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MAGNUS LINDKVIST

Wenn
die Zukunft
kommt

Eine Anleitung zum
langfristigen Denken

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Wenn die Zukunft kommt

Eine Anleitung zum langfristigen Denken

1. Auflage

© 2014 Midas Management Verlag AG

eISBN 978-3-906010-60-1

ISBN 978-3-907100-60-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Übersetzung: Claudia Koch und Kathrin Lichtenberg

Deutsche Bearbeitung: Gregory C. Zäch

Satz: Ulrich Borstelmann, Dortmund

Cover: Agentur 21, Zürich

When the Future begins – A Guide to Long-Term Thinking

© by Magnus Lindkvist | LID Publishing Ltd. 2013

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in Seminarunterlagen und elektronischen Systemen.

Midas Management Verlag AG, Dunantstraße 3, CH 8044 Zürich

Mail: kontakt@midas, Social Media: »midasverlag«

INHALT

KAPITEL 1
Von der Zukunft verführt

KAPITEL 2
Eine Welt des Zukunftsdenkens

KAPITEL 3
Zukunftsforschung: Kunst oder Wissenschaft?

KAPITEL 4
Zukunfts-Denkfallen

KAPITEL 5
Die Zukunft schaffen und ändern

KAPITEL 6
Freunde und Feinde der Zukunft

KAPITEL 7
Das ewige Versprechen

Anmerkungen

KAPITEL 1

VON DER ZUKUNFT VERFÜHRT

Z wie Zukunft

Wir leben in der Zukunft – der Zukunft der Vergangenheit. Doch während die Zukunft der Vergangenheit glänzend war, technisch, glücklich und konfliktfrei, weil uralte Probleme gelöst wurden, sind die 2010er Jahre ziemlich konfus. Ich sitze an einem wolkenlosen Sommerabend auf meiner Terrasse in einem Stockholmer Mittelklassevorort. Nichts in meiner Umgebung ist älter als 100 Jahre.

Die Gebäude stammen aus den späten 1980er Jahren und sehen langsam alt aus. Die Autos, die entlang der Straße geparkt sind, – eine beliebige Auswahl aus den letzten 15 Jahren. Der Sommerhimmel erinnert mich an meine Kindheit vor etwa drei Jahrzehnten. Meine Jeans, die ich nur noch zu Hause zu tragen wage, waren etwa zur gleichen Zeit modern wie Bon Jovi. Die Zukunft sieht überhaupt nicht so aus wie Die Zukunft. Um ehrlich zu sein, sieht sie aus wie ein Mix aus verschiedenen Zeiträumen.

Meine Gedanken schweifen ab.

In der Zukunft leben wir alle auf dem Mars. Oder in irgendeinem anderen fernen Teil der Galaxis. Gekleidet in digitale, iPod-weiße Uniformen, die ständig unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden überwachen, werden wir leben, bis wir 200 Jahre alt sind. Mindestens. Arbeit ist ein Ding der Vergangenheit und anstatt uns für unsere Mühe zu bezahlen, belohnt man uns für die Schönheit unserer Gedanken. Auch Nationalitäten und Hautfarben kennt man nur noch aus der Erinnerung, wenn der Genpool der Welt zu einem einzigen Gebilde verschmilzt – ein Ergebnis globaler Mischehen und der Fortpflanzung über alle Grenzen hinweg.

In der Zukunft übertragen und manipulieren wir Materie ebenso leicht wie heutzutage Bits und Gene. Wenn wir etwas brauchen, stellen wir es einfach her. Bei Bedarf. Ganz egal, ob es ein Autoteil ist oder die perfekte Replik einer Streitaxt aus dem 14. Jahrhundert.

In der Zukunft sind Armut und Hunger nur noch Seiten in den seltener besuchten Bereichen der Wikipedia-Nachfolgerin, die wiederum schon während der Kindheit per Injektion verabreicht wird. Wissen als Impfung. In der Zukunft sind wir weiser, glücklicher, gesünder und reicher. In der Zukunft. Die drei Wörter mit dem größten Sex-Appeal der Welt.

Sexy deshalb, weil die Wörter »In der Zukunft« unseren Verstand verführen und ihn in einen imaginären Raum locken, in dem alles besser ist als heute. Oder schlechter. Eine mentale Zuflucht vor der Tyrannei des Hier und Jetzt. Dieses Gefängnis der Gegenwart.

»In der Zukunft« ist nicht nur ein Notausstieg. Es ist auch ein Schlüssel. Zwischen jetzt und der Zukunft liegt eine Tür, die nur geöffnet werden kann, wenn wir darüber nachdenken, was weit hinter dieser Tür liegt. Gleich hinter der Schwelle liegt das Morgen, ein imaginärer Dienstag. Wenn wir aber weiter in die Dunkelheit wandern, können wir erkunden, welche Freuden oder Sorgen der nächste Sommer bringen könnte. Oder der Ruhestand. Oder der Ruhestand unserer Enkelkinder. »In der Zukunft« ist eine Droge, eine bewusstseinsverändernde Substanz.

»In der Zukunft« ist eine Waffe. In den Händen eines visionären Politikers oder eines wagemutigen Unternehmers können diese Worte Skeptiker bekehren.

»In der Zukunft« ist zu einem globalen Zeitvertreib geworden. Beim Übergang von einer Welt, in der uns die meisten Entscheidungen abgenommen wurden, zu einer Welt, in der wir zu einem Leben ewiger Freiheit und Wahlmöglichkeiten verdammt sind, finden wir uns nur zurecht, wenn wir erkunden, was uns unterschiedliche Wege bringen oder auch nicht bringen könnten. Und es gibt keine richtige Antwort. Wie sollte das auch gehen? Es gibt kein anderes Sie, das in die entgegengesetzte Richtung läuft, das gerade nicht diese Zeilen liest.

»In der Zukunft« ist der Grund, warum es dieses Buch überhaupt gibt.

Die Bedeutungen eines Wortes

Wir benutzen dasselbe Wort für die kommenden Millisekunden und das nächste Jahrtausend. Doch damit verlieren wir Informationen. Die kommenden Sekunden können genau genommen Teil der Zukunft sein, dennoch reservieren wir den Begriff »Die Zukunft« für weiter entfernte Zeiten und Orte, sei es den Traumurlaub, den wir eines Tages zu genießen hoffen, das Leben, das unsere Kinder einmal führen könnten, wenn sie erwachsen und zuhause ausgezogen sind, oder ein beliebiges, weit entferntes Datum, wie den 31. Juli 2048.

Diese immer gleichen Worte verschleiern die Tatsache, dass die Zukunft ein Konglomerat aus Daten, Situationen, Hoffnungen, Gebeten, Orten und Träumen ist. Über die Zukunft nachzudenken, bedeutet, dass man durch einen Bruchteil dieses vielschichtigen Universums flitzt.

»Was soll ich an diesem Wochenende machen?«

»Soll ich in Aktien oder Rentenpapiere investieren oder alles verschleudern, als gäbe es kein Morgen?«

»Ist der Klimawandel real?«

»Werden wir irgendwann Leben im Weltall finden?«

»Werde ich heiraten?«

»Werde ich in Kalifornien glücklicher sein?«

»Wann werde ich sterben?«

Die Zukunft ist ebenso wie die sprichwörtliche Möhre an der Angel eine mentale Konstruktion und ebenso wie eine Erinnerung existiert sie eigentlich nicht. Doch mit solchen Fragen können wir untersuchen, was hinter unserer unmittelbaren Situation liegt, und uns zwischen den Straßen, Träumen und Albträumen zurechtfinden, die vielleicht auf uns warten. Aus Gründen der Einfachheit bietet es sich an, sich das Ganze als dreidimensionalen Würfel vorzustellen.1

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Dieser Würfel repräsentiert den mentalen Raum, der von der Zukunft eingenommen wird. Wenn wir darüber nachdenken, reisen wir zwischen den unterschiedlichen Räumen im Inneren des Würfels hin und her.

Klare oder verschleierte Sicht?

Einiger Dinge können wir uns ziemlich sicher sein, wie etwa unserer Sterblichkeit oder der Richtung, die ein Tennisball nimmt, wenn man ihn fallenlässt. Anderes dagegen kann man unmöglich wissen. Wie das Wissen selbst. Was werden wir in Zukunft wissen und wie werden wir an dieses Wissen gelangen? Eine klare oder verschleierte Sicht spiegelt diese beiden Blickwinkel wider, die uns wiederum auf unterschiedliche Weisen beeinflussen. Die Dinge, die wir klar sehen, werden üblicherweise nicht als »Zukunft« eingeordnet, sondern als Gesetze der Physik, als Fakten des Lebens oder einfache Routinen, während die Dinge, die sich hinter dem Schleier verstecken, offen sind für Interpretationen, Mythenbildung und Angst.

Große oder kleine Wirkung?

Wirkungen kann man auf viele verschiedene Art messen. Wirtschaftswissenschaftler reden gern über Nutzwert, während Psychologen versuchen, mentale Effekte abzuschätzen. Darüber hinaus bedeutet der Geltungsbereich der Wirkung für verschiedene Leute etwas anderes. Ein 14 Jahre alter Junge, der von seiner Freundin verlassen wurde, hält es für das Ende der Welt, während der Rest der Welt – vielleicht abgesehen von seinen Eltern – weiterlebt, ohne etwas von dieser persönlichen Katastrophe zu ahnen. Ebenso hat die Mutation eines Virus irgendwo auf der Welt im Moment nur winzige Auswirkungen, könnte aber später eine katastrophale Pandemie verursachen.

Gut oder schlecht?

Schließlich gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen Dingen, die in sich gut sind, und solchen, die negativ sein können. Auch dies ist eine Angelegenheit von subjektiver Bewertung, die sich mit der Zeit ändern kann. Denken Sie an Ideen, die einst gut waren und jetzt für schlecht gehalten werden, wie zum Beispiel der Aderlass zum Heilen von Krankheiten, eine bis in das 19. Jahrhundert verbreitete medizinische Praxis.

Der Sinn des Zukunftswürfels besteht nicht darin, jeden einzelnen Gedanken oder jedes einzelne Ereignis, dem wir in unserem Leben begegnen werden, klar zu beschreiben und zu bewerten. Stattdessen soll er den mentalen Rahmen setzen, den wir nutzen, wenn wir vorausdenken. Wir können ihn auch einsetzen, um zwischen dem Zukunftsdenken in unterschiedlichen Epochen zu unterscheiden. Der gesellschaftliche Optimismus, den man in den 1950er Jahren in den USA und Europa spürte, ballte sich üblicherweise im Bereich Gut und Großartig, während der Pessimismus, den wir in den 2010er Jahren rings um uns sehen können, deutlich in der verschleierten und schlechten Ecke bleibt. Und schließlich können wir den Würfel benutzen, um zu unterscheiden, wie verschiedene Menschen über die Zukunft denken. Allzu selbstsichere Jugendliche, religiöse Eiferer und ungehemmte Pessimisten haben oft eine kristallklare Vorstellung von der Zukunft, die allerdings zerschmettert wird, sobald sich die Realität einstellt.

Welche Rolle Sie in Bezug auf die Ereignisse in dem Würfel spielen, hängt davon ab, wo Sie selbst die Zukunft sehen und wie Sie Ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen. Vieles kann sich im Laufe der Zeit ändern – selbst das Altern. Die kulturelle Konditionierung ist dabei sehr wichtig. Wir haben im letzten Jahrhundert eine allgemeine Verschiebung von einer fatalistischen Sicht – akzeptiere das Leben so, wie es ist – hin zu einem Gefühl der Allmacht festgestellt. Wie der Zukunftsforscher Stewart Brand sagt: »Wir sind wie Götter und können das genauso gut …«.2

Ein Buch über unser Lieblingsziel

In einem berühmten Experiment Ende der 1980er Jahre sollten amerikanische Studenten angeben, wie oft sie über die Zukunft nachdenken. Das Ergebnis: durchschnittlich 12 Prozent der Zeit der Teilnehmer oder eine Stunde pro Acht-Stunden-Arbeitstag.3 Das mag nach nicht viel klingen, doch wenn Sie sich eine Statistik darüber anschauen, womit wir unsere Zeit verbringen, dann ist eine Stunde pro Tag schon ziemlich viel. Es wurde außerdem festgestellt, dass das Nachdenken über die Zukunft zu mehr Freude und Wohlbefinden führt.4 Mit anderen Worten, die Zukunft ist eines unserer Lieblingsziele. Dieses Buch möchte genauer untersuchen, warum und wie wir diese mentale Pilgerfahrt in die, wie die Schweden es nennen, framtiden oder »Vorwärtszeit« unternehmen und damit eine Stelle auf dem Zeitstrahl in eine Geisteshaltung verwandeln.

In dieser Mission habe ich beschlossen, bestimmte Aspekte des Zukunftsdenkens zu opfern.

Dieses Buch ist keine technodeterministische Utopie über die vielen tollen Dinge, die uns eine irgendwann einmal auftauchende Technik bringen wird. Es macht Spaß, über solche Technik zu lesen, ist aber nicht besonders nützlich.

Genauso wenig wie die momentan verbreitete dystopische Vision einer Zukunft, in der Umweltverschmutzung, böse Wissenschaftler und gierige Geschäftsleute miteinander konspirieren, um diesen zarten Planeten in Grund und Boden zu wirtschaften. Solche Visionen sind meist sehr beängstigend und lassen einen manchmal über seine eigenen (Nicht)-Aktionen nachdenken, liefern aber kein Rüstzeug für das Vorwärtsdenken. Es sind gewissermaßen Fertiggerichte.

Und schließlich ist dieses Buch kein vorschreibendes Handbuch. Es wird Ihnen nicht dabei helfen, ganz genau zu verstehen, wie Sie sich bei einem Lottogewinn verhielten oder wenn Sie vor einer gigantischen Flutwelle fliehen müssten.

Dieses Buch handelt nicht von der tatsächlichen Zukunft – es versucht nicht, mit Meteorologen, Börsenanalysten, Tarot-Karten, Kristallkugeln, Science-Fiction- Romanen oder Elementen zu konkurrieren, die angeblich über prophetische Gaben verfügen. Stattdessen ist es eine Erkundung der imaginierten Zukunft – unserer Beschäftigung mit dem Wort »Zukunft« –, wie wir über das Morgen und darüber hinaus denken und denken sollten. Ich habe auf den mentalen Werkzeugen aufgebaut, die von Futurologen, Science-Fiction-Autoren und anderen Propheten entwickelt wurden, um einen Ratgeber zum langfristigen Vorausdenken zu konstruieren. Bei seinen Ratschlägen weist es auch auf unsere Defizite und Fehler beim Nachdenken über das Morgen hin, denn wie der Philosoph Friedrich Hegel einst sagte: »Grenzen zu kennen, bedeutet, sie bereits überwunden zu haben.« Ich hoffe, Sie zum besseren, konstruktiveren Nachdenken über die Zukunft zu inspirieren, damit Sie sich nicht zu sehr auf all die Zukunftsschwafler verlassen müssen.

In diesem Buch geht es um folgende vier Fragen:

image Was ist die Zukunft?

image Wie denken wir über die Zukunft und

image Wie sollten wir über sie denken?

image Wie können wir die Zukunft ändern?

Kapitel 2: »Eine Welt des Zukunftsdenkens«, definiert das Zukunftsdenken und beschreibt, wieso diese Fertigkeit heute so viel wichtiger ist als in der Vergangenheit.

Kapitel 3: »Zukunftsforschung: Kunst oder Wissenschaft?«, konzentriert sich auf die Grundlagen der Futurologie, ein schickeres Wort für Zukunftsdenken.

Kapitel 4: »Zukunfts-Denkfallen«, weist Sie darauf hin, wo uns unser zukunftsdenkendes Hirn am ehesten in die Irre führen wird.

Kapitel 5: »Die Zukunft schaffen und ändern«, wirft einen genaueren Blick darauf, wie wir unseren Weg nach vorn bahnen können, anstatt in einer deterministischen Sicht auf das Morgen hängenzubleiben.

Kapitel 6: »Freunde und Feinde der Zukunft«, betrachtet die gesellschaftlichen Kräfte, die versuchen, unsere Meinungen über die Zukunft zu beeinflussen.

Kapitel 7: »Das ewige Versprechen«, zeigt, wo alles endet. Oder beginnt.

Meine Annahmen über Sie, lieber Leser

Ein Buch über das Denken muss Schwächen haben. Wir wissen immer noch sehr wenig über das Bewusstsein und seine Feinheiten. Darüber hinaus ändert sich unser Denken über das Denken, während wir einen Einblick in die vielen Geheimnisse des Gehirns gewinnen. So wurden Depressionen lange als das Ergebnis einer schlechten Erziehung betrachtet, inzwischen herrscht jedoch Konsens darüber, dass es sich um eine chemische Fehlfunktion handelt. Ebenso könnten wir in der Zukunft zu dem Schluss kommen, dass das Zukunftsdenken ein Ergebnis hormonellen Ungleichgewichts war. Ich habe dieses Thema aus einer subjektiven Sichtweise heraus betrachtet, bei der ich stark auf meinen eigenen Erfahrungen mit dem Nach-vorn-Denken aufbaue. Ich gehe davon aus, dass Sie ein kluger Mensch sind, der seine Zeit und seine Aufmerksamkeit sinnvoll anlegen möchte. Sie haben keine Zeit für ein langatmiges, philosophisch umständliches Lexikon über den Futurismus und seine vielen Schwächen. Sie suchen aber auch nicht nach einem allumfassenden Glaubenssystem (sprich: billige New-Age-Philosophie) über das Morgen. Sie sind kein Vollzeitfuturologe oder Kristallkugelprofi. Die meisten von uns sitzen nicht den ganzen Tag herum, entwerfen Strategien und sagen Dinge vorher. Wir wollen einfach Möglichkeiten finden, um ein bisschen besser zu leben und zu arbeiten, und ich habe dieses Buch als Beitrag zu unserer alltäglichen Suche geschrieben. Oder sollte es unsere tagtägliche Suche sein?

KAPITEL 2

EINE WELT DES ZUKUNFTSDENKENS

»Schauen Sie beim Gehen nicht nur auf Ihre Füße.«

Dag Hammarskjöld, früherer UN-Generalsekretär

Wann beginnt die Zukunft?

Die nächsten Sekunden sind zu 99% vorhersagbar. Deswegen bezeichnen wir sie nicht als »Die Zukunft«, sondern reservieren diesen Begriff für weiter entfernte Orte. Die Zukunft ist die Ungewissheit an dem Punkt, an dem die Unzulänglichkeit unserer Sinne durch unsere Gedanken ergänzt werden muss. Unsere fünf Sinne sind mit der Gegenwart beschäftigt und für sie gedacht. Falls Sie Stimmen aus der Vergangenheit hören oder Düfte aus der nächsten Woche spüren können, sind Sie vielleicht mit übernatürlichen Fähigkeiten gesegnet, möglicherweise müssten Sie aber auch einmal gründlich Ihren Kopf untersuchen lassen.

Jenseits der Gegenwart jedoch liegen unendlich viele Möglichkeiten. Was finden Sie an der Straße um die Ecke? Wie wird morgen das Wetter? Wie werde ich meinen 50. Geburtstag feiern? Wann werde ich in den Ruhestand gehen? Das ist nur ein winziger Schnappschuss der Welt jenseits des Jetzt. Da wir aber nicht in der Lage sind, sie zu sehen, zu hören, zu berühren, zu riechen oder zu schmecken, müssen wir uns auf die Zeitreise-Fähigkeit unseres Gehirns verlassen.

Lernen Sie, durch die Zeit zu reisen

Meine Zwillingssöhne wurden 2008 geboren. Das erste Jahr ist, wie alle Eltern von Säuglingen bestätigen können, eine anstrengende Mischung aus Füttern, Windeln wechseln, Kinderwagen schieben und schlaflosen Nächten. Falls Babys in der Lage sind, über die nächste Mahlzeit hinaus zu denken, verbergen Sie diese Fähigkeit sehr gut. Das zeitreisende Gehirn kommt erst einige Jahre später in Gang. Manche Leute behaupten, dass Kinder mit kreativen Fertigkeiten gesegnet seien. Leider sind sie das nicht. Ihnen fehlt die Fähigkeit, in die Zukunft zu denken, die im präfrontalen Kortex des Gehirns angesiedelt ist. Diese funktioniert erst mit Mitte Zwanzig vollständig. Aus diesem Grund platzen sie mit allem heraus, was ihnen in den Sinn kommt, und das wird manchmal fälschlicherweise für Kreativität gehalten.*

Kinder essen auch im Namen der ungehemmten Kreativität Popel oder lecken Schnecken an. Außerdem sind die zukunftsdenkenden Teile des Gehirns die ersten, die wieder verkümmern, weshalb man von älteren Leuten manchmal Bemerkungen hört wie: »Mich kümmert die Zukunft nicht mehr, ich lebe einfach im Hier und Jetzt.« In der kurzen Lücke zwischen unseren Mittzwanzigern und den frühen Sechzigern jedoch können wir mental durch die Zeit fliegen und unsere möglichen Träume und Albträume erkunden.

Wenn wir aber über die Zukunft nachdenken, haben wir keinen grenzenlosen Horizont. Stattdessen neigen wir dazu, uns relativ dicht an unserer zeitlichen Heimat in der Gegenwart zu halten und auf der Zeitlinie nicht zu weit voranzuschreiten. Deshalb konzentrieren sich die meisten Nachforschungen über die Zukunft auf Ereignisse in den kommenden Wochen oder Monaten. Werden wir gelegentlich genötigt, langfristig zu denken, ist es unwahrscheinlich, dass wir uns große Mühe geben, über das Jahr, sagen wir, 2025 hinauszudenken. Lediglich eineinhalb Jahrzehnte weiter als jetzt.