Enters, Marie Für immer sein Mond

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ISBN: 978-3-492-98438-6

© 2018 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Diana Napolitano

Covergestaltung: Favoritbüro, München

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I

Für immer sein Mond

 

Es gibt keine Mitte zwischen dem Feuer und dem Paradies …

 

Die Liebe ist eine Schlacht auf höchster Ebene,

ein Kreuzzug gegen unsere Wünsche.

Viele Wolken, Traurigkeit.

Und Reisen zwischen den Monden.

 

(nach Nizar Qabbani, syrischer Dichter)

Habibi & Habibti

In meinen Träumen liegen wir noch einmal nebeneinander, Wange an Wange geschmiegt, Haut an Haut, Herz an Herz. Ein inniger Moment, gestohlene Zeit, von Liebe erfüllt und berauscht. Ich kann mich nicht sattsehen, bin versunken in sein Profil, berühre sacht seine Stirn, die kleine Nase, den schön geschwungenen Mund, die Grübchen, das Kinn, streichle über seine Brust. Wir reden in einem Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch, dazwischen ein paar arabische Wörter, und doch sind unsere Gespräche intensiv. Wir verstehen einander, egal in welcher Sprache.

Einmal hat er mir geschrieben, er könne in meinen Augen lesen. »Alles, was du fühlst und denkst und wünschst: Ich bin gut darin, es zu erkennen, ich weiß, ob du traurig bist oder glücklich. Deine Augen verraten es mir immer. Glaube mir, das ist die Wahrheit.« Ja, ich glaube ihm aufs Wort, denn ich spüre, dass es genauso ist, wie er sagt. Keine Chance, meine Gefühle vor ihm zu verbergen.

Dabei wäre es mir lieber, er wüsste nicht, wie sehr ich mich nach ihm sehne. Es ist zum Verzweifeln: Ich bemühe mich immer wieder, die unseren Kulturen und dem großen Altersunterschied angemessene Distanz zu schaffen, doch er hat einen untrüglichen Instinkt, durchschaut mich sofort, nimmt mir den Wind aus den Segeln, noch bevor ich sie gesetzt habe. Und so kreise ich um ihn, unfähig, diese Beziehung aufzugeben, die nie nur eine belanglose Affäre war.

 

Endlich

 

Wann wird es enden?

Und wie?

Wir wissen beide, es ist nicht für immer,

sind uns einig.

Wahrscheinlich bin ich naiv,

wenn ich annehme,

es sei möglich,

zurückzukehren zum Anfang,

und wieder da zu stehen,

wo ich im November stand.

Denke ich darüber nach, wird mir klar,

das ist allein Dein Part;

meiner ist der unglückliche, sehnsuchtsvolle,

der Part der Hoffnungslosen.

Es wird enden, und ich akzeptiere das.

Denn was ist zukünftiger Schmerz,

zukünftiger Kummer

gegen die Intensität des Jetzt?

Jetzt machst Du mich reich,

ich bade in Glück,

tauche ein,

vergesse mein Leben,

wie es bisher war,

sehe nur die Idee

von Dir und mir.

Puzzleteile

Seit Monaten im Ausnahmezustand. Beim Aufwachen denke ich an Melih und beim Einschlafen. Und so viele Gedanken dazwischen. Ich bin verliebt, ohne jede Hoffnung. Für uns gibt es keine Aussicht auf ein Happy End, nur Sünde vor seinem Gott Allah für ihn und Betrug für mich. Ein Labyrinth der Lügen für uns beide, und nichts kann mehr gut gemacht werden. Ehrlichkeit ist für mich keine Option. Das Gewissen zu erleichtern wäre zwar befreiend, aber auch egoistisch, würde meiner Familie Kummer bereiten und sie zerstören. Vielleicht bin ich auch nur zu feige, die Konsequenzen zu ertragen. Was würde die Wahrheit bringen?

Es ist besser, Stillschweigen zu bewahren. Für mich, für Jan und besonders für unsere Tochter Charlotte. Sie ist erst zehn, für sie würde eine Welt zusammenbrechen. Sina, meine Große, hat längst eine eigene Wohnung und steckt mitten im Studium. Sie wäre zwar im ersten Moment bestimmt auch schockiert, aber manchmal denke ich, dass sie mich vielleicht sogar verstehen könnte.

Ich möchte anfangen, das Ganze aufzuschreiben. Warum gerade heute? Weil ich heute an den Abend zurückgedacht habe, an dem ich bei Melih und seinem Cousin zum Essen eingeladen war. Auch Ahmed und seine Freundin waren da. Ahmed ist ein Iraker, um die 20 Jahre, und er war zeitgleich mit Melih angekommen, vielleicht sogar im selben Bus, seine Freundin eine deutsche Oberstufenschülerin an der Gesamtschule, deren Sporthallen als Notunterkunft dienten. Schön, die beiden zu sehen – ein ganz normales Pärchen und doch nicht alltäglich. Darum war der Beigeschmack bitter, denn ihr Glück führte mir vor Augen, dass ich nie zu Melih gehören kann. Niemals werde ich mich öffentlich mit ihm zeigen dürfen. Nie werden wir wirklich zusammen sein. Wenn ich viel jünger wäre, ungebunden, ohne Verpflichtungen – ja, wenn alles anders wäre.

Sinnlose Überlegungen, weil ich nicht seine Zukunft bin und er nicht meine Zukunft ist. Er ist 33, ich bin 53. Er wird irgendwann eine Frau haben, Kinder, und ich kämpfe gegen die Tränen an, während ich das schreibe. Heulen wäre egoistisch, definitiv. Es ist nicht zu ändern, unsere gemeinsame Zeit war seit der ersten Sekunde angezählt. Und ich möchte keinen einzigen Moment jemals vergessen.

Allein der Gedanke daran, mich nicht mehr genau erinnern zu können, löst den Impuls aus, sofort festzuhalten, was geschehen ist. Wann kam der Bus an, in dem er saß? Das weiß ich schon nicht mehr auswendig, nachschauen: Am 9. September, einen Tag später als angekündigt. Warum wollte ich den Geflüchteten helfen, warum das Interesse? Ich war doch nie besonders couragiert, habe mich niemals zuvor ehrenamtlich betätigt. Im Rückblick kommt es mir so vor, als hätten da eine Menge Puzzleteile auf wundersame Weise zusammengepasst. So ist es das ganze Leben hindurch, eines bedingt das andere. Insofern möchte ich Abstand davon nehmen, zu viel hineinzuinterpretieren. »Fügung« ist ein überdimensionales Wort. »Es hat sich ergeben« klingt schon besser.

Aber dass es so sein sollte, ist nicht auszuschließen. Vielleicht war es kein Zufall, dass wir uns begegneten.

Deutschkurs

Das dominierende, allgegenwärtige Thema des Spätsommers 2015 waren Flüchtlinge. Sie kamen vor allem aus Syrien, aber auch Menschen anderer Nationalitäten flohen aus ihren Heimatländern übers Mittelmeer oder über den Landweg nach Europa. Allein, in Gruppen und großen Trecks waren sie unterwegs, zogen sogar zu Fuß auf Autobahnen über die Grenze Richtung Österreich und erreichten dann das verheißene Land Deutschland. Gegen Ende der Sommerferien erzählte mir eine Nachbarin nach ihrem Urlaub in Bayern von den Kontrollen in den Zügen. Wie man dort Leute, die ohne Papiere erwischt wurden, gnadenlos herausholte, und wie schrecklich es war, das mitanzusehen. Ich erinnere mich, dass es ihr Bericht war, der mich packte und aus meiner relativen Gleichgültigkeit herausriss. Er bewirkte viel mehr in mir als Fernsehbilder. Meine Wahrnehmung veränderte sich, das Thema interessierte mich plötzlich. Ich fühlte mich persönlich berührt, sah Menschen und Schicksale hinter all den Nachrichtensendungen, Tagesthemen und Brennpunkten.

Mein gesteigertes Interesse fiel in die Zeit, in der ich gedanklich langsam mit meinem bisherigen Job abschloss. Nach fast drei Jahrzehnten angestellter Tätigkeit bereitete ich mich darauf vor, nur noch freiberuflich zu arbeiten. Ein neuer Lebensabschnitt, Bürojob von zu Hause aus bei flexibler Zeiteinteilung. In den letzten Wochen bei meinem damaligen Arbeitgeber berichtete die Lokalpresse von der baldigen Ankunft mehrerer Hundert Geflüchteter. Die Sporthallen der benachbarten Schule wurden zur Notunterkunft umfunktioniert, und durch unseren Stadtteil schwappte eine spontane Welle der Hilfsbereitschaft.

Am Tag, an dem die Busse abends eintreffen sollten, fand sich eine Art Begrüßungskomitee auf dem Gelände ein. Ich mischte mich mit der Nachbarin unter die zuversichtlich gestimmte Menge, war Teil derjenigen, die mit Verpflegung, Getränken und Willkommenstransparenten warteten. Vergeblich, denn es kam niemand. Warum es eine Verzögerung gab, wussten weder die direkt involvierten Hilfsorganisationen noch die anwesenden Polizisten. Ein Sprecher teilte mit, die Transfers seien auf einen unbestimmten Zeitpunkt im Laufe des nächsten Tages verschoben worden.

Dienstagnachmittags kursierte dann über Facebook das Update, jetzt sei es so weit. Ich ging wieder rüber zum Schulhof, diesmal mit Charlotte. Schließlich fuhr der erste Bus vor, im Inneren winkende Menschen, die sich offenbar freuten, ihren vorläufigen Zielort erreicht zu haben. Möglicherweise war auch Melih unter denen, die ausstiegen und in die Sporthallen geleitet wurden; er kann aber auch in einem der Busse angekommen sein, die noch bis in die Nacht hinein anrollten. Da war ich schon längst wieder zu Hause, tief beeindruckt von dem Erlebten. Ich dachte viel über die Menschen nach, die nun in der provisorischen Bleibe untergekommen waren. Was und wen hatten sie zurückgelassen, welche Strapazen auf sich genommen? Wie würde sich das Leben in einem völlig fremden Land für sie anfühlen? Trotz des herzlichen Empfangs gab es auch in unserer Stadt Stimmen dagegen. Gegen Flüchtlinge, gegen die naive oder gar scheinheilige Willkommenskultur, gegen Merkel, gegen die Menschlichkeit. Nicht alle begegneten den neuen Nachbarn wohlgesonnen, aber anders als im Osten Deutschlands tönten die Skeptiker und offenen Gegner hier nicht allzu laut.

Ein paar Tage später fand in der Aula der Gesamtschule eine Infoveranstaltung statt, an der ich mit meiner älteren Tochter Sina teilnahm. Kaum ein Platz blieb unbesetzt, als der Oberbürgermeister und andere städtische und kommunale Verantwortliche Fragen beantworteten und referierten, wie es weitergehen sollte. Zudem hatte sich im Stadtteil ein Bündnis von Ehrenamtlichen zusammengeschlossen, das sich ebenfalls vorstellte. Wer sich dort engagieren wollte, konnte dies auf verschiedenste Weise tun. Unter anderem wollte man auch ersten Sprachunterricht organisieren. Ich trug mich zusammen mit Sina in die Liste für Deutschkurse ein. Damit legte ich das alles entscheidende Puzzleteil ab, das mich mit Melih verbinden sollte.

Zwei oder drei Wochen vergingen bis zum Treffen derjenigen, die sich für den Deutschunterricht zur Verfügung gestellt hatten. Sina musste für eine wichtige Klausur lernen, deswegen fuhr ich allein hin. Unglaublich, wie viele motivierte Menschen sich zusammenfanden, um mit vereinten Kräften zu helfen. Es wurde beschlossen, ein Buchungssystem für die Raumbelegung online freizuschalten, kleine Teams zu bilden und die jeweils am besten passenden Gemeinderäume dann gemeinsam zu belegen. Neben mir saß Rainer, ein pensionierter Lehrer, den ich spontan sympathisch fand und für den auch der Kirchsaal an der Parkstraße am nächsten lag. Also taten wir uns zusammen, mit der Option, dass Sina uns je nach ihren zeitlichen Freiräumen als Dritte im Bunde unterstützen würde.

Die Herbstferien bremsten den Beginn der Kurse aus, und als die Planungen im Oktober dann endlich konkret wurden, zogen die Asylsuchenden in eine neue Notunterkunft in der Nähe. Durch diesen Umzug verschob sich der Start nochmals, und es wurde November, bis wir die erste Gruppe an der Unterkunft abholten. Ein Namensabgleich anhand der ausgehängten Liste war wegen chaotischer Zustände nahezu unmöglich, aber schließlich gingen wir mit zwei Frauen und neun Männern den langen Fußweg zu unserem Unterrichtsraum. Melih war bei diesem Termin noch nicht dabei, aber einer seiner Freunde.

Wie ich später erfuhr, trugen sich die meisten anfangs für mehrere Kurse an verschiedenen Tagen ein. Das System erklärte ihnen aber anscheinend niemand richtig. Wir beschlossen daher, auch am nächsten Dienstag unsere Leute noch mal direkt an der Unterbringung einzusammeln und zum Kirchsaal zu begleiten. Diesmal kam auch Melih mit, doch ich verbinde kaum eine Erinnerung an unsere erste Begegnung. Ich glaube, wir haben auf dem Hinweg ein paar Worte auf Englisch gewechselt, aber ich bin mir nicht sicher. Während des Unterrichts saß er mit seinen Freunden jedenfalls an Sinas Tisch. Die Teilnehmerliste verrät eindeutig, dass er dabei war, und auch ein verwackeltes Gruppenfoto existiert, auf dem er zu sehen ist.

Melih gehörte mit drei anderen Syrern von nun an zu denjenigen, die regelmäßig zu unserem Dienstagskurs kamen. Ansonsten wechselte die Zusammensetzung, immer waren auch neue Gesichter dabei, während andere fehlten. Es ergab sich, dass ich mich hauptsächlich um die Neuzugänge kümmerte, Rainer unterrichtete zwei afghanische Frauen und einen jungen Pakistani, Sina die kleine syrische Gruppe. Nur zu Beginn und am Ende des Unterrichts bildeten wir eine große Runde. Mit Melih hatte ich also wenig zu tun, aber er ist mir durch seine offene Art und vor allem durch sein Lächeln aufgefallen. Ein netter Kerl – und sehr hübsch. Er hatte so etwas spitzbübisch Charmantes, durch das er sich von Anfang an von allen anderen abhob.

 

Drei Leben

 

Sollte ich eines Tages vergessen haben,

warum ich mich nicht schuldig fühlte

in dieser Zeit,

hier zur Erinnerung für mich.

Uneins fühlte ich mich,

dreigeteilt in

mein alltägliches Ich,

mein geheimes Ich,

mein inneres Ich.

Alltägliches und Geheimes existierten

ohne sich zu berühren

nebeneinander,

als ob es das jeweils andere nicht gäbe.

Die einzige Verbindung

hätte mein Inneres sein können,

Skrupel, Reue, Moral.

Doch im Geheimen gab es keinen Alltag,

im Alltag gab es keine Geheimnisse,

und im Inneren war Leere.

Besuch

Unser Deutschunterricht hatte kaum angefangen, da endete er auch schon wieder: Am 7. Dezember wurden wir kurzfristig darüber informiert, dass tags darauf – an »unserem« Dienstag – die Registrierung der 250 Asylbewerber stattfinden sollte. Mit Bussen wurden sie morgens abgeholt, und es war ungewiss, ob wir sie jemals wiedersehen würden, da mit der Registrierung auch die kommunale Zuweisung erfolgte. Ein paar Leute würden eventuell bleiben können, aber wie viele und wer wusste niemand. Auch die den Geflüchteten von der Ausländerbehörde zugewiesene Sozialarbeiterin hatte im Vorfeld keine Informationen erhalten und fühlte sich übergangen. Wir waren traurig, noch nicht einmal Abschiednehmen war möglich. Zu diesem Zeitpunkt gingen wir aber von einer schnellen Neubelegung der Notunterkunft aus. Ein rascher Wechsel, daran mussten wir uns wohl gewöhnen.

Mit einer anderen ehrenamtlichen Lehrerin vereinbarten Rainer, Sina und ich, uns am nächsten Dienstag zu gewohnter Stunde im Gemeindesaal zu treffen, für den Fall, dass doch noch jemand aus unserer Gruppe käme. Wir wollten die Zeit andernfalls nutzen, um kurz zu besprechen, wie wir uns in Zukunft unterrichtstechnisch besser abstimmen konnten, denn da gab es einiges an Optimierungsbedarf. Wie wir erwartet hatten, fand tatsächlich kein Unterricht statt, und der Kursraum blieb leer. Als wir eine halbe Stunde später schon fast im Aufbruch waren, klopfte es doch noch an der Tür. Rainer öffnete, und Melih kam herein, zusammen mit einem Freund, den wir nicht kannten.

Wie wir in der folgenden Stunde von Melih erfuhren – in bruchstückhaftem Deutsch, etwas Englisch und mithilfe eines Übersetzungsprogramms – hatten er und sein Freund Arif hierbleiben dürfen und waren zusammen mit acht anderen Männern in eine 3-Zimmer-Wohnung einquartiert worden. Diese Wohnung befand sich am anderen Ende der Stadt. Trotzdem hatten Melih und Arif sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf den Weg zu uns gemacht, in der Hoffnung, wir könnten ihnen bei der Wohnungssuche helfen.

Die beengten Verhältnisse in der ihnen zugewiesenen Bleibe waren unerträglich. Bei der Ausländerbehörde hatte man ihnen gesagt, sie dürften eine eigene Wohnung beziehen und man hatte ihnen ein paar Tipps in deutscher Sprache in die Hand gedrückt, aber wie sollten sie diese mit ihren rudimentären Deutschkenntnissen verstehen? Melih zeigte mir eine Immobilien-Annonce bei Ebay, die er entdeckt hatte. Ich sah sofort, dass dieses Angebot ausschied, denn da suchte jemand einen Nachmieter und verlangte eine größere Ablösesumme für die Einrichtung. Es war unmöglich, ihnen das alles auf die Schnelle vor Ort zu erklären, deswegen tauschte ich mit Melih die Handynummern aus. Ich versprach ihm, mich zu melden und auf jeden Fall zu helfen. Aber ich musste erst einmal zusammen mit Sina überlegen, was zu tun war.

Später am Abend lud ich Melih und seinen Freund für den nächsten Nachmittag zu mir nach Hause ein, nachdem Sina und ich zu dem Schluss gekommen waren, dass wir ihnen die Details der Wohnungssuche persönlich in Ruhe erklären mussten. Dazu war ein Treffen erforderlich, da die schriftliche Kommunikation mit Übersetzungsprogrammen und in Englisch via WhatsApp viel zu umständlich und fehleranfällig war.

Sina und ich beschlossen das, ohne vorher Jan, meinen Lebensgefährten, zu informieren – was sich im Nachhinein als erstes großes Problem und vielleicht sogar als einer der Gründe für die verfahrene weitere Entwicklung erweisen sollte. Jan war damit nämlich absolut nicht einverstanden. Er meinte, es sei eine inakzeptable Idee, fremde Leute, die man kaum kenne, in die Wohnung zu bitten – egal ob geflüchtete oder andere Personen.

Diese negative Einstellung fand ich unbegreiflich, denn für mich waren es längst keine »Fremden« mehr, und Jan erreichte mit seiner Ablehnung bei mir genau das Gegenteil: Mein Bedürfnis zu helfen wuchs. Gegen alle Widerstände, notfalls auch gegen seinen Willen, wollte ich alles tun, um Melih und Arif bei der Suche nach einer eigenen Wohnung zu unterstützen. Auch Sina konnte Jans Bedenken nicht nachvollziehen. Erwartete er etwa von uns, das Ganze abzusagen? Da Jan am nächsten Tag ohnehin lange arbeiten musste und erst abends zu Hause sein würde, telefonierte ich noch mal kurz mit Sina und beließ es dann nach Rücksprache mit ihr bei der Einladung für 16 Uhr. Wir wollten signalisieren, dass Melih und seine Freunde auf uns zählen konnten.

Am Mittwoch lauerte Charlotte schon gespannt auf das Klingeln und stürzte sofort zur Tür. Melih und Arif waren fast auf die Minute pünktlich. Wir setzten uns an den Tisch in der Essecke, ich bot Kaffee an, und dann versuchten wir, uns zu unterhalten. Melih verstand und sprach etwas Englisch, Arif nicht, sodass alles stockend vonstattenging, weil Melih immer noch aus dem Englischen ins Arabische und umgekehrt übersetzen musste. Sie hatten ihre von der Ausländerbehörde ausgestellten Dokumente mitgebracht, aus denen unter anderem hervorging, wie groß die Wohnung für Asylbewerber sein und was sie kosten durfte. 50 m2 und 339 Euro Bruttokaltmiete waren die Obergrenze für eine Person.

Sina und mir leuchtete zunächst nicht ein, warum sie es ablehnten, zu zweit oder zu dritt zusammenzuziehen. Wir nahmen an, es sei in ihrer Heimat womöglich ungehörig, wenn Männer in einer Wohngemeinschaft zusammenlebten. Schließlich wird Homosexualität in der islamisch-arabischen Kultur noch immer als Krankheit angesehen und gilt als verabscheuenswürdig. Doch damit hatte es nichts zu tun, wie wir später verstanden, sondern mit einem der vielen kursierenden Gerüchte rund um die Anerkennung als Asylberechtigte. Sie hatten die absurde Information aufgeschnappt, eine eigene Wohnung böte Vorteile.

Die beiden erzählten, wie menschenunwürdig es in der aktuellen Wohnung zuging – schlimmer als in der Notunterkunft. Für zehn nach dem Zufallsprinzip zusammengewürfelte Männer verschiedener Nationalitäten gab es eine Toilette, eine Dusche, eine winzige Küche und drei kleine Schlafzimmer, die sich jeweils drei oder vier Leute teilen mussten. Melih litt am meisten unter der Enge, er wollte unbedingt da raus, was wir sehr gut verstehen konnten.

Der syrische Besuch dauerte ungefähr anderthalb Stunden, und wir vereinbarten, dass Sina und ich in den nächsten Tagen Wohnungsanzeigen checken würden und versuchen wollten, Besichtigungen zu vereinbaren. Falls es uns gelang, einen Termin abzumachen, wollten wir Melih per WhatsApp informieren.

Als Jan an diesem Abend nach Hause kam und erfuhr, dass Melih und Arif zu Gast gewesen waren, regte er sich furchtbar auf. Er warf mir vor, das Treffen heimlich durchgezogen zu haben, hinter seinem Rücken. Damit hätte ich ihn vorsätzlich hintergangen und vollendete Tatsachen geschaffen. Ich blieb ganz ruhig, entgegnete wahrheitsgemäß, dass ich nicht die Absicht gehabt hatte, den Besuch zu verheimlichen. Mit den vollendeten Tatsachen hatte er recht, ja. Aber da es unsere gemeinsame Wohnung war, sah ich nicht ein, mir vorschreiben zu lassen, wen ich einlud – zumal dann, wenn es ihn in Abwesenheit gar nicht tangierte. Die Diskussion schleppte sich dahin. Ich war geradezu schockiert über die Uneinsichtigkeit und herzlose Rechthaberei des Mannes, mit dem ich seit über 10 Jahren zusammenlebte, und blieb bei meinem Standpunkt, gemeinsam mit Sina aktiv helfen zu wollen. Dazu gehörte, Melih und Arif näher kennenzulernen und sie auch zukünftig in unsere Wohnung einzuladen.

Später am Abend chattete ich zum ersten Mal ausführlicher mit Melih. Es war drollig, was die Übersetzungsprogramme fabrizierten, manches gut verständlich, anderes sehr rätselhaft. Melih bedankte sich vielmals für alles, und unsere Kommunikation bestätigte mich darin, das Richtige zu tun. Der Austausch mit ihm hatte etwas ungemein Tröstliches und lenkte mich vom Streit mit Jan ab. Es war das Gegenprogramm: hier der erboste, verständnislose Partner, dort der freundliche, dankerfüllte Melih.

Ob alles anders gekommen wäre, wenn nicht von Anfang an dieser Konflikt und viele weitere Probleme zwischen Jan und mir geschwelt hätten, darüber lässt sich nur spekulieren. Ich glaube aber, es war ein entscheidendes Puzzleteil. Nicht das ausschlaggebende, aber eben eines von vielen.

 

Glaskugel

 

In 20 Jahren, sagst Du,

egal wo Du bist,

in Damaskus, in Beirut,

Libanon, Türkei, Deutschland,

wo auch immer,

wirst Du an mich denken.

Wenn Du heiratest, Kinder hast,

und noch viele Jahre später,

wenn Du alt bist,

an Krücken gehst oder im Rollstuhl sitzt,

vergisst Du mich nicht.

Oh Gott, sage ich,

in 20 Jahren,

da bin ich vielleicht schon tot.

Aber wer weiß, es könnte sein,

dass wir uns wiedertreffen

im Leben danach,

beide jung und frei und füreinander bestimmt.

Wohnung

Mit Elan, aber ohne die geringste Ahnung von den komplizierten Abläufen in der Ausländerbehörde, machte ich nun das Suchen einer Wohnung zu meinem Herzensprojekt. Dabei hatte Melih für mich Vorrang, da es ihm am wichtigsten zu sein schien, endlich Privatsphäre zu haben. Und er wollte so gern wieder in unserem Viertel leben, also am liebsten eine Wohnung in der Nähe finden.

Wir trafen uns mehrmals, um Dokumente zu sichten, Kaffee zu trinken und uns zu unterhalten. Arif war in jener Anfangszeit immer dabei, ein festes Gespann, fast wie siamesische Zwillinge. Beim Kopieren ihrer Ausweispapiere sahen wir die Geburtsdaten – Melih war 33 Jahre und Arif 29 Jahre – und nun wollten sie wissen, wie alt Sina und ich waren. Eine lustige Situation, denn beide gaben sich höchst irritiert bei der Zahl, die ich ihnen nannte. Ich musste sie extra auf einen Zettel schreiben, weil sie glaubten, es falsch verstanden zu haben.

Die Reaktion roch nach übertriebener Schmeichelei, aber Sina meinte, das Erstaunen sei immerhin ziemlich glaubhaft geheuchelt gewesen. Ich nahm es einfach als nett gemeintes Kompliment, denn ich werde häufig für jünger gehalten. Das verdanke ich wohl guten Erbanlagen und einem sportlichen Lebenswandel. Ich bin schlank, habe stufig geschnittene rotblonde Haare und entsprechend helle Haut mit Sommersprossen, schminke mich nur wenig und kleide mich leger, meistens Jeans und irgendein lässiges Oberteil dazu. Wahrscheinlich wirken gleichaltrige syrische Frauen doch mütterlicher und matronenhafter.

Arif und Melih hatte ich in etwa so alt geschätzt, wie sie laut Ausweis waren, wobei Arif mit seinem Vollbart auch der Ältere hätte sein können. Sympathisch waren sie beide, Melih fand ich obendrein irgendwie süß, besonders wenn er lachte. Und wir alle lachten oft bei unseren Treffen, die zwei hatten Humor, das ließ sich trotz der Sprachbarriere ganz eindeutig bemerken.

Bald kannte ich die infrage kommenden Angebote der Immobilienbörsen auswendig. Sina musste sich auf ihre Klausuren konzentrieren, darum war ich es, die täglich mehrere E-Mails schrieb, auf die ich meist keine, gelegentlich auch eine unfreundliche Antwort erhielt. Ein Immobilienmakler rief mich aber zurück, wir unterhielten uns länger, und er zeigte sich offen für einen Besichtigungstermin. Die Wohnung lag nah, war zwar etwas heruntergekommen, aber passte ansonsten perfekt. Sowohl Makler als auch Verwalter waren einverstanden mit Melih als Mieter.

Es gab allerdings einen Haken – den Wohnberechtigungsschein, den Asylbewerber erst dann bekommen, wenn sie anerkannt werden und das Jobcenter zuständig ist. In laufenden Verfahren werden keine Berechtigungsscheine ausgestellt. Da der Wohnungseigentümer sich nicht auf eine Befreiung einließ, scheiterte die Sache. Dabei hatten wir schon das Okay von der Kostenstelle der Ausländerbehörde und wähnten uns dem Ziel nah. Es war unfassbar, welche Steine die Behörden sowohl den Asylsuchenden als auch den Ehrenamtlichen in den Weg legten, während auf der anderen Seite in den Medien mitunter der Eindruck erweckt wurde, als würden viele Menschen ihre Heimat vor allem verlassen, um sich hier in Deutschland auf unsere Kosten ein angenehmes Leben zu machen. Wirtschaftsflüchtlinge – welch verächtliches Wort!

Ich nahm die Absage wahrscheinlich schwerer als Melih, so frustriert, traurig und wütend war ich. Aber dieser Frust trieb mich auch an: Als ich im Wochenblättchen eine passende Annonce entdeckte, griff ich zum Telefon. Es handelte sich um ein sehr kleines Apartment im Souterrain, aber in einer schönen grünen Gegend. Und vor allem konnten wir ohne Umweg über Makler und Verwalter direkt mit dem Vermieter sprechen, ein älterer Herr, der die Wohnung privat vermietete. Deswegen war auch kein Berechtigungsschein erforderlich. Da ich an dem Tag keine Zeit hatte, übernahm diesmal Sina die Besichtigung mit Melih, die Ausländerbehörde gab ihren Segen und so war es schließlich geschafft: Melih erhielt Mitte Dezember die Schlüssel zu seiner eigenen Wohnung. Eine große Freude – auch für mich! Trotz aller Mühe hatte das Ganze mir Spaß gemacht, hatte mich ausgefüllt und meinem Leben eine neue Qualität gegeben, indem ich etwas Sinnvolles tat.

Zu dieser Zeit fühlte ich mich Melih und Arif noch gleichermaßen freundschaftlich verbunden, der Kontakt zu Melih war jedoch enger. Fast jeden Abend schrieb er mir bei WhatsApp oder im Facebook Messenger, und daraus entwickelten sich immer komplexere Chats in einem wilden Mischmasch aus Arabisch, Deutsch und Englisch. Ohne Übersetzungsprogramm konnten wir einander kaum verstehen, entsprechend mühsam war diese Art der Unterhaltung anfangs – aber wir bekamen Übung. Jan hatte sich inzwischen eher notgedrungen um des häuslichen Friedens willen bereit erklärt, die Syrer kennenzulernen. Er blieb jedoch reserviert und ließ mich spüren, dass er von engerem Kontakt zu ihnen nicht viel hielt. Mein Engagement in allen Ehren, aber seine Freunde wollte er sich selbst aussuchen.

Meine Tatkraft, meine Begeisterung, meine Offenheit – das alles war ihm im Zusammenhang mit Melih und Arif nicht geheuer. So kontaktfreudig kannte er mich nicht, und auch ich selbst erkannte mich kaum wieder. Mit den Jahren war ich ziemlich verschlossen geworden, fast schon einsiedlerisch, gern allein. Besuch einzuladen und Freundschaften zu pflegen bedeutete für mich Stress. Manchmal hatte ich den Eindruck, ich sei tendenziell etwas autistisch, denn sogar familiäre Bindungen, die über den engsten Familienkreis hinausgingen, vernachlässigte ich. Und dann schloss ich zwei junge Männer, die ich erst kurz kannte, so selbstverständlich ins Herz.

Jan beobachtete diese Entwicklung mit Skepsis, gab aber zu, dass die beiden nett waren und er gegen sie persönlich nichts hatte. Es war einfach die Intensität, die ihn störte, meine Euphorie. Er hielt sich aus der Sache weitgehend raus, half aber auf mein Bitten hin, ein gebrauchtes Bettsofa mit seinem Auto zu transportieren. Nach längerem Sträuben nahm er sogar eine Einladung für die ganze Familie zum Essen an. Sina, Charlotte, Jan und ich wurden von Melih üppig bekocht, Arif übernahm den Service und den Abwasch, und uns blieb nichts anderes zu tun, als gigantische Mengen köstlicher syrischer Hausmannskost zu essen, bis wir so pappsatt waren, dass wir uns kaum noch rühren konnten. Das Projekt »Wohnung für Melih« war damit zunächst einmal erfolgreich abgeschlossen – und darüber waren wir enge Freunde geworden. Heute glaube ich, dass Jan damals schon gewisse Schwingungen zwischen Melih und mir intuitiv wahrnahm, noch bevor sie mir bewusst wurden. Ich hinterfragte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, warum ich mich in seiner Nähe so unheimlich wohlfühlte.

 

Sternenmann

 

Ohne Dich hätte ich nie gewusst,

dass ich der Mond sein kann.

Bin süchtig danach,

möchte es hören.

Sag es.

Ich möchte es lesen.

Schreib es.

Mein Mond.

Du bist mein Sternenmann

mit Grasbrust.

Du singst Melodien, so fremd,

und dann küsst Du mich.

Wir taumeln und kreisen,

planetengleich.

Du bist mein Sternenmann,

mit Gras so grün besät.

Poesie

Die Notunterkunft stand leer, von den für Januar 2016 angekündigten Flüchtlingen kam niemand. Darum fanden auch keine ehrenamtlichen Sprachkurse mehr statt. Es war verrückt: Das ganze Land stöhnte unter der Last der Flüchtlinge, und es wurden jede Menge Notunterkünfte aus dem Boden gestampft. Die Medien suggerierten eine Krise, kannten nur noch dieses eine Thema, schürten eine diffuse Angst. Dabei konnten nur noch wenige Menschen die inzwischen fast hermetisch abgeriegelten Grenzen passieren, und unser ehrenamtlicher Helferkreis für Deutschunterricht drehte Däumchen. Es gab unterrichtstechnisch nichts zu tun für uns.

Nach Melih hatten ein paar andere Syrer die städtische Wohngemeinschaft ebenfalls verlassen. Mit nur noch sechs Leuten war die Situation dort für Arif relativ entspannt, zumal er häufig bei Melih übernachtete. Beide sagten mir, dass die weitere Wohnungssuche nicht eilig sei. Falls sich etwas ergäbe, gut, wenn nicht, dann auch okay. Arif wollte sich außerdem selbst umhören, in der arabischen Community sprachen sich Wohnungsangebote nun rasch herum. Er schien im Moment ganz zufrieden damit zu sein, bei Melih nach Lust und Laune ein- und ausgehen zu können. Zuerst war Arif fast täglich da, doch dann ließ er sich immer seltener blicken. Während mein Kontakt zu ihm nachließ, wurde er zu Melih immer intensiver. Kein Tag ohne Facebook Messenger, kein Morgen ohne Guten Morgen, kein Abend ohne Gute Nacht. Er wünschte mir zusätzlich immer noch Süße Träume, angereichert mit allerlei Smileys, Stickern, Herzchen und Rosen. Diese Botschaften erhielt Sina ebenfalls, wenn auch nicht in der Häufigkeit. Ich tat die neckischen Verzierungen als Spielarten der blumigen arabischen Sprache ab.

Aber wir schrieben nicht nur Triviales. Es fand ein echter Austausch statt, über uns, unsere Familien und unsere Kulturen. Melih schrieb mir von seinen sieben Geschwistern, dem Tod seines Vaters, als er 16 war, und dem Unglück seiner Mutter, die der Kinder wegen erneut heiratete und kurz darauf zum zweiten Mal Witwe wurde. Ich antwortete, dass ich bei meiner Mutter aufgewachsen war, ohne Geschwister und ohne meinen Vater zu kennen, und ich vertraute ihm an, wie sehr ich um meine Mutter trauerte, die viel zu früh ihren Kampf gegen eine besonders tückische Krebserkrankung verloren hatte.

Wir fragten uns gegenseitig aus, es gab keine Tabuthemen, noch nicht mal das Liebesleben. Ihn interessierte, wie das hier bei uns so läuft zwischen Frauen und Männern, weshalb Jan und ich nicht verheiratet sind, ob wir es gut finden, dass Beziehungen so austauschbar und flüchtig sind. Ich wiederum wollte wissen, ob tatsächlich alle Muslime mit den Intimitäten bis zur Ehe warten, warum Jungfräulichkeit im Islam so wichtig ist. Und aus welchem Grund er nicht geheiratet hat, denn das ist für einen 33-jährigen Syrer ungewöhnlich. Die meisten heiraten früh, sobald eine Hochzeit finanziell möglich ist.