Beyond Berlin - Teil 1

 

 

 

 

Beyond Berlin - Teil 1

Ein kleiner Schritt für ein Mädchen

 

 

Björn Sülter

 

 

 

 

 

Buch & Autor

 

Die Menschen haben die Sterne erreicht, ihre Heimat jedoch vernachlässigt.

Aus den Ruinen West-Berlins macht sich Yula in den blühenden Osten der Stadt auf, um ihre Familie zu vereinen, beginnt damit aber eine Reise, die ihr eigenes Schicksal und das der gesamten Menschheit beeinflussen wird ... (Teil 1 von 3)

 

Björn Sülter schreibt Romane und Sachbücher und ist als Medienjournalist, Hörbuchsprecher, Podcaster und Moderator tätig. Zu seinen Arbeiten gehört das Sachbuch «Es lebe Star Trek» sowie die Jugendbuch-Reihe «Ein Fall für die Patchwork Kids».

Er lebt mit Frau, Tochter, Pferden, Hunden & Katze auf einem Bauernhof irgendwo im Nirgendwo Schleswig-Holsteins.

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Originalausgabe | © 2018

In Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen

www.ifub-verlag.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Mike Hillenbrand

verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: Grit Richter

E-Book-Erstellung: Björn Sülter

 

ISBN: 9783959361217

 

Widmung

 

 

 

 

 

 

Sei du selbst die Veränderung,

die du dir wünscht für diese Welt.

 

(Mahatma Gandhi)

 

 

 

 

 

I. Schnee

Yula presste den ramponierten Kopfhörer enger an ihre Ohren. All die zuvor betäubten Emotionen kehrten mit voller Wucht zurück. Mit letzter Kraft drückte sie die Taste ihres Abspielgeräts. Ihre Fingerkuppen waren blutverschmiert, der Bass donnerte in ihren Ohren, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Unter ihr starb eine Welt. Ihre Welt.

Bald schon würde nichts mehr an die einst blühenden Wiesen, die Tiere und die wunderbar frische Luft erinnern. Bald schon wäre selbst das wenige, was noch übriggeblieben war, vergangen. Alles versank in ewigem Winter.

II. Nachts

Es gab nicht viel, auf das man sich in dieser Welt verlassen konnte. Doch eines war Yula absolut klar: Wenn sie aus dem Schlaf hochschreckte und durch die Ritzen in den Brettern vor ihrem Fenster keinen Lichtschein sah, war etwas nicht in Ordnung. Ganz und gar nicht in Ordnung. Die junge Frau hatte für gewöhnlich einen guten Schlaf, nahm allerdings auch jedes Geräusch wahr, das nicht zur normalen Soundkulisse ihres Hauses gehörte. Irgendetwas hatte sie geweckt.

Sie stieg, so leise sie nur konnte, aus ihrem Bett und tastete sich zum Fenster. Sie hatte recht gehabt. Es war mitten in der Nacht. Auf der Straße war nichts und niemand zu sehen. Yula verharrte einen Moment. Die schlanke Gestalt mit den schulterlangen dunklen Haaren zitterte, allerdings nicht nur vor Kälte. Fünf lange Minuten geschah nichts. Doch dann hörte sie erneut ein Knacken im Stockwerk unter ihr. Oder kam es bereits von der Treppe? Sie hatte ihr Haus sehr gut gesichert. Doch immer wieder gelang es jemandem, ihre Vorkehrungen zu überwinden. Meist waren es Drogensüchtige auf der Suche nach wertvollem Tauschmaterial. Hatte man Pech, konnte es aber auch ein perverser Vergewaltiger oder Mörder sein. Oder noch schlimmer, einer von den Schatten. Yula schlich zu ihrem Bett zurück, griff sich den Baseballschläger, glitt zur Zimmertür und öffnete sie nahezu geräuschlos. Den Schläger in der rechten Hand tastete sie sich an der Wand entlang zum Treppengeländer. Um sie herum war es totenstill und stockfinster. Das war allerdings kein Problem. Sie konnte sich problemlos im Haus orientieren. Schließlich hatte sie ihr ganzes Leben hier verbracht. Schritt für Schritt schlich sie die Treppe hinunter. Das Holz war inzwischen schon reichlich morsch geworden; wenn man aber wusste, wo man hintreten musste, konnte man die Stufen fast lautlos überwinden. Genaugenommen war dies sogar eines ihrer besten Warnsysteme. Die Geräusche eben waren allerdings eher aus dem Untergeschoss gekommen, vielleicht sogar aus dem Keller. Innerlich ärgerte Yula sich, dass sie die Kellerfenster aus reiner Faulheit noch immer nicht weiter verstärkt hatte. Nach einem Einbruch vor einiger Zeit hatte sie die Spuren nur notdürftig geflickt und sich seitdem um eine größere Aktion gedrückt. Dabei hatte ihr Nachbar und bester Freund Gin ihr sogar einige Metallstangen zum Verstärken angeboten. Inzwischen war sie im Erdgeschoss angekommen und horchte. Erst hörte sie gar nichts, doch dann nahm sie ganz leise ein scharrendes Geräusch unter sich wahr. Es klang, als würde jemand oder etwas über den alten Fußboden im Keller robben. Einige Härchen in ihrem Nacken und an den Armen stellten sich auf. Sollte sie die Kellertür bewachen und einfach hoffen, dass das, was auch immer dort sein mochte, den Keller wieder verlassen würde, und nur für den Notfall bereitstehen? Oder sollte sie lieber hinuntersteigen und die Sache selbst in die Hand nehmen? Was, wenn da nicht nur einer war? Dann wäre es genauso schlecht, einfach zu warten. Yula entschied sich wie so oft für den Angriff als beste Verteidigung, schob fast lautlos den Riegel zur Kellertür beiseite und steckte den Kopf in das Loch, das noch schwärzer wirkte als der Rest ihrer Umgebung. Die Treppe nach unten war aus Stein, und die kahlen Stufen kamen ihren nackten Füßen heute besonders kalt vor. Seit dem letzten Scharren war nichts mehr zu hören gewesen. Sie entschied sich, zunächst nach links zu gehen. Groß war der Keller ohnehin nicht. Es gab einen Bereich, in dem früher die Vorräte standen, und einen auf der anderen Seite, den ihre Mutter als Waschraum genutzt hatte. Dort befanden sich auch die beiden Fenster. Obwohl Yula nichts hören konnte, spürte sie eindeutig eine Präsenz hier unten. Inzwischen konnte sie ziemlich gut zwischen Einbildung und realer Bedrohung unterscheiden, und hier war definitiv jemand mit ihr im Raum. Nicht jedoch auf der linken Seite. Mit dem Baseballschläger im Anschlag und immer bereit, sofort fest zuzuschlagen, wechselte sie nun die Seite, als plötzlich etwas nach ihren Haaren griff. Sie schrie auf, sauste herum, ließ ihrem Angreifer den Holzschläger entgegenfliegen und traf. Die Finger ließen ihre Haare los, ein unheimliches Stöhnen war zu hören, und dann war alles still. Wie angewurzelt blieb Yula stehen und traf eine Entscheidung. Sie hatte gelernt, in einer unsicheren Situation niemals Licht zu machen. Jetzt jedoch spürte sie keine Gefahr mehr. Sie tastete nach den kleinen, selbstgebauten Fackeln und dem Sturmfeuerzeug, das ihr ein freundlicher alter Herr am Ende der Straße regelmäßig befüllte oder reparierte. Die Flamme loderte hell und blendete sie. In einem solchen Moment konnte ein Angreifer die Verwirrung ausnutzen und sich einen Vorteil verschaffen. Doch nichts geschah. Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, blickte sie zu Boden. Was da vor ihr lag, konnte unmöglich ein Mensch sein. Und wenn doch, dann war dieser auf eine Art deformiert, wie sie es noch nie gesehen hatte. Sie schnappte nach Luft, trat einmal gegen das Bündel vor ihren Füßen, und als es sich nicht regte, rannte sie leichenblass die Treppe hinauf und öffnete alle Schlösser an der Haustür. Auf der Straße war es menschenleer. Sie legte die letzten Meter bis zu ihrem Ziel zurück und klopfte an der Tür des Hauses nebenan. Als nichts passierte, hämmerte sie so laut, wie sie nur konnte, gegen das spröde Holz und begann zu weinen. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie das Codewort vergessen hatte. »Alice«, jammerte sie. »Alice!«

»Ich komm ja schon, ich komm ja schon«, hörte sie von drinnen die vertraute Stimme.

Als die Tür sich öffnete, sank sie in die Arme ihres guten Freundes. Dieser sagte zuerst nichts, zog sie aber vorsichtshalber hinein, schloss die Tür und wartete, bis seine Nachbarin die Fassung ein wenig wiedergefunden hatte.

»Was ist los, Kleine?«

»Er ist tot«, platzte es aus ihr heraus.

»Wer ist tot?«, fragte Gin.

Wortlos löste sie sich aus seiner Umarmung und zog ihn mit sich.

»Wir sollten nicht mehr rausgehen. Es ist mitten in der Nacht. Du kannst gerne hierbleiben.«

»Nein! Ein Toter liegt in meinem Haus. Ich muss ihn wegschaffen!«, jammerte Yula.

Gin erkannte, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für lange Diskussionen war. Er griff nach einer Waffe und folgte ihr über den Gehweg bis zu ihrem Haus. In der Eile hatte sie die Tür nicht geschlossen.

»Meinst du, es ist noch jemand drin ...?«, fragte sie wie erstarrt.

»Außer deinem angeblich toten Freund?«, entgegnete Gin. »Sicher nicht. Heute Nacht ist es eigentlich eher ruhig.« Er zog die Tür ins Schloss, sicherte sie, blieb aber dennoch in Alarmbereitschaft. So ganz traute er seinem eigenen Optimismus offenbar doch nicht.

»Also, wo ist der Kerl?«

»Eigentlich weiß ich nicht, was er ist. Ich glaube, es ist ein Schatten.«

Gins Gesicht wurde aschfahl. »Du sagst, du hast einen Schatten getötet, und der liegt jetzt hier in deinem Haus?«

Schweigend nahm Yula seine Hand und führte ihn die Stufen zum Keller hinunter. Unten bot sich den beiden ein grauenhaftes Bild. Wenn die Regierung recht hatte und es sich bei den Schatten nur um Süchtige handelte, die an den Folgen zu hohen Konsums verschnittener Drogen litten, waren die Auswirkungen mehr als bizarr. Das Wesen besaß zwar je zwei Beine und Arme; der restliche Körperbau hatte aber nichts Menschliches. Das Gesicht bestand aus einer glatten Fläche ohne erkennbare Öffnungen. Es gab weder Augen, Nase oder einen Mund. Dafür konnte man mehrere Schlitze und Erhebungen verschiedener Größe erkennen. Zusammen mit dem dürren Körperbau, den langen Gliedmaßen und den fehlenden Haaren sah dieses Individuum definitiv nicht wie ein Drogensüchtiger aus.

»Das ist nicht das, was der Kanzler uns immer erzählt. Ich habe zwar keine Sekunde an die Sache mit den Drogen geglaubt, aber das toppt wirklich alles«, sagte Gin fast belustigt.

»Denkst du, die Geschichten sind wahr?«, fragte Yula.

»Du meinst, ob das hier ein Außerirdischer ist?« Seine Freundin schwieg.

»Ich kann mir vieles vorstellen, Kleine. Aber lass uns für den Moment keine voreiligen Schlüsse ziehen, sondern erstmal etwas gegen unser Problem unternehmen. Ich habe eine Wanne, in der wir das Ding mit einem Gemisch aus Salzsäure und anderen Chemikalien auflösen können. Das sollte klappen, zumindest, wenn es halbwegs so beschaffen ist, wie wir.«

Yula riss die Augen auf. Sicher, sie hatte schon viele furchtbare Dinge gesehen und getan. Gins emotionsloser Vorschlag versetzte ihr aber einen Stich. Dennoch wagte sie nicht zu widersprechen. Ihr Freund holte einige große Decken hervor, in denen sie den Leichnam in seinen Keller beförderten. Yula selbst nahm die folgenden Stunden nur wie durch einen Schleier wahr. Sie folgte Gins Anweisungen und kam erst wieder ein wenig zur Besinnung, als er ihr erklärte, dass sich einige Teile der Kreatur nicht so gut auflösten wie erhofft. Er stopfte die Reste in einen Sack und spülte danach die Wanne. Yula kam das Ganze sehr fachmännisch vor, und sie wusste nicht, ob ihr der Gedanke gefiel. Danach reparierten die beiden noch das eingeschlagene Kellerfenster in ihrem Haus und schraubten zwei Eisenstangen davor. Gin versprach, in den nächsten Tagen alles noch einmal gründlich festzuschweißen, damit ab jetzt niemand mehr ins Haus gelangen konnte. Diesmal war es wirklich verdammt knapp gewesen!

»Danke, mein Freund. Ohne dich hätte ich das nie geschafft. Kann ich dir irgendetwas Gutes tun?«, fragte Yula.

»Wenn du irgendwo etwas Gin findest ...?«

Ihr Freund hatte seinen Namen nicht ohne Grund erhalten. Für einen Tropfen dieser ekligen Brühe würde er glatt seine Mutter verraten. Hoffentlich bot ihm nie jemand eine Flasche im Tausch für die Wahrheit über die heutige Nacht an. Ihre Miene verfinsterte sich. So sehr man sich auch an liebe Weggefährten gewöhnen wollte, man konnte letztlich niemandem trauen. Ihrer Mutter war es sehr wichtig gewesen, diese Lektion ganz fest in ihrem Hirn zu verankern. Dazu hatte sie oft erzählt, wie Hajo, der beste Freund ihres Vaters, einst alle Besitztümer der Familie mitgenommen hatte, um für einen Transfer in die Habitatzone Berlin-Ost zu sorgen. Nach Stunden der Ungewissheit, ersten Zweifeln und Tagen der nagenden Vorahnungen hatten ihre Eltern die Wahrheit dann akzeptieren müssen: Der Jugendfreund des Vaters hatte das Vertrauen der Familie missbraucht und war dem Elend ihrer Existenz allein entflohen. Yula selbst war damals noch sehr klein gewesen und hatte die Sache erst viel später richtig verstanden. Dennoch: Gin wollte sie wirklich vertrauen. Er hatte nie irgendetwas anderes gefordert als ihre Freundschaft und ihr mehr als einmal aus der Patsche geholfen. Solange es Menschen wie ihn gab, bestand auch Hoffnung. Für den Moment war Yula erst einmal wieder sicher. Doch ihr war auch klar, dass sich bald etwas würde ändern müssen. Nur was?