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ARND ZSCHIESCHE / OLIVER ERRICHIELLO

Marke statt Meinung

Die Gesetze der Markenführung in 50 Antworten

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Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buchs geprüft.

Wir danken Professor Dr. Timm Homann für die Idee, die immer wieder entscheidenden Fragen zur Marke in eine Ordnung zu bringen und die korrekten Antworten aufzuschreiben.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-866-5

Lektorat: Sabine Rock, Frankfurt am Main | www.druckreif-rock.de

© 2018 GABAL Verlag, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

www.gabal-verlag.de

»Qualität ist Respekt vor dem Volk.«

Ernesto Rafael Guevara de la Serna, bekannt als Che Guevara,

Industrieminister und Leiter der Nationalbank der Republik Kuba1

Inhalt

Vorwort

Grundsätzliches.

1. Was ist eine Marke?

2. Wie entsteht eine Marke?

3. Seit wann gibt es Marken?

4. Was ist der Sinn von Marken?

5. Ist Marke ein Ersatz für Religion? Oder sogar eine Ersatzreligion?

6. Wovon »lebt« eine Marke?

7. Wie schafft es eine Marke, zur Gewohnheit zu werden?

8. Warum sind Marken überhaupt so wichtig?

Marke und Soziologie.

9. Warum versteht, erklärt und stärkt Soziologie die Marke?

10. Wie sieht das wissenschaftliche Modell der Soziologie aus?

11. Ist Psychologie nicht das eigentliche Thema beim Kaufen? Warum nicht Markenpsychologie?

12. Marke ist ein Massenphänomen, das den Menschen jedoch individuell anspricht. Was bedeutet diese Erkenntnis für das einzelne Markensystem?

13. Warum soll eine Marke ein Kultur- oder Sozialkörper sein?

14. Welchem Grundprinzip folgt die »gesunde« Markenentwicklung?

Marke und Leistung.

15. Grundlage jeder erfolgreichen Marke ist ihre besondere Leistung. Ist das noch zeitgemäß? Geht es nicht eher um Emotionen und das möglichst hippe Image einer Brand?

16. Wenn jede Markenleistung höchst individuell ist – wie kann sie nach einem einzigen Prinzip analysiert werden?

17. Eine konkrete Leistung im Unternehmen bildet die Ursache für eine abstrakte Wirkung außen. Wie sehen typische Ursachen für eine Markenwirkung aus?

18. Wie werden die Leistungen herausgefiltert und isoliert, die die Ursachen für das positive Marken-Vorurteil bilden?

19. Was definiert den einzelnen Marken-Erfolgsbaustein?

20. Warum ist es so wichtig, dass die Leistung immer typisch bzw. selbstähnlich erbracht wird? Wenn Vertrauen da ist, warum kann die Marke nicht mal experimentieren?

21. Marke bedeutet gute Leistung über die Zeit. Eine Marke benötigt also Zeit – aber gilt das in unserer schnelllebigen Welt noch?

Marke, Herkunft und Historie.

22. Spielt die Herkunft einer Marke in globalisierten und digitalisierten Zeiten noch irgendeine Rolle?

23. Wie setzt man die Herkunft einer Marke richtig ein?

24. Manche Herkunft ist negativ besetzt – oder gar nicht. Was tun?

25. Kann die Herkunft – z. B. Stadt, Region, Land – selbst eine »richtige« Marke sein?

26. Wie wichtig ist die Geschichte für die Marke? Will die Kundschaft von heute wirklich noch irgendetwas von gestern wissen?

Marke, Markenführung und Strategie.

27. Wo sollte der Bereich Markenführung und Strategie im Unternehmen organisatorisch angesiedelt sein?

28. Viele Marken treibt die Angst um, nicht jung genug zu wirken: Mit welcher Strategie bleibt eine Marke ewig jung?

29. Gute Markenführung bedeutet klare Grenzen zu ziehen. Wenn sich eine Marke über ihre Grenze definiert, was ist dann mit bewusst massengängigen »demokratischen« Marken wie Kik oder Ikea?

30. Moderne Markenführung bedeutet oft, sich für strategische Entscheidungen an Zahlen und Daten zu orientieren. Aber können Statistiken und »Mafo« eine Marke überhaupt abbilden?

31. Wozu führt die Zahlenhörigkeit in Unternehmen? Welche Auswirkungen hat das auf die Marke und ihre Führung?

32. Ist gute Markenführung im börsennotierten Konzern schwerer durchzusetzen als im inhabergeführten Betrieb?

33. Wie kann ein Unternehmen auch als Aktiengesellschaft eine starke Marke sein bzw. bleiben?

34. Falls keine Strategie (mehr) anschlägt: Können Marken sterben?

35. Gibt es ein »Zuviel« an Markenführung?

Marke, Markenname und Symbolik.

36. Wie wichtig ist das Logo für eine Marke?

37. Wie wichtig ist der Name für eine Marke?

38. Wie erklärt sich die Fixierung auf eine Logo-Veränderung, wenn es generell um eine Veränderung im Unternehmen geht?

39. Wie wichtig ist ein Slogan oder aktuell »Claim« für die Marke? Kann ein Claim Symbolkraft entwickeln und die Markenleistung sinnvoll unterstützen?

Marke, Marketing und Kommunikation.

40. Was ist der Unterschied zwischen Markenführung und Marketing? Beides soll doch der Verkaufsförderung dienen.

41. Was zeichnet gutes Marketing aus?

42. Was sind typische Fehler des Marketings in Bezug auf die Marke?

43. Woran manifestiert sich gute Werbung und Kommunikation?

44. Woran manifestiert sich schlechte Werbung und Kommunikation?

45. Sollten mittelständische Unternehmen anders werben als Konzerne?

46. Die »Awareness« ist entscheidend. »Likes« und »Follower« sind die neue Währung. Falls solche Phrasen wahr sind, ist leistungsorientierte Werbung dann ein Auslaufmodell?

Marke und Kundschaft.

47. Die Markensoziologie teilt die Kundschaft in das 5-K-Schema ein. Warum und was hilft es?

48. Welche differenzierenden Eigenschaften haben die fünf Typen von Marktteilnehmern?

49. Kann man im digitalen Zeitalter mit einer unendlichen Anzahl von Optionen und steigender Marktkomplexität überhaupt noch dauerhafte Markenbindung der Kundschaft erreichen?

Markenführung, Innovation und Zukunft.

50. Selbstähnliche Evolution der Marke versus Innovation und Fortschritt: Wie geht das zusammen?

Fazit: Zur Zukunft der Marke

Quellen und Anmerkungen

Literatur

Wer sind die Autoren?

Vorwort

Woran krankt die Markenarbeit?

Marke ist Thema – und zwar eines, das eine unglaubliche Meinungsvielfalt beinhaltet. Eine wahre Publikationswelle zum Thema Marke überschwemmt den Medien- und Buchmarkt, sie überflutet unsere Hirne mit Wissen, Halbwissen und viel Viertelwissen. Immerhin, alle leisten ihren Wissensbeitrag: Neurologen, Biologen, Psychologen, Volks- und Betriebswirtschaftler, Soziologen, Juristen, Trend- und Marktforscher, Werber, sonstige Berater – und sie alle haben eine ganz spezielle Meinung zum Thema Marke. Manche möchten ihre Thesen wissenschaftlich belegen und suchen nach entsprechenden Beweisen: So werden zum Beispiel Probanden in Kernspintomografen geschoben, damit sichtbar wird, wie einzelne Gehirnareale auf Coca-Cola oder im Vergleich auf Pepsi reagieren.

Parallel dazu wird geredet und geredet: In den »Konfis«, den »Telkos« und in Büros weltweit werden transkontinental stundenlang Meinungen zum Thema ausgetauscht (nicht diskutiert – null Dialektik). Ob Geschäftsführer oder CEO, ob Marketingteam, Sachbearbeiter oder das Millionenheer selbsternannter Marken- und Werbeexperten: Alle haben eine Meinung oder eine feste Überzeugung davon, was in Bezug auf das Thema Marke richtig und wichtig ist. Nicht zu vergessen besorgte Pädagogen und andere selbsternannte Ethiker: Auch Oberstudienräte und andere Botschafter des Bildungsbürgertums äußern sich gerne dazu – konsequent kritisch, denn böse Marken verführen unsere Jüngsten spätestens auf dem Schulhof dazu, sich sozial abheben zu wollen, mit einem »gebrandeten« T-Shirt, mit hippen Sneakers oder einem teuren iPhone. Eigentlich startet die Attacke noch früher (bloß nehmen die Kinder dies im zarten Alter von eins bis sechs noch nicht wahr): Inzwischen gibt es von Bosch Papas Bohrhammer in der Kleinkindversion, die Familienkutsche als Rutschauto und im weiterhin analogen Einkaufsladen liegt die Iglo-Fischstäbchenverpackung in der Miniversion.

Kurzum: Marken sind omnipräsente Fix-, Streit- und Angelpunkte quer durch sämtliche sozialen Kreise, Schichten und Altersstufen. Apple oder Samsung, Dacia oder Škoda, Lindt oder Ritter Sport, Hotel A oder B usw. Ob wir uns professionell damit beschäftigen oder nicht, Marken begleiten uns 24/7 und zwar überall: ob Café, Fitnessstudio, Kneipe oder heimisches Sofa. Noch von diesem gemütlichen Ort aus senden Markenfans auf Facebook schnell eine nächtliche Freundschaftsanfrage an den Discounter ihres Vertrauens oder liken den Autohersteller ihrer Träume. Im Fernsehen dozieren Fußballfunktionäre über die Marke FC Bayern oder Schalke 04; selbst geistliche Würdenträger parlieren im 21. Jahrhundert nonchalant über den Markenkern ihrer Kirche und zeigen sich fotografisch vereint mit hippen Kommunikationsprofis (und ihren langen Bärten). Die ARD hat dem Phänomen eine eigene Reihe zur besten Sendezeit gewidmet (Markencheck), das ZDF hat nachgezogen und lässt Marken wie McDonald’s, Burger King und Nordsee zum Fast-Food-Test gegeneinander antreten. Privatsender beschäftigen sich mit Kultmarken und lustigen Werbespots, Regionalsender mit Markendynastien oder vitalisierender Cola aus Thüringen – das Themenspektrum ist medial wie multimedial unerschöpflich.

Übrigens auch aus Sicht der Marken selbst: Auf Youtube haben viele Unternehmen ihre eigenen »Markenkanäle« zu ihrer Kundschaft; Twitter-, Facebook-, Instagram- und Pinterest-Buttons zur Verbreitung der eigenen Produkte stehen bei allen professionell aufgestellten Marken als mediale Armada parat. Ebenso unerschöpflich und weitverbreitet ist allerdings auch die Naivität in Bezug auf Marken: Eine politische Partei wollte kürzlich mit neuem rosa Logo-Farbton eine inhaltliche »Neuausrichtung der Marke« zeigen und ihre Erneuerung quasi über diese Neubemalung beweisen. All das ist faszinierend und bringt uns zu der für dieses Buch entscheidenden Frage: Was steckt hinter dem ganzen Marken-Tohuwabohu?

Ein profundes Problem: Zu viel Meinung – zu wenig Wissen

Leider handelt es sich bei den meisten der vielen Äußerungen zum Thema Marke um eine eher vage Vorstellung oder um eine schlichtweg falsche Meinung. Wir möchten trotz der Tatsache, dass wir uns im Zeitalter des Individuums und des gefeierten freien Denkens befinden, auf eines dringend hinweisen: dass Marke nur sehr wenig mit einer individuellen Meinung zu tun hat – dafür aber sehr viel mit sozialen, über-individuellen Gesetzmäßigkeiten. Das trifft zumindest dann zu, wenn man für eine Marke in verantwortlich leitender Position tätig ist. Es ist daher notwendig, beim Thema Marke zunächst eine »gehobene« (nicht abgehobene) neutrale Außenperspektive einzunehmen, um die entscheidenden Strukturen eines solchen Systems erkennen und herausarbeiten zu können. Leider werden aktuell höchstens noch Fußballspiele von einer erhöhten Warte, also von außen, strukturell betrachtet und bewertet – und auch da ist meist extrem viel persönliche Meinung dabei.

Wir fordern: Aufhören. Aufhören mit diesem in unseren Augen unqualifizierten Umgang mit diesem wichtigen Thema. Uns geht es darum, die gesamtwirtschaftlich desaströsen Folgen dieser teilweise völlig wahnwitzigen Fehleinschätzungen, die gerade auch von leitenden Verantwortlichen getroffen werden, zu stoppen. Selbst skandalöse Vorkommnisse bei Konzerngrößen wie VW, Mercedes, der Deutschen Bank oder der Allianz haben im Nachgang zu keinerlei spürbaren Besserung im Umgang mit Marke geführt – Belege dafür, dass zahlreiche Missverständnisse über den Einfluss, aber vor allem über den Wert von Marken vorliegen: Missverständnisse, die deutlich mehr als Milliarden kosten, weil sie unbezahlbares Vor-Vertrauen in eine Marke, aber auch in das Wirtschaftssystem vorsätzlich zerstören. Wie schon Ludwig Erhard bemerkte: »Nichts ist für eine Volkswirtschaft schädlicher als ein misslungener Markenartikel.« Wir möchten diesen Satz dringend ergänzen: Nichts ist für eine Volkswirtschaft schädlicher als ein Markenartikel, der nicht strikt auf Basis seiner individuellen Gesetzmäßigkeiten und eigenen Stärken geführt wird.

Warum dieses Marken-Buch?

Hierzu ein fast neutrales Beispiel, zu dem vermutlich jeder etwas sagen kann: Wenn heute in Gesprächen das Thema Schule oder Lehrer aufkommt, haben sehr viele Menschen eine dezidierte Meinung dazu. Warum ist das so? Da fast alle Menschen hierzulande eine Schule besucht haben und dabei Kontakt mit Lehrern hatten (oder durch ihre Kinder weiterhin haben), ist das ein Thema, zu dem sie sich ihre Meinung gebildet haben. Wenn in Gesprächen das Thema Marke ins Spiel kommt, haben ebenfalls sehr viele Menschen eine Meinung dazu. Warum? Alle Menschen haben tagtäglich und überall – vom Badezimmer am Montagmorgen bis zum Tatort am Sonntagabend – mit Marken zu tun und werden zudem mit Markenwerbung überschüttet. Daher ist auch das ein Thema, zu dem alle eine Meinung besitzen.

Grundsätzlich ist es natürlich positiv zu bewerten, dass Menschen sich eine eigene Meinung bilden, selbst wenn uns das Ergebnis mitunter unerträglich bis absurd erscheint. Für eine Meinung sollte jedoch zumindest ein gewisses Grundwissen und keine alternative Faktenlage der Ausgangspunkt sein. Oder, wie es der US-Soziologe, Diplomat und Senator Daniel Patrick Moynihan einst treffend postulierte: »Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten.«2 Dieses Recht gilt auch für Marken, denn sie können sich gegen die Meinung der Geschäftsführung oder von externen Beratern meist nur über abstürzende Verkaufszahlen wehren – und dann ist der Fehler bereits passiert.

Marke ist keine Spielwiese für Meinungen – schon gar nicht im Unternehmen

Das Problem beim Thema Marke ist, dass die geschilderte Meinungsvielfalt oft auch aufseiten der Verantwortlichen herrscht. Faszinierend, wenn auf höchster Ebene – wo viele der wenigen Anwesenden sich einiges darauf einbilden, dass sie allein auf Basis von Fakten ihre Entscheidungen treffen – bei Nennung des Wortes »Marke« häufig Außergewöhnliches geschieht: Persönliche Meinungen und Gefühle betreten den »Konfi«. Ökonomische Kennziffern, selbst die in Konzernen allgegenwärtige »Mafo«, verlassen ihn kurzzeitig. »Ich meine …«, »Ich glaube …« oder »Ich denke …« – so zögerlich beginnen plötzlich die Sätze der wichtigen Männer und Frauen. Es kommt zu besonders langwierigen Diskussionen, weil es nun um Bauchgefühle und persönliche Befindlichkeiten, aber nicht (mehr) um Fakten geht. Nichts im Raum klingt mehr analytisch geprägt – außer wenn jemand Zahlen und umfassende »Mafo« präsentiert, um seine eigene Meinung zu untermauern. Ein anderer interpretiert diese dann kurz darauf anders. Und so weiter. Ergo: Das Thema Marke löst stets viele Meinungen aus. Das geschieht immer und überall – leider auch dort, wo es nichts zu suchen hat: im Unternehmen.

Und das ist ein schwerwiegender Fehler. Markenführung unterliegt klaren Gesetzmäßigkeiten. Nichts ist selbstzerstörerischer für eine Marke als zu viele Meinungen. Daher lautet eine markensoziologische Gesetzmäßigkeit:

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Marken werden immer von innen zerstört, niemals von außen.

Keine Marke geht den Bach runter, weil ihre Kundschaft von heute auf morgen beschließt, nie mehr ein Produkt der Marke XY zu kaufen. Marken gehen dann unter, wenn das Management nicht versteht oder nicht verstehen will, was die Kundschaft von »ihrer« Marke erwartet und was nicht. Gute Markenführung hat viel mit Demut, Unterordnung und Sensibilität gegenüber einem System zu tun – einem bewährten Erfolgssystem, das deutlich größer ist als jeder einzelne Manager oder der aktuelle Geschäftsführer. Diese Erkenntnisse sind jedoch schwer durchzusetzen in einer Zeit, in der man davon ausgeht, dass das freie Individuum in seiner ganzen Meinungsvielfalt immer und überall gesehen, gehört, gefordert und gefördert wird. Ständig wird uns suggeriert, dass unsere Meinung gefragt ist: Im Internet werden Präferenzen und Meinungen zu fast allem abgefragt. Einkaufserlebnisse, Arztbesuche, Lehrveranstaltungen, Rechtsanwälte, alles sollen wir bewerten – als Laien. Selbst beim Verlassen öffentlicher Toiletten wird unsere Meinung in Form von Smiley-Buttons abgefragt (als Dank gibt´s manchmal einen Sanifair-Bon). So viel Meinung war nie. So viel Interesse an Meinung war nie. Leider orientiert und erschöpft sich das Interesse im abschließend berechneten Durchschnittswert.

Marke ist immer das Besondere, niemals der Durchschnitt

Discounter, Dönerbude oder Diadem: Jede Marke lebt davon, dass sie niemals durchschnittlich ist, im Gegenteil: Marke ist immer das Besondere. Es entsteht, wenn eine Marke eine klare Botschaft nach außen sendet, und nicht, wenn sie eine oder Zehntausende Botschaften empfängt und darauf aktionistisch reagiert. Billig, teuer, lecker, sicher, komfortabel, sozial, robust, schnell, gesund, ökologisch – jede dieser einzeln betrachtet überaus klaren Botschaften wird vom Marketing gerne »erfolgreich« zerlegt. Die Experten für den rasanten Abverkauf schaffen das, indem sie das vormals völlig eindeutige Angebot komplett verwässern – mit dem fatalen Ziel, für jede potenzielle Zielgruppe, jede Alters-, Gehalts- und soziale Gewichtsklasse, für jedes vom Marketing oder von Nielsen identifizierte zukünftige Marktsegment ein attraktives Angebot im Portfolio zu haben.

Eine zunehmende Austauschbarkeit der Marke, der Verlust von Einmaligkeit und somit Erkennbarkeit ist die Folge – der Existenzgrund des Unternehmens wird auf diese Weise ausgehöhlt, sein wirtschaftliches Fundament systematisch abgetragen. Parfum von Mercedes-Benz oder ein Luxuswagen von einer Marke, die Volkswagen heißt – das sind nur zwei besonders prominente Beispiele für das konsequente Ausdehnungsprinzip in Richtung Unkenntlichkeit. Alle Wege führen irgendwann zum Ziel: Die Kernkundschaft, die das Unternehmen seit Jahren finanziert, erkennt »ihre« Marke immer weniger und stellt die Zahlungen irgendwann ein – oder lässt sich mit heftigen Rabatten noch ein bisschen länger zum Kauf überreden.

Ein Marken-Endergebnis der »Ich bin für alle attraktiv«-Haltung« sieht man an den Ex-Großparteien bzw. ihren Wahlergebnissen und an einer Ex-Kernkundschaft, die durch die Nichtbeachtung der eigenen Marke zu Wechsel-, AfD- oder Nichtwählern »erzogen« wurde. Anderes Beispiel: Selbst Menschen, die sich für Autos interessieren, können zwischen den »üblichen« Baureihen der »üblichen« Anbieter Marken nur noch dann unterscheiden, wenn sie ganz nah an das Auto herangehen und das Logo erkennen. Es ist bezeichnend, dass, konträr zur gestalterischen Angleichung bei gleichzeitiger Ausweitung der Modellpalette, die Markenzeichen an den Autos kontinuierlich größer geworden sind.

All diese Fehler geschehen, obwohl das Thema Marke, Markenpflege usw. ständig und ausführlich gepowerpointet, präsentiert, beschrieben und diskutiert wird, und ungeachtet einer Vielzahl von Theorien, Ansätzen und Instrumenten zur Erklärung. Es gibt derzeit 88 unterschiedliche Markenmanagement-Instrumente, und das sind nur die bekanntesten. Die Definitionen im Angebot des Deutschen Markenverbandes umfassen mehrere Seiten. Übrigens: Schon in den 1970er-Jahren sprachen Marketingwissenschaftler von einer »babylonischen Verwirrung« im Feld des Markenwesens. Geben Sie das Stichwort »Markenberatung« bei Google ein und Sie erhalten über 81 000 Hits – und das trotz der unüberschaubaren Flut von Beratern und Büchern, Seminaren und Webinaren, die alle Aspekte des Brandings mit Ihnen klären und für Sie erklären wollen. All das bedeutet in der Quintessenz: Es ist absolut nicht klar, was eigentlich eine Marke ist oder was Marke bedeutet. Das Problem: Es existieren viele Worte, Meinungen, Theorien, Ideen und Modelle in Bezug auf die Marke – aber kein Gegenstand. Ergo: Die Marke als der alles entscheidende wirtschaftliche Faktor wird selten so behandelt, wie sie es verdient hätte. Denn entscheidend für das richtige Verständnis ist: Marke ist nie abstrakt, sondern immer konkret.

Darum dieses Buch.

Wir möchten Sie mitnehmen auf den Weg zu einem konkreten, praxisund lebensnahen Verständnis von Marke und das Thema in 50 typischen Fragen (und Antworten) intensiv von allen Seiten behandeln. Es sind teilweise Fragen, die uns seit 20 Jahren immer wieder im Rahmen unserer Arbeit gestellt werden. Es würde uns sehr freuen, wenn dieses Buch Sie bei Ihrer täglichen Arbeit im Unternehmen unterstützt und sein gezielter Einsatz Ihnen hilft, noch weit mehr als die hier vorgestellten 50 Fragen zu beantworten.

Hamburg, im Mai 2018

Arnd Zschiesche und Oliver Errichiello

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»Der Fetisch-Charakter der Ware und sein Geheimnis.

Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voller metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert hat, ist nichts Mysteriöses an ihr […], aber sobald sie als Ware auftritt, verwandelt sie sich in ein sinnlich, übersinnliches Ding.«

Karl Marx, Markenexperte 18673

1.

Was ist eine Marke?

Antwort: Eine Marke ist ein positives Vorurteil.

Jede Marke ist ein positives Vorurteil in den Köpfen der Menschen. Jede Marke existiert wirtschaftlich, weil eine bestimmte Gruppe von Menschen ein positives Vorurteil über die Leistung des markenführenden Unternehmens besitzt. Ob Nivea, Fliesenleger Hans Kachel oder die Lieblingspizzeria um die Ecke – sowohl die globale Konzernmarke als auch der regionale Handwerker und das Restaurant im Viertel besitzen ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage aus einem bestimmten Grund: weil sich eine gewisse Anzahl von Menschen darüber einig ist, dass die spezifischen Leistungen der drei Unternehmungen gut sind, und diese Menschen daher diese Leistungen regelmäßig bei Bedarf in Anspruch nehmen. Eine an sich heterogene Personengruppe teilt ein positives Vorurteil über eine spezifische Leistung und bildet in Bezug auf diese Leistung eine homogene Gruppe.

Der Aufbau eines positiven Vorurteils folgt organischen Sozialprinzipien: Ein Produkt oder eine Dienstleistung trifft auf Resonanz bei einer bestimmten Personengruppe, die daraufhin bereit ist, in diese spezifische Leistung wiederholt ihr Geld zu investieren. Über den regelmäßigen Verkauf von Ware an diese Gruppe entsteht wirtschaftliche Sicherheit beim Anbieter. Dank der Existenz von Wiederkäufern erhält der Verantwortliche eine Berechnungsgrundlage für sein Geschäft. Erst Stammkundschaft ermöglicht vorausschauendes Steuern und Handeln: Ob Eckkneipe im Dorf oder Treppenlift im Haus – eine Marke wird nicht ab einem »irgendwie« prozentual festgelegten Popularitätsgrad wirksam. Sie wirkt ab dem Moment, in dem eine bestimmte Personengruppe zu Wiederkäufern wird und diese Menschen dem Unternehmen ihr Geld – meist im Voraus – anvertrauen, weil sie Vor-Vertrauen in die Leistung entwickelt haben.

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Ergo: Das positive Marken-Vorurteil ist immer an Leistung gekoppelt: Es ist das Resultat guter Leistungen über die Zeit.

Gute Leistungen erschaffen positive Vorurteile

Dieser »einfache« soziale Vorgang ist entscheidend für die Markenbildung: Menschen sind mit einer Leistung dauerhaft zufrieden. So zufrieden, dass sie wiederholt gekauft haben und wiederholt keine Enttäuschung erleben mussten. Die Folge: Eine Anzahl Menschen redet positiv über eine Leistung und vermehrt darüber nach und nach die Anzahl der Käufer. Jede Marke der Welt funktioniert über ein solches Voraus-Urteil. Auch ein Zwischenhändler, der öffentlich gar nicht als Marke in Erscheinung tritt, existiert nur, weil seine Handelspartner ein positives Vorurteil über seine Leistung besitzen.

image EXKURS: Das Vorurteil heute – Image-Desaster und PR-GAU

Das Vorurteil an sich hat seit Langem ein heftiges Imageproblem, weil es fast nur noch in seiner negativen Variante bekannt ist. So lautet der allgemeine Tenor: Vorurteile muss man bekämpfen und letztendlich abschaffen, denn nur dumme Menschen haben Vorurteile. Sowohl die Popularität als auch die Abwehr und Angst vor dem abwertenden Voraus-Urteil haben viel mit seiner historisch erwiesenen Durchschlagskraft und den oft völlig unkalkulierbaren Folgen zu tun: Vorurteile mobilisieren Massen und funktionieren im schlimmsten Fall wie ein sozialer Brandbeschleuniger. Daher wird mancher Politiker, der unter sinkendem allgemeinen Zuspruch bei gleichzeitig gesteigertem eigenem Machtinteresse leidet, spätestens eine Woche vor dem Urnengang zum Sozial-Pyromanen. Wie er das macht? Indem er mit zwei bis drei bewusst gewählten und öffentlich gesprochenen Sätzen die passenden kollektiven Vorurteile und somit Wählermassen aktiviert. Wie gut das funktioniert, wenn man es nur konsequent genug macht, hat eine junge Partei in Deutschland jüngst erfolgreich vorgeführt.

Aber warum klappt das so »gut«? Als oftmals über Jahrhunderte gewachsene kulturelle Deutungsmuster besitzen Vorurteile soziale Energien, die nahezu unüberwindbar sind. Exakt darin liegt der Grund für ihre Widerstandskraft gegenüber gut gemeinten Nachbarschaftsfesten und anderen Versuchen, diese Vorurteile einzudämmen. Wer gegen starke Vorurteile kämpft, hat schwache Chancen: Es geht gegen Überzeugungen, die oft von einer Generation an die nächste vererbt werden und konstituierend für das Selbstbild der betroffenen Menschen sind – also echter Sozial-Granit. In der Konsequenz herrscht akute Bruchgefahr für jeden ethisch erhobenen Zeigefinger gegen kahl rasierte Schädel alter deutscher Prägung. Dabei ist das nur die halbe Wahrheit.

»Das negative Vorurteil ist mit dem positiven eins. Sie sind zwei Seiten einer Sache.«4 Der Soziologe Max Horkheimer charakterisiert einen bedeutsamen Sachverhalt: Jedes positive Vorurteil inkludiert ein negatives und umgekehrt. Punktum. Wissenschaftlich wertfrei ist ein Vorurteil somit nicht per se eine Verfehlung menschlicher Toleranz, sondern »nur« eine Vereinfachung, welche die Vielfalt individueller Handlungen einer Gruppe bündelt. So betrachtet wäre ein effizienter Einkaufsgang zu Edeka zehn Minuten vor Ladenschluss ein Ding der Unmöglichkeit, gäbe es keine Vorurteile: Wieso sollten wir darauf vertrauen, dass Danone, Emmi und Landliebe kein Formaldehyd in Plastikbecher füllen? Und wer oder was ist überhaupt dieser Da- none?

Ohne Vor-Wissen und Vor-Vertrauen in Marken und deren Leistungen wären die meisten Alltagsabläufe wie ein Blindflug zum Mars. Allein im Gang mit den diversen Konfitüren würde die Prüfzeit bis zur Entscheidung über das Haltbarkeitsdatum auf den meisten Gläsern hinausgehen.

In unserer modernen Welt sind Vorurteile die Grundvoraussetzung dafür, sich angesichts überbordender Komplexität überhaupt eine Chance auf einen Überblick zu erhalten. Möchten Sie wirklich in Ihrem Alltag ständig jedes Vorurteil austesten? Persönlich prüfen, ob in Rom oder Palermo die Autos am Zebrastreifen eher anhalten als in Oslo oder Hamburg? Selbst testen, ob großflächig tätowierte Menschen eher zu Gewalt neigen als tatoofreie? Da waren jetzt wohl einige »böse« Vorurteile dabei, aber vielleicht sind diese ja hilfreich für Ihren nächsten Italienaufenthalt. Und manchmal sind Vorurteile einfach nur zum Lachen, trotz fehlender Political Correctness: »Du bist so überflüssig wie ein Fundbüro in Polen.«

Die Medaille hat demnach zwei Seiten: Es sind genau jene hartnäckigen Vorurteile, die einerseits zu Hass und den grausamsten Ereignissen führen (jeden Tag neu, wie die Nachrichten beweisen), die aber andererseits aufgrund genau dieser sozialen Härte-Eigenschaften für jeden Wirtschaftskörper einen Segen darstellen: Unternehmen und deren Marken existieren, weil Menschen ein positives Vorurteil besitzen, das sich sogar gegen Affen- und Dieselskandale, Elchtests, Rückrufaktionen, Analogkäse und Pferdefleisch als erstaunlich stabil erweist. Wenn die Marke VW nicht viele Jahrzehnte lang erfolgreich über herausragende Leistungen im Automobilbau ein starkes positives Vorurteil im globalen Markt etabliert hätte, könnte das Unternehmen ein Dieselgate kaum überleben.

Einziger Grund dafür: Es existiert bereits ein positives Vorurteil über deren Leistung. Daher kann man mit dieser Marke im Wortsinne leichter rechnen und spart gewaltig bei den Einführungskosten. Nur nebenbei erwähnt: Fast alle Marken-Neueinführungen scheitern.