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Nr. 6

 

DR. MORTON EMPFIEHLT
SELBSTMORD

 

 

 

 

von

JOHN BALL

IMPRESSUM

 

DR. MORTON

 erscheint im

ERBER+LUTHER VERLAG, Schweiz.

Konvertierung: Romantruhe-Buchversand.

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise,

gewerbsmäßige Verbreitung in Lesezirkeln,

Verleih, Vervielfältigung/Reproduktion sowie

Speichern auf digitalen Medien

zum Zwecke der Veräußerung

sind nicht gestattet.

 

DR. MORTON ist auch als

Printausgabe erhältlich!

 

Bisher erschienen:

 

Band 1: Blaues Blut

Band 2: Das ist Ihr Sarg, Sir!

Band 3: Bad in HCL

Band 4: Biedermann und Rauschgifthändler

Band 5: Mr. Gregory kann nicht sterben

 

 

 

In Vorbereitung:

 

Band 7: Morton’s totale Operation

Band 8: Sir Henry, der Dritte im Bunde

Band 9: Ein Gangster killt den anderen

 

 

Dr. Glenn Morton, Mitglied des Königlichen Kollegiums der Chirurgen, von einigen Kollegen mit Argwohn betrachtet, vom Gros seiner Patienten jedoch wie ein Halbgott verehrt, saß im Arbeitszimmer seiner Privatklinik in Brighton und wartete auf den von Schwester Barrington angemeldeten Besucher.

Der Mann blieb in der geöffneten Tür stehen. Dr. Morton erhob sich aus seinem Schreibtischsessel und erkundigte sich freundlich, aber nicht übertrieben herzlich: »Was kann ich für Sie tun, Superintendent?«

Superintendent Walker von Scotland Yard kam näher und setzte sich in den angebotenen Sessel.

»Sie können mir sagen, was Sie über Mr. Knowles wissen, Sir. Über den Geschäftsführer der Import-Export Southern Lands Limited.«

Dr. Morton hatte die Hände gefaltet und war völlig ruhig.

»Er ist verschwunden, nicht wahr?«, erkundigte er sich. Niemand wusste das besser als er, denn er und sein Mitarbeiter Grimsby hatten Mr. Knowles verschwinden lassen.

»Ja, er ist verschwunden«, sagte der Superintendent. Ein Seufzen begleitete die Auskunft. »Woher wissen Sie das?«

Es war eine Routinefrage. Dr. Morton beantwortete sie gleichmütig.

»Die Zeitungen sind voll davon. Wie es scheint, brauchen Sie sich im Augenblick über Arbeitsmangel nicht zu beklagen, Sir.«

»Nie«, sagte Walker. »Aber im Augenblick ist es wirklich besonders schlimm. Ich könnte kaum behaupten, dass die Zeitungen übertreiben.«

»Sherry, Superintendent? Oder ziehen Sie einen Whisky vor?«

»Ich nehme gern einen Sherry.«

Dr. Morton goss ein. Seine Hände waren so ruhig und sicher wie bei einer Operation. Während er sich mit dem Mann vom Yard unterhielt, hatte sein Hirn pausenlos und mit der Präzision eines Computers gearbeitet. Er war zu dem Schluss gekommen, dass Walker mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus einem einzigen Grund hergekommen war, um sich bei Dr. Morton nach Mr. Knowles zu erkundigen.

Keine Gefahr, dachte Glenn Morton.

»Ausgezeichneter Tropfen, Sir«, sagte Walker.

»Ein Solera aus Carrascal«, sagte Dr. Morton mit der Bescheidenheit eines Gentlemans. »Ich habe ihn selbst mitgebracht, auf dem Rückweg von Gibraltar.«

»Sie haben dort den Gouverneur operiert, wenn ich mich nicht irre?«

»Ein harmloser Eingriff.«

Superintendent Walker lächelte verständnisinnig.

»Bestimmt nicht. Für einen harmlosen Eingriff würde man kaum Dr. Glenn Morton nach Gibraltar bitten.«

Dr. Morton wartete genau drei Sekunden schweigend, dann sagte er: »Um auf den Zweck Ihres Besuchs zurückzukommen, Superintendent: Ich glaube kaum, dass ich Ihnen eine große Hilfe sein kann. Ich kenne Mr. Knowles nur flüchtig.«

»Sie kennen ihn?«, fragte Walker und beugte sich interessiert vor.

Schlecht gespielt, dachte Glenn Morton. Er weiß doch ganz genau, dass ich Knowles kenne. Weshalb wäre er sonst hier?

»Mr. Knowles konsultierte mich vor Kurzem in meiner Praxis in London.«

»Ah!«

»Es gibt ein Krankenblatt in der dortigen Kartei«, sagte Dr. Morton. »Aber ich glaube, ich habe fast alles im Kopf, was darauf steht. Die Untersuchung liegt ja noch nicht lange zurück.«

»Er hat sich also untersuchen lassen?«

»Ja. So viel kann ich Ihnen sagen, ohne meine Schweigepflicht zu verletzen. Wenn Sie Details wissen wollen …«

Walker wehrte ab. »Wenn es nur eine Untersuchung war … Können Sie mir sagen, ob Mr. Knowles krank war?«

Dr. Morton zog langsam die Schultern hoch und breitete die Hände aus. »Krank«, sagte er. »Wir sind alle mehr oder weniger krank.«

»Nichts Akutes?«

»Nein.«

Superintendent Walker versank in nachdenkliches Schweigen. Er schüttelte den Kopf und zog seine Stirn in krause Falten.

»Für den Laien mag es ganz normal sein, dass Leute spurlos verschwinden. Es kommt natürlich wirklich vor, hin und wieder. Aber in letzter Zeit häufen sich die Fälle. Irgendwas steckt dahinter, und wir wissen nicht, was.«

»Bestimmt nicht rosig, Ihre Situation«, sagte Dr. Morton mit einem Anflug von Mitgefühl. »Was heißt das denn im Klartext, wenn Sie sagen, dass die Fälle sich häufen? Entschuldigen Sie meine Neugier, Sir, aber es kommt schließlich nicht alle Tage vor …« Er brach ab und lächelte fast schüchtern.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Sir. Wissen Sie, es gibt verschiedene Kategorien, in die man die abgängigen Personen einordnen kann.«

Er nutzte die Gelegenheit, Glenn Morton ein ausführliches Kolleg zu halten. Offensichtlich war er stolz auf sein Wissen und darauf, es vor einem so prominenten Zeitgenossen ausbreiten zu dürfen.

Dr. Morton interessierte sich aber hauptsächlich für die ›Abgängigen‹, für deren Abgang er sich selbst verantwortlich zeichnete. Wie erwartet, kam der Superintendent auch auf sie zu sprechen. Immerhin waren es die spektakulärsten Fälle der letzten Zeit.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sieht Scotland Yard kaum eine Chance, irgendwann Klarheit zu bekommen«, resümierte Dr. Morton, als Walker geendet hatte.

»Leider …«

»Aber das ist ja schrecklich! Vor allem für die Angehörigen. Ich kann das nachfühlen. Ich habe übrigens noch einen der Verschwundenen persönlich gekannt.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Ihren Kollegen.«

»Sie haben Chefinspektor Spratt gekannt?«, fragte Walker und starrte Dr. Morton mit großäugiger Verwunderung an.

Als wenn du das nicht wüsstest!, dachte der wieder, behielt aber sein ruhiges, gleichgültiges Gesicht (was ihm umso leichter fiel, als es teilweise durch Bart und Brille versteckt war; ausgezeichnete Tarnungsmöglichkeiten).

»Ja. Spratt kam eines Tages her, weil … Himmel, das fällt mir jetzt erst auf!«

»Was denn?«, erkundigte Walker sich, offenbar mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.

»Chefinspektor Spratt kam damals her, weil eine meiner Patientinnen spurlos verschwunden war. Soviel ich weiß, ist sie ebenfalls bis heute nicht wieder aufgetaucht.«

»Sonderbar, nicht wahr, Sir?«

Walker und Dr. Morton starrten sich sekundenlang in die Augen.

Er ist geschickter, als er sich gibt, dachte Glenn Morton. Jede Leichtfertigkeit wäre fehl am Platze. Einen Superintendenten vom Yard darf man nicht unterschätzen, auch wenn er einen noch so biederen Eindruck macht.

»Ja, sehr sonderbar«, murmelte Morton. »Die Patientin, wie hieß sie doch? Warten Sie einen Augenblick.«

Er drückte die Taste der Gegensprechanlage, die ihn mit Cynthia Barrington verband.

»Schwester Barrington, wie hieß die Patientin, die seinerzeit davongelaufen und dann spurlos verschwunden ist? Sie wissen doch, wir hatten seinerzeit Besuch von Chefinspektor Spratt, der den Fall bearbeitete.«

»Das war Mrs. Clandon«, tönte es aus dem Lautsprecher.

»Richtig, Mrs. Clandon. Haben Sie irgendetwas in dieser Sache gehört, Cynthia?«

»Nein, Dr. Morton.«

»Danke.« Er unterbrach die Verbindung und zuckte die Achseln.

Superintendent Walker sah ihn unverwandt an.

»Wie kommt es, Sir, dass Sie den Namen meines Kollegen noch wussten, aber nicht den Ihrer Patientin?«, fragte er ruhig.

Teufel auch!, dachte Morton. Ich habe überzogen.

»Was glauben Sie, wie viele Leute von Scotland Yard ich persönlich kenne?«, fragte er lächelnd zurück. »Und was denken Sie, wie viele Patienten ich habe?«

Superintendent Walker nickte. Die Auskunft schien ihn zu befriedigen. Aber dann schoss er seine Zusatzfrage ab: »Wenn man aber eine Patientin unter solchen Umständen verliert, Sir, ist das kein Grund, sich ihren Namen zu merken?«

»Sicher«, sagte Dr. Morton knapp und schaltete das verbindliche Lächeln ab. »Aber ich habe ihn eben vergessen. Ist das wichtig, Superintendent?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Kann ich noch etwas für Sie tun?«

Walker erhob sich und schüttelte den Kopf.

»Im Augenblick bestimmt nicht. Sollten wir zu dem Schluss kommen, dass wir uns das Krankenblatt von Mr. Knowles ansehen müssen, melde ich mich mit den entsprechenden Vollmachten bei Ihnen, Sir.«

»Gern.«

Dr. Morton stand ebenfalls auf und wartete, bis sein Gast den Raum verlassen hatte. Cynthia Barrington kam wenig später herein. Sie fand ihren Chef in tiefes Nachdenken versunken.

»Kann ich etwas für Sie tun, Dr. Morton?«

Sein Blick glitt über die angenehmen Rundungen seiner engsten Mitarbeiterin in Klinik und Praxis. Allmählich löste sich das Angestrengte seines Gesichtsausdrucks. Er lächelte.

»Machen Sie uns einen Tee, Cynthia«, schlug er vor. »Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass Scotland Yard in letzter Zeit immer wieder Interesse an mir findet.«

Cynthia Barrington nickte und ging hinaus. Sie überlegte, ob sie mit ihrem Chef sprechen sollte. Es gab allerhand Seltsames, worüber sie sich Gedanken gemacht hatte. Und schließlich besaß sie sein Vertrauen. Aber vielleicht ging das Vertrauen doch nicht so weit …?

 

*

 

Dr. Morton saß an William Grimsbys Bett in einem der Räume, die tief unterhalb der Klinik lagen, keinem Unbefugten bekannt oder gar zugänglich.

Die beiden Männer unterhielten sich über Superintendent Walkers Besuch.

»Ausgerechnet jetzt«, sagte Grimsby.

»Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Wenn Sie sich keine machen, Sir, mache ich mir auch keine. Trotzdem …«

»Mir wäre auch wohler, wenn Sie schon wieder in Ordnung wären, Grimsby.«

»Ich nehme mir verdammt übel, dass das passiert ist, Sir.«

»Unsinn, Grimsby.«

»Doch, Sir. Es war meine Schuld. Ich hätte mich vergewissern müssen, dass Mrs. Clandons Zimmer abgeschlossen war. Hätte sie nicht herumstöbern können, wäre Knowles nie aus seinem Zimmer entkommen.«

Er schwieg eine Weile. Dann fügte er ärgerlich hinzu: »Und er erwischt mich ausgerechnet mit einem Messer. Ausgerechnet!«

Das Messer war Grimsbys bevorzugte Waffe. Er verstand damit umzugehen wie kaum ein zweiter Mensch auf der Insel. Und da er Messer so ausgezeichnet zu benutzen wusste, verstand er's auch, sich dagegen zu wehren. Aber Knowles hatte ihn völlig überrascht. Er hatte nicht entfernt mit der Möglichkeit gerechnet, dass Mr. Knowles aus seinem Zimmer entkommen war und ihm auflauerte.

»Das Problem Knowles ist jedenfalls erledigt, Grimsby. Spurlos.«

Grimsby nickte.

»Vielen Dank, Sir. Tut mir leid, dass Sie sich die Mühe machen mussten, ihn selbst zum Säuretank zu bringen.«

»Auf diese Weise – und an allem anderen, was im Augenblick an zusätzlichen Pflichten auf mir lastet – habe ich wenigstens wieder einmal gemerkt, welches Arbeitspensum Sie gewöhnlich haben, Grimsby«, sagte Dr. Morton lachend.

»Halb so wild, Sir.«

»Manchmal muss Ihnen das doch zu viel werden!«

Grimsby schüttelte den Kopf.

»Ihnen bleibt überhaupt keine Zeit für das, was man Privatleben nennt.«

»Ihnen, Sir?«, fragte Grimsby grinsend zurück.

Er grinste noch sehr vorsichtig, denn selbst jedes Stirnrunzeln schien sich auf geheimnisvolle Weise bis zu der Bauchwunde fortzusetzen und schmerzte.

»Ich brauche kein Privatleben, Grimsby. Sagen wir es anders: Bei mir fallen Arbeit und Neigung so deckungsgleich zusammen, dass mir nichts fehlt.«

»Sie drücken genau das aus, was ich sagen wollte, Sir.«

Dr. Morton erhob sich.

»Sie werden bald wieder auf dem Damm sein, Grimsby. Ich schicke Sie für zwei, drei Wochen zur Erholung weg.«

»Das ist nicht nötig, Sir.«

»Ich halte es für angebracht, Grimsby.«

»Und was wird aus Ihrer Arbeit, Sir? Kommen Sie ohne mich zurecht?«

»Was ich nicht allein bewältige, wird verschoben.«

Grimsby wusste, dass er Dr. Morton kaum dazu bringen würde, seinen Entschluss zu revidieren. Er versuchte es auf andere Weise.

»Ihnen würde ein Urlaub auch nicht schaden, Sir, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

»Gewiss nicht. Aber wir können nicht gleichzeitig weg, Grimsby. Nicht für länger als zwei oder drei Tage. Denken Sie an unsere Gäste hier und drüben in Lannix Manor.« Er lächelte, als er ›Gäste‹ sagte. Grimsby nahm das Lächeln auf.

Lannix Manor war Dr. Mortons Landsitz, etwas außerhalb von Brighton gelegen und, ebenso wie die Privatklinik, mit einer Reihe geheimer Räume versehen, tief unter der Erde und nur für Dr. Morton und Grimsby zugänglich.

»Heute werde ich nicht mehr nach Ihnen sehen, Grimsby. Sie haben doch alles, was Sie brauchen?«

»Ja, danke, Sir.«

Morton verabschiedete sich mit einem Nicken von seinem Mitarbeiter. Er verließ den Tiefkeller und saß zwei Minuten später wieder hinter seinem Schreibtisch. Die Gegensprechanlage meldete sich durch ein Lichtsignal.

»Ja, Cynthia?«

»Dr. Morton? Fahren Sie heute nach London zurück, Doktor?«

»Leider. Ich habe leichtsinnigerweise eine Einladung angenommen. Verspricht langweilig zu werden. Ich möchte wirklich wissen, warum ich immer wieder auf solche Einladungen hereinfalle.«

»Können Sie mich nach London mitnehmen, Dr. Morton?«

»Mit dem größten Vergnügen, Cynthia. In einer halben Stunde?«

»Danke, Doktor.«

Sie waren sehr vertraut miteinander. Dr. Morton erwischte sich öfter dabei, dass er Cynthia mit den Augen des Mannes betrachtete. Grimsby deutete manchmal an, dass er ihr für sein Gefühl zu viel Vertrauen schenkte. Dr. Morton hingegen spielte sogar mit dem Gedanken, Cynthia Barrington in alles einzuweihen. Sie liebte ihn. Da bestand kein Zweifel. Sie würde ihn nicht verraten. Und sie war vielleicht die Mitarbeiterin, die er zu Grimsbys Entlastung gut gebrauchen konnte.

Als sie über die A23 in Richtung London rasten, berührte Dr. Mortons Hand beim Schalten Cynthias nacktes Knie. Flüchtig, mit der Rückseite, ohne jede Absicht.

Aber sie schauerte zusammen. Ihr Blick traf sich mit Dr. Mortons Blick. Sie lächelte.

»Entschuldigen Sie, Cynthia.«

»Keine Ursache, Doktor.«

»Wenn ich Sie Cynthia nenne, könnten Sie Glenn zu mir sagen, oder nicht?«

»Oh …«

»Wenn wir allein sind«, präzisierte er.

»Gern, Glenn.«

Er beschleunigte den Zwölfzylinder und genoss das Gefühl, dem so gut wie kein Mann sich entziehen kann: einige Hundert Pferdestärken zu beherrschen.

»Ein toller Schlitten!«, sagte Cynthia bewundernd. »Aber der Jensen war bequemer. Hier drin fühlt man sich wie in einer Rakete.«