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Für Bruce

Immer wenn Poppy Caldwell in einen Spiegel schaute, sah sie ein anderes Mädchen hinter sich stehen.

Es gab viele andere Mädchen in Thursday’s Hope, dem Heim, in dem Poppy lebte, seit sie fünf Jahre alt war. Doch das Mädchen, das sie sah, war ganz anders als die Mädchen aus dem Heim.

Poppy war sich ziemlich sicher, dass es tot war.

Das Mädchen im Spiegel lächelte sie immer an. Es hatte freundliche braune Augen und lange dunkle Haare. Und über einem dunklen Kleid trug es immer dieselbe weiße Schürze mit großen Taschen, die in Hüfthöhe aufklafften und mit Geheimnissen gefüllt zu sein schienen.

Poppy wusste, dass es merkwürdig war, dieses Mädchen zu sehen. War es ein Geist? Ein Engel?

Einmal hatte Poppy allen Mut zusammengenommen und ihre Zimmergenossin Ashley gefragt, ob es normal sei, im Spiegel ein anderes Mädchen hinter sich zu sehen – ein Mädchen, das nicht sprechen konnte und im Übrigen gar nicht da war, wenn man sich umdrehte. Ashley hatte so schallend gelacht, dass Poppy schnell mitgekichert und so getan hatte, als sei es ein Scherz gewesen.

Sie hatte gehofft, Ashley würde es für sich behalten. Doch Ashley war ein Plappermaul, das kein Geheimnis für sich behalten konnte.

Die Sache mit Poppys »Visionen« machte augenblicklich im ganzen Schlafsaal die Runde und brachte Poppy einen unschönen Spitznamen ein: Verrückte Poppy. Anfangs versuchte sie, sich zu verteidigen und die anderen davon zu überzeugen, dass es das Mädchen wirklich gab. Aber das machte es nur noch schlimmer.

Mit der Zeit begann Poppy selbst zu glauben, dass sie verrückt war.

Doch an Tagen, an denen es ihr so richtig schlecht ging, weil die anderen Mädchen in Thursday’s Hope wieder einmal besonders fies zu ihr waren, war das Mädchen Poppys einziger Trost – eine Freundin, dank der sie sich weniger einsam und ängstlich fühlte. Manchmal, wenn sich ihre Blicke im Spiegel trafen, fischte das Mädchen etwas aus den Tiefen der riesigen Taschen seiner Schürze und hielt es hoch, als wollte es Poppy damit ein Lächeln entlocken.

Am nächsten Morgen entdeckte Poppy diese Gegenstände dann unter ihrem Kopfkissen.

Beim ersten Mal war es ein Vogel gewesen, aus einem dünnen Draht gebogen. Danach kamen gepresste Blumen, kleine Comicstrips aus vergilbten Zeitungen und ein Pinsel mit eingetrockneter grüner Farbe an der Spitze.

Alte Dinge.

Überraschende Dinge.

Sonderbare Dinge.

Erst wollte Poppy es nicht glauben. Doch die Gegenstände waren da – sie konnte sie anfassen, und das bedeutete, dass sie real waren. Unerklärlich, aber real.

Poppy nahm eines ihrer Bücher und schnitt ein Loch in den Innenteil, um diese kleinen Geschenke darin zu verstecken. Sie sollten ihr Geheimnis bleiben. Dann aber entwickelte Ashley eine besondere Freude daran, in Poppys Sachen herumzuschnüffeln und Poppys Schätze den anderen Mädchen aus dem Heim zu zeigen, die nichts Besseres zu tun hatten, als diese Dinge zu zerreißen und kaputt zu machen. Nach solchen Tagen hatte Poppy schlimme Albträume. Sie träumte von verheerenden Feuern und musste schreiend mit ansehen, wie die anderen Mädchen um sie herum verbrannten. Das Schlimmste an diesen Träumen war, dass Poppy ganz genau wusste, dass sie diese Feuer gelegt hatte.

Im wahren Leben wusste Poppy sich nicht zu wehren … bis zu dem Tag, als Ashley das Bild in die Finger bekam. Es handelte sich um eine filigrane Kohlezeichnung, die fünf Kinder in Masken und Kostümen vor einer Steinmauer zeigte. Poppy hatte diese Skizze extra woanders aufbewahrt, zwischen den Seiten eines Buchs, das sie besonders liebte – ein Buch, von dem sie wusste, dass Ashley es niemals lesen würde. Doch Ashley war eine bessere Schnüfflerin, als Poppy ahnte. Denn eines schönen Tages stand sie neben ihrem gemeinsamen Stockbett und schwenkte triumphierend diese Zeichnung.

»Auch von deiner Freundin?«, fragte Ashley mit einem kleinen spöttischen Grinsen. Sie tat so, als wollte sie die Zeichnung zerknüllen.

Das brachte für Poppy das Fass zum Überlaufen. Ohne lange zu überlegen, griff sie nach Ashleys größtem Schatz, einem reich verzierten Spiegel, der auf ihrem gemeinsamen Nachttisch stand, und warf ihn hinter sich an die Wand. Ein Splittern. Ein Schrei. Ashley ballte die Faust, um die Zeichnung zu zerknüllen – doch die war ihr bereits entglitten und wie durch Zauberhand unversehrt auf Poppys Bett gelandet.

Poppy stand reglos da, während Ashley schockiert um Hilfe rief.

Poppy war noch nie ins Büro von Mrs Tate, der Heimleiterin, geschickt worden. Die kalten Metallschränke und der große Schreibtisch aus Eichenholz hatten sie immer schon eingeschüchtert, wenn sie nur an der offenen Tür vorbeigegangen war. Nun aber saß sie direkt vor diesem Schreibtisch, wie auf einer Anklagebank. Die Sekretärin hatte ihr eingeschärft, ja nichts anzufassen und brav zu warten, weil Mrs Tate zuerst mit Ashley reden wollte.

Poppy wusste, dass sie diesen Rat besser beherzigen sollte. Sie würde ohnehin gleich Ärger bekommen. Doch in ihr brodelte eine solche Wut, dass sie ihre übliche Zurückhaltung ganz vergaß. Sie zögerte nicht lange: Endlich bot sich ihr die Gelegenheit, von der sie immer geträumt hatte. Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, sprang Poppy wieder auf. Sie wollte endlich einmal einen Blick in ihre Akte werfen. Hektisch durchsuchte sie die Schränke und Schubladen. Auf ein bisschen Ärger mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an.

Im Büro der Heimleiterin roch es unangenehm süßlich, fast so, als hätte jemand Kaugummis unter jedes Möbelstück geklebt. In den Sonnenstrahlen, die durch das hohe Fenster hereinfielen, sah man die vielen Staubflöckchen tanzen, die Poppy bei ihrer hektischen Suche aufwirbelte. Ah, da war noch ein Aktenschrank auf der gegenüberliegenden Seite. Poppy fand die richtige Schublade, zog ihre Akte heraus und legte sie auf Mrs Tates Schreibtisch.

Während Poppy die Papiere überflog, wurde ihr Gesicht vor Enttäuschung immer länger. In ihrer Akte fand sie ihre Zeugnisse, Krankenberichte und Bilder, die sie früher gemalt hatte, aber nicht den kleinsten Hinweis darauf, wo sie gelebt hatte, bevor sie hier ins Heim gekommen war. Warum stand hier nichts über ihre Eltern? Man konnte fast glauben, sie hätten nie existiert und Poppy sei aus dem Nichts gekommen.

Das war höchst ungewöhnlich.

Und dann wurde es noch ungewöhnlicher.

Ganz hinten in ihrer Akte entdeckte Poppy einen versiegelten Briefumschlag, auf dem ihr Name stand. Sie drehte ihn hin und her, während ihr das Herz bis zum Hals schlug.

In der oberen linken Ecke stand in zierlichen Buchstaben der Absender: Larkspur House, Hardscrabble Road, Greencliff, N.Y. Der Poststempel war verschmiert, und man konnte nicht erkennen, wann der Brief abgeschickt worden war. Poppy konnte es nicht glauben. Ein Brief für sie? Wieder packte sie die Wut. Warum hatte Mrs Tate ihr diesen Brief nie gegeben?

Poppy schob einen Fingernagel vorsichtig unter der Klappe entlang und zog einen lachsfarbenen Briefbogen, der an den Rändern mit einem kunstvollen Blumenmuster verziert war, aus dem Umschlag. So etwas Schönes hatte Poppy noch nie gesehen. Ein kleines Foto, auf dem ein stattliches Herrenhaus zu sehen war, lag auch dabei. Poppy legte das Foto erst mal beiseite und begann zu lesen.

Meine liebste Nichte,

wenn Du wüsstest, wie sehr ich mich freue, dass ich Dich endlich gefunden habe! Du kannst Dir nicht vorstellen, was unsere Familie durchgemacht hat, auch wenn es sicher nichts ist im Vergleich zu dem Leben, zu dem Du gezwungen worden bist, mein armes Kind!

Du kannst mich Großtante Delphinia nennen. Ich lebe in einem großen Anwesen im Hudson Valley, mit wesentlich mehr Räumen, als ich brauche. Es wäre mir eine große Ehre, wenn Du Dich entschließen könntest, zu mir zu ziehen. Ich werde dafür sorgen, dass Du die beste schulische Ausbildung, erstklassige Mahlzeiten und teuerste Kleidung bekommst – eben alles, was sich ein Mädchen in Deinem Alter nur wünschen kann –, obwohl Dir gewiss bewusst ist, dass derlei Dinge wertlos wären ohne ein liebevolles Heim, das den Grundstock für Dein neues Leben hier in Larkspur bilden wird.

Anbei ein kleines Foto, damit Du in etwa weißt, was Dich hier bei mir erwartet!

Ich würde Dich gern selbst in Thursday’s Hope abholen, doch meine Gesundheit erlaubt es leider nicht. Aber gib mir bitte Bescheid, damit ich weiß, dass Du dieses Schreiben erhalten hast, und damit ich Deine baldige Anreise organisieren kann. Wir haben uns bestimmt viel zu erzählen!

Mit den innigsten Grüßen

Delphinia Larkspur

Schauder des Glücks liefen Poppy über den Rücken, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das hier war besser als jeder Schatz, den das Mädchen im Spiegel ihr jemals geschenkt hatte. So etwas passierte normalerweise nur im Märchen – aber doch nicht einem Mädchen wie ihr. Eine Verwandte! Ein Happy End!

Hinter ihr knarrte ein Fußbodenbrett, und als Poppy herumwirbelte, sah sie die Heimleiterin im Türrahmen stehen.

»Was machst du da, Poppy Caldwell?« Mrs Tates Blick wanderte von der offenen Akte auf ihrem Schreibtisch zu dem Schreiben in Poppys Hand.

»Ich wollte Sie nach meiner Akte fragen.« Poppy versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Diese Akte ist nicht für deine Augen bestimmt«, erwiderte Mrs Tate streng.

Poppys Gesicht brannte. »Ich habe das hier gefunden.« Sie hielt den Umschlag hoch. »Ein Brief. Der an mich adressiert ist.« Sie zwang sich, Mrs Tates Blick standzuhalten. »Warum haben Sie ihn vor mir verheimlicht?«

Mrs Tates eben noch zorniges Gesicht wurde ratlos. »Warum hätte ich das tun sollen? Darf ich mal sehen?«

Widerwillig reichte Poppy ihr das Schreiben und beobachtete mit Argusaugen, wie sie es überflog. »Poppy, ich habe diesen Brief nie gesehen, das musst du mir glauben.«

»Ich habe eine Familie!«, sagte Poppy.

»Ich würde keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

»Meine Großtante Delphinia weiß alles über mich«, beharrte Poppy leise, aber mit Nachdruck.

Mrs Tate seufzte, und es sah ganz so aus, als wären ihr solche Dinge nicht ganz neu. »Der Absender ist sehr vage. Es gibt keine Telefonnummer, keine E-Mail-Adresse. Wie sollte ich deiner Meinung nach mit dieser Frau in Verbindung treten?«

Brauchen Sie gar nicht, dachte Poppy. Das mache ich schon allein.

Als die Heimleiterin Poppys trotzigen Gesichtsausdruck sah, ging sie hinter ihren Schreibtisch und setzte sich an ihren Computer. Poppy wagte kaum zu atmen, während Mrs Tate im Internet nach Larkspur House suchte.

»Da gibt es nicht viel. Nur etwa ein Dutzend Anwesen im ganzen Land. Und über eine Delphinia Larkspur kann ich auch nichts finden.«

Poppys Brust zog sich schmerzhaft zusammen. »Das ist alles?«

»Ich weiß, dass die anderen Mädchen in letzter Zeit nicht sehr nett zu dir waren.« Mrs Tate lehnte sich zurück und sah Poppy mitfühlend an. »Ich fürchte, du musst davon ausgehen, dass es sich hierbei um einen dummen Scherz handelt. Wobei ich anmerken möchte, dass du auch nicht gerade ein Unschuldslamm bist. Was du Ashley angetan hast, ist unentschuldbar.« Auweia – Poppy merkte, dass diese Sache noch lange nicht vom Tisch war.

Als Poppy an diesem Abend auf den Spiegel im Badezimmer zuging, tauchte das Mädchen nicht hinter ihr auf.

Das war noch nie vorgekommen.

Erst später, als sie in ihrem Bett lag, die über die Zimmerdecke huschenden Scheinwerferlichter vorbeifahrender Autos beobachtete und Ashley im Bett unter ihr leise schnarchen hörte, wurde ihr klar, woran es vermutlich lag: Nun, da ich von Larkspur House und Großtante Delphinia weiß, brauche ich das Mädchen vielleicht nicht mehr.

Poppy ahnte nicht, wie falsch sie damit lag.

Marcus Geller hörte Musik, die außer ihm niemand hörte, Musik, die aus einem benachbarten Raum kam, von dem nur er allein wusste.

Er konnte nichts dagegen machen. Ignorieren konnte er sie aber auch nicht.

Deshalb spielte Marcus die Melodien mit, wann immer es ging.

Er hatte sich auf den Hocker in einer Ecke des Esszimmers gesetzt, das Cello bereits zwischen den Knien, und wollte gerade den Bogen ansetzen, als er seine Mutter rufen hörte: »Marcus! Kommst du bitte mal hoch?«

Ihre Stimme klang dünn und weit weg, und er wusste sofort, dass sie wieder einmal am Computer in ihrem Schlafzimmer saß, wo sie sich gern vor der realen Welt versteckte.

Marcus schluckte trocken. Er hatte noch nicht mal angefangen zu spielen, und schon wollte seine Mutter ihn davon abhalten! Er ballte die Fäuste und lockerte sie langsam wieder, bevor er auf den Ruf seiner Mutter reagierte. »Eine Minute noch!« Dann ließ er den Bogen über die Saiten gleiten, und der Raum füllte sich mit einem tiefen, klangvollen Brummen, das all seine Sorgen und auch die Antwort seiner Mutter übertönte.

Zu Hause zu üben war immer schon schwierig gewesen – so etwas wie eine Privatsphäre zu haben, wenn man mit drei älteren Geschwistern unter einem Dach wohnte, war ungefähr so wahrscheinlich, wie ein schlafendes Einhorn unter seinem Bett zu finden –, doch in letzter Zeit hatte sich das Problem noch mehr zugespitzt.

Marcus’ Musik schien seine Mutter ungewöhnlich nervös zu machen.

Das lag vermutlich daran, dass ihr jüngerer Bruder Shane ebenfalls Cello gespielt hatte. Wie alle in der Familie versicherten, war er außergewöhnlich talentiert gewesen. Ihm wurde eine glänzende Karriere als Musiker vorausgesagt …

Und dann war etwas Schreckliches passiert.

Die näheren Umstände von Shanes Tod kannte Marcus nicht. Über diesen Teil der Geschichte sprach niemand.

Er wusste nur, dass Shane mit zwölf Jahren gestorben war.

Genau in dem Alter, in dem Marcus jetzt war.

Vielleicht hing es mit dem Alter zusammen. Oder vielleicht auch damit, dass Marcus am Cello immer besser wurde. Was immer es war, es schien seine Mutter schwer zu belasten – und das musste er nun ausbaden.

Das war total unfair!

Dabei hätte Marcus niemals aufhören können zu spielen. Denn sonst hätte ihn die Musik, die niemand außer ihm zu hören schien, überwältigt.

Für Marcus waren die Klänge der Saiten-, Streich- und Blasinstrumente so klar und lebendig, die Rhythmen so wild und mitreißend, dass er sich kaum vorstellen konnte, dass sie außer ihm niemand hörte. Als er noch klein gewesen war, hatte er allen davon erzählt und die Melodien mitgesummt, damit die anderen ihm glauben würden.

Irgendwann hatten seine Eltern ihn zu einem Arzt geschleppt, der ihm Medikamente verschrieb, um den »Halluzinationen« ein Ende zu setzen. Daraufhin hatte Marcus beschlossen, niemandem mehr von der geheimnisvollen Musik zu erzählen. Er wollte nicht, dass sie verstummte, auch wenn sie nur in seinem Kopf war.

Das war ungefähr zu der Zeit gewesen, als er begonnen hatte, sämtliche Instrumente aus dem Musikraum in der Schule und aus der Sammlung seines Onkels auszuprobieren, um die wundervollen Melodien nachzuspielen, die ihn ständig umfluteten.

Es war eine geniale Idee gewesen: nicht mehr über die Musik zu reden und sie stattdessen zu spielen. Ab da waren seine Eltern zwar beruhigt, aber dafür wurden die Lehrer und andere Erwachsene auf ihn aufmerksam, die von seinem plötzlichen Talent begeistert waren.

Obwohl Marcus die Aufmerksamkeit genoss, war er sich nicht sicher, ob er sie auch verdient hatte. Er kam sich wie ein Hochstapler vor, denn er hatte sich diese Kompositionen ja gar nicht selbst ausgedacht.

Sie kamen ihm von irgendwo jenseits dieser Welt zugeflogen.

»Marcus!«

Widerwillig nahm er den Bogen von den Saiten und schlug die Augen auf. Seine Mutter stand in der Esszimmertür, ein Blatt Papier in der Hand. Marcus hatte gar nicht gemerkt, wie sehr er in der Musik aufgegangen war, und auch nicht, wie friedlich der Nachmittag geworden war. »Entschuldige, Mom«, sagte er. »Ich war im Geiste ganz woanders.«

Zu seiner Überraschung lächelte sie. »Schon gut.« Sie reichte ihm das Blatt. »Ich habe gerade diese Mail hier bekommen. Ich dachte, es ist wahrscheinlich einfacher, wenn ich sie schnell ausdrucke und dir bringe.«

»Worum geht es denn?«

»Lies, dann weißt du es.«

Sehr geehrte Mrs Geller,

mein Name ist L. Delphinium, und ich bin der Direktor der Larkspur-Akademie für Musik und darstellende Künste im Staat New York. Einer der vielen Talentscouts, mit denen ich weltweit zusammenarbeite, war neulich beim Auftritt Ihres Sohns auf dem Oberlin-Campus in Ohio anwesend, und er war von seiner kraftvollen Darbietung überwältigt. Aus diesem Grund möchten wir Ihrem Sohn einen Studienplatz an unserer Akademie anbieten.

Hier in Larkspur wird Marcus die Möglichkeit erhalten, von den besten Musikern und Dozenten von New York City zu lernen. Im Anhang finden Sie eine Broschüre mit weiteren Informationen über unser musikalisches Programm und die Zielsetzungen unserer Akademie.

Uns ist natürlich bewusst, dass es für eine derartige Einladung etwas spät im Jahr ist. Es ist jedoch einer unserer Grundsätze, dass wir stets versuchen, die vielversprechendsten Nachwuchstalente unter unserem Dach zu vereinen, daher möchten wir Ihnen unser Angebot zumindest unterbreiten. Für einen Schüler von Marcus’ Format sind wir selbstverständlich bereit, die Studiengebühren, Unterbringung, Verpflegung und Reisespesen zu übernehmen. Auf Ihre Familie kämen also keinerlei Kosten zu.

Bitte lassen Sie uns Ihre Antwort baldmöglichst zukommen.

Mit freundlichen Grüßen

L. Delphinium

Direktor der Larkspur-Akademie

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Marcus.

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Das ist ja verrückt! Beim Konzert am Oberlin war ein Talentscout da?«

»Du hast nun mal Talent, Marcus«, erwiderte seine Mutter. »Tu nicht so überrascht.«

»Und du hättest nichts dagegen, wenn ich dorthin gehe?«

»Ich würde mich freuen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. Marcus fand, dass sie etwas zu erfreut aussah.

Noch bevor er etwas entgegnen konnte, füllten schaurige, vielstimmige Missklänge seine Ohren, ein Durcheinander von so vielen Instrumenten, dass er sie nicht hätte aufzählen können. Diese fürchterliche Katzenmusik hatte so gar nichts mit den melodiösen Klängen gemeinsam, die er sonst immer hörte – es klang mehr wie ein gewaltiger Aufschrei. Marcus zuckte zusammen, doch als er den Blick seiner Mutter bemerkte, versuchte er rasch, seinen Schreck als freudige Überraschung zu tarnen.

Seine Mutter hatte natürlich nichts gehört.

In dem Traum, der sie ständig heimsuchte, ging Azumi Endo barfuß durch den riesigen Wald hinter dem Haus ihrer Tante in der Präfektur Yamanashi. Das Vulkangestein, das der Berg Fuji, der höchste Berg Japans, vor langer Zeit ausgespuckt hatte, machte den Untergrund mit den knorrigen Baumwurzeln und dem dichten Unterholz uneben und tückisch. Weil sich Azumi nicht an die markierten Wanderwege hielt, die sich kreuz und quer durch diese Wildnis zogen, kam sie immer wieder ins Stolpern und fiel sogar mehrmals auf die Knie. Ihr Nachthemd war schon ganz schmutzig, doch sie sprang jedes Mal schnell wieder auf und lief weiter. Sie wusste: Wenn sie nur einen Moment stehen blieb, würde sie eine Hand auf der Schulter spüren, und wenn sie sich daraufhin umdrehte … nun, was sie dann hinter sich sehen würde, wollte sie sich lieber gar nicht erst vorstellen.

In dieser Nacht hatte sie sich tiefer in den Wald gewagt als je zuvor, bis zu einer steilen Schlucht, die das Gelände zerschnitt. In der Dunkelheit und wegen des Nebels konnte sie nicht mal bis zum Grund der Schlucht sehen. Ein weiterer Schritt, und sie würde in den Abgrund stürzen und von den spitzen Ästen dort unten aufgespießt werden – eine tödliche Falle, die nur darauf wartete, dass sie hineintrat. Azumi war einem der endlos langen Bänder gefolgt, die gleich nach dem Eingang zum Park an einem Baumstamm befestigt waren, und das hatte sie ins Herz des Waldes geführt.

Dorthin, wo die Toten lagen.

Im Traum war ihre Haut mit kaltem Schweiß überzogen, und durch ihren Kopf wirbelten so viele Gedanken, dass Azumi kaum noch wusste, in welche Richtung sie gehen sollte. Sie konnte nicht in die Schlucht hinunterklettern, das war viel zu gefährlich. Außerdem war es eher unwahrscheinlich, dass Moriko dort unten war. Sonst hätte sie längst auf Azumis Rufe reagiert, oder? Hatte Azumi überhaupt nach Moriko gerufen? Doch, ganz bestimmt. Deshalb war sie ja hergekommen.

Sie würde ihre Schwester finden. Sie musste sie finden.

Jetzt …

Erst in Momenten wie diesem, wenn Azumi sich fragte, wieso sie allein mitten in diesem Wald war, dämmerte ihr, dass sie wieder einmal träumte. Die Schattenwelt dieser Wälder existierte nur in ihrem Kopf. Oder zumindest der größte Teil davon. Der Traum bestand aber noch aus einem anderen Teil – dem Teil, an den sie sich immer erst erinnerte, wenn es zu spät war.

Denn immer wenn Azumi von diesem Wald träumte, schlafwandelte sie.

Azumi schlug die Augen auf und sah, dass sie von Dunkelheit umgeben war und mutterseelenallein in dem Wald hinter ihrem Elternhaus in einem Vorort von Seattle stand. Es war nun schon das dritte Mal in diesem Monat.

Mittlerweile lag ein riesiger Ozean zwischen ihr und dem Geisterwald in Japan, doch ihr Gehirn versuchte immer noch beharrlich, diese gewaltige Entfernung zu überwinden und sie an den Ort zurückzuversetzen, an dem sie ihre Schwester verloren hatte.

Der moosige Untergrund hier im US-Bundesstaat Washington war kalt und nass unter ihren Fußsohlen, und auch die nächtliche Sommerluft war kühl und feucht. Da es so dunkel war, konnte Azumi kaum etwas sehen, und sie fragte sich, ob die Schlucht zu ihrem Traum gehörte oder ob sie tatsächlich nur wenige Schritte von einer Katastrophe entfernt war.

Nicht jetzt, nicht schon wieder, dachte sie und kauerte sich nieder, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen. Mutter und Vater werden in Panik sein. Wie konnte sie ihnen das zumuten, nach allem, was mit Moriko passiert war, nach allem, was Azumi getan hatte?

Sie hatte ihre Schwester verloren.

Sie durfte nicht auch noch sich selbst verlieren.

Am Morgen nach ihrem letzten Albtraum hatte Azumi eine Idee, wie sie sowohl ihre Eltern als auch sich selbst schützen konnte. Sie musste akzeptieren, dass ihre Träume sie immer weiter in Gefahr bringen würden, wenn sie zu Hause blieb, bis auch sie eines Tages nicht mehr zurückkommen würde.

Also suchte sie im Internet nach Internaten an der Ostküste der USA, so weit weg vom Pazifischen Ozean wie nur möglich.

Seltsamerweise erschien lediglich eine einzige Website auf ihrem Bildschirm.

Die Larkspur-Schule.

Azumi startete eine neue Suche. Und noch eine. Sie schaltete den Computer aus und wieder an – doch das Ergebnis war immer dasselbe.

Larkspur.

Das muss ein Zeichen sein, dachte Azumi. Vielleicht muss es genau diese Schule sein.

Sie überflog das Profil, das die Schule von sich ins Internet gestellt hatte. Das Larkspur-Institut steht seit über einem Jahrhundert für schulische, künstlerische und gesellschaftliche Kompetenz. Die ruhige, abgeschiedene Lage ist ideal für Schüler, die sich voll und ganz auf den Lehrstoff konzentrieren wollen …

Azumi musste nicht weiterlesen. Diese Schule war perfekt für sie.