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Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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Erste Auflage 2018

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95771-224-0

eISBN: 978-3-95771-225-7

Karin Nohr

Stummer Wechsel

Roman

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IMPRESSUM

Stummer Wechsel

Autorin

Karin Nohr

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia

Covergestaltung

Marti O´Sigma

Coverbild

© Angela Hiß: Spielraum, 21 x 29,7 cm, Tusche auf Papier, 2006 

Lektorat

Thomas Pregel

Druck und Bindung

Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Juli 2018


ISBN: 978-3-95771-224-0

eISBN: 978-3-95771-225-7

Den fremden Vertrauten


Kapitel 1

Melissa Dreyer: Nur weg

N ie wieder Teil des Gegackers sein. Eines von siebenundvierzig scharrenden Chorhühnern, Tenöre und Bässe inbegriffen. Um den einzigen Hahn. Sie hätte damals schon gehen sollen, vor dem Weihnachtskonzert, als sie gegen die Glastür gelaufen war. Alle hatten gelacht, bis sie das Blut gesehen hatten. Nun war da eine feine Narbe, die von der linken Augenbraue aufragte wie eine steile Falte. Als ob sie angestrengt nachdächte, so sah es aus. Aus dem cremefarbenen Kostüm waren die Flecken nicht herausgegangen, selbst in der chemischen Reinigung nicht. »Dir sieht man alles an«, hatte die Mutter früher gesagt. Das hatte sich bestätigt für den Rest der Zeiten. Und alles, weil ER nach den Noten aus der Sakristei verlangt hatte und sie am schnellsten aufgesprungen war. Wie immer. Als blindes Blesshuhn.

Nur weg jetzt. Rot. Kein Mensch, kein Blitzer, kein Auto, die Kreuzung leer wie auf einem Bild von Edward Hopper, aber hier stand sie und wartete brav. Jetzt war man so weit gekommen im Leben und immer noch das Kind, das weglaufen wollte. Das seine Siebensachen in den kleinen roten Koffer stopfte, die Tür hinter sich zuschmiss, ein Stück die Straße hinunterlief und an der ersten Ecke anhielt und wartete, ob ihm nicht einer nachkam. Auch am nächsten Dienstag würde sie wieder zur Chorprobe gehen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Sie war kein Mensch fürs Radikale.

»Übrigens ist Schubert der einzige Komponist, bei dem es noch trauriger wird, wenn es nach Dur wechselt.« Immer schaffte er es, dass man sich persönlich gemeint fühlte, überreichte Sätze wie einen Gral: von mir – nur für dich. Und zwar jedem. Selbst bei uraltem Chorgestein wie Irene wirkte es, die bald den Achtzigsten feiern würde. Die verrückte Liebe leuchtete ihr aus jeder Pore. Natürlich würde sie es abstreiten. Das mit Schubert sollte man googeln. Bestimmt hatte er es irgendwem nachgeplappert.

Wie sich ein einziger Augenblick zusammenzog zu einem schwarzen Punkt, in dem die ganze Welt verschwand. Keine Vorahnung, keine Träume, kein Rabe – nichts hatte sie gewarnt. Die Frau, um die es ihm ging, war nicht sie, Melissa Dreyer. Sondern die Neue im Alt, Marie. Punkt. Weder war Marie besonders schön, noch sang sie besonders gut. Nur jung war sie. Sehr schlank. Auffallend elegant angezogen. Ein seltener Falter, der zwischen Sopran und Alt hin und her irrte. »Hat er dir nicht gesagt«, hatte Adelheid gefragt, »welche Stimmlage du bist?« Höflich, aber genervt. »Setz dich endlich hin«, war die Botschaft gewesen. »Mach nicht so viel Gewese«, ein Lieblingssatz der Mutter. Marie hatte den Kopf geschüttelt. 

Immer noch rot. Wahrscheinlich hatte er sie ohne Vorsingen zugelassen. Sie gesehen und sich verliebt. Oder sie schon vorher gekannt, umworben und schließlich zum Chor überredet. Zu Probenbeginn hatte er sie vorgestellt als das erste Ergebnis der »Wir-müssen-den-Chor-verjüngen-Aktion«. Braves Klatschen. Die Initiative war ausschließlich auf seine Kappe gegangen, aber alle hatten so automatisch genickt wie chinesische Wackeltierchen. Junge rein hieß schließlich Alte raus. Unerfahren war Marie. Als sie den Einsatz verpatzt hatte, war sie feuerrot angelaufen. »Und wieder.« Weiter hatte er nichts gesagt und die Stelle noch dreimal durchgeprobt. Nur für sie. Bestimmt war sie mindestens fünfzehn Jahre jünger als er. Natürlich war man kein neutraler Beobachter. Dann also zehn – was machte es?

Schon wieder rot. Oder war sie stehengeblieben? Schwarzes Auto, schwarzer Abend. Gas geben zur Höllenfahrt. Gut, dass sie von der Feier so viel Schnaps übrig hatte. Das Schlimmste: Es gab nichts zu wüten. Sie hatte nie auf seinem Pfauenthron gesessen, ebenso wenig wie die anderen Suppenhühner. Vorwürfe waren erlaubt. An die eigene Adresse aber nur. Dran, dranner am dransten waren die. Hier passte der Superlativ. Melissa drückte auf die Hupe: Hier kommt keine Ex, sondern eine Hopp.  

Dass sie zu alt und zu mächtig war, hatte es gerissen. Diese Kombination. Nicht ihr leichtes Übergewicht, oh nein. Das war Geschmackssache. Ging als sinnlich durch. Geschminkt sah sie flott aus. Neulich auf der Rektorenkonferenz hatte der Kollege von der Heinrich-Heine-Schule mit der Zunge geschnalzt, als sie den Raum betrat. Sie hatte sich in die Tasche gelogen. Männer wollten dominieren, und genau dafür kam sie nicht infrage. Sie war keine, die man beherrschte. Nicht nur, weil sie älter war. Als einzige vom Chor im Kirchenvorstand saß, wo sie seine Aufführungswünsche durchsetzte. Die ewigen Geldextras. Meist hatte sie durchbekommen, was er wollte, gelegentlich mit einer privaten Spende nachgeholfen, von der er nichts wusste. Sie war die, die alles hinkriegte. »Mein guter Geist!«, hieß es nach solchen Wackelpartien. Wie er sich freuen konnte. Er war ein Kind. Sie dagegen stand dem größten Gymnasium des Stadtteils vor, hatte einen Doktortitel und die Gehaltstufe A sechzehn. Was da, wo es darauf ankam, nichts half. Hier half nur Selbstentsorgung. 


Norden, Süden, Osten, Westen: Kind, zu Hause ist’s am besten. Wenn man einen Parkplatz brauchte, suchte man stundenlang, und jetzt, wo es eben auf nichts mehr ankam, winkte die Lücke. Ein Parkplatz, ein Schnaps: die Highlights des Erwachsenendaseins. Von Leben sollte man hier nicht sprechen. In der Schule fiel der Kontrast besonders auf. Wenn ihr die Kollegen Schüler ins Rektorenzimmer schickten, hartgesottene Störer, die ganze Klassen aufmischten. Erst verstocktes Schweigen, immer waren sie im Recht, die türkischstämmigen Motzer, die stolzen Albaner; dann tauten sie auf, zeigten ungehemmt ihre Empörung oder heulten Rotz und Wasser. Strenge und Trost – das baute jeden auf. Dass auch sie etwas brauchte, würde nur Erstaunen hervorrufen. Sie war eine Instanz. Einer Merkel tätschelte keiner die Wange. 

Wieso sprang die automatische Beleuchtung nicht an? Wieso war der Bambus nicht beschnitten? Wenn man nicht hinterher war, klappte nichts. Bei Brahms rauschte die Weide, bei ihr raunte der Bambus, und zwar viel zu laut. Außerdem verdeckte er das Licht. Der heutige Tag brachte nichts als Dunkles. Innen wie außen. »Kommst du nicht mit in die Pizzeria?«, hatten sie ihr hinterhergerufen, aber sie war winkend und eilig Richtung Parkplatz gestapft, als habe sie noch etwas vor. Alles Heuchelei. Von beiden Seiten. Die waren froh über jeden, der nicht mitkam. Je weniger sich um ihn scharten am Tisch, desto besser. Beim Singen, da war sie wichtig. Keine kam so hoch, weil alle ab dem d anfingen zu pressen. Manche produzierten schon ab dem c schrille Töne und machten bei allem, was über das e hinausging, karaokeartige Mundbewegungen. Bei der gefürchteten Brahms-Passage hatte einmal der ganze Sopran versagt, da war sie groß herausgekommen. Singen war ihre Bank. Er brauchte sie für die hohen Stellen, damit es klang. Wie er sie dann anschaute. Schon vorher, am Beginn der Phrase. Ich brauche dich, jetzt, jetzt, lass kommen, ah, der schöne Ton, der herrliche Ton. Dann hatte sie ihn. Jedes Solo vergab er an sie, da hatte es von keiner Seite je Protest gegeben. Aber es brachte nichts ein. Kleine, schöne Momente waren es. Mit denen man zufrieden zu sein hatte. Wenn sie den Chor verließ, würde sie auch die verlieren. Alles Tand, alles Sand.

Was hatte sie in der Pause an den Hintereingang getrieben? Alles war wie immer nach vorne geströmt, nach draußen zum Rondell. Warum war sie nicht mitgeschwommen? Zumal Adelheid ihr schon mit dem Buch zugewinkt hatte, das sie ihr ausgeliehen hatte: »Weißt du, in meinen Regalen steht alles doppelt.« Alle logen, dass sich die Balken bogen. Adelheid verbarg ihren Geiz und sie selbst ihre absurden Wünsche. Freitag war der Literaturzirkel. Freitag. Alles ging weiter, dabei steckte sie im Abgrund. Leider war Wegtrinken nichts als eine Redensart. Das hatte sie schon damals gemerkt, in der Scheidungszeit. In Wirklichkeit war es ein Hintrinken. Irgendwann lullte es einen in den Schlaf, und dann ging es zurück in das tägliche Schritt-für-Schritt. 

Was also hatte sie nach hinten zum Parkplatz geschoben, wo sie doch gar nichts aus dem Auto gebraucht hatte? Wahrscheinlich die unterschwellige Wahrnehmung, von der Facebook und Google lebten. Wo einem für Sekundenbruchteile Unterwäsche oder Autos ins Gehirn flackerten. Ein Augenwink, eine angedeutete Kopfdrehung zu Marie hin, der er vor der Probe zugeraunt hatte: »Komm nachher kurz nach hinten. Zwei Stunden halte ich nicht durch« – irgendetwas in der Art musste seinen Weg durch die Augen in ihr Inneres gefunden haben. Sicher hatten die beiden vorher im Bett gelegen. Die junge Frau und der durchtrainierte Chorleiter. Dirigenten hatten kein Gramm Fett zu viel. Er schon gar nicht. Wie auf der Schwedenreise zu sehen gewesen war, wo er sich ständig die Kleider vom Leib gerissen und Kopfsprünge von der hohen Schäre vorgeführt, mit seinen Kraulkünsten aufgetrumpft hatte. Keiner war da mitgekommen, auch keiner der Männer. Alle hatten sich auf dem Felsen gedrängt wie die bibbernden Kinder früher im Freibad, die sich die Leiter zum Dreimeterturm hochgetraut hatten und vor den Könnern an das Geländer zurückwichen, die ohne Zögern ihre makellosen Körper nach federndem Absprung Hände und Kopf voran in das blaue Schwimmbecken stürzten, unter Wasser wie Fische entlangglitten, auftauchten und ihre gescheitelten Haare mit heftigen Kopfbewegungen aus den roten Chloraugen warfen, die sie aufrissen, ob man dem Sprung auch zugeschaut hatte. So auch er. Beifall erwünscht. Sie hatte genau gesehen, wie er zu ihnen auf die Schäre hochgelinst hatte. 

Für sie war jedenfalls rutschen besser als springen, und jetzt saß sie in der Whiskeyrutsche, rund und rund ging es nach unten. Rein äußerlich passte es mit den beiden. Auch Marie war sehr schlank. Wie er. Fast zu schlank. Und er: ein glatter Vierzigjähriger, den traditionellen Kopf größer als sie. Dass eines seiner Beine etwas kürzer war als das andere, fiel kaum auf. Durch die höhere Sohle glich er es geschickt aus. Beim Barfußlaufen sah man den Hauch eines Humpelns, und auch nur, wenn man so genau hinschaute wie sie. Während des Volleyballspiels war es ihr aufgefallen, bei dem Tournier Alt gegen Sopran, Bass gegen Tenor. Als sie Adelheid auf die höhere Sohle links aufmerksam gemacht hatte, hatte die abgewunken: »Tu nicht so, als hätte er einen Klumpfuß.« Adelheid lehnte es ab, ihn als Mann zu sehen, mit ihrer betonten, ehelich gefestigten Sachlichkeit, um die man sie beneiden könnte, wenn man nicht durchschaute, dass auch das nur Tünche war, hinter der sie ihre Leidenschaft versteckte: »Er ist ein guter Dirigent. Unter ihm macht es Spaß zu singen.« Prost. 

Wie wird man sich los? Morgen würde sie einen Mordskater haben. Und das am Elternsprechtag, wo man lange durchhalten musste. Gut, dass sie bei der letzten Gebäuderenovierung die Couch für ihr Zimmer durchgesetzt hatte. Wenn es sie als Mensch, Rektorin und Huhn auch morgen noch gäbe, würde sie die einweihen. Wenn, wenn, wenn und wenn, es ist ein harter Schluss. Nein: Es, es, es und es hieß es. Das Buch vom Es. Wer in aller Welt hatte das geschrieben? Je älter man wurde, desto mehr Vergangenes kam hoch, wurde aber gedreht und gewendet, bis es zum eigenen Es passte. Wenn sie mit den anderen mitgegangen wäre vorhin, säße sie hier nicht herum, philosophierte, stopfte Cashew-Kerne in sich hinein, den Beutel mindestens achthundert Kalorien, und soff. In ihrer Dreißigtausendeuroküche. E-Klasse, eigenes Haus, Tennisverein, Markenklamotten, Garten mit Teich: Edel geht der Mensch zugrunde. 

Es war ein Fehler gewesen, den Chor letztes Jahr zu ihrem Fünfzigsten einzuladen. Auf dem Fest hatte sie sich restlos an ihn verloren. Hatte groß gefeiert, weil es keinen kleinen Kreis gab. Keinen Mann, keine Schwiegertochter, keine Familie, keine Freunde. Den fernen Sohn, der wie sie nie Zeit hatte. Außerdem war das teure Catering protzig gewesen. Anderswo brachte jeder Gast etwas zum Büffet mit und stellte es auf Tapeziertische, über die bestenfalls Bettlaken gebreitet wurden. Fertig. Getränke kamen vom Gastgeber. Entweder tat sie zu viel oder zu wenig. Natürlich waren alle des Lobes voll gewesen. Auch er. Bei ihm hatte es ehrlich geklungen: »So schön wie hier hätte ich es auch gern!« Alles klang aufrichtig bei ihm. Das war es ja. 

An dem Abend waren sie zum Du übergegangen. Als sie die Bötchen auf den Teich geschickt hatte mit den Teelichtern darauf. Schwimmende, verschiedenfarbige gläserne Windlichter auf Holzschiffchen, die ihr das Kollegium überreicht hatte. Den Teich hatte sie sich selbst geschenkt, hatte alles darangesetzt, dass er zum Fest fertig geworden war. Dampf machen, andere antreiben, das konnte sie. Aber Gefühle ließen sich nicht treiben wie Schafe. L’amour est un oiseau rebelle. Und kein Schaf. Schon gar kein Huhn. Prost. Wie man zu seiner eigenen Klagemauer wurde. Schluss mit dem Hochprozentigen. Höchstens noch einen Wein. 

Atemberaubend schön hatte die kleine bunte Flotte im Dunkeln ausgesehen. »Wie leuchtende Seelen«, hatte er gemurmelt und ihr lange in die Augen geblickt. Dann hatten sie sich wieder dem Teich zugewandt, nah nebeneinander auf der Bank. Zwei Bötchen waren aufeinander zugetrieben, bis sie sich sacht berührt hatten. Aneinandergelehnt schaukelten. Ein blaues und ein rotes. »Darauf stoßen wir jetzt an«, hatte er gesagt, war aufgesprungen und hatte ihr Sekt nachgeschenkt. Sie hatte ihr Glas erhoben: »Übrigens heiße ich Melissa«. Sie selbst hatte sich ihm angeboten. Die anderen vom Chor hatten sich um den Apfelbaum gruppiert und Alles schweiget gesungen. Einige von den Tennisleuten und die Musikkollegen aus der Schule hatten sich dazugestellt und eingestimmt. Ihr waren die Tränen gekommen, er hatte plötzlich ihre Hand gedrückt und zum Schluss des Lieds einen Kuss darauf gehaucht. Ein schier endloses Weilchen mit den warmen Lippen darauf verharrt. Knapp oberhalb des Handrückens. 

Sie hätte schweigen, beim Sie bleiben sollen. Alle siezten sie, es passte zu ihr, mit dem Du war man hautlos. Dass sich ein jüngerer Mann einer erfahrenen, gestandenen Frau zuwandte, war nicht ausgeschlossen, siehe Macron, kam jedoch selten vor. Bei ihnen war es anders. Wie bei einem scheuen Tier hatte er vorsichtig ihre Hoffnung angefüttert und dann genährt. Gerade so, dass sie blieb. Und wuchs. Berechnend oder kalt war er nicht. Für Momente musste er offen für sie gewesen sein. Wahrscheinlich hätte er mehr Avancen gebraucht, um die Alters- und Standeshürden zu übersteigen. Nicht einmal Abitur hatte er, wie sie von ihm selbst erfahren hatte, weil er direkt von den Sängerknaben an die Musikhochschule gekommen war. Als begabter Jungstudent, vor jedem Schulabschluss, zu einem berühmten Orgelprofessor. Oh, er hatte ihr vieles anvertraut. In der Hinsicht waren sie sich nahegekommen. Wesensverwandt hatte er sie einmal genannt. 

Liebe verdiente sich nicht. Als die Eltern sich trennen wollten, hatte sie Passagen aus dem Korintherbrief auswendig gelernt und beim Abendbrot aufgesagt. Fassungslos hatten Vater und Mutter auf ihre achtjährige Tochter geschaut und bei der Stelle die Liebe ist die größte unter ihnen die Köpfe gesenkt. Heute war ihr die Predigt gehalten worden. An der Platane hinter dem Parkplatz hatten sie gestanden, ganz hinten, bei seinem klapperigen Cabrio. Erst hatte er geraucht und lebhaft gesprochen, dann plötzlich die Zigarette weggeworfen, Marie in seine Arme gerissen und leidenschaftlich geküsst. Maries Oberkörper hatte sich zurückgebogen, sein Kopf war an ihrem Hals zu liegen gekommen wie der von einem Vampir. In dem Schatten neben der Gemeindesaaltür hatte Melissa als heimliche Hinguckerin gestanden, erstarrt, den Blick unverwandt auf das Paar geheftet, das ebenso unbeweglich verharrte. Plötzlich hatte Marie ihn weggeschoben; vielleicht in Sorge, gesehen zu werden. Viel Aufwand hatte er nicht gebraucht, sie zu beruhigen: Ein sichernder Blick über die Autos und zu der Tür hin hatte gereicht. Dann waren die beiden im Dunkel der Platane zu einer Gestalt verschmolzen wie auf den Bildern von Munch. 

Schritt für Schritt hatte sie sich zurückgezogen, zitternd, mit irre schlagendem Herzen, nass vor Schweiß. Hinterwand, Hinterwand hatte sie gedacht, den Kollegen Müller-Gschwandtner vor Augen, der kürzlich aus dem Unterrichtsraum getaumelt war und nach einem schweren Herzinfarkt wochenlang hatte ersetzt werden müssen. Das Herz springt mir aus dem Leibe. An diesen Worten hatte sie sich den zweiten Teil der Probe über festgehalten wie an einem dürren Ast über dem Abgrund. Jetzt sprang es schon wieder. Trotz Whiskey, trotz Wein. »Wohin springt Marias Herz?«, hatte sie als Kind die Mutter gefragt und: »Kann es zerspringen, wenn es so hüpft?« »Das ist nur so eine Redensart aus dem Märchen.« Nie hatte die Mutter genau hingehört. »Das steht doch in der Bibel.« »Hast du kein Gottvertrauen?«

»Woher wissen Sie so viel über Musik?«, hatte er einmal gefragt. Es war am Rondell gewesen, in einer Probenpause von der Johannespassion, mit der er seinen Einstand gegeben hatte. Ein schwieriger Beginn. Viele im Chor standen auf diese swingigen Stücke, wie sie für Unterstufenchöre passten. Murrten gegen lange Einstudierungen. Konnten schlecht Noten lesen. Sie hatte ihn von Anfang an unterstützt. Aber nachdem er mit den Stimmbildungsstunden angefangen hatte, hatte er keine Rückenstärkung mehr gebraucht. Binnen kurzem waren alle auf ihn abgefahren, er hätte ihnen sogar Zwölftonmusik aufdrücken können. Alle rannten nachmittags in den Gesangsunterricht und brachten sich an heimischen Klavieren oder Keyboards mühsam ihre Stimmen bei. 

Damals am Rondell hatte sie mit der Antwort gezögert. Er hatte sie aufmerksam angesehen und ihr dann eine Zigarette angeboten mit einer dieser verlockenden Gesten, die ihr von Beginn an aufgefallen waren, und fast hätte sie sie angenommen: »Lieber nicht. Das schadet meiner Stimme.« »Da sei Gott vor«, hatte er sofort pariert. »Ihre Stimme gibt dem Chor den Glanz.« Sie war rot geworden. »Sagen Sie doch: woher? Unterrichten Sie Musik?« »Ich war einmal mit einem Kirchenmusikstudenten verlobt.« Sofort hatte er nachgesetzt, den Namen wissen wollen, wo er studiert hatte, wo er jetzt war. »Es ist lange her.« Er war hartnäckig geblieben: »Haben Sie ihm auch Register schieben müssen? Das Los der Organistenfreundinnen?« Die Frage war mit einem Zwinkern gekommen, sodass sie wider Willen gelacht und leider auch genickt hatte. Damit hatte er sie an die Angel gekriegt: »Würden Sie das für mich auch gelegentlich tun? Ich suche dringend einen fähigen Registranten. Sie kennen ja unsere Orgel, einprogrammieren kann man da nichts.« 

So war sie abends zu ihm in die Kirche gekommen, oft sogar samstags. Immer hatte der Stuhl neben der Empore für sie bereitgestanden, oft mit einer Tüte Haribo darauf: »Für Sie.« Im Winter wie im Sommer hatte sie ihm zugehört und zugeschaut beim Orgeln, auf seine Zeichen hin die Register gezogen oder geschoben. Zimbel. Cor de nuit: Die Porzellanknäufe mit den seltsamen Namen darauf hatten sie zurückgetragen in die Jugend. Wo sie oft abends in die Kirche geflüchtet war. Natürlich ungesehen, verborgen in der dunklen Nische östlich der Kanzel. Wenn der Organist oben aufhörte, war Zeit genug gewesen hinauszuhuschen. 

Melissa schluckte und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung den Mund ab. Sie sollte aufhören. Aber sie konnte nicht. Wollte nicht.


Nach dem abendlichen Üben war er oft so aufgekratzter Stimmung gewesen wie vorher angespannt und lustlos, und es hatte sich eingebürgert, beim Italiener zu essen und vor allem zu trinken. Und zu reden. Trotz ihrer Promille hatte sie ihn danach nach Hause kutschiert und vor seiner Haustür mit ihm noch lange im Auto gesessen. Peu à peu hatte er ihr sein ganzes Leben erzählt. Zwar immer einmal eingestreut: »Jetzt sind Sie aber dran!« Mehr pro forma. Selten hatte er ihr Fragen gestellt. Und niemals gesagt: »Wollen Sie nicht mit hochkommen zu mir?« 

Offenbar war der Stuhl neben der Orgelbank doch zum kleinen Thron mutiert. Zumindest aus ihrer Sicht. Jeder ist Individuum und Teil einer Gemeinschaft. Im Erwachsenenleben wie als junger Mensch. Die unerhörte Spannung auszubalancieren zwischen dem Wunsch, als einzigartig erkannt zu werden, und der Sehnsucht nach Aufgehen in einem größeren Ganzen – diese Entwicklungsaufgabe hält das Leben für jeden Einzelnen bereit, und wir, die Schule, bieten hierfür einen Rahmen und helfen dabei mit Wissensvermittlung und pädagogischer Begleitung. Wer zu sehr das Selbst in den Vordergrund schiebt, verliert das Wir, aber wer zu sehr das Wir bedient, verliert das Selbst ... Sie hatten ihr gratuliert zu der Antrittsrede vor zehn Jahren. Die jüngste Gymnasialdirektorin in der Stadt. »Als Pastorentochter haben Sie Rhetorik mit der Muttermilch eingesaugt, nicht?«, hatte Schulrat Pönsgen gesagt. 

An den Musiker Herbert Michaelis hatte sie offenbar ihr Selbst verloren, ohne dass ein Wir entstanden war. So die Bilanz des heutigen Abends. Lost-lost statt win-win. Statt sich mit Chorsingen zu entspannen von einem anstrengenden, nützlichen Leben, hatte sie Herbert ihre seelische Lücke feilgeboten. Die er stracks angesteuert und in der er ganz selbstverständlich geparkt hatte. Paradise Lost.

Das Herz springt von der Hinterwand. Leerer Kopf, volles Herz; leere Flasche, ab ins Bett. Dieser Zug endet hier. Beachten Sie den Spalt zwischen Zug und Bahnsteigkante. Wo blieb die bittere, rasende, gnadenlose Eifersucht? Othello hatte seine Frau auf einen falschen Verdacht hin umgebracht, und hier saß sie mit dem sinnlich wahrgenommenen Beweis und empfand nichts. Die Literatur wimmelte von Leuten, die wegen nichtiger Anlässe alles hinschmissen: Der eine reiste einer Frauenstimme nach, der andere zog in den Wilden Westen, um Büffel zu erlegen. Immer wieder kamen sie im Literaturkreis auf solche Aufbrüche. Wie verhext war das. Und sie? Einbruch statt Aufbruch. Und weiter. Im Leben galten eben andere Gesetze als im Roman. Morgen würde sie zum Elternsprechtag auf der Matte stehen und nächsten Dienstag wieder im Sopran. 

Die würden schauen, wenn sie nicht käme. Und er erst. »Weiß jemand etwas über Frau Dreyer?« Vielleicht würde er sogar »Frau Dr. Dreyer« sagen. Wenn er so offiziell in die Runde fragte. Auf Smartphonekommunikation hatte sie sich Gottseidank mit ihm nicht eingelassen. Wenn sie einmal nicht zur Probe konnte, hatte sie sich vorher per Mail entschuldigt. Manchmal gab es unaufschiebbare Konferenzen. Tagungen. Aber sie hatte es einzurichten gewusst, dass sie fast immer da gewesen war. 

Er würde Adelheid fragend ansehen, und die würde die Schulter hochziehen und »Zum Literaturkreis am Freitag war sie da« sagen oder »Zum Literaturkreis am Freitag ist sie auch nicht gekommen«. Da fing es schon an. Man konnte nicht einfach verschwinden. Es wäre unhöflich, Adelheid nicht abzusagen, wo sie angekündigt hatte, passend zu Kehlmanns Roman nur Speisen zu servieren, die mit F anfingen. Zum »Briefsteller« von Schischkin hatte sie sich sogar einen Samowar angeschafft. 

Aufbrecher verabschiedeten sich entweder aufwändig oder waren dann mal weg. Für eine Beamtin auf Lebenszeit war Verschwinden nicht vorgesehen. Man kam zum Dienst oder war krank. Etwas anderes gab es nicht. Sie könnte an die Pforten einer Psychiatrie klopfen. Sich in der Notaufnahme mit ihrer inneren Lücke vorstellen, die jetzt zu einer äußeren geworden war. Mind the gap within yourself, please: »Ich höre Stimmen aus meinem Hohlraum.« Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen. Wie in der Bach-Kantate vom letzten Sonntag. Warum nicht? Wenn sie jetzt weitertrank, könnte sie unmöglich morgen zur Schule gehen. Vielleicht wäre eine Suchtstation passender. Nicht die Klapse. Schüler hatten es leichter. Daniel Sauer hatte drei Wochen in einer eingefallenen niedersächsischen Kate gesessen mit einem Beutel voll Marihuana, Isabell Westfal nach der Frankreichreise des Leistungskurses Französisch ihre Lieblingsklamotten gepackt und war zu einem Tunesier gezogen, den sie am Louvre kennengelernt hatte. Bei Markus Windruff hatte man befürchtet, er würde nach seinem Konvertieren zum Islam in Richtung IS verschwinden, was aber dank des großen persönlichen Einsatzes seines Tutors verhindert worden war. Wobei sie nie genau wusste, wie weit solcher Einsatz ging, ob da nicht Grenzen überschritten wurden. Aber lieber die Hand am Po als Kopf ab, Herr Richter, gell? Gott, sie musste aufhören zu trinken. 

Weib und Wein. Teer und Feder. Pech und Schwefel. Selbst Worte waren auf Zweisamkeit eingestellt. Nach der missratenen Ehe hatte sie sich geschworen: Nie wieder. Und nun das. Das ganze Gefühlsleben ein Höllennest. Sie war einfach nicht geschaffen dafür. Von ihr aus hätte es noch jahrelang so weitergehen können: die Abende in der Kirche, im Restaurant, im Auto. Mehr wäre schön gewesen, aber nicht absolut nötig. »Lutheraner brauchen es mehrfach pro Woche.« Schallendes Lachen vom Vater, Wegdrehen des mütterlichen Kopfes. Prost! Im Gegensatz zum Vater war sie im Calvinismus gelandet, wo man das Minimum zu einem Maximum hochstilisierte. Willkommen, liebe Brüder im Verzichte. 

Im Schwarzwald gab es eine Privatklinik für ausgetickte Ärzte. Die ja von Hause aus zu funktionieren hatten. Vielleicht wurden da auch höhere Beamte aufgenommen? Morgen zum Hausarzt statt zur Schule. Revolution. Aber über die Flasche würde sie da nicht reden können. Burnout wäre nicht glaubhaft. In der Schule wusste jeder, dass Frau Dr. Dreyer in dreißig Dienstjahren nur einmal krank gewesen war, damals, als sie in das Wespennest gelaufen war. Sie war zu Hause geblieben, weil sie gemeint hatte, ihren Anblick keinem zumuten zu können. Den halben Tag hatte sie vor dem Spiegel zugebracht und sich vorgestellt, was sie für ein Leben gehabt hätte mit so einem Gesicht. Der heutige Abend wäre ihr jedenfalls erspart geblieben.


Außer Krankheit gab es für Beamte nur noch Tod. Wir trauern um unsere geschätzte Rektorin Dr. phil. Melissa Dreyer, die viel zu früh aus ihrem tatkräftigen Leben gerissen wurde. Sie hatte kein Testament. Wenn sie IHM alles hinterließe? Ein schöner Gedanke. Marie würde ihm Kaffee an dem Tischchen neben dem Teich eingießen: »Wie muss sie dich geliebt haben.« Ja, das traute sie ihr durchaus zu. 

Im Grunde eine sympathische junge Frau. Wie rot sie angelaufen war vorhin! War es vorhin gewesen? Oder in einem anderen Leben? Nach vielen Schnäpsen wackelten die Synapsen. Auch sie selbst war früher oft errötet. »Dir sieht man aber auch alles an, Kind.« Ja. Darum hatte sie in der Schule geschwiegen. Aber die besten Arbeiten geschrieben. Hartnäckige Lehrer hatten auf Redebeiträgen bestanden, sie verstockt genannt oder freundlichaufbauende Gespräche mit ihr geführt. Alles umsonst. Zu Klaviervorspielen war sie gar nicht erst erschienen. Am Rondell hätte sie antworten sollen: »Ich verstehe etwas von Musik, weil ich es selbst gern studiert hätte, aber wegen der Auftrittsangst darauf verzichtet habe.« Für jeden gab es eine dreizehnte Fee. Die Herbert den Klumpfuß und ihr das Erröten in die Wiege gelegt hatte. 

Vielleicht sollte sie schlichtweg den Chor wechseln. An der Elisabethgemeinde gab es eine neue Dirigentin. Neulich der schöne MendelssohnAbend da. Die einfache Lösung: ab zur Konkurrenz. Würde es ihn interessieren? Wo er ganz anderes im Kopf hatte? Natürlich würde er auf sie zukommen. Wissen wollen, was los war. Was sollte sie sagen? Verschwinde, verschwinde, wie die Wurst im Spinde. Der häusliche Zubettschickspruch. Was alles hochkam. Das himmlische Kind, das springende Herz, die Wurst, der Wind. Und unsern kranken Nachbarn auch.

Ab in den Teich. Um zwei Uhr nachts. Im Unterkühlungsschock Wasser anatmen, Stimmritzenkrampf, Bewusstlosigkeit. Dann wäre sie weg. Kein schöner Anblick. Wollte sie das Malina zumuten? Die seit sieben Jahren mittwochs aus Stettin zum Putzen kam? Oder alles wegbaden, stundenlang. Erkältung, Lungenentzündung, Koma, Schluss. Komasaufen. Wie Ralf Stegner und Lucas Müller auf der Klassenfahrt der Neunten nach Marburg an der Lahn. Außer sich hatte Kollege Stockroth um halb acht morgens angerufen. Hatte aber alles richtig gemacht: Notaufnahme, Klinikaufenthalt, Eltern benachrichtigt, die Schüler unter Begleitung des Referendaren nach Hause geschickt, Rechnung an die Eltern, Klassenkonferenz, Androhung von Schulverweis beim Wiederholungsfall. Schulverweis gab es leider nicht für Rektorinnen. Eine Straftat? Unehrenhafte Entlassung. Aberkennung von Pensionsansprüchen für das Durchstechen von Cabrioreifen. Für Körperverletzung? Seine Dirigentenmuskulatur mit der haarlosen glatten hellen Haut darüber. 

Ob er sich rasierte? Auch darüber hatte sie in Schweden gerätselt. Heutzutage war das unter Männern durchaus üblich. Aber mehr unter jungen. Bei den Bundesjugendspielen hatte sie Carsten Weichert die Ehrenurkunde ausgehändigt; schwitzend war er an die Ehrentribüne herangetreten, hatte die Urkunde mit einer Verbeugung entgegengenommen und dann den muskulösen Zehnkämpferarm gehoben, um damit seinen Freunden zuzuwinken, direkt vor ihrer Nase, und es war kein dunkles Härchen in seiner Achselhöhle zu sehen gewesen. Damals hatte sie gegrübelt, ob sich die Jungen auch im Schambereich rasierten. 

»Sehen Sie es als Entwicklungsaufgabe an«, sagte sie zu zerknirschten Eltern, deren Kinder eine Ehrenrunde drehten, oder zu durchgefallenen Abiturienten. Man hatte leicht reden, wenn man nicht selbst getroffen war vom berühmten Pfeil des Schicksals. Neulich hatte sie aus dem Komposthaufen Erde für einen verkümmerten Phlox herausgeschaufelt. Bei dem schar-fen Einstich des Spatens war eine erdfarbene Kröte davonge-humpelt. Schwerfällig, langsam. Ganz knapp war der Stahl an ihr vorübergegangen. Her den Kelch, die Tassen hoch. Aber nicht wie du willst, sondern wie ich will, Herr.

Kapitel 2

Anja Miljes: Mit Dir

»G erade hat sich Schulrat Pönsgen zur Begrüßung der Referendare angemeldet.« Anja Miljes warf einen scharfen schnellen Blick in Richtung MD, wie Melissa Dreyer in der Schule hieß. »Mutti aller Dreier« in der Schülerzeitung, »Medizinischer Dienst« im Lehrerzimmer und »Mit Dir« im inneren Geheimstübchen ihrer Sekretärin. Dessen Tür natürlich geschlossen blieb. Ebenso wie neuerdings auch die des Rektorenzimmers zum Flur hin mit der Botschaft: »Ich bin jederzeit für alle ansprechbar.« Solchen selbstmörderischen Ansichten einer Chefin hatte man als Sekretärin entgegenzuarbeiten. Jahrelang hatte Anja mit steten Argumenten an den Angeln der Rektorentür gerüttelt, bis der Eingang bei der Renovierung stillgelegt worden war. Der Weg zu MD führte jetzt ausschließlich über das Vorzimmer und damit über sie, Anja Miljes. Und das war gut so, wie Pönsgen immer sagte.

Dass Sekretärin und Chefin eine Einheit bildeten, war allgemein bekannt. Wie sehr das so war, brauchte keiner zu wissen. Ohne Verschwiegenheit und den Sinn fürs Wesentliche konnte man an einem brodelnden Ort wie der Schule nicht bestehen. MD brauchte Anja wie eine zweite Haut. Was niemanden etwas anging; Anja würde sogar bezweifeln, dass MD selbst es so sehen würde. Und doch war es so. Nicht von Anfang an, aber mindestens seit einem Jahr. Seit der Krise. Die Gottseidank vorbei war. Aber man konnte nie wissen.

»Ich habe Ihnen die Liste mit den Namen der vier Neuen auf den Schreibtisch gelegt. In letzter Sekunde ist noch jemand für Russisch und Englisch gefunden worden, genau die Fächerkombination, die Sie gesucht haben.«

»Oh, das ist ja fast ein Wunder!«

Wenn sie strahlte, sah MD zehn Jahre jünger aus. Triumph, Triumph, Viktoria: Selten genug gelang es, diese Miene auf das Antlitz der Rektorin zu zaubern, und wenn, dann lohnte es sich immer. Anja lächelte in sich hinein. Wenn MD wüsste. Für Englisch gab es Nachwuchs die Hülle und Fülle, aber Russischlehrer waren trotz aller Auswanderer schwer aufzugabeln. Da hatte sie eben nachhelfen müssen. Was in dem Fall hieß: Pönsgen aktivieren. Auf ihre besondere Art. Per Spezialbehandlung.

Diese engen Hosen waren wirklich unvorteilhaft. Bei so dicken Oberschenkeln bräuchte es einen weiteren Schnitt. Hatte MD weiter zugenommen? Offenbar wollte sie die Referendare in Jeans begrüßen, eine Gelegenheit, die sie sich früher nicht hätte entgehen lassen: »Wie finden Sie das Kostüm, Frau Miljes?« Die Modenschauen waren Zweckmäßigkeitsorgien gewichen; nur Stöckelschuhe trug MD noch manchmal, wie Relikte aus einem anderen Sein.