dass der linke Arm fast abgetrennt ist, und ein Bein sieht schlimm aus.«

Holmes sah sich um.

In diesem Moment vernahmen wir ein Rauschen. Es kam von oben. Unsere Köpfe zuckten zum Himmel, aber wir konnten nichts erkennen. Ich hatte den Eindruck, als sei ein riesenhafter Vogel über das Anwesen geglitten.

Sogleich kam mir die mysteriöse Zeitungsmeldung von vor zwei Tagen in den Sinn.

Ein Landarbeiter behauptete steif und fest, ein gewaltiger Flugdrache sei in der Dämmerung über ihn hinweggeflogen. Von dem Luftzug der Flügel sei er aus dem Gleichgewicht geworfen worden.

Eiskalt lief es mir den Rücken hinunter. Die Verletzungen passten zu der Geschichte.

Die Stimme meines Freundes riss mich aus den Gedanken.

»Wieso hat niemand etwas bemerkt? Von den Nachbarn? Die Straße dort … Es muss noch fast hell gewesen sein, als es passierte. Das gewaltige Kreuz – das Annageln … es kann nicht so einfach vonstattengegangen sein.«

Der Inspektor zuckte die Achseln. »Das Hausmädchen hatte frei. Lady Elenor hielt sich bei Bekannten in London auf.«

»Wo ist das Hausmädchen?«

Lestrade deutete zum Haus. »Drinnen. Bei der Lady. Beide sind völlig fertig.«

Holmes sog die Nachtluft ein. Es wurde kühl.

»Stammt das Hausmädchen von hier?«

Lestrade schüttelte den Kopf. »Aus Jamaika. Sie ist mit den Orstons herübergekommen. Vor zwei Jahren. Der Sir war Attaché in Jamaika.

»Jamaika«, dehnte Holmes. »So, so.«

Er hob den Kopf und schaute noch einmal zu dem Kreuz. Bedrohlich – ja fürchterlich wirkte es gegen den Nachthimmel.

»Ich will die Damen sprechen.«

 

*

 

Die Vernehmung im Haus verlief kurz. Aus beiden Frauen war kaum ein vernünftiges Wort herauszubringen.

Sherlock Holmes ging noch einmal zum Tatort. Der Leichenbestatter war eben dabei, den Toten vom Kreuz zu lösen.

»Weg vom Tatort!«, hallte die Stimme meines Freundes donnernd über das Gelände.

Alles zuckte zusammen. Sherlock Holmes ergriff eine Polizeilaterne und rannte auf das Kreuz zu. Er leuchtete im weiten Umkreis das Umfeld ab.

Dann kehrte er befriedigt zu Lestrade und mir zurück. Er reichte dem Inspektor die Lampe und erklärte: »Sie können den Toten jetzt wegschaffen. Ich habe genug gesehen.«

Der Inspektor hielt meinen Freund am Ärmel fest. »Können Sie mir schon etwas sagen?«

Holmes zog die Augen etwas zusammen. »Suchen Sie jemanden, der sich mit Voodoo beschäftigt.«

Damit ließ er Lestrade stehen und marschierte zur wartenden Droschke. Ich beeilte mich, ihm zu folgen.

Wie wir später erfuhren, hatte der gute Inspektor nichts Eiligeres zu tun, als das Hausmädchen in Haft zu nehmen.

»Dieser Trottel«, grunzte Holmes in der Baker Street. »Beim Anblick der Dame muss er sich doch schon gefragt haben, wie sie den schweren Orston ans Kreuz bekommen hatte. Für die ganze Aktion sind mindestens sechs Männer notwendig gewesen.«

»Hm – ja«, warf ich ein und zündete mir eine Zigarre an. »Sie gaben selber den Tipp mit dem Voodoo, und das Mädchen kommt aus Jamaika.«

Holmes kicherte. »Ich sah im Schein der Laterne Spuren von nackten Füßen. Es fand ein Ritual statt. Es handelte sich zwar um große, aber schlanke Füße. Haben Sie sich das Hausmädchen angesehen? Sie ist stabil und besitzt breite Füße.«

Wenn ich an die Szene zurückdachte, die sich uns bot, erschauerte ich erneut.

»Holmes – was denken Sie, ist da passiert?«

Sherlock Holmes angelte seine Pfeife vom Kaminsims und meinte: »Ich weiß es noch nicht. Ich besitze noch zu wenig Fakten. Theorien in diesem Stadium des Falles bringen nichts.«

Ich stand vor der großen Karte, die London und Umgebung auswies. Holmes hatte sie direkt über seinem Chemietisch in der Ecke angebracht.

»Kann es sein«, hob ich an, »dass Sir Archibald sich viele Feinde auf Jamaika gemacht hat?«

Mein Freund ließ ein paar blaue Rauchwölkchen aus seiner Pfeife aufsteigen.

»Sie denken, dass sie ihn hierher verfolgt haben, um sich für etwas zu rächen?«

»Das wäre ja möglich«, meinte ich.

Holmes nickte langsam. »Das muss man mit einbeziehen. Aber irgendetwas gefällt mir an der Möglichkeit nicht.«

Wir saßen noch bis spät in der Nacht im Wohnzimmer. Das grauenhafte Bild des Toten am Kreuz bekam ich nicht aus dem Kopf.

 

Der nächste Morgen begrüßte uns mit Sonnenschein.

Meine Kriegsverletzung kündigte aber einen Wetterumschwung an.

Sherlock Holmes blätterte in seinen Notizen. Ich studierte die Times. Doch es gab nicht viel, was mich interessierte. Erneut Lärm im Parlament und eine kurze Notiz, dass die britische Physikerin Elisabeth Hears auf einer Vortragsreise auf den Bermudas verschollen sei.

Wir hatten eben unser Frühstück begonnen, als Lestrade hereinschneite.

»Ein Mord, Mr. Holmes! Wieder in Chelsea. Nicht weit vom Anwesen Sir Archibalds.«

»Teufel!«, rief ich erschüttert aus. »Wieder eine …«

»Nein, nein!«, wehrte der Inspektor ab. »Diesmal ein Messer.«

Sherlock Holmes nahm einen Schluck Kaffee. Dann sagte er ruhig: »Frühstücken Sie mit uns, dann können wir losfahren.«

»Der Zug geht in vierzig Minuten.«

Ich schaute auf meine Taschenuhr. »Das schaffen wir noch.«

Tatsächlich kamen wir, trotz des Gewimmels auf der Straße, pünktlich zur Zugabfahrt am Bahnhof an.

Mit viel Getöse lief der Vorortzug in Chelsea ein. Mit einer Kutsche ging es zum Tatort – ein abgelegenes Haus, ziemlich verwahrlost.

Zwei Polizisten hielten vor dem Haus Wache. Einer begrüßte Lestrade zackig und stellte sich als Sergeant Claußen vor.

»Wir haben nichts betreten oder verändert, Sir.«

Sherlock Holmes lachte kurz auf. »Na – endlich mal jemand mit Verstand!«