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Mord im Spinat image

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Erste Auflage 2018

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95771-210-3

e-book eISBN: 978-3-95771-211-0

Britta Voß (Hrsg.)

Mord im Spinat

Vegane corpora delicti

Mit Gemüserezepten aus dem Garten

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IMPRESSUM

Mord im Spinat

Herausgeberin

Britta Voß

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia

Covergestaltung

Marti O´Sigma

Coverbild

Marti O´Sigma 

Lektorat

Britta Voß

Druck und Bindung

Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

März 2018


ISBN: 978-3-95771-210-3

e-book eISBN: 978-3-95771-211-0

Vorwort

N eues Spiel, neues Glück – oder treffender, neues Jahr, neue Anthologie. Eigentlich hatte ich die Idee zu diesem Buch schon direkt nach der Fertigstellung meiner letzten Sammlung, denn eines war mir sofort klar: Herausgeberin sein, das möchte ich noch einmal. Warum? Weil ich gerne in Nachtschichten arbeite, gerne einen riesigen Haufen Texte um mich herum verteile, deshalb schon vom Schreibtisch auf den Wohnzimmerteppich auswandere und trotzdem nicht weiß, wo ich anfangen soll, vielleicht. Oder weil ich mich gerne tagelang mit dem Gedanken quäle, ob man den ein oder anderen Text durch ein geschicktes Lektorat noch retten kann? Ja und nein! Denn so aufwändig, zeitraubend und nervenkostend es ist, eine Geschichtensammlung zusammenzustellen, ist es doch eine der schönsten Aufgaben, die der Literaturbetrieb bereithält. Nirgendwo sonst kann man so direkt erleben, auf welche unterschiedlichsten Gedanken AutorInnen zum gleichen Thema kommen, welche zahlreichen Ansätze es gibt eine Erzählung aufzubauen und welch verschiedenste Menschen den Mut finden, mit ihren Beiträgen an die Öffentlichkeit zu gehen.

So gilt dann auch dieses Mal wieder mein erster und größter Dank den vielen Autorinnen und Autoren, die meinem Aufruf, sich mit dem Thema »Gartenkrimi« zu beschäftigen, gefolgt sind. Leider konnte ich nur einen Bruchteil der eingesandten Beiträge veröffentlichen, doch gerade deswegen gilt mein Dank explizit auch denjenigen, denen ich schweren Herzens eine Absage schicken musste.

Mein zweiter und ebenso großer Dank geht an meinen Verleger Sevastos Sampsounis, der mir nicht nur als Lektorin für die Krimis des Größenwahn Verlags, sondern auch für dieses spezielle Projekt sein Vertrauen schenkt und geschenkt hat.

Speziell wiederum für mich wurde die Arbeit einmal mehr, als es an die Zusammenstellung der Rezepte ging. Meine wunderbaren AutorInnen haben gut vorgelegt und meinen Wunsch nach einem zur jeweiligen Geschichte passenden Rezept, in dem das corpus delicti der Krimihandlung kulinarisch verarbeitet wird, fast alle erfüllt und die Rezepte grammatikalisch zu überprüfen ist ja auch kein Problem für mich … Doch wie kontrolliert man die Verständlichkeit, wenn man es über die Beschäftigung mit der Literatur immer noch versäumt hat, vernünftig kochen zu lernen? Klare Antwort: jedenfalls nicht ohne Hilfe!

Ein von Herzen kommendes Dankeschön geht daher an meine Mama Anne und an meinen Lebensgefährten Jens, die praktischerweise nicht weihnachtsfanatisch sind und daher bereit waren, Teile der Feiertage mit dem Lesen von zahlreichen Rezepten und dem Diskutieren über die Zubereitung von Spinat, Zucchini und Co. zu verbringen. (Ich bezahl die nächste Runde bei George, ich versprech’s!)

Außerdem – und dies ist ein klassischer Fall von last but not least – danke ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ohne die dieses Buch überhaupt keinen Sinn machen würde. Ich hoffe, Sie werden viele schaurige Krimi-Momente erleben, mit manchen Geschichten richtig Spaß haben und kochen, was der Garten hergibt. Schön, dass es Sie gibt!

Ein letzter kleiner Dank geht an eine deutschsprachige Sängerin, deren Song ich eigentlich nicht mochte, bis er für mich eine Bedeutung bekam.

Bevor Sie jetzt ins Nachdenken kommen, was dieser letzte Satz soll, muss ich Sie leider enttäuschen, das wird ein Rätsel bleiben, also versuchen Sie es gar nicht erst. Fangen Sie einfach an zu lesen! Nun machen Sie schon – 20 AutorInnen warten auf Sie!


Britta Voß

Göttingen, im Januar 2018

Natalie Zoghbi

Kirschbaumblut

H auptkommissarin Yasmina El Giamal geht mit großen Schritten über die mit gefallenen Früchten übersäte Obstwiese. Sie ist auf dem Weg zu einem Mordopfer, das ist klar. Und genau das lässt sie jedes Mal erschaudern, wenn sie trotz aller Vorsicht mit ihren neuen Wildlederstiefeln auf eine überreife Kirsche tritt, die unter ihrem Fuß nachgibt und zerplatzt.

»Kirschbaumblut«, fährt es ihr durch den Kopf, als neuerlich Fruchtfleisch unter ihrem Schuh birst und den Absatz rot besprenkelt. Sie hält inne. In einer für Stadtmenschen unglaublichen Ferne sieht sie bereits den abgesperrten Tatort und ihre Kollegen von der Spurensicherung, welche in ihren weißen Schutzanzügen wie Schafe auf der Weide wirken. Einen Moment gibt sie sich der Träumerei hin, am Ort des Geschehens ein ebenso friedliches Bild vorzufinden: schneeweiße Gebeine auf grünem Grund, umrankt von Gräsern und umrahmt von blutstropfengleichen Kirschen. 

Yasmina blinzelt ins Licht. Schluss mit den Tagträumen. Schnelleren Schrittes setzt sie ihren Weg fort, nicht jedoch ohne noch einmal laut und von Herzen zu fluchen, als sie gleich beim ersten Schritt erneut auf nachgiebig schmatzendes Fruchtfleisch tritt. 

Der Anblick, der sich ihr bietet, lässt sie sich ihren Tagtraum zurück sehnen. Das, was von dem Mädchen übrig ist, liegt keineswegs harmonisch in der Natur, vielmehr verdreht und verkrümmt, mit gelben Fetzen teils ledriger, teils schwammiger Haut und gebleckten Zähnen; Lippen, Ohren und Augen fort, vermutlich von hungrigen Vögeln aufgepickt, die vielleicht nicht einmal bemerkten, dass es sich dabei nicht um Kirschen handelte. 

»Wie bitte?«

Mal wieder hat Yasmina ob ihrer Überlegungen nicht alles mitbekommen, was ihr die Kollegen berichten. Dass dies der Ort des Geschehens ist, das schon. Das Mädchen fiel und wurde seitdem nicht mehr bewegt. Dass es sich vermutlich um die Tochter des Grundstückseigentümers handelt, auch. Und dass das Mädchen zuletzt vor zwei Jahren im Ort gesehen wurde, bevor sie vermeintlich mit ihrem Freund das Weite suchte. Sowas wissen die Dorfpolizisten, damit können sie dienen. Aber warum jetzt eine fremde junge Frau die Leiche gefunden hat und die Wiese nicht vom Eigentümer selbst inspiziert und bewirtschaftet wird, muss Yasmina nachfragen. 

Marie Jäger, die Finderin der Toten, deren Grundstück an die Obstwiese grenzt, ist eine rothaarige Schöne Anfang dreißig, die Yasmina ein wenig an Ronja Räubertochter aus der Astrid Lindgren Geschichte erinnert. Neue Landflucht nennt man das, was sie, ihr Mann und die zwei Kinder gemacht haben. Weg von Lärm und Schmutz, hin zu einer Gegend, die günstig und ruhig und romantisch ist und wo man zu sich selbst finden kann oder zu was auch immer man gerade sucht. Frau Jäger sucht Selbstbestimmung und Ursprünglichkeit. Sie stellt Marmeladen und Liköre her, aus selbst angebautem Obst, und verkauft die Sachen in einem hippen Onlineshop an eben jene Leute, die so denken wie sie, aber den Sprung raus aus der Großstadt nicht wagen. Und Frau Jäger blutete das Herz, jedenfalls drückt sie selbst sich so aus, als sie all die Äpfel, Pflaumen und Kirschen auf dem Nachbargrundstück verderben sah. Mit Holger Dauning, dem Eigentümer des ertragreichen Grundstücks, hat sie zu sprechen versucht. Doch er hat sie mit Schimpf und Schande weggeschickt. Die junge Frau schüttelt verständnislos den Kopf und vergräbt die Hände in der abgewetzten, aber sicher nicht günstigen Jeanslatzhose. Darum ist sie trotz fehlendem Einverständnis auf die Wiese gegangen und hat das Obst aufgesammelt. Sie hält kurz in ihrem Bericht inne, zuckt dann aber trotzig die Achseln. 

»Schon klar, dass das nicht in Ordnung war, gesetzlich und so. Aber ich dachte halt, dass es eh niemanden kümmert, wo der Alte doch nicht mal selbst hier rauskommen kann, wegen dem Rollstuhl. Und Mitarbeiter hat er auch keine.« Sie sieht Yasmina auffordernd und zugleich etwas kleinlaut mit dunkelblau funkelnden Augen an. Yasmina legt ihr aufmunternd die Hand auf den tätowierten Oberarm. Sie hat genug gehört und kann der Frau ihr Kavaliersdelikt nicht verübeln. 

Während sie zurück über die Wiese stapft, auf das Wohnhaus zu, das viel zu groß ist für einen Mann allein, denkt Yasmina drüber nach, wie es wohl sein muss, die eigene Tochter weit weg zu wähnen, zu hoffen, dass sie da glücklich ist, wo auch immer es sie hin verschlagen hat, und dann zu erfahren, dass sie nur wenige hundert Meter von einem entfernt liegt, nur getrennt durch eine matschige Wiese, die man aufgrund eines Handicaps nicht überqueren kann, und wo Vögel ihr die Augen auspicken. Sie schaudert.  

Das Wohnzimmer ist muffig und überfrachtet mit Krimskrams. Häkeldeckchen, Plastikblumen und Bilderrahmen mit erschreckend hässlichen Landschaften. Holger Dauning, übergewichtig und abgekämpft, manövriert seinen Rollstuhl umständlich durch Bücherstapel und Vasen mit künstlichem Schilf. Beinahe kippt ein Schirmständer voll altmodischer Spazierstöcke um, den Yasmina gerade noch so auffangen kann. Vermutlich hat hier seit Jahrzehnten niemand mehr ausgemistet. Sie fragt sich, ob die hässlichen Sammelpuppen, die schrecklich reglos mit verstaubten Wimpern ins Leere starren, seiner Frau gehörten oder gar seiner Mutter oder ob es seine sind; die heimliche Leidenschaft eines dicken, alten, traurigen Mannes. Sie schluckt trocken und sucht sich etwas widerwillig einen Platz auf dem überladenen Sofa. Na klar, er braucht es nicht. Er hat seine Sitzgelegenheit immer bei sich. 

Völlig unvermittelt fängt er an zu weinen. Dicke Tränen rollen seine geröteten Wangen herab und verlieren sich in seinem Doppelkinn. Yasmina kann ihn nur damit trösten, dass erst ein DNA-Test endgültige Gewissheit über die Identität des Körpers bringen wird, der da auf seiner Wiese liegt. Aber Hoffnungen macht sie ihm keine. Das wäre grausam, und dieser Mann braucht nun wirklich keine falsche Hoffnung. Oder doch? Yasmina überlegt kurz, ob sie ihm eine Hand auf die Schulter legen soll, entscheidet sich aber dagegen. Der Psychologische Dienst wird gleich hier sein, und sie hat nur wenige Fragen, die er ihr schnell, wenn auch unter Tränen, beantwortet. 

Seine Tochter wollte fort. Vor etwas mehr als zwei Jahren war das. Sie war verliebt in einen jungen Mann, den er nicht guthieß. Einen Rabauken. Hatte die Schule abgebrochen. Die Ausbildung geschmissen. Doch sie hat nicht auf ihn gehört, wie junge Menschen nun mal so sind. Sie wollte ihr eigenes Leben leben, ihre eigenen Fehler machen, und das war nun dabei herausgekommen. Er verbirgt das Gesicht in seinem schmutzigen Ärmel und erneut verspürt Yasmina den Drang ihn zu trösten. Doch sie bleibt professionell. Kalt und abgeklärt. Nachdem sie aus dem unveränderten Kinderzimmer des Mädchens eine Haarbürste eingesteckt hat, verlässt sie das verstörend düstere Haus, nicht ohne zu verstehen, warum die junge Frau dieses altmodische Refugium so dringend verlassen wollte. Oder hatte es damals noch nicht so ausgesehen? War dies das Ergebnis ihres Verschwindens?

Während der Autofahrt ins Präsidium denkt Yasmina an die Kämpfe, die sie selbst auszufechten hatte, als sie heranwuchs und begann, eigene Entscheidungen treffen zu wollen. An den Zorn und die Leidenschaft, mit der ein Teenagerherz schlagen kann, und an die Schuldgefühle, als sie den Schmerz des Verlassenwerdens in den Augen der Eltern erkannte. Yasmina sieht sich unbehaglich um. Kühe, Felder. Der Muff aus dem alten Bauernhaus hängt ihr noch in der Nase. Wann hatte sie sich eigentlich das letzte Mal bei ihren Eltern gemeldet?

Bei der fest installierten Radarfalle in der 30er-Zone tritt Yasmina aufs Gas und salutiert den Kollegen, die das Material auswerten werden, grinsend mit dem Mittelfinger. Das wird man auf dem Foto nicht sehen, das weiß sie. Ob sie ihr ein Knöllchen schicken, wenn sie bemerken, wer sie ist? Oder wird der Vorfall, wie schon so oft, einfach unter den Tisch fallen gelassen?  

Genug. Yasmina zwingt sich zur Konzentration. Einen Fall aufzuklären, der Jahre zurückliegt, ist ohnehin schon eine Herausforderung, auch ohne Tagträumereien und kindische Streiche. Yasmina bezweifelt, dass noch Spuren an dem Mädchen zu finden sind, nachdem sich eine Heerschar von Vögeln und Insekten über den Körper hergemacht hat, nicht zu vergessen Regen, Eis und Sonne. 

In den folgenden Tagen spricht sie mit Schulkameraden, Freundinnen und Nachbarn, doch will sich kein rechtes Bild ergeben. Ruhig soll sie gewesen sein. Nett. Freundlich. Bullshit! Nichts als Floskeln und Höflichkeiten. Wo ist der gute alte Tratsch, den es in diesen kleinen Käffern doch sonst zur Genüge gibt? Warum bekommt das Mädchen kein Profil? Sie will in Yasminas Vorstellung einfach nicht zu einem Menschen werden, mit Ecken und Kanten, mit Geheimnissen oder Missgeschicken. Die einzige Fehlentscheidung, die sie je getroffen zu haben scheint, war es, sich mit einem Jungen abzugeben, der ihrem Vater nicht gefiel. Und wie das Schicksal so spielte, war eben dieser Junge vor einem Jahr 250 km entfernt bei einem Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluss ums Leben gekommen. Vielleicht Selbstmord, nachdem er das Mädchen, das er liebte, versehentlich im Garten ihres Vaters erschlagen hatte? Die Ermittlungen bei seinem Unfall hatten keinen Vorsatz vermuten lassen. Aber wer konnte das schon mit Sicherheit sagen? Und doch, selbst wenn er es war, warum hatte er sie nicht verscharrt? Vergraben? Niemals hätte man sie gefunden. Dass sie einfach so liegen gelassen wurde, deutet eher darauf hin, dass ihr Mörder keine Gefühle für sie hegte. 

Als die Gerichtsmedizin die Identität des Mädchens bestätigt und als Todesursache einen Schlag auf die Stirn feststellt, mit einem kreisrunden, etwa einen Euro großen, flachen Gegenstand, der fast eine Art Stempel auf dem verbliebenen Hautfetzen hinterlassen hat, und dahinter, hinter dem Pergament, das einmal ihre Haut gewesen war, ein Loch im Knochen, bei dem ein Splitter ins Gehirn gedrungen war, so hart hatte der Angreifer zugeschlagen, bringt das Yasmina nicht weiter. Irgendetwas fehlt. Ein Detail. Das fühlt sie. Doch greifen kann sie es noch nicht.       

In dieser Nacht träumt Yasmina von ihrem Großvater, der in der staubigen, gelben Welt ihrer Kindheit, viele tausend Kilometer und einen Ozean entfernt, gestorben ist. Sie sieht ihn vor sich, mehr Erinnerung als Traum, wie er auf seinen Gehstock gelehnt auf einem Stuhl vor der Haustür sitzt, als sie und ihre Eltern ihn besuchen, einen roten Turban auf dem Kopf. Erst als ihre Mutter schreit und ihr Vater versucht, sie wegzuziehen, erkennt sie, dass es kein Gehstock ist, auf den ihr Großvater das Kinn gelehnt hat. Der Stock ist sein Gewehr und der Turban das Innere seines Schädels, das durch die unzureichende Kraft der Flinte nicht weg gesprengt, sondern nur aus seinem Kopf heraus gedrückt worden ist. Wie bei einem Vexierbild verwandelt sich eine ganz und gar klare Situation von einer Sekunde auf die andere in ein Schreckensbildnis, das sich unauslöschlich in das Gehirn brennt. Aus einem wartenden Großvater ist etwas Totes, aus einem Gehstock eine Waffe geworden. Ein Gewehr. Gerade war es noch ein Stock für sie, und dann … Sie schreckt auf. Der Stock ist zur Waffe geworden. 

Dieses Mal muss sie nicht beschleunigen, um die Radarfalle auszulösen. 

Hart klopft sie an die Eingangstür. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ihr der alte Mann öffnet. Im Schlafanzug, mit verklebten Augenlidern und zerzaustem Haar starrt er sie müde an. Yasmina schiebt sich wortlos an seinem Rollstuhl vorbei.

»Wie lange sitzen Sie schon im Rollstuhl, Herr Dauning?«

Zielstrebig geht sie zu dem alten Schirmständer, der ihr schon bei ihrem letzten Besuch in die Hände gefallen ist. 

»Ein Jahr etwa. Ich habe eine regenerative Muskelerkrankung. Vorher konnte ich noch mit Stock gehen.« Erschöpft folgt er ihr. Sie liest in seinem Blick, dass er aufgegeben hat, vielleicht schon vor langer Zeit. Schnell findet sie, was sie sucht, in der Sammlung von Schirmen und Gehstöcken: einen Stock, der nicht gebogen, sondern gerade abgeknickt ist und in einer etwa einen Euro großen Fläche mündet, die mit einer metallischen Kappe, deren reich verziertes Muster Yasmina grausam bekannt vorkommt, versiegelt ist. Eine dünne Strähne blonden Haares klemmt in den Zwischenräumen der silbernen Ummantelung. 

»Sie wollte mich verlassen. Ich wollte das nicht.«

Er ist längst von den Kollegen abgeholt worden, da denkt Yasmina noch immer über die schreckliche Doppeldeutigkeit dieses letzten Satzes nach. Sie sitzt auf der Schaukel unter dem Kirschbaum, die einst einem kleinen Mädchen gehört hat, das an eben jener Stelle sterben sollte, vom eigenen Vater erschlagen und dann liegen gelassen, weil er körperlich nicht in der Lage war, sie zu begraben. Während sie in den Himmel blinzelt und die reifen, roten Früchte sieht, die vom Grundwasser genährt worden sind, das durchdrungen ist von den Säften eines toten Körpers, und nun sicher den Weg in die Marmeladen von Marie Jäger finden, wird ihr übel.

»Kirschbaumblut«, den Begriff bekommt sie nicht mehr aus dem Kopf. Sie springt von der Schaukel und verzieht angewidert das Gesicht, als eine überreife Kirsche unter ihrem Schuh zerplatzt. Während sie zurück zu ihrem Wagen geht, beschließt sie, ihre Eltern anzurufen, sobald sie zu Hause ist.

›Kirschkonfitüre‹


Wer schon beim Lesen der Geschichte an Kirschmarmelade gedacht hat, der braucht vielleicht jetzt schon eine Pause vom Verbrechen und möchte sich eine Auszeit am Herd gönnen. Das Ergebnis ist auf jeden Fall lohnenswert.


Zutaten:

1,25 kg Kirschen, 900 g Gelierzucker, Saft von ½ Zitrone 


Zubereitung:

Kirschen kalt abspülen. Stiele und Steine entfernen. Die Früchte mit dem Zitronensaft und dem gesamten Zucker in einem großen Topf erhitzen. Dabei kontinuierlich rühren, bis die Früchte schaumig aufkochen. In eine Schüssel geben, abdecken und über Nacht kühl lagern. 

Am nächsten Tag die Masse wieder in den Topf füllen und aufkochen. Die Hitze runter drehen, dabei die Konfitüre immer noch sprudelnd 5 – 10 Minuten kochen lassen. Wieder kontinuierlich rühren. Den an der Oberfläche entstehenden Schaum abtragen. 

Wenn die Masse fester wird, die Gelierprobe durchführen: Dafür einige Tropfen Konfitüre auf einen gekühlten Teller träufeln. Wenn sie leicht geliert, kann der Topf vom Herd und die Masse in abgekochte Gläser gefüllt werden. Die Gläser fest verschließen. Nach etwa einer Minute kurz auf den Kopf stellen. Anschließend wieder umdrehen und abkühlen lassen. 

Britta Voß

Mein Name ist Anna

M ein Name ist Anna und ich liebe meinen Garten. Besonders den Spinat. Der Spinat hütet meine Erinnerungen. Und ich helfe für mein Leben gern Menschen. Habe dies immer schon getan, seit ich denken kann. Dies ist meine Geschichte.

Es fing schon in der Grundschule an. Meine Eltern hatten sich gerade getrennt, und ich war mit meiner Mutter in ihr Heimatdorf zurückgezogen. Als Neue hatte ich es nicht leicht. Alle Mädchen kannten sich schon aus dem Kindergarten und hatten sich bis in die dritte Klasse hinein diese Freundschaften bewahrt. Ich hingegen musste alle Freunde in der Kleinstadt, in der ich die ersten neun Jahre meines Lebens verbracht hatte, hinter mir lassen. Doch da gab es diesen Jungen. Henrik. Henrik war wie ich allein. In der Pause stand er still am Rand, knabberte an seinem Pausenbrot, das ebenso traditionell belegt war wie meins. Exotische Dinge wie Erdnussbutter waren den anderen vorbehalten. Ich spürte unsere Verbindung sofort. Eines Tages bekam ich sogar mit, warum Henrik keine Freunde hatte. Er verbrachte seine ganze Freizeit mit seinem Hund, einem albernen weißen Fellknäuel mit dem ebenso albernen Namen Fluffy. Fluffy, stellen Sie sich das einmal vor!

Ich hatte große Befürchtungen, was wohl aus Henrik werden würde, wenn Fluffy eines Tages nicht mehr lebte, und so brachte ich mich in Position. Unaufdringlich suchte ich Henriks Nähe, tauschte mein Pausenbrot mit ihm, weil ich bald wusste, dass er Mettwurst lieber mochte als Gouda- Käse. Seine Fluffy-Geschichten langweilten mich zu Tode, aber das ließ ich mir nicht anmerken, ich wusste, meine Zeit würde kommen. Und dann war es soweit. Fluffy war eines Tages verschwunden. In einem Moment sei er noch im Garten seiner Eltern gewesen, so erzählte Henrik, im nächsten habe man ihn nicht mehr gesehen. Nie wieder. Mitfühlend rätselte ich mit ihm, wie ein Hund nach so vielen Jahren braven Verhaltens einfach aus dem eingezäunten Garten verschwinden könne und wie überhaupt das möglich war. 

»Jemand muss ihn gestohlen haben«, erklärte Henrik schließlich.

»Glaubst du das wirklich?«, fragte ich. 

Er war sich nicht sicher. Ich hingegen war glücklich, endlich hatte ich einen Freund. Und auch Henrik überwand nach und nach seine Trauer und wir hatten zwei wirklich schöne Schuljahre zusammen. Dann kam Henrik auf das Gymnasium und ich auf die Realschule. Ich sah ihn kaum noch.

Dafür traf ich neue Menschen. Leider interessierten sie mich wenig. Einzig Marie aus der Parallelklasse fand ich spannend. Sie sollte meine beste Freundin werden, beschloss ich. Dumm nur, dass sie mit Alice schon eine Freundin hatte, mit der sie zusammenhing, als verbände sie ein Strang aus Alleskleber. Warum konnte Marie nicht sehen, dass ich viel besser war als Alice? Klüger, mutiger, erfahrener im Leben.

Zweieinhalb Jahre wartete ich und dann: Was für ein Glück für mich, dass Alice eines schönen Tages starb. Sie war beim Joggen von einer Eisenbahnbrücke gefallen. Ein Rätsel für ihre Eltern und den ganzen Landkreis. Eine tote Dreizehnjährige brachte das ganze ländliche Idyll ins Wanken. Ich hingegen war da. Im Trösten hatte ich schließlich schon Übung. Ich kaufte Marie eine Cola in der großen Pause und als sie mich einige Wochen später zu sich einlud und mir die heimlich aus dem Weinkeller der Eltern entwendete Flasche Burgunder zeigte, die sie in Gedenken an Alice leeren wollte, war ich unendlich dankbar, dass sie mich für diese Aufgabe als würdige Begleiterin einstufte.

Vielleicht hätte ich es ahnen müssen, dass der Alkohol eine zu große Rolle in Maries Leben spielen würde, aber das zeichnete sich erst später ab. Auch, dass Alkohol ihr lange nicht genügen würde. Meine wundervolle Mädchenfreundschaft nahm zunehmend anstrengende Züge an, als Marie immer nur noch von einer Party auf die andere tanzte, trank, kiffte und zu ihrem sechzehnten Geburtstag ihren ersten LSD-Trip warf. Ich musste ihr helfen, das war klar. Und weil ich schon längst ahnte, dass immer ich es sein würde, die die Nöte ihrer Mitmenschen am besten verstand, tat ich es.

An einem warmen Frühlingsabend schickte ich sie mit Timo an den Waldrand. Timo hatte ich auf einer Party kennengelernt, er verkaufte neben Gras und LSD auch Kokain und Heroin. Wissen Sie eigentlich, wie teuer ein Schuss Heroin ist? Ich musste dafür ganz schön tief in mein Sparschwein greifen. Aber ich tat es für Marie. Auf ihrer Beerdigung sprach man von einer Überdosis. Was für ein hässliches Wort. Ich finde die Bezeichnung »goldener Schuss« viel anschaulicher. Ein Schuss von Gold in den Adern, der alles vergessen macht und den Weg in den Himmel bahnt. Das Einzige, was an mir nagte, war, dass ich Timo und den Schuss gebraucht hatte, um Marie zu helfen. Viel lieber hätte ich es selbst getan.

Schneller als gedacht fand ich dazu Gelegenheit. Denn obwohl Timo ein in gewissen Kreisen bekannter Dealer war, quälte ihn doch das schlechte Gewissen. Bei einem abendlichen Joint in der Nähe der Stelle, an der Marie ihr goldiges Erlebnis hatte, gestand er mir, dass er mit dem Gedanken spiele zur Polizei zu gehen. Seltsamerweise ist mir nie die Idee gekommen, dass er bei diesem Gang nach Canossa auch meinen Namen hätte nennen können, ich sah nur einen Menschen, der Hilfe brauchte. Wie gut, dass ich vorbereitet war. Ich reichte ihm einen Block und einen Fine Liner. Er solle sich alles von der Seele schreiben, das helfe. Er tat es. Dann zog ich das Messer, das ich schon lange mit mir führte, aus meiner Tasche und reichte es ihm. Er brauchte nur eine kleine Anleitung und ein wenig Unterstützung meinerseits und schon zog sich ein kräftiger Schnitt über die gesamte Länge seines linken Unterarms. Beim rechten brauchte er Hilfe, aber glücklicherweise bin ich Linkshänderin, sodass es mir ein Leichtes war, ihm bei dem zweiten Schnitt zu helfen. Ich griff von hinten um seinen Körper und führte sanft seine zunehmend schwächer werdende linke Hand. Erst als er aus beiden Armen blutete, erkannte sein THC- und LSD-benebeltes Hirn die Tragweite seiner Tat. Er sprang auf und schwankte los in Richtung Dorf. Auf der Hälfte der Wiese brach er zusammen. Ohne Hast folgte ich ihm, schob das sorgsam gefaltete Blatt Papier in seine Hosentasche und ging in die andere Richtung davon.

Eine Sache aber ließ mir keine Ruhe. Es hatte sich gut angefühlt, Timo im Arm zu halten, als ich ihm bei dem zweiten Schnitt half. Offenbar war es an der Zeit, mir einen Freund zu suchen. Wer das sein sollte, war mir auch bereits klar. Jedes Mädchen wollte die Freundin von Sören, dem Sohn des Mathelehrers, sein. Dummerweise hatte er schon eine Freundin, so eine kleine Schlampe vom Gymnasium. Ich glaube, sie hieß Nina. Oder Nicole? So ein Ni-Name auf jeden Fall. Aber mit dieser Situation hatte ich schließlich bereits Erfahrung. Dumm nur, dass Nina weder an einsamen Orten joggen ging noch Drogen nahm. Aber sie fuhr mit dem Fahrrad in die Schule, da sah ich meine Chance. An einem dunklen Herbstmorgen im strömenden Regen erlöste ich Sören von seiner Bindung an so ein unnützes Streberfräulein. Mit meiner quer über den Weg gespannten Schnur hatte ich ziemlich gute Arbeit geleistet. Der Rest war einfach. Oder zumindest ist es das in meiner Erinnerung. Aus späteren Erfahrungen muss ich sagen, dass es gar nicht so leicht ist, einem bewusstlosen Menschen das Genick zu brechen. Haben Sie das schon einmal probiert? Man braucht gute Armmuskeln, die richtige Technik und ein großes Maß an Hingabe. Zumindest Letzteres muss ich auch damals schon in besonderem Maße besessen haben.