Becks letzter Sommer

Für meine Mutter, meinen Vater

und meine Schwester,

die ich liebe und denen

ich so viel verdanke

»But I was so much older then,

I’m younger than that now.«

Bob Dylan

On The Road To Raito

(Intro)

Als er bei Neapel vor einem Lokal parkte, hatte Beck acht Stunden Fahrt und sein ganzes Leben hinter sich. Beim Aussteigen fiel ihm auf, dass sein graues Cordjackett zerknittert war. Nachdem er vergeblich versucht hatte, es glattzustreichen, betrat er das kleine Lokal.

Drinnen setzte er sich an einen Ecktisch und griff nach der Speisekarte. Während er las, kamen wieder die Zweifel. Der Abschied von München, die Kündigung, die leergeräumte Wohnung; jetzt hatte er tatsächlich alles aufgegeben. Kein gutes Gefühl. Sicher, er war endlich frei, aber wenn das diese Freiheit war, von der alle immer sprachen, dann wurde sie gnadenlos überschätzt.

Beck klappte die Karte zu. »Conto?«, rief er vorsichtig. In seinem Italienischwörterbuch hatte gestanden, dass das das passende Wort sei, um etwas zu bestellen. Oder war es das passende Wort gewesen, um die Rechnung zu verlangen? Egal, der Kellner oder Inhaber des schäbigen kleinen Ladens legte mit einem gelangweilten Blick seine Zeitung weg und erhob sich. Er trug ein hellrotes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, so dass seine behaarten Unterarme freilagen.

»Che cosa desidera? Mangiare?«, fragte er, ohne Beck anzusehen.

Desidera, dachte Beck. Das bedeutete doch »entscheiden«, oder? Wieso hatte er jetzt nicht sein Wörterbuch dabei? Wieso hatte er nie irgendetwas Nützliches dabei?

Er deutete auf die Karte und bestellte Spaghetti Napoli, dazu einen Tee. Der Kellner nickte und nahm ihm die Karte aus der Hand. Dann zog er ab und rief der alten Frau, die am Herd in der Küche stand, etwas zu. Beck schaute sich um. Das Lokal war verlassen, nur ein schwarzer Kater lag zusammengerollt auf einem Kissen unter dem Tresen. An der Wand hingen Bilder von ehemaligen Spielern des AC Milan und ein paar Wimpel. Aus dem Radio an der Theke dudelte ein berühmter Schlager aus den Siebzigern. Draußen spielten ein paar Jungen mit einem Ball.

Als der Kellner wiederkam, stellte er einen Teller vor Becks Nase, in dem ein paar Nudeln in einer roten Brühe schwammen. Daneben stand ein Becher mit heißem Kaf‌fee. Als Beck den Kellner noch mal zu sich rief, um sich zu beschweren, dass er keinen Tee bekommen hatte, entstand ein kurzer Disput. Der Kellner redete auf ihn ein und schien ziemlich genervt zu sein. Beck verstand keine Silbe, aber einmal hörte er das Wort »Familia« raus. Familia? Was war nur los? Großer Gott, er wollte doch nur eine beschissene Tasse Tee, wieso musste er sich jetzt diesen Mist anhören?

Schließlich warf ihm der Kellner einen angewiderten Blick zu und stellte ihm noch eine zweite Tasse Kaf‌fee hin, bevor er einfach wieder hinter der Bar verschwand.

Okay, dachte Beck, dann also Kaf‌fee.

Er fing an, mit der Gabel auf dem Teller rumzustochern. Die Nudeln schmeckten, als wären sie schon vor Tagen zubereitet und seitdem in einem Karton aufbewahrt worden. Als er vor einigen Wochen auf seinem Trip durch Osteuropa in Rumänien gewesen war, hatte er einmal etwas ähnlich Schlechtes gegessen. Aber Rumänien war ein armes Land, das immerhin eine gute Ausrede hatte. Für diesen Fraß gab es keine Entschuldigung.

Beck stand auf und ging auf die Toilette. Der Raum war warm und schlecht gelüf‌tet, es stank nach Katzenklo, nur das Sirren einer Mücke war zu hören. Er ging zum Waschbecken. Im Spiegel entdeckte er, dass ein Spritzer Tomatensoße an seinem Bart klebte. Beck wusch ihn ab. Dann betrachtete er sein Ebenbild. War dieser bärtige, langhaarige Mann wirklich er selbst?

Er versuchte sich daran zu erinnern, wie vor über einem halben Jahr alles angefangen hatte. Wie sein altes Lehrerleben Stück für Stück auseinandergebrochen war. Im Grunde hatte alles mit Lara angefangen. Er dachte an ihr ausdrucksstarkes, feines Gesicht und das winzige Muttermal unter dem linken Ohr. Ihm fiel ein, wie er sie das erste Mal auf der Straße gesehen hatte. Sie hatte ihn beschimpft. Nicht zu fassen, war das schon mehr als sieben Monate her?

Alles ging so schnell vorbei. Man müsste die Zeit festhalten, dachte er. Sich einfach auf sie drauf‌legen, sie ersticken, bis sie keine Luft mehr bekommt …

Bis sie keine Luft mehr bekommt? Die Zeit oder was? Beck schüttelte nur den Kopf. Es war verrückt. Er konnte ganz unten sein, aber so ein Schwachsinn wie »erstickte Zeit« fiel ihm immer ein.

Als er wieder zurückgehen und zahlen wollte, bemerkte er, dass er seinen Geldbeutel im Auto liegengelassen hatte. Nach kurzer Überlegung entschied er, sich einfach durch das Fenster der Toilette aus dem Staub zu machen. Er kramte eine Zigarette aus der Jacketttasche und steckte sie sich in den Mundwinkel. Dann wurde ihm klar, dass er es ernst meinte. Das gefiel ihm. Er prellte die Zeche. Er lachte kurz und zündete ein Streichholz an. Nein, für dieses Essen wollte er wirklich nicht bezahlen.

Beck zwängte sich durch die schmale Öffnung nach draußen und suchte nach seinem Auto. Er fühlte sich lebendig. Sein kleines Verbrechen berauschte ihn, und so bemerkte er nicht, dass er auf seinem Weg zum Wagen genau an dem Lokal vorbeiging, aus dem er gerade geflüchtet war.

Er blickte nach rechts und sah mitten in die weit geöf‌fneten Augen des Kellners, der doch ein wenig überrascht war, seinen Gast, der noch nicht gezahlt hatte, draußen auf der Straße herumspazieren zu sehen.

Nach einer Sekunde des Nachdenkens, die beide Seiten gebraucht hatten, um die neue Situation zu begreifen, ging es los. Der Kellner brüllte etwas, ruderte mit den Armen und kam aus dem Lokal gelaufen. Beck begann sofort loszurennen, musste dabei jedoch plötzlich lachen. Sein altes Problem. Schon als Kind hatte er blöd vor sich hin gekichert, wenn er beim Fangen verfolgt oder beim Verstecken gesucht wurde.

Nach zwanzig Metern drehte er sich noch mal um, aber der Kellner war nicht mitgelaufen, sondern stand vor seinem Restaurant. »Cazzo!«, brüllte er noch, dann winkte er einfach ab.

Beck setzte sich hinters Steuer seines Audis und ließ den Motor an. Er warf noch einen letzten Blick auf den Kellner und sah, wie dieser schimpfend in sein Lokal zurückging. Nicht ärgern, dachte Beck. Dann trat er die Kupplung, legte den ersten Gang ein und fuhr los.

TRACKLIST

A-SEITE

Song 1

Song 2

Song 3

Song 4

B-SEITE

Song 5

Song 6

Song 7