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Ricarda Reschke

Isli’Idian

Held und Tyrann

Band 1

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für alle, die auch im Alltag
die Wunder sehen

Inhalt

Prolog

Gefangen und befreit

Das Fest in den Bäumen

Geheimnisse und Wahrheiten

Mondschein, See und neue Freunde

Aufbruch nach Hause

Auf der Reise

Der Kampf mit den Hirkanen

Unerwarteter Sieg

Krankenversorgung und alte Geschichten

Im Hirkanental

Zusammentreffen mit Artaros

Schwarze Magie und finstere Träume

Heimkehr nach Hause

Die Zeit im Palast

Das Turnier

Das Finale

Heilung und Hoffnung

Siegesfeier und neue Gefährten

Ein seltsamer Traum

Erneuter Aufbruch

Im Tal der Wächter

Alessins Befreiung

Bruder gegen Bruder

Der wahre Feind und ein neuer Pakt

Ein erster Sieg

Prolog

Es war dunkel. Doch von draußen kamen Schritte und Stimmen. »Gebt auf! Im Namen König Artaros. Ergebt euch und unterwerft euch ihm!« Es war eine fremde raue Stimme. Die Antwort aber kam von einer warmen, bekannten Stimme. Der Vater! »Das werden wir nicht. Wir lebten immer selbstständig und so wird das auch weiterhin sein. Ihr habt keinen Grund uns anzugreifen.« »Oh doch, den haben wir!«, die Stimme war kalt und klang, als würde die Person grinsen. Grinsen vor Mordlust und der Gier zu töten. »Irgendwo hier habt ihr sie doch, eure Geheimwaffe, mit der Ihr plant, unser friedliches Königreich Zun’Asar anzugreifen. Nicht wahr?« »Das ist nicht wahr, wir …«, doch bevor der Vater seine Worte zu Ende sprechen konnte, hörte man ein ratschendes Geräusch und dann ein Gurgeln. Als würde jemandem die Kehle durchgeschnitten und dieser jemand war ihr Vater. Es erhob sich ein Geschrei und plötzlich stürmte ein gepanzerter Mann ins Haus, hob sein Schwert und schlug sie nieder. Das kleine wehrlose Mädchen lag blutüberströmt auf dem Boden. In dem Glauben sie sei tot, wandte sich der Gepanzerte nun ihrer Mutter zu und tötete auch diese. Dann verließ er das Haus. Das kleine Mädchen jedoch war noch nicht tot. Langsam und von Schmerzen gequält kroch sie zu ihrer Mutter, legte deren Arm um sich, kuschelte sich an den erkaltenden Körper und fiel in Ohnmacht.

Drei Tage vergingen, bis das Mädchen wieder erwachte. Sie krabbelte unter dem Körper ihrer Mutter hervor, gab ihr einen leichten Kuss und verließ das Haus. Vor der Tür lag ihr Vater mit aufgeschlitzter Kehle, in der Hand seinen Bogen. Sie nahm ihn – noch viel zu groß für sie – doch sie nahm ihn. Dann sah sie sich noch einmal um. Es war nichts mehr übrig. Alle tot, die Häuser zerstört und das Lagerhaus in Brand gesetzt. »Das wirst du mir büßen«, flüsterte das Kind und ging aus dem zerstörten Dorf. Hinaus in die Welt. Allein und klein. Doch von da an war sie kein Kind mehr.

Gefangen und befreit

»Macht mich sofort los!« Ein wunderschönes Mädchen mit blondem lockigen Haar und tiefblauen Augen war an einen Baum gebunden. Vor ihr saßen fünf bewaffnete, starke Männer. Soldaten von Artaros, dem König von Zun’Asar. »Ich befehle es euch, was fällt euch ein! Mein Vater wird euch zur Rechenschaft ziehen!« Einer der Soldaten drehte sich zu ihr um und sagte mit rauer Stimme: »So, wird er das? Bist du dir da sicher, Prinzesschen? Oder werden ihm eher die Knie zittern beim Gedanken, dass dir etwas angetan werden könnte?« Ein lautes Lachen erhob sich. Es war schließlich bekannt, dass Jamatos, der König des Nachbarlandes Sura’Sin, sehr ängstlich war – besonders, wenn es um das Wohlergehen seiner Familie und seiner Untertanen ging. Verzweifelt ließ das Mädchen den Kopf hängen. Das ausgerechnet sie sich von den Häschern Artaros’ hatte fangen lassen – nur, weil sie einmal ungestört durch den Wald streifen wollte. Was nun? Was würden sie mit ihr machen und was hatten sie mit ihrem armen Vater vor?

Doch mitten in ihrem Grübeln hörte sie ein zischendes Geräusch, das an ihrem Ohr vorbei flog. Als sie den Kopf hob, fiel der Soldat, der gerade noch zu ihr gesprochen hatte, vornüber. Ein Pfeil steckte ihm im Rücken.

Aufgescheucht sprangen die übrigen vier auf und zogen ihre Schwerter. Doch noch bevor irgendetwas unternommen werden konnte, fiel schon der zweite durch einen weiteren gut platzierten Pfeil in seinem Hals. Das blonde Mädchen erschrak sehr. Sie zappelte, doch die Seile, die sie an dem Baum hielten, lockerten sich kein bisschen.

»Wer ist da?«, rief einer der Soldaten. Doch noch bevor er seinen Mund wieder schließen konnte, steckte auch ihm ein Pfeil in der Kehle. Panisch vor Angst stoben die verbliebenen zwei davon, doch es nützte ihnen nichts. Auch sie trafen tödlich gezielte Pfeile und sie fielen zu Boden.

Nun bekam auch das Mädchen Panik. Tränen liefen ihr aus den Augen und ihre Handgelenke, um die das Seil gebunden war, waren aufgescheuert und bluteten. Doch sie kam nicht los. Was nun? Was war das? Woher kamen die Pfeile? »Bitte, wer auch immer du bist, töte mich nicht! Bitte!«, rief sie. Doch niemand antwortete. Stattdessen spürte sie, wie jemand ihre Fesseln durchschnitt. Sie rutschten zu Boden. Überglücklich rieb sie sich ihre wunden Handgelenke und schaute sich um. Nirgendwo war jemand zu sehen. Doch wer hatte ihr geholfen? Ein Laut ließ sie zusammenfahren. Es hörte sich an wie Reiter. Oh nein. Wahrscheinlich weitere Soldaten von Artaros. Die Soldaten, die sie ergriffen hatten, hatten ja einen Boten losgeschickt. Verzweifelt stapfte sie von einem Fuß auf den anderen. Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Plötzlich hielt ihr jemand den Mund zu. Ihr Herz setzte aus. Sie wurde unter eine Baumwurzel gezogen und dann kamen schon die Reiter zum Vorschein. Es waren wirklich welche von König Artaros.

Sie ritten genau auf die Stelle zu, wo sie gerade noch gestanden hatte. Doch als die Reiter die toten Soldaten sahen, hielten sie an.

Aus ihrem Versteck heraus konnte sie sie beobachten. Sie gingen um die Leichen herum, stupsten sie mit ihren Füßen an und sahen sich aufmerksam um. Einer kam ganz dicht an ihr Versteck heran. Doch bevor er sie entdecken konnte, hielt ihn ein anderer auf: »Hauptmann Korkes. Sehen Sie.« Der Soldat hielt dem Mann einen der Pfeile entgegen. Die Spitze war mit vielen kleinen Widerhaken gespickt. Eine absolut tödliche Waffe. Der Hauptmann nahm den Pfeil entgegen und ballte seine Faust darum: »Schon wieder.« Seine Stimme war tief und kalt. Das blonde Mädchen spürte, wie sich die Gestalt, die ihr den Mund zuhielt, verkrampfte. »Und das Gör?«, fragte der Hauptmann den Soldaten weiter.

»Keine Spur, Herr.«

»Dann muss sie bei denen sein.« Der Hauptmann legte den Kopf schief: »Doch wieso?«

»Verzeiht Herr, aber kann es nicht sein, dass sie einfach davongelaufen ist?« Der Soldat sah etwas verängstigt drein, als sich der Hauptmann zu ihm umdrehte.

»Nein«, sagte der kühl. »Dann wären hier ihre Spuren noch zu sehnen. Es gibt nur wenige, die es schaffen, ohne einen Abdruck oder auch nur die kleinste Fährte zu hinterlassen aufzutauchen und wieder zu verschwinden.«

»Sollen wir die Gegend durchsuchen?«

»Nein, das würde einen zu großen Verlust bedeuten.«

»Aber Herr, das wäre doch jetzt die Gelegenheit, die Rebellen ein für alle Mal auszuschalten. Bitte gebt mir ein paar Männer, dann …«

»NEIN!«, schrie der Hauptmann den Soldaten an.

»Aber wieso nicht?«

»Sie kennen den Wald. Noch bevor du in ihre Nähe kommen würdest, wärst du von so etwas hier durchbohrt.« Der Hauptmann hielt ihm den Pfeil vor die Nase.

»Aber wie werden wir denen dann Herr? Ich meine, wir können doch nicht den ganzen Wald niederbrennen, oder?« Skeptisch sah der Soldat seinen Hauptmann an.

»Nein, zu meinem Bedauern nicht«, antwortete dieser. »Wir müssen eigentlich nur rauskriegen, wo sie sich verstecken.« Mit vor Blutdurst funkelnden Augen sah der Hauptmann den Soldaten an. Dieser nickte nur: »Ich habe verstanden.«

»Auf die Pferde, wir reiten zum Schloss zurück.« Die Reiter saßen auf und stürmten schnell wie der Wind davon.

Erst als man den Hufschlag ihrer Pferde nicht mehr hören konnte, ließ die Hand, die bis dahin den Mund des Mädchens zugehalten hatte, von ihr ab.

Es war eine behandschuhte Hand. Doch auch klein.

Das blonde Mädchen drehte sich um. Hinter ihr stand eine Gestalt, wie sie noch nie eine gesehen hatte. Etwa so groß wie sie selbst, in schwarzen und grünen Stoff gekleidet, schwarz lederne Stiefel und Handschuhe schützten Füße und Hände vor dem schon kühler werdenden Wind. Unter einem grünen Umhang lugte das Ende eines Bogens hervor und an dem ledernen Gürtel hingen ein langer Dolch und ein Köcher mit Pfeilen. Die Haare wurden von einer Kapuze verdeckt und das Gesicht lag verborgen hinter einer mundlosen Maske auf der verteilt rote Spritzer zu sehen waren. So rot, genau wie … »Blut«, schluckte das Mädchen. Doch die Gestalt ihr gegenüber rührte sich nicht.

Sie sah sie nur weiterhin an. Mit Augen, die die eines Teufels hätten sein können. Sie schienen die Kälte, die von ihr ausging, widerzuspiegeln. Oh ja, Kälte, das war es, was das Mädchen gerade spürte. Die Kälte, die von dieser Person ausging, verschlug ihr den Atem. Sie machte ihr Angst. Und dennoch, war es nicht gerade diese Gestalt gewesen, die ihr einen kurzen Moment zuvor das Leben gerettet hatte?

»Danke«, flüsterte das Mädchen und senkte den Blick. Sie konnte dieser unheimlichen Gestalt einfach nicht mehr in die Augen sehen. Plötzlich ergriff sie ihr Handgelenk. Um nicht zu schreien, biss sich das Mädchen auf die Lippen. Die Gestalt nahm sie mit sich, führte sie in den Wald. Der Schritt war sicher, sie wurde gut geführt. Nicht einmal stieß sie mit ihrem Fuß an einen Ast. Doch sie traute sich den ganzen Weg nicht, den Blick zu heben. Schließlich blieben sie vor einem Baum stehen. Er sah genauso aus wie alle anderen, nur an den Wurzeln war etwas anders. Da war eine Höhle. Die gruslige Gestalt sah sie an. Sollte sie etwa in diese Höhle gehen?

Die Gestalt nickte. Also los! Das Mädchen schluckte noch einmal und stieg dann in die Wurzelhöhle hinab. Doch dort ging es nicht weiter. Sie drehte sich zu der Gestalt um, die noch immer vor dem Höhleneingang stand. Diese nickte mit ihrem Kopf nach oben. Hoch? Das Mädchen hob den Kopf und sah nach oben. Der Baum, unter dem sie nun war, war hohl und tatsächlich, da hing eine Strickleiter im Innern des Baumes herab. Diese kletterte das Mädchen nun hinauf. Ein Wackeln der Leiter verriet ihr, dass die Gestalt ihr folgte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das Ende der Leiter erreicht hatte. Sie befand sich in der Baumkrone.

Doch um sie herum waren Stege, Seile und Leitern gespannt, die von einer Plattform zur anderen führten. Die Plattformen waren an den Bäumen angebracht und in den Ästen befanden sich Baumhäuser, Aussichtsplattformen und Wachstände. Doch als sie aus dem Loch, das zur Leiter führte, hinaus krabbelte, erschrak sie sich erst richtig. Sie war umzingelt von finster und gewalttätig aussehenden Männern. Manche richteten ihre Bögen auf sie. Einer fasste sie am Arm, zog sie hoch und hielt ihr sein Schwert an die Kehle.

Das Fest in den Bäumen

»Sag schon, wer bist du?« Seine Stimme war zwar kalt, doch auch klar. Sie war sich sicher, dass er sie ohne weiteres töten würde, wenn sie ihm keine klare Antwort gab. Doch bevor sie ihren Mund auftun konnte, stellte er eine, für ihn scheinbar noch wichtigere Frage: »Wie kommst du hier her?«

»I…Ich bin …« Weiter kam sie nicht, denn eine Stimme hinter ihr sagte: »Sie kam mit mir.«

Augenblicklich ließ der Mann sie los und für den Bruchteil einer Sekunde konnte das Mädchen in seinen Augen Furcht aufblitzen sehen. Doch dann wurde ihr etwas anderes bewusst, diese Stimme, das musste diese unheimliche Gestalt gewesen sein. Denn es war eine unheimliche und kalte Stimme gewesen. Doch eindeutig auch die eines – sie drehte sich um – Mädchens.

Die Gestalt hatte ihre Kapuze nach hinten geschlagen und man sah nun schulterlange schwarzbraune Haare, in die Federn, Blätter und Bänder geflochten waren. Diese Gestalt WAR ein Mädchen. Nicht nur die Kapuze, auch die Maske hatte sie abgenommen und hielt sie nun in der Hand. Das blonde Mädchen konnte nicht sagen, welcher der beiden ihr nun mehr Angst machte. Der Blick, mit dem sich die beiden gerade ansahen, hätte selbst die heißeste Wüste zum Erfrieren gebracht. Doch dann gab der Mann auf, drehte sich um und ging. Kurz vor einer Hängebrücke blieb er jedoch noch einmal stehen und drehte sich um. Diesmal allerdings lächelte er und sie erkannte, dass er noch sehr jung war. »Bis heute Abend.« Diesmal war seine Stimme warm. Danach verschwand er auf einer anderen Plattform.

Das schwarzhaarige Mädchen allerdings blieb kalt. Sie drehte sich um und kletterte eine weitere Leiter zu einer höheren Plattform empor. Dort befand sich nichts außer einem am Rand in den Ästen gut versteckten Baumhaus. Dort gingen sie nun hinein. Das Haus hatte nur einen Raum und der war fast leer. Jedenfalls auf den ersten Blick. Auf den zweiten erkannte man an den Wänden Unmengen an Waffen. Schwerter, Dolche, Wurfsterne und vor allem viele, viele Pfeile mit den kleinen Widerhaken. Es gab zwei Fenster. Eines in der Wand rechts der Tür und eines dieser gegenüber. Von der Decke hing eine Hängematte, in der eine Wolldecke lag. Dort schien das schwarzhaarige Mädchen zu schlafen. Und schließlich gab es noch unter dem Fenster an der rechten Seite eine kleine Kommode. Auf diese steuerte die Schwarzhaarige jetzt zu. Nach kurzem Stöbern in den Fächern richtete sie sich wieder auf und drehte sich ihrem Gast zu. In den Händen hielt sie ein paar Sachen. Sollte sie etwa … Wieder nickte das unheimliche Mädchen, als wüsste sie, was sie gerade gedacht hatte. »Zieh das an. Das hält dich besser warm, als das dünne Zeug.« Nach einer kurzen Pause bückte sie sich noch einmal und holte ein paar Schuhe hervor. »Und die hier.« Sie kam auf sie zu, drückte ihr die Sachen in die Hand und verschwand vor die Tür. Scheinbar wollte sie lieber dort warten bis sie sich umgezogen hatte. Langsam legte das blonde Mädchen ihre Kleider ab. Es waren zwar nicht ihre besten gewesen, doch immer noch sehr elegant und aus Seide geschneidert. Diese, die sie nun bekommen hatte, waren um ein Vielfaches einfacherer Natur, aus Leinen und Wolle gefertigt. Doch sie wärmten sie wirklich gut und außerdem, das verstand sie, würden diese Sachen dafür sorgen, dass sie nicht sofort auffiel, wenn sie hier durch die Gegend lief. Schließlich schlüpfte sie noch in die Schuhe und verließ den Raum. Wie erwartet stand das schwarzhaarige Mädchen an einen Ast gelehnt vor dem Häuschen. Wieder blickte das blonde Mädchen auf ihre Füße. »Danke«, nuschelte sie, doch der Person ihr gegenüber schien das egal zu sein. Sie sah sie nur kurz an und stieg dann wieder die Leiter hinunter. Aus Angst, an diesem unheimlichen Ort allein zu bleiben und weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, folgte die junge Prinzessin ihr.

Die Schwarzhaarige lief sicher, selbst über die wackeligsten Brücken, auf einen belebten Platz zu, in dessen Mitte ein Lagerfeuer brannte.

»Ah, da sind sie ja.« Einer der Leute dort hatte ihr Ankommen bemerkt und ergriff nun die Hand des blonden Mädchens: »Sehr erfreut, schöne Maid. Wenn Sie gestatten: Sebastian von Tulhain«, und er küsste ihre Hand. Erschrocken zog das Mädchen die Hand zurück, doch der junge Mann vor ihr drehte sich grinsend zu seinen Freunden um:

»Sie ist etwas schüchtern.« Die Versammelten brachen in lautes Gejohle aus. Doch als sie den Blick der Schwarzhaarigen sahen, verstummten sie sofort. Das Mädchen drehte sich wieder um und wollte gehen. Doch da rief ein anderer: »Was soll das? Schleppst hier jemand fremdes an und haust gleich wieder ab?« Da trat der junge Mann, den das Mädchen am Eingang gesehen hatte, aus der Menge und ging schnurstracks auf das schwarzhaarige Mädchen zu, griff sie an der Schulter und drehte sie mit einem Ruck zu sich herum: »Was ist los mit dir?« Seine Stimme klang fest. Er war es scheinbar gewohnt, Befehle zu erteilen, doch auch besorgt. »Ich geh die Wache ablösen«, antwortete das Mädchen kalt.

»Du bist heute nicht dran«, konterte der junge Mann.

»Malfures ist dein Freund, er will sicherlich keine Feier mit dir verpassen.« Sie schüttelte seine Hand ab und verschwand in der Dunkelheit. Kopfschüttelnd sah der Mann ihr nach.

Und sie? Was sollte sie jetzt tun? Wieder der anderen hinterher?

»Warte«, rief der Mann, als sie dem Mädchen nachlaufen wollte. Verängstigt blieb sie stehen. »Du bleibst hier. Das ist sicherer. Für uns und für dich.« Er ging einen Schritt auf sie zu und sah sie fest an. Dann lächelte er und sagte: »Ich heiße Lukan.« Da musste auch das blonde Mädchen schmunzeln.

»Ich bin Mirabelle Ataille, Tochter von Jamatos«, erzählte sie.

»Jo, das wissen wir«, rief ein weiterer junger Mann vom Feuer her. Er hatte rote Haare und ein braungebranntes Gesicht. »Serres hat’s uns schon berichtet.«

»Ähm, wer ist Serres?«, fragte Mirabelle vorsichtig.

»Serres is’ die, mit der du hergekommen bist«, antwortete ihr der Mann, während er von einem Stück Fleisch abbiss.

»Also dieses gruslige Mädchen? Oh …« Schnell hielt sie sich die Hand vor den Mund, doch die anderen schmunzelten breit.

»Genau die«, antwortete der Mann am Feuer. »Und es muss dir hier nichts peinlich sein.«

»Das stimmt«, mischte sich da Lukan ein. »Serres macht jedem am Anfang etwas Angst.«

»Jo, und manchen auch noch später«, schallte es wieder vom Feuer her.

»Was hältst du eigentlich davon, wenn du dich erst einmal vorstellst, bevor du mit einer Dame redest.« Das war Sebastian. Er drehte sich zu Mirabelle um und übernahm die Vorstellung für den rothaarigen Mann. Der hieß wohl Harkus. In diesem Moment kam ein weiterer Mann an.

»Mensch, hier ist ja wirklich eine Feier.«

»Malfures!«, rief Lukan beglückt. »Also hat Serres dich wirklich abgelöst.«

»Na, du kennst sie doch. Sobald die Stimmung etwas ausgelassener wird, verschwindet sie.« Der Mann nahm sich ein Stück Fleisch und biss ab: »Aber ich bin echt froh, dass sie mich abgelöst hat.«

Lukan und sein Freund Malfures lachten und auch die anderen stimmten mit ein. Doch Mirabelle wollte noch mehr wissen. Noch mehr über dieses Mädchen und die Leute hier erfahren. Also nahm sie ihren Mut zusammen und wollte etwas fragen, doch da kam ihr der blonde Sebastian in die Quere.

»Na, hübsches Fräulein? Darf ich dir einen Platz am Feuer anbieten?« Er nahm sie an die Hand und brachte sie zum Feuer, wo er sie sachte an den Schultern auf den Boden drückte. Doch bevor er neben ihr Platz nehmen konnte, hatten sich schon Lukan und Malfures rechts und links von ihr platziert.

»Lass sie lieber in Ruhe, Sebastian«, sagte Lukan, während der Blonde gespielt beleidigt die Arme verschränkte.

»Eine Prinzessin ist eh nichts für dich.« Malfures grinste ihn breit an und … der blonde Mann grinste zurück. »Das werden wir ja noch sehn. Einen schönen Abend noch, holde Maid.« Er verbeugte sich vor ihr und ging zu einer Gruppe anderer Männer, die ihn breit grinsend aufnahmen.

»Ähm, danke«, bedankte Mirabelle sich leise.

»Ach, keine Ursache«, antwortete der Mann rechts von ihr. »Sebastian ist immer so«, setzte es von links nach.

Nun schaute sie sich ihren Nachbarn auch mal ganz genau an. Der Mann, der da hinzugekommen war, war groß und schlank. Er wirkte sehr gelenkig und zu ihrer Überraschung waren seine Augen und Haare moosgrün, während die Haut dunkelbraun war.

»Was ist mit dir geschehen?«, platzte es aus ihr heraus, noch bevor es ihr peinlich sein konnte, einen Fremden so direkt mit ihrer Neugierde zu konfrontieren.

Malfures sah sie kurz verdutzt an, dann schaute er zu seinem Freund auf, der an seinen Haaren zupfte, um ihm zu zeigen, worauf sich die Frage des Mädchens bezog.

»Ach so! Du meinst mein Aussehen!« Kurz breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Das hatte ich ja ganz vergessen.« Dann wurde der junge Mann plötzlich traurig und senkte den Kopf. Doch auch dieses Gefühl hielt nicht lang, dann verwandelte sich seine Trauer in Wut. Er ballte die Fäuste und Mirabelle rutschte instinktiv ein Stück von ihm weg.

»Das waren Artaros’ Giftmischer.«

Das Mädchen sah ihn mit ihren großen blauen Augen an und Malfures seufzte leicht.

»Meine Familie hat sich ihm schon immer widersetzt. Sind ständig hin und her gereist, um seinen Häschern zu entgehen, aber was soll man sagen, es geht nicht immer alles wie man es sich wünscht.«

»Sie haben seine Familie geschnappt und getötet«, nahm nun Lukan die Erzählung auf. »Nur er wurde am Leben gelassen, damit Artaros’ Wissenschaftler an ihm herumexperimentieren konnten.«

Traurig sah Malfures zu Boden und auch Mirabelle war sehr betroffen von dem Gehörten. Sie rutschte zu ihm hinüber und nahm ihn in den Arm.

»Das tut mir leid, ich hätte dich nicht wieder daran erinnern dürfen.«

»Schon gut. Es lässt sich ja doch nicht mehr ändern.«

Eine Weile herrschte Stille, doch dann nahm Malfures das Gespräch wieder auf.

»Wie bist du eigentlich hergekommen, Prinzesschen?«

Mirabelle blähte die Wangen und sah ihn an: »Erstens: Nenn mich bitte nicht Prinzesschen, das mag ich nicht und zweitens: Ich heiße Mirabelle, wenn es dir nichts ausmacht.«

Daraufhin brachen sowohl Malfures, als auch Lukan in schallendes Gelächter aus.

»Schon gut, dann sag mir, wie du hergekommen bist, Mirabelle.« Er hatte noch immer Tränen in den Augen.

Mirabelle sah traurig zu ihren Füßen. Es war ihr peinlich, so furchtbar peinlich.

»Ich … ähm … also …«

»Jaaaa?«, drängte es von beiden Seiten her.

»Also, Artaros’ Soldaten hatten mich gefangen genommen.« Endlich war es raus und sie fühlte sich plötzlich erstaunlich wohl.

»Wie konnte das denn passieren? Ich dachte, eine Prinzessin hat immer eine Leibgarde dabei, wenn sie das Schloss verlässt.«

Verlegen scharrte das Mädchen mit ihren Füßen. »Ich hab mich heimlich davon gestohlen. Ich wollte doch nur einmal alleine durch den Wald spazieren.«

»Und da ham’ se dich dann gekriegt.« Der rothaarige Harkus war zu ihnen herübergekommen und setzte sich nun zu ihnen.

Ein leichtes Nicken des Mädchens bestätigte die Worte des Mannes.

»Un’ ich nehm mal an, Serres hat dich befreit?«

Wieder ein Nicken.

»Nur wieso?«

Das Mädchen sah ihn an. Er hatte zum Ertrinken tiefe schwarze Augen. »Ich weiß es nicht«, gestand sie schließlich.

»Hmmrr.« Der Mann brummte ruhig: »Sie hatte gewiss ihre Gründe.«

»Sag mal, Feuerkopf, du redest ja mal gar nicht abfällig über die Kleine.« Malfures grinste verschlagen und anscheinend ging sein Vorhaben auf. Ruckartig sprang der Mann auf und ergriff ihn am Kragen. »Halt gefälligst deine Klappe, Grünschopf!«, schrie er ihn an und wollte ihm ins Gesicht schlagen, doch Malfures war schneller. In Sekundenschnelle entwand er sich Harkus’ Griff und duckte sich unter seinem Schlag weg. Und nun kam, was kommen musste. Es entbrannte eine Schlägerei, wie sie im Buche steht. In Windeseile kamen die übrigen Feiernden herbei, jubelten und johlten, klatschten, pfiffen und schlossen Wetten ab, wer diesen Zweikampf wohl gewinnen würde.

»Und auf wen setzt du?«, fragte sie plötzlich einer von der Seite her. Doch sie brauchte nicht zu antworten, das tat jemand anderes für sie, eine unheimliche, kalte Stimme: »Eindeutig Malfures.«

Mirabelle schluckte. Wann war dieses Mädchen hinter ihr aufgetaucht? Doch noch bevor sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, verkündete ein lautes Aufstöhnen und noch lauteres Jubelgeschrei das Ende des Kampfes. Harkus lag am Boden und japste nach Luft. Malfures stand über ihm. Frisch, als wäre nichts gewesen. Nur die etwas verstrubbelten Haare ließen die Auseinandersetzung erahnen. Eindeutig, er hatte gesiegt. Triumphierend ging er auf das blonde Mädchen zu. Dieses warf noch kurz einen Blick über die Schulter, doch Serres war verschwunden. Sie drehte sich wieder dem Gewinner des Zweikampfes zu und knickste: »Herzlichen Glückwunsch! Du hast gut gekämpft.«

Ein breites Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und mit einer Verbeugung erwiderte er: »Herzlichen Dank, Prinzessin.« Dann brach er in schallendes Gelächter aus und kippte nach vorn, krümmte sich auf dem Boden und hielt sich den Bauch. Und dann konnte auch Mirabelle nicht mehr anders. Sie lachte drauf los wie noch nie zuvor in ihrem Leben und das tat ihr so gut. Nun spürte sie, dass sie hier angenommen war, als Teil dieser Gemeinde, als Freund und Mensch. Nicht als Prinzessin. Und das machte sie glücklich wie nichts jemals zuvor.

Geheimnisse und Wahrheiten

Am nächsten Morgen erwachte Mirabelle in einer Hängematte, zugedeckt mit einer wollenen Decke. Wie sie hierher gekommen war, wusste sie nicht mehr. Doch als sie aufstand, erkannte sie den Raum, in den sie das schwarzhaarige Mädchen geführt hatte, damit sie sich umziehen konnte. Also war das hier doch ihre Schlafstätte. Wenn sie selbst die Nacht in der Hängematte geschlafen hatte, wo war dann Serres?

Schnurstraks zog sie sich an und ging zur Tür. Draußen auf der Plattform sah sie das schwarzhaarige Mädchen. Sie stand mit dem Rücken an einen Ast gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und die Augen geschlossen. Hatte sie etwa die ganze Nacht so hier draußen verbracht? In diesem Moment schlug das Mädchen die Augen auf. Mirabelle war so überrascht, dass sie zurückwich und hinfiel.

»Autsch«, sie rieb sich ihren schmerzenden Hintern. Als sie aufblickte, sah sie eine Hand, ausgestreckt, um ihr zu helfen. Dankend griff sie nach ihr und wurde hochgezogen. Wieder auf den Beinen, sah sie sich nun ihren Helfer an. Es war Serres. Das Gesicht kalt wie immer, doch ihre Augen sahen sie die ganze Zeit unverwandt an.

Dann drehte sie sich weg und stieg die Leiter hinab. Wie am Abend vorher, folgte Mirabelle ihr und Serres führte. Diesmal aber zu einem recht großen Baumhaus. Drinnen standen mehrere lange Tische. An ihnen saßen Männer. Grimmig dreinsehende, Angst einflößende Männer. Serres führte das blonde Mädchen zu einem Tisch an der Stirnseite des Saales und Mirabelle erkannte in der Wand dahinter eine Tür. Kaum dass die beiden Mädchen am Tisch Platz genommen hatten, ging diese auf und eine lange Schlange von Frauen trat ein. Sie brachten Körbe voller Brot und Brötchen, Tabletts mit Fisch, Fleisch und Wurst, Schälchen mit Honig und Marmelade und Krüge voll Saft und Milch. Diese verteilten sie nun auf den Tischen und nahmen anschließend selbst Platz. Eine Frau in einem blauen Kleid und weißer Schürze kam zu ihnen an den Tisch und stellte sich an den Platz neben Mirabelle.

»Ich wünsche euch guten Appetit!« Ihre Stimme war hell und freundlich und kaum dass auch sie Platz genommen hatte, stürzten sich alle auf das Essen.

Das blonde Mädchen sah die Speisen vor sich an, doch sie war sich nicht sicher, ob sie sich einfach etwas nehmen konnte. Die Frau neben ihr schien das zu bemerken.

»Hast du denn keinen Hunger, Kleine?«, fragte sie sie leise. »Doch«, gestand Mirabelle und wie um ihre Worte zu unterstreichen, knurrte ihr Magen. Seit einem Tag hatte sie jetzt nichts mehr gegessen. Die Frau lachte leise: »Dann nimm dir doch was. Du brauchst hier nicht an Förmlichkeiten festzuhalten, kleine Prinzessin.«

Das erstaunte Mirabelle. Wusste hier denn jeder, wer sie war? Doch das war jetzt egal, sie nahm sich ein Brötchen und biss hinein. Sie hörte die Frau neben sich kichern.

»Wer sind Sie?«, fragte sie schließlich, nachdem sie ihr Brötchen aufgegessen hatte.

»Ich bin Elena. Lukans Mutter.«

Jetzt bemerkte die kleine Prinzessin die Ähnlichkeit, die die Frau mit dem Mann hatte, der sie am Vortag am Eingangsloch »empfangen« hatte. Sie hatte dieselben Augen. Graublau. Wunderschön. Doch nicht so kalt, sondern voller Wärme und Liebe. Auch die Haarfarbe war dieselbe. Schwarz, wenn auch von ein paar grauen Strähnen durchzogen. Kleine Falten in ihrem Gesicht zeigten ihr schon etwas reiferes Alter an.

»Was machen Sie hier?«, wollte Mirabelle nun wissen. Wieder kicherte die Frau:

»Ich sorge, genau wie die anderen Frauen hier, für das leibliche Wohl dieser Raufbolde.«

»Und noch für einiges mehr.« Diese kalte Stimme das konnte nur …

»Ach Serres, erschreck doch die Arme nicht so.« In Elenas Stimme lag ein unmissverständlicher Vorwurf, doch auch, und das bemerkte Mirabelle nun, sehr viel Respekt vor dem schwarzhaarigen Mädchen. Sie drehte sich um und sah Serres an. Und nun stellte sie auch endlich die Frage, die ihr seit dem letzten Abend auf der Seele brannte:»Warum hast du mich eigentlich gerettet?«